20170123 MSM Finanzen Und plötzlich

Und plötzlich explodierte der Wert einer Schweizer Firma
Aus 40'000 Franken 6,4 Milliarden gemacht: Während General Electric in der Schweiz Stellen
abbaut, ist dem US-Konzern mit seiner Tochterfirma ein Kunststück gelungen.
Der US-Gigant General Electric spart Steuern mit Schweizer Hilfe. Die hiesige Tochter ist Teil
eines Steuerkonstrukts, über das Milliarden verschoben werden. Und das ging so: In nur 60
Minuten stieg der Wert einer in Baden AG registrierten Firma um das 167'500-Fache. Ein
Meisterwerk, das der US-Konzern General Electric (GE) mit seiner Aargauer Tochterfirma GE
Energy Switzerland vollbrachte. Dabei blieb jedoch alles in der Familie: Am Montag, 21.
Dezember 2015, 12 Uhr wurde GE Energy Switzerland von der holländischen GE Energy Europe
an die ungarische GE Hungary verkauft. Für die Schweizer Firma zahlen die Ungarn lediglich den
Preis der Stammaktien: 40'000 Franken.
Am selben Tag um 13 Uhr wurde GE Energy Switzerland von den Ungarn wieder verkauft – an
jene Firma, die sie eine Stunde zuvor abgestossen hatte: die holländische GE Energy Europe. Als
Verkaufspreis wird in ungarischen Dokumenten ein «marktkonformer Preis» genannt: 1860
Milliarden Forint oder 6,4 Milliarden Schweizer Franken. Den Holländern war eine Firma, die sie
eine Stunde zuvor sehr günstig verkauft hatten, plötzlich Milliarden wert.
In dieser einen Mittagsstunde war aber auch die Schweizer Firma selbst aktiv. GE Energy
Switzerland kaufte von ihrem kurzzeitigen Besitzer GE Hungary den immerwährenden Zugang zu
Kundendateien, Patenten und Anweisungen für Prozesssteuerungen. Für die Übertragung
geistigen Eigentums zahlten die Schweizer 2360 Milliarden Forint oder 8,1 Milliarden Franken.
Hätte GE Switzerland den Betrag stattdessen in der Schweiz als Gewinn gemeldet, hätten
Gemeinden, Kanton und Bund bis zu 1,5 Milliarden Franken bekommen. Im Aargau liegt der
reguläre Satz für die Unternehmensgewinnsteuer bei 18,5 Prozent. Wie viel Steuern hat GE
tatsächlich bezahlt? Der Konzern sagt, er kommentiere prinzipiell keine
Unternehmensergebnisse auf Landesebene.
Insgesamt erhielt die GE Hungary an diesem Tag durch den Verkauf der Schweizer Firma und der
immateriellen Güter 14,5 Milliarden Franken und konnte damit eine sensationelle
Ertragssteigerung melden. 2014 schrieb sie noch 14 Milliarden Forint Verlust. 2015 konnte sie
3550 Milliarden Forint oder 12 Milliarden Franken Gewinn als Dividende auszahlen. Die
ungarische Rechercheplattform «Atlatszo» schätzt, dass dieser Gesamtgewinn in Ungarn
höchstens mit 2 Prozent versteuert wurde.
Laut GE wurden die Transfers von Rechten, Technologie und Inventar von GE Hungary an GE
Energy Switzerland «zu angemessenen Marktwerten vorgenommen und unabhängig verifiziert».
Die Transaktionen seien vollständig offengelegt und «vor ihrer Durchführung mit
Steuerbehörden und nicht steuerlichen Behörden sowohl in Ungarn als auch in der Schweiz
diskutiert» worden. GE habe alle Steuergesetze und Rechtsordnungen eingehalten.
Dass internationale Konzerne ihre Gewinne in Europa zwischen Tochterfirmen so lange hin und
her schieben, bis sich die Steuerlast gegen null bewegt, ist gängige Praxis und umstritten.
