Neue CDs: Vorgestellt von Christine Lemke-Matwey Rassig

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Freitag, 03.02.2017
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Christine Lemke-Matwey
Rassig, zackig
Elbphilharmonie
Hamburg
The First Recording
NDR Elbphilharmonie Orchester
Thomas Hengelbrock
Johannes Brahms
Symphonies Nos. 3 & 4
Sony Classical 889854 05082
Mutige Interpretation
Winterreise | Das Editionsprojekt
Julian Prégardien
Michael Gees
P.RHÉI 1, 2
Wunderbar unprätentiös
Momo Kodama | Point and Line | Debussy | Hosokawa
ECM 481 4738
Irre flotte Tempi
Mendelssohn
Symphony No 1
Symphony No 4 ‘Italian’
Sir John Eliot Gardiner
London Symphony Orchestra
LSO 822231 17692
Neuer Stern am Opernhimmel
Aida Garifullina
Cornelius Meister
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Decca 478 83050
Hoch sensitiver Anschlag
Chopin
David Fray
Erato 0190 295896478
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Christine Lemke-Matwey, einen
schönen Freitagvormittag!
Und zu Beginn gibt es heute mal ein kleines Rätsel. Ich sage Ihnen den Komponisten meiner
ersten CD, nicht aber, wer hier wo spielt. Natürlich könnten Sie jetzt einfach ins Internet
gehen, www.swr2.de, wo die Musikliste der heutigen Sendung nachzulesen ist, aber so
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prosaisch wollen wir ja nicht sein. Also: der Komponist ist Johannes Brahms, und wir hören
den dritten Satz, Poco allegretto, aus seiner dritten Sinfonie. Was ist das für eine Aufnahme,
frage ich Sie, eine junge, eine alte, was für ein Brahms-Bild tritt uns hier entgegen, ein
Wienerisches, ein Hamburgisches, Brahms als immer-alter Rauschebart oder als gern
verkannter Progressivling? Bin gespannt, was Ihre Ohren Ihnen erzählen ...
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90, 3. Satz
6:55
Nun, was ist das für eine Interpretation? Ich behaupte mal: eine rassige, zackige, kein
Brahms mit viel Pathos oder Seele. Offenbar geht es dem Dirigenten mehr darum, die
Herkunft des deutschen Spätromantikers zu klären, ihn von Beethoven oder Schubert her zu
denken, als ihn im eigenen Vollsaft schmoren zu lassen. Und auch das Orchester leistet
willige Dienste, spielt klar, durchsichtig, manchmal aber auch ein bisschen unbeteiligt, ja
atmosphärelos.
Und damit will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen: Das waren Thomas Hengelbrock
und das NDR Elbphilharmonie Orchester mit dem dritten Satz aus Johannes Brahms‘
Sinfonie Nr. 3 in F-Dur op. 90. Aufgenommen am neuen Ort des Geschehens, in der
Hamburger Elbphilharmonie, die Anfang Januar mit mächtig viel Bohei eröffnet worden ist.
Was man zur Akustik dieser architektonischen Wunderkammer sagen kann und sagen muss,
das hört man auch hier: viel Direktschall, wenig Nachhall. Kein Klang zum Kuscheln, nichts
zum Schwelgen. Eher etwas für aufgeklärte, apollinisch-nüchterne Ohren. Das mag sich mit
Hengelbrocks norddeutscher Musizierhaltung treffen, kann beides zusammen aber auch
etwas viel werden. Wo bleibt das Ungefähre, das Romantische im guten Sinn, fragt man
sich, wo sind die Räume, in denen sich der Klang mischt und in Poesie wendet? Man muss
nicht Carlos Kleiber im Ohr haben, um das zu fragen, man kann aber Carlos Kleiber im Ohr
haben, gerade beim Kopfsatz der Vierten, Allegro non troppo.
Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98, 1. Satz
12:30
Johannes Brahms im 21. Jahrhundert: Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter seinem
Chefdirigenten Thomas Hengelbrock mit dem ersten Satz aus der Sinfonie Nr. 4 in e-Moll
op. 98 – und das ist die erste Aufnahme überhaupt, die im großen Saal der Hamburger
Elbphilharmonie gemacht wurde. Ein historisches Dokument, an das man sich erinnern wird,
wenn Musiker und Saal, Akustik und Architektur in ein paar Jahren besser
zusammengewachsen sein werden, als dies momentan der Fall sein kann.
Sie hören „SWR2, Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ mit Christine Lemke-Matwey – und das
war sozusagen mein Präludium.
Weiter geht es mit Musik von Schubert, Debussy, Hosokawa, Mendelssohn, Gounod,
Tschaikowsky und Chopin. Die Sänger Julian Prégardien und Aida Garifullina, die Pianisten
Michael Gees, Momo Kodama und David Fray, die Dirigenten John Eliot Gardiner und
Cornelius Meister sowie das London Symphony Orchestra und das ORF RadioSymphonieorchester Wien sind die Interpreten dieses Vormittags. Und das wollen wir doch
jetzt einmal ein bisschen ordnen. Einen echten roten Faden gibt es nämlich nicht, außer
dass sowohl Prégardiens „Winterreisen“-Projekt, das ich Ihnen gleich vorstellen werde, als
auch Momo Kodamas neue Platte bei ECM mit musikalischen Spiegelbildern arbeiten.
Kodama konfrontiert Debussy mit Stücken des zeitgenössischen japanischen Komponisten
Toshio Hosokawa – und Julian Prégardien und sein Pianist Michael Gees garnieren die
„Winterreise“, tja, mit Einsprengseln von Scarlatti und Mendelssohn. Was genau es damit auf
sich hat, erfahren Sie nach der nächsten Musik. Zuvor aus der „Winterreise“ die Lieder
„Erstarrung“ und „Der Lindenbaum“ – und dazwischen eine kleine Scarlatti-Sonate. Julian
Prégardien und Michael Gees.
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Franz Schubert: „Winterreise“, „Erstarrung“
Domenico Scarlatti: Sonata in c K 11
Franz Schubert: „Winterreise“, „Der Lindenbaum“
9:25
So wie Sie das eben gehört haben, ist es sicher nicht gemeint. Die Scarlatti-Sonate zwischen
den Schubert-Liedern soll sicher eher trennen als verbinden. Man höre die „Winterreise“ also
nicht zyklisch und darüber hinweg, sondern vielmehr unterbrochen bzw. verschiedentlich
gerahmt.
Diese Einteilung des Zyklus in Gruppen hat ein konkretes historisches Vorbild: eine Soirée,
die die Pianistin Clara Schumann und der Bariton Julius Stockhausen 1862 in Hamburg
gaben. Diese Aufführungspraxis, typisch fürs 19. Jahrhundert, beleben der Tenor Julian
Prégardien und der Pianist Michael Gees jetzt sozusagen wieder. Das heißt: „Winterreise“
plus Scarlatti plus Bach plus Mendelssohn – oder was einem noch so einfiele, um die
verschiedenen Bedürfnisse und Interessen des zeitgenössischen Publikums zu befriedigen.
Bunt musste der Abend sein, Virtuosen durften ihr Können zeigen, bekanntes und
unbekanntes Repertoire sollte sich möglichst die Waage halten.
Frage: Ist das jetzt nur historisch aufschlussreich oder auch heute sinnvoll? Ein Konzept, das
weg vom ehernen Werkbegriff will, hin zu einer mehr praktizierten Werkgestalt? Der
Gedanke ist faszinierend, und so nennen Prégardien und Gees ihre Plattform auch „Panta
rhéi“, alles fließt – mit der „Winterreise“ als erstem Projekt. Ich sag mal so: Die Ohren
erfrischt dieser Zugang, aus dem Trott der Lieder 1 bis 24 immer wieder herausgerissen zu
werden, das hat zweifellos etwas. Aber es lenkt auch ab, nicht zuletzt von Prégardiens
teilweise sehr toller, sehr mutiger Interpretation. Ganz am Ende fragt man sich allerdings
schon, was gewonnen ist, wenn das letzte Lied, „Der Leiermann“, gleichsam eingepackt wird
von einer Klavier-Improvisation vorneweg und dem Schuberts Melodram „Abschied von der
Erde“ hinterdrein. Braucht die „Winterreise“ das wirklich?
