Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

Europäische Kommission - Rede - [Es gilt das gesprochene Wort]
Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum European Dinner
am Vorabend der Münchner Sicherheitskonferenz
Munich, 16. Februar 2017
Lieber Dr. Theo Waigel,
Liebe Irene,
Herr Bundeskanzler [a.D.],
Frau Staatsministerin,
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
Liebe Charlotte – danke, dass Du da bist,
Meine Damen und Herren, und für sehr viele hier im Saal, liebe Freunde,
Ich muss einiges zu Recht rücken: Ingo Friedrich, der bayrischen Sprache mächtig, aber sich in
Unkenntnis bewegend, wenn es um die großen Sprachen der Welt geht, hat eben das Luxemburgische
als moselfränkischen Dialekt beschrieben. So steht es im Brockhaus, da hat er das gefunden, weil er
hat sich nämlich vorbereitet auf seine Rede, aber es ist falsch. Wer in Luxemburg behauptet,
Luxemburgisch wäre nicht eine Sprache, sondern ein moselfränkischer Dialekt, der wird standrechtlich
erschossen. Insofern würde ich Dich bitten, das nie mehr in meiner Gegenwart zu wiederholen, weil ich
kann auch schießen.
Ich bin froh, dass ich heute hier bin, und das ist keine Lüge, weil normalerweise sagt man immer,
wenn man irgendwo auftritt: ich bin froh, heute Abend hier zu sein. Normalerweise ist das eine Lüge,
aber heute ist das nicht so, weil wenn Theo Waigel lädt, bin ich da; ist fast Beamtenpflicht. Und er ist
auch immer da, wenn ich ihn brauche. Es kommt ja immer wieder vor, dass weil ich viele
Redeanfragen habe, ich all denen sage, die gesagt haben, ich müsste nächsten Monat vorbeischauen,
dass ich keine Zeit habe. Wann immer ich in Bayern ausfalle, zwei Tage vorher rufe ich Theo an und
sage: Theo, steige in den Zug, fahr nach München zur Katholischen Akademie oder sonst wo, und halte
eine Rede an meiner Stelle. Das macht er. Deshalb habe ich mir gedacht, als er fragte, ob ich heute
Abend kommen könnte, ich würde kommen, und dann hat sich ein amerikanischer Vizepräsident
dazwischen geschaltet – wir stehen ja nicht unter der Diktatur der Vereinigten Staaten von Amerika,
ich stehe unter der Waigel-Diktatur.
Ich wollte, liebe Freunde, einige schnelle Sätze über Europa sagen, auch im Anschluss an das, was
gesagt wurde. Ich gehöre, ich sage nicht gerne der jüngeren Generation an, weil 1957 als der Vertrag
unterzeichnet wurde, war ich drei Jahre jung, Grundschüler. Ich habe das also nur indirekt mitgekriegt.
Aber ich wurde von meinem Vater und der ganzen Familie deutschlandfreundlich erzogen, trotz
schlimmer Schicksale in der Familie, weil die jungen Luxemburger von Hitler zur Wehrmacht
eingezogen wurden, gegen deren Willen – das war kein Spaziergang, eine verhasste Uniform zu tragen
und gegen die zu kämpfen, die eigentlich damit beschäftigt waren, das eigene Land zu befreien. Dieses
Schicksal haben wir mit den Lothringern und den Elsässern geteilt. Aber mein Vater, Stahlarbeiter, hat
mir sehr früh – nicht beigebracht –, sondern durch Beispielgebendes gezeigt, dass das nicht wieder
passieren dürfe. Und so wurde ich zum Europäer, aber nicht gegen Deutschland erzogen, sondern mein
Vater hat gesagt: die Deutschen waren anständig im Krieg, die Landser; nicht alle. Aber er hatte auch
Freundschaften fürs Leben geschlossen; das heißt ja nichts, aber es heißt auch vieles. Und so wurde
ich Deutschlandfreund und durch französischen Schulgang geläutert zum Europäer, und ich habe es nie
bedauert, dass die Generation unserer Eltern, diejenigen, die nach Kriegsende totbetrübt, dem Tod
entrungen, entschlüpft, in ihre zerstörten Städte und Dörfer zurückkehrten und aus diesem ewigen
Nachkriegsgebet "Nie wieder Krieg" ein politisches Programm entworfen haben. Nicht wir haben Europa
geschaffen – die Kriegsgeneration, die Generation unserer Eltern, hat das getan, und denen sollten wir
ewig dankbar dafür sein.
