Die ZEIT Nr. 8/2017

DIEZEIT
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09.02.17
WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R
Wer setzt
Kindern
noch
Grenzen?
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www.zeit.de/zg-aktuell
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16. Februar 2017 09.02.17
N 8 12:19
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Neue ZEIT-Serie:
Die Bosse
der Zukunft
Viele Angestellte
halten ihren
Vorgesetzten für
eine Fehlbesetzung.
Aber was muss ein
fähiger Chef alles
können? Wirtschaft, S. 23
Zwischen großer Freiheit und
Sehnsucht nach Orientierung:
Eltern, Pädagogen und
Therapeuten streiten
darüber, was heute gute
Erziehung bedeutet
Titelfoto [M]: Christian Grund
Das neue Heft.
Jetzt im Handel!
CHANCEN, SEITE 73
40 SEITEN EXTRA
SÜNDENBOCK DEUTSCHLAND
NEUE RECHTE
Falsche Feinde
Unter Berührzwang
Von links und rechts wird die Bundesregierung für ihre
Wirtschaftspolitik kritisiert – zu Unrecht VON UWE JEAN HEUSER
W
as eint Donald Trump und
Alexis Tsipras? Beide sind
wütend auf Deutschland.
Der rechte amerikanische
Präsident und der linke grie‑
chische Premier meinen, die
Bundesrepublik übervorteile sie.
Trumps oberster Handelsberater hat die
Anklage offen ausgesprochen: Die Deutschen
betrieben Lohn- und Währungsdumping. Erst
hätten sie übermäßig gespart und die Löhne
niedrig gehalten, dann auf sinistre Weise den
Kurs des Euro gedrückt, damit ihre Autos
und Maschinen im Rest der Welt zur billigen
Ware werden.
Auch wenn man Tsipras zuhört, könnte man
glauben, die Deutschen führen wie Bulldozer
über ihre Wirtschaftspartner hinweg. Lautstark
beschwert er sich darüber, dass Berlin die von der
Krise gebeutelten Griechen drangsaliere, statt
ihnen Schulden zu erlassen. Bei der Europäi‑
schen Zentralbank gelten deutsche Politiker und
Ökonomen sowieso als die größten Störenfriede,
weil sie die Politik des billigen Geldes ablehnen.
Vor allem wenn Wolfgang Schäuble stichelt, wie
gerade wieder geschehen, stellen sich bei der
EZB alle Nackenhaare auf.
Der Euro ist zu billig – doch dafür
können die Deutschen nichts
Sind die Deutschen also wirklich die Schurken
der Weltwirtschaft? Absolut nicht! Sie sind nur
in einer besonderen Situation.
Nie waren ihre Exporteure erfolgreicher als
2016. Die Wirtschaft schraubte den Überschuss
im Handel auf eine Viertelbillion Euro, weil
Mario Draghi mit Nullzins und Geldflut genau
das erreicht hat, was er wollte: Der Euro-Kurs ist
gegenüber dem Dollar stark gesunken – und für
die Bundesrepublik eigentlich zu niedrig. Das
macht deutsche Autos in Amerika günstig und
amerikanische Autos in Deutschland teuer.
Nur können die Deutschen ausnahmsweise
nichts dafür. Anders als es das Ausland wahr­
haben will, hat die Entwicklung für sie auch
enorme Nachteile. Als Sparer leiden die Bundes‑
bürger unter den Nullzinsen. Und was für die
Industrie derzeit so famos aussieht, ist auf Dauer
kein Segen: Weil die billige Währung das Expor‑
tieren leicht macht, fehlt den Unternehmen der
Druck, immer effizienter und besser zu werden.
Lohndumping kann man Deutschland auch
nicht mehr vorwerfen. Allein in den vergange‑
nen drei Jahren sind die Löhne um über sechs
Prozent gestiegen – nach Abzug der Inflation.
Und die staatlichen Investitionen steigen Jahr für
Jahr. Wer den offiziellen Zahlen misstraut, sollte
beim Nachhauseweg einen Blick auf all die­
Baustellen werfen.
Die Deutschen müssen sich also nicht ein­
reden lassen, dass die Weltwirtschaft an ihnen
leidet. Ein überschuldetes Deutschland wäre nur
eine Last mehr für Europa und wahrscheinlich
eine zu viel. Das gab es ja schon einmal vor gut
zehn Jahren, Deutschland als kranker Mann Eu‑
ropas. Alle regten sich auf, und damals zu Recht.