Franz Schubert: „Winterreise“, „Die Nebensonnen“
Improvisation
Franz Schubert: „Winterreise“, „Der Leiermann“
6:35
So richtig geht das nicht, finde ich. Abgesehen davon, dass es unglaublich schwer ist, dieses
späte Schubert-Melodram so zu sprechen, dass es nicht peinlich wird (das hat selbst Dietrich
Fischer-Dieskau nicht geschafft!), abgesehen davon hat der „Leiermann“ eine solche
Konkretion einfach nicht nötig hat. Im Gegenteil, sie macht ihn schwach, blass, raubt ihm
jede utopische Dimension. Aber ohne Risiko geht es nun einmal nicht, mutig und ein Wurf ist
dieses „Winterreisen“-Projekt allemal. Wir hörten den Tenor Julian Prégardien und den
Pianisten Michael Gees.
Doppelspurig arbeitet auch die japanische Pianistin Momo Kodama auf ihrer neuen CD, der
zweiten für das Label ECM. „Point and Line“ nennt sie ihr Album, Punkt und Linie, es finden
sich darauf Etüden-Werke von Claude Debussy und Toshio Hosokawa, die nicht einfach
nebeneinander gestellt werden, sondern sozusagen ineinander „verhäkelt“ werden, wie es im
Booklet heißt. Beginnen wir mit Debussy, aus seinen „Etudes pour piano“ (Lesure 136) die
Nr. 1: „Pour les cinq doigts – d'après Monsieur Czerny“.
Claude Debussy, Etudes pour piano,
Pour les „cinq doigts“ – d'après Monsieur Czerny Etude I
3:15
„Für alle fünf Finger – im Geiste Czernys“, so hat Claude Debussy diese Etüde
überschrieben, und genau das hört man in dieser wunderbar unprätentiösen, perlend klaren
Aufnahme: die Finger, natürlich, den alten Czerny, den Witz des späten Debussy, und wie
sich hier die Zeiten, Stile und Räume geradezu magnetisch durchdringen. Es spielte die
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Pianistin Momo Kodama. Ganz offensichtlich hat Kodama sich von Debussys Worten nicht
abschrecken lassen, seine Etüden sollten denjenigen eine Warnung sein, die glaubten, man
könnte ohne durchtrainierte Hände Pianist werden. Entsprechend schwer, ja virtuos sind die
einzelnen Stücke.
Die Schwierigkeiten bei Toshio Hosokawa liegen auf anderem Gebiet, und natürlich setzt die
Verflechtung dieser beiden Komponisten auf einer CD so etwas wie einen Dialog zwischen
West und Ost in Gang, zwischen Asien und Europa. Das zu Übende bei Debussy versteht
sich durchaus im manuell-pianistischen Sinn, hier soll Technik trainiert werden, Quarten,
Sexten, Oktaven, Arpeggien. Bei dem heute 62-jährigen Hosokawa geht es mehr um
geistige Haltungen, um Formen der Spiritualität und Konzentration. Auch das lässt sich
nämlich üben. Hören Sie die folgende erste seiner Etüden doch einfach als Haiku.