Dann haben wir daran weiter gearbeitet, es entstand der gemeinsame Binnenmarkt, kein einfaches
Unterfangen, man unterschätzt die Dichte der Entscheidungen, die getroffen werden mussten, um
diesen Europäischen Binnenmarkt auf den Weg zu bringen und er ist immer noch nicht vollendet; wir
arbeiten immer noch an der Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, vornehmlich im Bereich der
Dienstleistungen – 80% des europäischen Bruttosozialproduktes sind Resultat des
Dienstleistungssektors –, da sind wir noch nicht am Ende angekommen, deshalb arbeiten wir, die
Kommission, sehr intensiv an dem Zustandekommen des Europäischen Digitalmarktes. Das hat ein
Potential von über EUR 600 Milliarden, zusätzliches Wachstum in Europa, Millionen Arbeitsplätze.
Deshalb arbeiten wir zusammen mit meinem Freund Klaus Regling und mit anderen, aber vor allem mit
ihm, an dem Zustandekommen der Europäischen Kapitalmarktunion – ein wichtiges Thema, von vielen
nicht verstanden, aber von vielen genutzt werden könnend falls sie zustande kommt – und anderes.
Europa ist nie fertig. Wer denkt, es gäbe den Tag in Europa wo man sagen könnte, jetzt haben wir
alles gemacht, irrt sich. Jeder Tag entsteht neu, aber an jedem europäischen Tag findet ein Neuanfang
statt. Und an jedem europäischen Tag, wenn man darüber nachdenkt, gibt es auch den Zauber des
Neuanfanges, jeden Tag. Jeder Tag produziert kleine und große europäische Wunder; nur wir sehen sie
nicht, weil wir sie nicht sehen möchten. Wir haben uns verliebt in das Scheitern; wir haben uns verliebt
in das Nicht-Sein. Wir sind total verliebt in Weltuntergänge und sich jeden Tag erneuernde Tragödien.
Ist Europa eine Tragödie? Nein. Europa ist ein Glücksfall für unseren Kontinent und diejenigen, die
Europa schlecht reden, versündigen sich eigentlich einer großen Idee, die weltweit mehr Beachtung,
Zustimmung, und Bewunderung findet als dies in Europa selbst der Fall ist. Ich reise schrecklich gerne
– aber nicht genug – nach Afrika, nach Asien, und immer wenn ich dort bin, begrüßt man mich – ich
sage das nicht gerne, weil man könnte mich mit einem anderen verwechseln wie einen Heilsbringer –,
weil Europa zeigt Wirkung in der Welt und alle bewundern uns für das, was wir auf die Beine gebracht
haben. Und dann bin ich traurig, wenn ich wieder in Brüssel aus dem Flugzeug steige, in diesem Tal
der Tränen lande, lacrimarum valle, und mir alle diese Klagen über Europa anhöre. Ich bin auch
jemand, der über Europa viel klagt; nicht alles ist so, wie es sein sollte. Wenn ich gedacht hätte,
Europa wäre so wie es sein müsste, hätte ich mich nicht auf die schwierige Reise zwischen Luxemburg
und Brüssel gemacht, um Präsident der Europäischen Kommission zu werden. Vieles muss besser
werden.
Und im Übrigen, weil ich gemerkt habe, dass in den überregionalen deutschen Medien in der
veröffentlichten öffentlichen Meinung jetzt viel darüber spekuliert wird, wieso und weshalb ich vor
Tagen angekündigt habe, ich würde nicht für ein zweites Mandat antreten – und ich auch die traurigen
Mienen hier gesehen habe als ich diesen Raum betrat – möchte ich sagen: das sage ich seit drei
Jahren. Ich habe das in Luxemburg gesagt, ich habe das im französischen Fernsehen gesagt, auf BBC,
aber man muss es im Deutschlandfunk Sonntagmorgen sagen, damit das überhaupt Wirkung erzielt.