Heute ist die Bundesrepublik der lebende
Beweis, dass Reformen sich lohnen. Und sie ist
ein Champion des freien Handels. Wer sonst
sollte Europa an die eigenen Versprechen erin‑
nern – und sich Protektionisten wie Trump ent‑
gegenstellen. It’s a dirty job, but somebody’s gotta
do it, heißt es in Amerika. Irgendjemand muss
die »schmutzige Aufgabe« übernehmen und die
Welt an den Wert des Wettbewerbs erinnern.
Und irgendjemand muss den Amerikanern
den eigenen Widerspruch vorhalten. Soll
Deutschland den Euro retten, dann wird es an
seine Verantwortung fürs Ganze erinnert. Geht
es aber um den Export, dann soll das Land allein
schuld sein. Das ergibt keinen Sinn. Die Europä‑
er haben eine Währung, und deren Kurs passt
nicht immer zu Deutschland, so wie der Wert
des Dollar nicht immer zu Kalifornien passt.
Deutschland braucht ein einiges Europa und
sollte die anderen nicht unnötig gegen sich auf‑
bringen. Aber deshalb muss es sich nicht verste‑
cken. Von den Vereinigten Staaten haben die
Nachkriegsdeutschen den Wert des offenen
Wettbewerbs gelernt und sich auf die Globalisie‑
rung eingelassen – wenn man einmal von der
protektionistischen Agrarpolitik absieht.
Jetzt wollen die USA die Regeln ändern, wol‑
len für unfair erklären, was früher fair war. Ihr
Problem ist aber nicht, dass Handelspartner sie
übervorteilen. Die Amerikaner selbst haben zu
sehr auf die Finanzindustrie gesetzt, die zwar
riesigen Wohlstand schafft, aber nur für ganz
wenige. Jetzt wollen sie die Industriejobs zurück.
Nur bitte nicht mit Deutschland als Sün‑
denbock.
www.zeit.de/audio
Der Fall Höcke und das Elend deutscher Nationalisten: Warum
die AfD nicht von der Vergangenheit lassen kann VON BERND ULRICH
W
arum bloß kommt die un‑
aufhaltsam aufstrebende
AfD nicht weg von diesem
blöden Nationalsozialismus,
dem Antisemitismus und all
dem Kram? Mal spaltet sich
deswegen eine Fraktion in Baden-Württemberg,
mal rutscht der atemlosen Frauke Petry was Selt‑
sames raus zum Begriff »völkisch«, und dann
kommt wieder der Höcke um die Ecke und sagt
etwas, was so klingt, als käme es geradewegs aus
dem Volksempfänger.
Rational gesehen ist die Lage für eine rechts‑
populistische Partei doch sonnenklar: Es ist für
diese Leute zum Beispiel viel lohnender, für die
Juden zu sein und gegen die Muslime. Politisch
noch ergiebiger ist es sogar, wegen des muslimi‑
schen Antisemitismus gegen Muslime zu sein.
Darum haben sich etwa Marine Le Pen oder­
Geert Wilders von allem losgesagt, was mit die‑
sem dunklen Gestern zusammenhängt. Für eine
rechte Partei in Deutschland ist das noch viel
wichtiger, weil es hierzulande bei dem Thema be‑
sondere Empfindlichkeiten gibt. Wieso kann die
AfD sich trotzdem nicht zusammenreißen, wieso
leidet sie unter diesem manischen Berührzwang?
Gemein: Alle haben ein schönes stolzes
Gestern – nur wir nicht
Das hat zu tun mit einem spezifischen Dilemma
reaktionärer Politik in diesem Lande. Wer in
Frankreich zurückwill in eine bessere Zeit, der
kann davon ein Bild erzeugen, der spricht von je‑
nen idyllischen Zeiten, als proletarisch veranlagte
Arbeiter Citroën gebaut haben, die noch richtig
schön waren, danach rauchten sie eine Gauloise,
die keinen Krebs erzeugte, und über allem weht
würdig die Trikolore. Auch die Niederlande kön‑
nen sich mit etwas Willkür an bessere Zeiten er‑
innern, vorhangfreie Fenster, morgens eine Fla‑
sche Vla vor der Tür, beim Fußball Weltmarkt‑
führer und darüber das Königshaus.