Toshio Hosokawa: 2 Lines (Etude I)
5:10
Musik wie eine Tuschezeichnung: ein bisschen lapidar und doch ausgesprochen tiefsinnig,
wie das Substrat aus einer viel längeren Komposition. Momo Kodama mit „2 Lines“ von
Toshio Hosokawa, der ersten seiner insgesamt sechs Etüden. Ich kann Ihnen das hier nicht
richtig vorführen, aber wie sich die Klangwelten dieser beiden Komponisten, Hosokawa und
Debussy, auf dieser CD verschränken, das hat etwas Bestrickendes, da entspinnt sich ein
Dialog über Kontinente und Jahrhunderte hinweg. Momo Kodama, Point and Line,
erschienen bei ECM.
Wenn ich die Ingredienzien meiner nächsten Aufnahme zusammenrühre, dann kommt
ebenfalls etwas ziemlich Polyglottes dabei heraus: ein deutscher Komponist, der sich nicht
nur musikalisch nach Italien träumte, eine Londoner Uraufführung, die eigentlich keine war,
sowie ein Londoner Orchester und ein englischer Dirigent, der mehr aus der Alten Musik
stammt und gerade in Buchform sein Credo zu Johann Sebastian Bach abgelegt hat. Die
Rede ist – Sie haben es vielleicht schon erraten – von Felix Mendelssohns Italienischer
Sinfonie in einem Mitschnitt des London Symphony Orchestra unter Sir John Eliot Gardiner.
Der vierte Satz, Presto, ein Saltarello:
Felix Mendelssohn Bartholdy: Sinfonie Nr. 4, „Italienische“, 4. Satz
5:20
Ein funktionierendes Zuhause haben sie bis heute nicht, nur das angegrabbelte BarbicanCenter, dessen Konzertsaal für großes Repertoire viel zu klein ist – die Musiker des London
Symphony Orchestra. Aber sie haben ein eigenes Plattenlabel, LSO genannt, wie das
Orchester selbst, eine Erfindung es verflossenen Chefdirigenten Valery Gergiev. Dieses
Label wird fleißig mit Mitschnitten bestückt, so auch hier: Zweimal Mendelssohn mit dem
LSO unter John Eliot Gardiner finden sich auf der neuen CD, die Vierte, die berühmte
„Italienische“, deren Schlusssatz wir eben hörten, sowie die weniger bekannte erste Sinfonie,
ein Jugendwerk.
Dass Mendelssohn in England Tradition hat, das spürt man vom ersten Ton an. Die
Engländer haben mit ihm einfach kein Problem, sie fragen sich nicht, ist das jetzt deutsche
Musik oder nicht, ist sie „tief“ genug oder doch nur flüchtig, elegant und im Zweifelsfall
einfach zu glatt und zu schön. Was der Sache zusätzlich gut tut, zusätzlich zum Drive der
Gardiner-Aufnahme und ihren irre flotten Tempi, einfach weil es eine gewisse Härte mit sich
bringt, in der Artikulation, in der Phrasierung, das ist: Gardiners Herkunft aus der historisch
informierten Aufführungspraxis. Mendelssohn war ja selbst ein rechter Traditionshuber, das
heißt, er kannte sich aus mit den alten Meistern und den Gesetzen der musikalischen
Rhetorik. Darin erkennt Gardiner ihn wieder. Und was die Vierte betrifft, so lässt er die
Uraufführungsfassung von 1833 spielen, die Sinfonie hat es zu Lebzeiten des Komponisten
nie bis zur Druckreife geschafft, was man gerne vergisst.
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Als er seine erste Sinfonie schrieb, war Felix Mendelssohn vierzehneinhalb Jahre alt. Und
auch hier betätigt sich Gardiner sozusagen als Gentleman-Archäologe: Für die englische
Erstaufführung des Werks 1829 nämlich ersetzte der Komponist den dritten Satz, ein
Menuett, durch das Scherzo aus seinem Oktett op. 20 – als wollte er sagen: Seht her, ich bin
das! Ich bin der, der das berühmte Oktett geschrieben hat! Warum sollte nicht auch seine
erste Sinfonie davon profitieren?
Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 1, 3. Satz
4:00
John Eliot Gardiner und das London Symphony Orchestra mit dem dritten Satz aus
Mendelssohn erster Sinfonie, so wie er 1829 in London erklang, als Wiedergänger des
Scherzos aus seinem berühmten Oktett. Luftiger, richtiger kann Mendelssohn kaum klingen.
Und wir bleiben jugendlich im Treffpunkt Klassik in SWR2. Vorname: Aida. Jahrgang: 1987.
Geboren in Kazan, der Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan, als Tochter von
Tataren (die vor Urzeiten mit den Mongolen in Russland einfielen). Die Mutter: Chorleiterin
am örtlichen Konservatorium, entsprechend früh wird die sängerische Begabung der Tochter
entdeckt und gefördert. Ihr großes Vorbild: Anna Moffo. Mit 17 zieht sie nach Nürnberg, um
bei Siegfried Jerusalem zu lernen (eine erstaunliche Wahl), mit 19 geht sie nach Wien, um
dort weiter zu studieren, und dort macht sie 2011 auch ihren Abschluss. 2013 gewinnt sie
Placido Domingos Operalia-Wettbewerb in Verona, ihr internationaler Durchbruch. Seit 2014
ist sie Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, jetzt veröffentlicht sie bei Decca ihr
Debütalbum, das so heißt, wie sie selbst: Aida Garifullina. So könnte der Steckbrief der
jungen Sopranistin lauten, die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte, und die, weil sie aus
Russland kommt und sehr früh schon mit Valery Gergiev musiziert hat, sofort als neue Anna
Netrebko gefeiert wird, wie sollte es anders sein. Ich bin bei solchen Reflexen eher
skeptisch, wie viele neue Callasse hat die Welt schon gesehen – gehalten hat sich keine
einzige von ihnen. Mit der jungen Netrebko aber dürfte es Aida Garifullina allemal
aufnehmen, schon ihrer Koloraturen wegen, die wie junge Hunde durch den Notentext tollen:
kraftstrotzend und im wahrsten Wortsinn lebenslustig.
Charles Gounod: „Roméo et Juliette“, „Ah! Je veux vivre“
3:50
Die Arie der Juliette, „Ah! Je veux vivre“ aus Charles Gounods Oper „Roméo et Juliette“,
Aida Garifullina war das, begleitet vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter
Cornelius Meister. Vielleicht ist hier noch ein bisschen wenig Sprache drin und ein bisschen
sehr viel Musik – aber bei wem hat man das schon: ein Zuviel an Temperament und
Begabung, einen Überschuss an Wollen, eine überschäumende Freude am eigenen Tun.
Weniger wird das von ganz allein. Garifullina hat das alles und noch viel mehr. Ein
jauchzendes, rotkehlchenreines Timbre, Urmusikalität und Sinnlichkeit in der Stimme, eine
perfekte Technik – und obendrein sieht sie auch noch entzückend aus.
Die Fotos im Booklet ihrer Debüt-CD könnten weniger divenhaft verkünstelt sein, klar, das
hat sie nicht nötig, das ist sie auch gar nicht. Aber solche Sachen muss sie eben noch
lernen, und hoffentlich tut sie das. Die Gefahr, mit diesen in jeder Beziehung
marktkompatiblen Voraussetzungen zum Star hochgepustet zu werden, ohne sich
künstlerisch entwickeln zu können, diese Gefahr ist schon ziemlich groß. Hoffen wir, dass
Garifullinas tatarische Wurzeln zusammen mit ihrer russischen Seele stark genug sind, um
die Bodenhaftung nicht zu verlieren: „Spi, mladenets moy prekrasny“
Peter Tschaikowsky: „Mazeppa“, „Marias Wiegenlied“
2:55
„Bajuschki-baju“: Marias Wiegenlied aus „Mazeppa“ von Peter Tschaikowsky, und wer
möchte nicht von dieser Stimme in den Schlaf gesungen werden. Aida Garifullina war das,
der neue Stern am Opernhimmel. Passen wir gut auf ihn auf.