Das tue ich nicht, weil ich amtsmüde wäre – ich bin quietschfiedel, und frisch und lebendig. Aber fünf
Jahre reichen. Und im Übrigen hätte ich nicht gerne, dass es so ist wie bei unserem Freund Barroso.
Nach der ersten Hälfte seiner Amtszeit, wann immer er etwas vorgeschlagen hat, haben alle gesagt:
das tut er nur, weil er ein zweites Mandat haben möchte. Das möchte ich eben nicht. Ich bin gerne ein
freier Mann und ein freier Mensch und ich möchte sagen können, was ich will, ohne dass alle denken:
er tut das nur und buhlt hier um unsere Gunst. Ich bin ein freier Mann und deshalb habe ich das
gesagt.
Brexit. Als ich in Brüssel anfing, hätte ich mir nie gedacht, dass ich eigentlich mehr mit Abbau
beschäftigt sein würde, als mit Weiterbau. Ein paar Stunden pro Tag sitze ich da mit meinen
Büchsenspannern und überlege, wie machen wir das jetzt so, dass der Austritt Großbritanniens aus der
Europäischen Union wenig Schaden hinterlässt. Das ist keine Zukunftsaufgabe – etwas abzubauen – ich
wollte etwas aufbauen. Und jetzt sind wir damit beschäftigt, etwas abzubauen. Und ich bin sehr
besorgt, dass viele in Europa denken: die Briten haben jetzt per souveränen Volksbeschluss bestimmt,
dass Großbritannien austritt, und dann machen wir das. Das ist so einfach nicht. Es ist dramatisch,
dass eines der großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union freiwillig und ohne Zwang aus der
Europäischen Union ausscheidet. Ich kann mich nicht darüber freuen; muss jetzt dafür sorgen, dass
dies unter anständigen Bedingungen passiert. Was sind die anständigen Bedingungen? Es sind
Bedingungen, die mit dem eigentlich jahrhundertalten Verhältnis zwischen den Inseln und dem
europäischen Kontinent zu tun haben.
Ich bin nicht in feindlicher Stimmung. Ich glaube nicht, dass es uns weiter bringt, wenn wir die Briten
verprügeln, beschimpfen, sie niederverhandeln. Das ist überhaupt nicht meine Absicht. Aber ich hätte
gerne, dass die europäischen Werte, die Prinzipien, auf denen die Europäische Union gründet, dass die
vollumfänglich respektiert werden; und dazu gehört die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Diese
Vorstellung, die Europäische Union könne eine gehobene Freihandelszone werden, wo nur Kapital,
Markt und Waren eine Rolle spielen, ohne dass die Menschen überhaupt vorkommen in diesem
europäischen Projekt – dieser Idee kann ich nicht freundlich entgegen treten. Europa ist zuerst ein
Projekt für die Menschen, für jeden Menschen, der in Europa lebt – und dort gibt es keinen Unterschied
zwischen Rasse, Farbe und Nation. Alle Europäer sind Europäer in gleichem Maße und das müssen wir
in diesen Verhandlungen festlegen können.
Und dann kann es keine Rosinenpickerei geben: Ich bin ein bisschen dabei, ich bin ein bisschen weg,
morgen komme ich vielleicht wieder, heute Abend war ich nicht da. So geht es nicht. Man ist drinnen
oder man ist draußen. Und das muss in diesen Verhandlungen sichergestellt werden. Und deshalb
haben – bei aller Freundschaft, die ich für die Briten habe; also, der Kontinent hat Großbritannien, dem
Vereinigten Königreich erstaunlich viel zu verdanken. Das sollten wir nicht vergessen. Ohne Churchill
wäre vieles nicht möglich gewesen auf dem europäischen Kontinent. Also, diese Geschichtslosigkeit in
der Retrospektive, die mag ich nicht. Wir haben den Briten sehr viel zu verdanken, unter anderem
unsere Freiheit. Es hätte alles anders kommen können, wenn es Churchill und die Briten und den Mut
des britischen Volkes nicht gegeben hätte, das sollten wir nie vergessen. Aber später wurden sie
schwächer. Als die Briten zum Referendum eingeladen wurden, da waren sie nicht so gut wie in
früheren Jahrzehnten. Das ist aber kein Grund, um das zu vergessen, was die Historie uns
wertbringend aus Großbritannien zugeführt hat.