Bekannt ist vor allem das «Double Irish with a Dutch Sandwich», das Konzerne wie Google,
Amazon oder Apple anwenden. Dabei werden Gewinne zwischen Firmen in Irland und den
Niederlanden verschoben und die Gewinnbesteuerung durch den Scheinverkauf von geistigem
Eigentum gegen null gedrückt. Die EU-Kommission will dieser Praxis einen Riegel vorschieben.
Apple wurde zu Steuernachzahlungen von 13 Milliarden Euro verdonnert. Google musste
zugeben, 2014 in Europa 11 Milliarden Euro durch legale Steuerschlupflöcher geschleust zu
haben.
Video – Mitarbeiter in Baden wehrten sich gegen einen Abbau (Januar, 2016):
Dass General Electric auf ähnliche Weise Steuern spart, war bisher unbekannt. Die Niederlande
sind zwar auch dieses Mal beteiligt, doch statt Irland kommen nun die Schweiz und Ungarn ins
Spiel. Das Sandwich von GE besteht aus holländisch-magyarischen Scheiben – mit einem
Schweizer Belag.
Besonders pikant ist die üppige Mahlzeit, weil sich der Konzern zur selben Zeit eine
Schlankheitskur verordnete. Während in Budapest mit ein paar Unterschriften und Mausklicks
Milliarden verschoben wurden, arbeitete das Management in der Konzernzentrale an einem
Plan zur massiven Stellenreduktion.
Nachdem GE im November 2015 die Energiesparte des französischen Unternehmens Alstom
übernommen hatte, kündigte der Konzern den Abbau von 6500 Stellen in ganz Europa an. 1300
Jobs sollten an den Schweizer Produktionsstandorten in Baden, Birr, Dättwil, Turgi und
Oberentfelden gestrichen werden. Der bisherige Verwaltungsratspräsident von Alstom Schweiz,
Alt-Bundesrat Joseph Deiss, durfte hingegen bleiben. Er wechselte in die Geschäftsleitung von
GE.
Schweiz am stärksten getroffen
Im Vergleich zu den anderen Ländern, in denen Alstom von GE übernommen wurde, sei die
Schweiz am stärksten vom Personalabbau betroffen gewesen, sagt Diego Frieden,
Zentralsekretär Sektor Industrie der Gewerkschaft Syna. Zwar sollten sich die
Restrukturierungsmassnahmen über zwei Jahre erstrecken, «aber der Grossteil des
Stellenabbaus fand bereits im ersten Jahr statt». Der Schock im Aargau war gross: Die
Gewerkschaften protestierten, die Kantonsregierung richtete eine Taskforce ein.
Nach zähen Verhandlungen erreichten Regierung, Arbeitnehmervertreter und Betriebsräte, dass
die Geschäftsführung statt 1300 weniger als 900 Stellen einspart. Einige Mitarbeiter gingen
freiwillig, einige wurden in Frühpension geschickt, für die anderen gab es einen Sozialplan. GE
betont, dass in der Schweiz 200 Millionen Franken in Forschung und Entwicklung investiert
worden seien. Die endgültige Zahl der Entlassungen stehe nicht fest, bis jetzt seien nur acht
Personen beim Arbeitsamt gemeldet worden.
Heute sei die Lage stabil, sagt Gewerkschafter Frieden. Weitere Sparmassnahmen erwartet er
nicht. Die Mitarbeiter würden wieder optimistischer in die Zukunft blicken. Sollte aber der
Milliardentransfer nach Ungarn tatsächlich so stattgefunden haben, «würde das schon einen
sehr komischen Geschmack hinterlassen».
Deiss schweigt
Joseph Deiss schied unmittelbar danach, im Frühjahr 2016, bei GE aus. Über die Gründe
schweigt er bis heute. Wusste er von den Milliardentransfers nach Ungarn? Gab er sein Okay?
Deiss lässt dem TA durch einen Medienberater mitteilen, dass er nichts sagen werde. Auch der
für Volkswirtschaft zuständige Aargauer Regierungsrat Urs Hofmann hüllt sich in Schweigen. Er
könne «aus Datenschutzgründen» nichts sagen, lässt er ausrichten.
