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H-Germanistik
CFP: Nachwuchstagung "S·t·o·t·t·e·r·n. Ästhetik – Ökonomie –
Funktionalität", Frankfurt am Main (15.05.2017)
Discussion published by Maximilian Wick on Thursday, February 9, 2017
Interdisziplinäre Nachwuchstagung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (13.10.15.10.2017)
Alles stottert; der schüchterne Junge in der letzten Reihe ebenso wie die Familie mit dem neu
gebauten Eigenheim; der eine rum, die andere ab. Ob Sprachstörung oder Schulden – mehrheitlich
gilt Stottern als etwas Defizitäres, etwas zu Überwindendes. Dabei stellt sich die Frage, ob man sich
dem Phänomen heutzutage entziehen kann oder überhaupt entziehen muss. In einer schnelllebigen
Leistungsgesellschaft mag das Stottern keinen Platz haben, time is money, es gilt auf den Punkt zu
kommen, zum Punkt zu kommen, zu Rande. Aber wie verhält es sich in einem Bereich, welcher sich
dem Verdikt der Selbstoptimierung und des Produktivitätsdranges immer wieder zu entziehen
versucht? Anders gefragt: Ließe sich künstliches/künstlerisches Stottern als eine Funktion
beschreiben, die sich keineswegs defizitär verhält, sondern durch ihre spezifische Zeitlichkeit
vielmehr ein Surplus generiert?
Exemplarisch hierfür könnte das Gedicht Passionément des rumänischen Autors Ghérasim Luca
stehen, das seine wohl prominenteste Interpretation durch Gilles Deleuze erfahren hat. Das Gedicht,
das durch fortwährende Variationen bestimmter Laute punktuell immer neue Semantiken
produziert,[1] sei „deshalb so außerordentlich dichterisch“, da es „aus dem Stottern einen Affekt der
Sprache und nicht eine Affektion des Sprechens“[2] gemacht habe. In jüngster Zeit widmete sich die
österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla dem Phänomen „als ästhetische und mediale Schrift“,
freilich im Bewusstsein, „wie schwierig diese Referenz auf eine menschliche Devianz von ihrer
Pathologisierung zu trennen ist.“[3]
Pionierarbeit auf diesem Feld leistete im deutschsprachigen Raum der heute als
Rehabilitationspädagoge lehrende Jürgen Benecken, dessen Dissertation erstmals einen Blick auf die
mediale Verbreitung des Phänomens auch abseits der Literatur gewährte. Zu seinen filmischen
Beispielen gehören neben Figuren wie Ken Pile aus Charles Crichtons A Fish Called Wanda oder Billy
Bibbit aus Miloš Formans One Flew Over The Cuckoo’s Nest auch Hajo Scholz aus der WDR
Fernsehserie Lindenstraße. Aus einer anderen Perspektive widmete sich der Anglist Steven Connor
dem Phänomen, indem er Stottern als eine sprachliche Funktion „beyond words“[4] neben Brummen
oder Seufzen analysiert. Doch ist eine solche Reihung überhaupt legitim oder wohnt dem Stottern
nicht auch immer ein Moment der Unentschiedenheit zwischen verbaler und nonverbaler
Kommunikation inne? So könnte man (gegen Röggla) auch nach der Rolle des Stotterns in der Musik
fragen: Wie wird das Phänomen musikalisch inszeniert oder künstlerisch produktiv dynamisiert, etwa
bei Pink Floyd, Devo, Scatman John, oder auch Karlheinz Stockhausen oder Steve Reich?
Dass es sich bei ‚stotternder Kunst‘ und der (literarischen) Reflexion ihrer Funktionalität sowie des
Wechselspiels von Stottern und Rhetorik keineswegs um ein genuin modernes Phänomen handelt,
lässt sich rasch demonstrieren: So lurgt[5] der Protagonist Bertschi Triefnas im kurz nach 1400
datierten Ring Heinrich Wittenwilers[6] ebenso wie der wohl berühmteste griechische Redner
Citation: Maximilian Wick. CFP: Nachwuchstagung "S·t·o·t·t·e·r·n. Ästhetik – Ökonomie – Funktionalität", Frankfurt am Main
(15.05.2017). H-Germanistik. 02-09-2017. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/165878/cfp-nachwuchstagug-s%C2%B7t%C2%B7o%C2%B7t%C2%B7t%C2%B7e%C2%B7r%C2%B7n-%C3%A4sthetik-%E2%80%93-%C3%B6konmie-%E2%80%93
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Demosthenes, dessen Bemühungen um Heilung bis heute bekannt sind – und bereits Moses klagte
über „eine schwere Sprache und eine schwere Zunge“[Ex 4,10], weshalb er zumeist seinem Bruder
Aaron das Sprechen zum Volk überließ. Gleichermaßen lassen sich jedoch auch weniger
dysfunktionale Beispiele anführen, wie das Stottern des Kaisers Claudius, das diesen vor politischen
Säuberungen seiner Vorgänger bewahrte, oder das oftmals anzutreffende religiös-ehrfürchtige
Stammeln, das als Reaktion auf die sprachliche Inkonsummerabilität des Heiligen gedeutet werden
kann und noch heute aus Koketterie im so genannten „Oxford Stutter“ fortlebt.