Aber die Briten dürfen jetzt nicht mit der halben Welt Handelsverträge abschließen. Handelsverträge
sind Kompetenz der Europäischen Union, in specie der Europäischen Kommission. Niemand, kein
Mitgliedsland – solange ein Land Mitglied der Europäischen Union ist – hat das Recht, Handelsverträge
bilateral abzuschließen. Und das muss auch nicht sein. Ich glaube nicht – wie viele andere das
trotzdem glauben –, dass es uns innerhalb von 24 Monaten gelingen wird a) die Modalitäten des
Austrittes Großbritanniens aus der Europäischen Union festzulegen und b) ein
Gesamtzukunftsverhältnis zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent herzustellen. Wer
denkt, man könne einen Freihandelsvertrag innerhalb von zwei Jahren abschließen, ohne dass vorher
festgelegt worden wäre, wie man denn die Austrittsmodalitäten festlegt, der irrt sich fundamental. Ich
beschäftige mich mit diesem Thema viel und entdecke fast stündlich neue Probleme. Ich wusste
überhaupt nicht, wie gut wir sind und wie viele Verwicklungen und Verzwickungen es zwischen
europäischen Staaten gibt. 26.000 Gesetze in Großbritannien müssen geändert werden, bevor dieser
Austritt beschlossen werden kann – 26.000. Nun gehe ich davon aus, dass meine Propagandisten die
Zahl hochrechnen, aber wahrscheinlich sind es mindestens 20.000, und das reicht schon. Also das wird
ein sehr schwieriges Unterfangen. Ich hätte gerne, dass dies im Bewusstsein vor der Verantwortung
vor der Geschichte, die wir haben, anständig gemacht wird. Und es wird länger dauern bis es in den
Zeitungen steht, das kann ich Ihnen aber jetzt schon sagen.
US Präsident Trump: Herr Trump ist der vierte Präsident der Vereinigten Staaten, den ich kennen
lernen werde. Denn drei habe ich gekannt, den vierten werde ich kennen lernen. Ist das eine
Neuigkeit, eine Nachricht, dass die Amerikaner von den Europäern verlangen, dass wir mehr
Verantwortung – auch finanzieller Natur – in Sachen europäische und atlantische Verteidigung
übernehmen müssen? Nein. Das hat Clinton mir gesagt, das hat Bush – der zweite – mir gesagt, das
hat Obama mir gesagt. Jetzt sagt es Trump. Wo ist der Unterschied? Das ist die amerikanische
Message seit vielen, vielen Jahren. Und ich bin jetzt sehr dagegen, dass wir uns da ins Bockshorn jagen
lassen. Also, ich weiß auch, wenn Deutschland von 1,2 zu 2% Bruttosozialprodukt
Verteidigungsausgaben kommen müssen, dann sieht die schwarze Null nicht mehr schwarz aus und
bleibt auch keine Null. Aber ich habe nicht gerne, dass unsere amerikanischen Freunde, falls sie
Freunde bleiben sollten und wollten – wie ich finde, müssen –, diesen Sicherheitsbegriff verengen auf
rein militärische Fragen. Es macht doch Sinn, dass man sich überlegt, ob moderne Stabilitätspolitik
weltweit sich nicht aus mehreren Teilen zusammensetzt. Verteidigungsaufgaben – korrekt finanziert,
solidarisch finanziert – aber auch Entwicklungshilfe, wobei ich den Terminus Entwicklungshilfe nicht
mag; ich mag lieber Partnerschaft mit Afrika und mit Teilen Asiens. Wenn man zusammenrechnet, was
Europäer tun im Verteidigungsbereich plus im Bereich der Entwicklungspolitik – um diesen Terminus
noch einmal zu gebrauchen – plus in Sachen humanitäre Hilfe, dann sieht das Vergleichsbild mit den
USA schon wesentlich anders aus. Und moderne Politik kann ja nicht nur darin bestehen, dass man
Verteidigungsausgaben erhöht, sondern es braucht eine globalere Annäherungsweise.