Während im Aargau um jeden einzelnen Arbeitsplatz gefeilscht wurde, war man bei GE eifrig
mit der Gründung neuer Firmen beschäftigt. Von August 2015 bis Dezember 2016 wurden in
Baden mindestens zehn Firmen mit dem Kürzel GE im Namen registriert. Manche gingen noch
am Gründungstag in einer anderen GE-Firma auf. Milliarden Franken wurden verschoben. Mit
dem Versprechen von GE, die Unternehmensstruktur zu vereinfachen und zu fokussieren, ist
das schwer vereinbar. Mit dem Firmenmotto schon eher: «Imagination at Work».
Ein Beispiel: GE Energy Parts wurde am 14. Juli 2016 in Aarau registriert und am selben Tag mit
GE Energy Switzerland fusioniert. Obwohl eben erst gegründet, brachte die neue Firma 3,3
Milliarden Franken in die Fusion ein.
Neben dem Kürzel GE im Namen haben die vielen neuen Firmen in der Schweiz eine weitere
Gemeinsamkeit: ihren Geschäftsführer. Der 49-jährige Ernst Frederik Kraaij ist ein
ausgewiesener Steuerexperte. Er studierte Steuerrecht in Rotterdam und war Senior Tax
Manager bei der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsfirma Ernst & Young. Heute ist er
Direktor von 20 GE-Tochterfirmen. Ein Interview mit Kraaij bekam der TA nicht.
Ein massgeschneidertes Gesetz?
GE Energy Switzerland ist im Vergleich zu diesen Firmen relativ alt. Die Firma wurde im August
2015 gegründet – genau zu jener Zeit, als in Budapest die ungarische Regierung eine besondere
Steuererleichterung für internationale Konzerne beschloss.
Der «Expansions-Steuerkredit» («Tax Credit for Growth») gewährt eine Ratenzahlung der
Unternehmensteuer über zwei Jahre sowie zusätzliche Erleichterungen der Steuerlast bei 90
Prozent des zu versteuernden Vermögens. Gewinne aus dem Verkauf geistigen Eigentums
werden in Ungarn zudem besonders gering besteuert. Voraussetzung: Das Unternehmen muss
drei Jahre in Ungarn registriert sein und seinen Gewinn im Vergleich zum Vorjahr mindestens
versechsfachen. Die ungarische Regierung behauptet, dass 70 multinationale Unternehmen die
Vergünstigung in Anspruch nehmen könnten. Der EU-Abgeordnete Benedek Javor von der
Oppositionspartei Dialog für Ungarn glaubt hingegen, dass der «Expansions-Steuerkredit» für
General Electric massgeschneidert worden sei. «Das ist ein ausgeklügelter Plan zur
Steuervermeidung, in dem die Schweiz eine entscheidende Rolle spielt», sagt Javor.
Im April 2016 fragte der EU-Abgeordnete Csaba Molnar von der ungarischen Partei
Demokratische Koalition die EU-Kommission, ob der «Expansions-Steuerkredit» mit EU-Recht
vereinbar sei. Die Antwort: Man warte auf Auskünfte aus Budapest. In der Schweiz werde die
GE-Transaktion noch zu erheblichen Kopfschmerzen führen, prophezeite das ungarische
Rechercheportal «Atlatszo», das als Erstes über den Steuerdeal berichtete: Was auf der
ungarischen Seite als Einnahme aufscheine, gehe in der Schweiz als Steuereinnahmen verloren.
Und es handle sich auch für Schweizer Verhältnisse um viel Geld.
Wohin dieses Geld letztendlich floss, ist im Geflecht der GE-Firmen kaum zu ermitteln. Dass die
Schweizer Firmen von GE-Gesellschaften mit Sitz in Delaware übernommen werden, könnte ein
Hinweis sein. Der US-Bundesstaat wird von der amerikanischen NGO Institut für Besteuerung
und Wirtschaftspolitik (Itep) in einer Studie vom vergangenen Jahr als die «attraktivste
Steueroase für Konzerne» bezeichnet. Einen anderen Hinweis auf Offshoregesellschaften gibt
eine Managerin auf einem der zahlreichen Verkaufsverträge der Schweizer GE-Firmen. Ihre
Unterschrift leistet die Frau in einer ebenso bekannten wie beliebten Steueroase – auf den
Bermuda-Inseln.