Alle haben ein schönes Gestern – nur wir
nicht. Immer kommt sie dazwischen, DIE Ver‑
gangenheit. Und das bringt unsere Nationalisten
regelmäßig schier um den Verstand. Darum
müssen sie immerzu an der Narbe kratzen.
Die anderen Deutschen haben sich schon
längst eingerichtet in einem postnationalisti‑
schen Nationalgefühl, jenem berüchtigten Stolz
darauf, nicht stolz zu sein. Sie glauben, dass dies
Wie ein Tier
Der Brite Charles
Foster lebte unter
Füchsen. Und lernte
dabei mehr über
Menschen als über
die Tiere Wissen, Seite 39
PROMINENT IGNORIERT
gerade deswegen ein gutes – und erfolgreiches –
Land ist, weil es DIE Vergangenheit aufgearbeitet
hat – und damit nicht aufhört –, weil es sich ihr
gestellt und daraus Schlüsse gezogen hat: kein
Zentralismus, kein Autoritarismus, kein Milita‑
rismus, Respekt vor Minderheiten, eine gewisse
Offenheit gegenüber dem Fremden. Das jedoch
ist genau jenes Deutschland, das die AfD ab‑
schaffen möchte. Diese Leute sind im Grunde
heimatlose Nationalisten, sehr traurig.
Nun will Frauke Petry (die mit dem Völki‑
schen) Björn Höcke (den mit dem Schandmal)
aus der Partei ausschließen. Rechts von ihr soll es
keine demokratisch legitimierte Kraft geben. Da‑
bei klafft zwischen den beiden allenfalls macht‑
taktisch ein Abgrund, vergangenheitstechnisch
liegen höchstens Nuancen zwischen »völkisch«
und »Schandmal«, eher was für Spezialisten. Und
am Ende lässt sich das deutsche NationalistenDilemma ohnehin nicht auflösen, es wird auch
ohne Höcke nicht aus der AfD verschwinden.
Dieses Problem stellt für die AfD die Ober‑
grenze ihres politischen Potenzials dar, man wird
in diesem Land niemals eine Mehrheit finden,
der dieses Gefummel an der Vergangenheit ge‑
fällt, der es auch nur gleichgültig genug wäre, um
diese Partei trotzdem zu wählen. Weil die Deut‑
schen so anständig sind? Eher weil sie nicht blöd
sind. Nationalismus ist für Frankreich nett, für
die Italiener anstrengend und in Österreich ein
bisschen albern – in Deutschland ist er schlicht
geschäftsschädigend.
Umgekehrt besteht allerdings genauso wenig
ein Grund aufzuatmen. Denn die AfD wird sich
auch jetzt nicht zerlegen. Die Vorstellung, dass
der Autoritarismus seinen Siegeszug durch die
gesamte westliche Welt fortsetzt, in Deutschland
aber an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, ist ab‑
wegig. Deutschland wird mit der AfD leben
müssen, die AfD wird mit ihrem verkorksten
und verzweifelten Nationalismus leben müssen.
Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen, einer
für Seehofer und einer für die Linksliberalen. Es
hat a) keinen Sinn, sich der AfD anzuverwan‑
deln, um sie zu zerstören. Sie ist vorerst unzer‑
störbar. Und es hat b) keinen Zweck, sich im‑
merzu über die AfD zu empören. Je kühler man
sie behandelt, desto besser.
Und am Sonntag dann ein Spaziergang
durchs Stelenfeld.
www.zeit.de/audio
Wahres Schwein
»Steht das Schwein auf einem
Bein, ist der Schweinestall zu
klein.« Mit einer Plakataktion sol‑
cher »neuen Bauernregeln« wollte
die Umweltministerin eine Debat‑
te über Ökologie und Landwirt‑
schaft anregen. Nach einem Em‑
pörungssturm der Lobbyisten der
Agrarindustrie hat Barbara Hen‑
dricks um Entschuldigung gebeten
und die Kampagne gestoppt. Es ist
Politikern noch selten gut bekom‑
men, die Wahrheit zu sagen. GRN.
Kleine Fotos (v. o.): D. Otis/Getty Images;
Felicity McCabe; C. Koall/Getty Images
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