Und im Übrigen, in Sachen Verteidigung – ich bin ja kein Spezialist, ich komme ja aus Luxemburg, die
luxemburgische Armee hat 771 Mann, Verteidigungsminister inklusive, insofern äußere ich mich nicht
zu interkontinentalen Verteidigungsfragen. Aber ich habe ja gelernt in Brüssel – ich werde ja bezahlt,
damit ich diese wichtigen Dinge auch in Erfahrung bringe – wir haben in Europa 177 Waffengattungen,
die Amerikaner 30. Wir geben etwa die Hälfte des amerikanischen Verteidigungshaushaltes als
Gesamteuropa aus, haben aber zwischen 15% und 20% der Effizienz der amerikanischen Streitkräfte.
Wenn wir auch im militärischen Beschaffungswesen unsere Kräfte bündeln würden, wie auch Wolfgang
Ischinger das ausgeführt hat – einer der klügsten Köpfe, die es in Europa gibt im Übrigen – dann
könnten wir zwischen 25 und 100 Milliarden einsparen. Wenn wir dies täten, unsere Kräfte bündeln,
das Beschaffungswesen synergetisch organisieren, könnten wir zwischen 25 und 100 Milliarden
einsparen. Und wenn wir dann zusammenrechnen: Verteidigungshaushalte, Entwicklungshaushalte,
humanitäres Tun weltweit – dann sehe die Welt wesentlich anders aus. Aber weil wir in dieser
militärischen Kleinstaaterei untergehen, kommen wir zu nichts, weil wir 80% der
Verteidigungsausgaben national investieren statt sie europäisch zu investieren. Europa muss lernen,
dass die Zeit der Kleinstaaterei vorbei ist. Das sage ich nicht gerne, weil als Luxemburger gegen
Kleinstaaterei zu wettern, das ist relativ lächerlich, aber auch die Deutschen sollten sich vor
Kleinstaaterei hüten, die Franzosen auch, die Briten sowieso – die entdecken ja jetzt die Kleinstaaterei
von Schottland und anderen konstitutiven Elementen des Vereinigten Königreiches. Nein, wir müssen
da zu großen Sprüngen bereit sein, ohne dass uns das etwas an unserem Einfluss wegnehmen wird. Im
Gegenteil, es wird unseren Einfluss vergrößern und es würde Geld einsparen, das man
vernünftigerweise anderenorts auch zweckmäßiger verwenden könnte.
Über den Euro wage ich ja angesichts der geballten Fachdichte, die hier im Raum zusammensitzt,
nichts zu sagen. Nur: wir hatten Recht, dass wir das gemacht haben, unter schwierigsten Umständen.
Und ich möchte mit einer Legende aufräumen, die in Deutschland immer wieder herumgereicht wird.
Es heißt – das lese ich immer noch, auch aus unberufenem Professorenmund; derartige Münder gibt es
viele in der Bundesrepublik –, dass der Euro eigentlich Konsequenz der deutschen Wiedervereinigung
war und einer Forderung andere Europäer, vornehmlich Frankreichs, entsprochen hätte. Das ist eine
Legende, das stimmt einfach nicht. 1988, Europäischer Gipfel in Hannover, wurde mein Vorgänger
Jacques Delors beauftragt, einen Bericht über die europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu
erstellen. Und ab dann lief der Prozess, und weil ja die großen Staatsmänner dieser Welt, vor allem die
Außenminister – von Theo Waigel regelmäßig als Staatsmänner der Luxusklasse beschimpft – die
Zukunft nicht voraussehen, haben die auch 1988 nicht gewusst, dass 1989 die Mauer fallen würde. Die
ist im Übrigen nicht gefallen, die wurde zum Einsturz gebracht. Und nicht vom Westen aus, sondern
vom Osten, das man auch nicht vergessen sollte. Und deshalb hat das mit der deutschen
Wiedervereinigung nichts zu tun. Ich gebe zu, weil ich diese Regierungskonferenz im ersten Halbjahr
1991 geleitet habe, die zur Währungsunion führte, dass dies – ja – kein Brandbeschleuniger, aber ein
beschleunigendes Element gewesen sein mag in der Auffassung vieler – ja okay. Und? So what? Dürfen
Politiker nicht auf Geschichte reagieren? Müssen wir nur Geschichte erleiden, erdulden, beobachten,
beschreiben? Darf man vielleicht auch manchmal selbst Geschichte schreiben?