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Von Tschaikowsky zu Frédéric Chopin ist der Weg nicht weit. Weil die russische Seele recht
eigentlich eine slawische Seele ist und keine Ländergrenzen kennt. Und weil die
Melancholie, diese Schwere und Schwärze des Gemüts vielen musikalisch als suspekt gilt,
als sentimental, larmoyant und nicht ernst zu nehmen. Nun war der gebürtige Pole und
Wahl-Franzose Chopin sicher auch Melancholiker, jeder Romantiker ist das, aber nicht nur.
Es gibt durchaus auch heitere, lichte, freundliche Stücke aus Chopins Feder. Die
Zusammenstellung aus Nocturnes, Mazurken, Polonaisen und Walzern freilich, die der
Pianist David Fray jetzt für sein Chopin-Debüt getroffen hat, ertrinkt geradezu in Düsternis
und heiligem Ernst. Ganz schön harte Kost, möchte man meinen, das fängt bei den Tonarten
an: Mazurka in cis-Moll op. 63 Nr. 3.
Frédéric Chopin: Mazurka cis-Moll op. 63 Nr. 3
2:15
David Fray mit einer Mazurka von Chopin. Seinen Namen hat sich der 35-jährige
französische Pianist bislang ja eher mit deutschem Repertoire gemacht, mit Bach und
Schubert. Das heißt auch: Es gab da wohl eine gewisse Berührungsscheu in Richtung
Chopin, dem Nationalheiligen. Diese Scheu versucht Fray nun damit zu kompensieren, dass
er die einschlägigen Bravour- und Heroenstücke meidet. Das ist verständlich, wirkt aber
auch ein bisschen angestrengt. Dabei hätte und hat er alle pianistischen Möglichkeiten,
diesem Komponisten zu begegnen: Einen hoch sensitiven Anschlag, ein feines Gespür für
Farben und Nuancen, die Intuition für das richtige Timbre, einen luziden Umgang mit den
Mittelstimmen. Und überhaupt die nötige Eleganz im Auftreten.
Fray ist ein Atmosphäre-Musiker, keiner, der in erster Linie Strukturen herausmeißelt oder in
vordergründigen erzählerischen Verläufen denkt. Das aber, finde ich, braucht Chopin,
braucht er auch, gerade weil er selbst ein solcher Meister der Stimmung und des poetischen
Zaubers ist. Es braucht ein paar Körnchen Schmutz, es braucht die schwiemeligen Ecken
der Pariser Salons, um eine Musik wie das Ges-Dur Impromptu op. 51 Nr. 3 in existenzieller
Weise zum Funkeln zu bringen. Mit Versonnenheit, mit Dezenz allein ist es hier nicht getan,
aller Noblesse des Anschlags zum Trotz.
Frédéric Chopin, Impromptu Ges-Dur op. 51 Nr. 3
5:00
David Fray spielt Chopin, das Impromptu in Ges-Dur op. 51 Nr. 3, und das findet sich neben
allerlei Nocturnes und Mazurken auf der neuen CD des französischen Pianisten, „Chopin“
heißt sie, ist bei Erato erschienen und zeigt den Interpreten auf ihrem Cover übrigens ganz
im Stile historischer Fotografien des 19. Jahrhunderts – Fray als Chopin, wenn man so will,
zumindest die Frisur, das kinnlange Künstlerhaar, stimmt da schon mal.
Das war's für heute, damit geht „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ zu Ende. Alle
Angaben zu den Neuaufnahmen finden Sie wie immer im Internet, auf unserer Homepage
unter www.swr2.de. Dort können Sie die heutige Sendung auch noch nachhören, und zwar
eine ganze Woche lang. Hier im Programm geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, und
danach folgt „Aktuell“ mit den 12 Uhr-Nachrichten. Ich bin Christine Lemke-Matwey und
wünsche Ihnen einen schönen Tag.