Während sich Logopädie und Psychologie der willensunabhängigen, situativ auftretenden Redeflussstörung umfassend angenommen haben, sind ästhetisch-poetologische sowie kulturhistorische
Zugänge bislang weitgehend Desiderat geblieben. Dieser Aufgabe widmet sich die interdisziplinäre
Nachwuchstagung S·t·o·t·t·e·r·n, die vom 13.10. bis 15.10.2017 an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt stattfinden wird. In ihrem Fokus soll zum einen die Arbeit am Begriff sowie
seiner Operationalisierbarkeit und Kontextualisierung stehen, zum anderen gilt es abseits der
Devianzfrage, die Möglichkeiten ästhetischer Konzeptionalisierung des Stotterns multiperspektivisch
in einer Zusammenschau verschiedener Disziplinen zu sondieren. Potentielle, sich freilich weiträumig
überschneidende Fragehorizonte lassen sich wie folgt skizzieren:
Ästhetik
Welche künstlerischen Modi sind denk- und beobachtbar, in denen die zeitliche Struktur des
Stotterns, insbesondere das Verhältnis von Pause- und Wiederholung, neue Aussagemöglichkeiten
schafft (Stichwort Sekundenstil)? Inwiefern lässt sich eine mögliche Unterscheidung vom Stottern
der Sprache und stotternder Sprache produktiv umsetzen und wie sind in diesem Kontext die
Relationen verschiedener Sprachen (langues) zu beschreiben,[7] wie das Verhältnis von
Schriftlichkeit und Mündlichkeit? Welche Eigenlogiken zeichnen sich an exemplarischen Werken ab,
die (semantisch/syntaktisch/medial/etc.) stotternd Sinn generieren oder erschüttern?
Ökonomie
Wie ist der Zusammenhang von Stottern und ökonomisch-normativen Zwängen, bzw. Regularien zu
denken? Welche Sinnangebote macht die metaphorische Rede vom Stottern einer Maschine oder dem
Abstottern eines Kredits im Hinblick auf soziale/ökonomische Ordnungen und sprachphilosophische
oder poetologische Reflexion? Kann womöglich die Ästhetisierung des Stotterns als Gegendiskurs
und (in zweifachem Sinne ‚unaussprechliche‘) Kritik am fließenden Modus (Geldfluss,
Rhetorik/Redefluss, etc.) beschrieben werden? Auf welche Weise subvertiert Stottern in einem
ständigen Wechselspiel von zu-viel und zu-wenig Postulate der Eindeutig-, ja Einsinnigkeit und
wendet sich damit gegen implizite Strukturen der Effizienzsteigerung?
Funktionalisierung
Inwiefern lässt sich Stottern von scheinbar wesensähnlichen Phänomenen wie dem Stammeln oder
Brummen differenzieren? Auf welche Weise kann man Phänomene intentionalen Stotterns, sofern
dieses überhaupt noch als Stottern zu begreifen ist, und deren Übertragung fassen? Lassen sich
Diskurse beschreiben, in denen Stottern taktisch gewinnbringend (wie in ökonomischer Reinform
etwa bei Balzacs altem Grandet) eingesetzt werden kann (oder sogar ein dem alltäglichen Usus
entgegengesetzter Zwang zum Stottern herrscht?
Wir freuen uns über Vorschläge für Einzelvorträge (à 20 min), Panel (à 90 min) oder
Citation: Maximilian Wick. CFP: Nachwuchstagung "S·t·o·t·t·e·r·n. Ästhetik – Ökonomie – Funktionalität", Frankfurt am Main
(15.05.2017). H-Germanistik. 02-09-2017. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/165878/cfp-nachwuchstagug-s%C2%B7t%C2%B7o%C2%B7t%C2%B7t%C2%B7e%C2%B7r%C2%B7n-%C3%A4sthetik-%E2%80%93-%C3%B6konmie-%E2%80%93
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Workshopformate aus allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die Abstracts sollten beim
Einzelvortrag die Länge von 500 Wörtern, bzw. beim Panel oder Workshop 1500 Wörtern nicht
überschreiten und sind zusammen mit einem kurzen akademischen Lebenslauf bis zum 15.05.2017
an Victoria Pluschke ([email protected]) und Maximilian Wick
([email protected]) zu senden.
--[1]Vgl. beispielhaft: „passionné nez pasionném je | je t’ai je t’aime je | je je jet je t’ai jetez | je t’aime
passionném t’aime | je t’aime je je jeu passion j’aime“ Ghérasim Luca: Le chant des la carpe. 4.
Auflage. Paris 1986, S, 92.
[2]Gilles Deleuze: Kritik und Klinik. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2015, S. 149.
[3]FAS, 04.09.2016.
[4]Connor, Steven: Beyond Words. Sobs, Hums, Stutters and Other Vocalizations. London 2014.
[5]Das Wort lurgt kommt vom mittelhochdeutschen Verb lurggen oder lerken und bedeutet dort
'stottern' oder (genauer) mit der Zunge 'lahmen'.
[6]Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Text – Übersetzung – Kommentar. Übersetzt und hg. v. Werner
Röcke. Berlin/Boston 2012, V. 536.
[7]Gemäß Deleuze habe Lawrence „das Englische ins Stolpern“ gebracht und Kleist das Deutsche
zum „Knirschen“ Deleuze: Kritik und Klinik, S. 148.
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Nils Gelker] betreut – [email protected]
Related date:
May 15, 2017
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(15.05.2017). H-Germanistik. 02-09-2017. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/165878/cfp-nachwuchstagug-s%C2%B7t%C2%B7o%C2%B7t%C2%B7t%C2%B7e%C2%B7r%C2%B7n-%C3%A4sthetik-%E2%80%93-%C3%B6konmie-%E2%80%93
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