Das haben wir damals gemacht und das war gut für den europäischen Kontinent und das bleibt gut für
die europäische Wirtschaft. Wer sich einmal nur für Sekunden vorstellt, was in Europa eigentlich
passiert wäre nach mehreren Krisen, die wir erlebt und durchschritten haben: der Einmarsch der
Amerikaner im Irak, wo die Europäer in alle Himmelsrichtungen aufgestoben sind; nach den Attentaten
in Washington und New York, nach dem Einmarsch der Amerikaner – heftig umstritten – im Irak, nach
Afghanistan, nach der Wirtschafts- und Finanzkrise aus den USA importiert – da sollten die Europäer
sich kein schlechtes Gewissen diesbezüglich im Übrigen machen lassen –, wenn wir da noch unsere
nationalen Währungen gehabt hätten, mit unabhängigen oder abhängigen Zentralbanken –
Bundesbank war immer unabhängig, die französische Nationalbank wäre noch immer abhängig von
regierungspolitischen Direktiven, wenn es den Maastrichter Vertrag nicht gegeben hätte –wären wir
doch ein heillos zerstrittener Haufen gewesen. Ein Hühnerhaufen wäre eine geschlossene
Kampfformation gegen das Währungseuropa gewesen, wenn wir den Euro nicht gehabt hätten. Und
anstatt dass die Zeitungen jeden Tag – oder der Bayrische Rundfunk jeden dritten Tag – beschreiben
was alles krumm und uneben ist in Europa, sollte man jeden Tag einen Leitartikel schreiben, wo man
beschreiben würde wie Europa aussehen würde wenn es den Euro nicht gäbe.
Das Gleiche gilt im Übrigen für die Erweiterung Europas nach Ost- und Mitteleuropa. Osteuropa ist ein
falscher Ausdruck. Es ist Mitteleuropa, es ist nicht Osteuropa. Es sind nach dem Fall der Mauer und
nach der massiven Wende in Mittel- und dann auch Osteuropa, in Europa, was niemand zur Kenntnis
nimmt, 27 neue Staaten entstanden, 27 neue Akteure internationalen Rechts. Wenn es uns nicht
gelungen wäre – vieles ist uns misslungen in dem Zusammenhang im Übrigen – diese Staaten, diese
sich neu entdeckenden Demokratien, diese sich neu entwickelten Volkswirtschaften, diese sich in sich
selbst verliebenden nationalen Souveränitäten, in einer Sphäre europäischer Solidarität
zusammenzufassen – was wäre denn passiert? Ich rede mit diesen Menschen – Staatsmännern,
Premierministern, Präsidenten, Abgeordneten, tutti quanti. Ich weiß, was da an möglichem Feuer lodert
und wenn es nicht diese disziplinierende Klammer, diesen europäischen, diesen europäischkontinentalen Zwang gebe sich zu verständigen – mordicus zu verständigen – dann wäre die Lage in
Europa unmöglich geworden.
Theo hat gesagt, er ist stolz, dass er den Vertrag unterzeichnet hat – ich auch. Ich bin im Übrigen der
Einzige noch in der Politik aktive. Der Euro und ich, wir sind die einzigen Überlebenden des
Maastrichter Vertrages. In diesem Vertrag, nicht nur was Währung anbelangt, war kontinentale
Zukunft angelegt. Nicht so detailliert wie wir – Wolfgang, Du, andere, das gerne gehabt hätten, weil
wir mehr politische Union eigentlich wollten –, aber immerhin, da sind nicht nur Spurenelemente
zukünftiger kontinentaler Gestaltung zu besichtigen, sondern Wichtiges: Erweiterung, mehr politische
Union, Währungsunion, unabhängige Geldpolitik auf dem Kontinent, zaghafte wirtschaftliche
Koordinierung – das wurde nicht so gemacht, wie es hätte gemacht werden können. Und deshalb bin
ich der Meinung – weil mich meine Büchsenspanner immer bitten, ich muss auch optimistische Reden
halten manchmal. Nicht nur beschreiben, was nicht funktioniert - auch wenn mir da sehr viel einfällt –,
bin ich der Meinung, wie auch Theo Waigel, dass sich dieser Einsatz für Europa lohnt. Das sind wir
unseren Eltern schuldig.
Vielen Dank.
SPEECH/17/296