1.2 MB - ART DOCK ZÜRICH

So long, Marianne
Ewa Hess am Mittwoch den 25. Januar 2017
Liebe Leserinnen und Leser des Private View, ich habe Ihnen bereits in begeistertem Ton von Art Dock berichtet – das war
anlässlich der Ausstellung «Frauenpower» letzten Herbst. Letzte Woche erreichte mich ein Ruf vom Art-Dock-Gewaltigen Ralph
Bänziger: Komm! Es gibt etwas Aussergewöhnliches zu sehen! Meine Agenda war schon voll, doch ich fuhr noch spät am
Abend hin – der Fotokünstler Hennric Jokeit kam mit und machte die schönen Porträts Bänzigers, die Sie hier sehen.
Was: Gedenkausstellung der Gemälde und Zeichnungen von Marianne Wydler (1939–2016)
Wo: Art Dock, Hohlstrasse 258-260, Zürich
Wann: 23.1. bis 12.2.2017
Nachts im Art Dock: Ralph Bänziger zeigt uns Erinnerungen an Marianne Wydler.
Fotos: Hennric Jokeit
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Wie eine Art Wal oder Dinosaurier liegen die ehemaligen Güterbahnhof-Hallen neben dem Hartplatz, in dieser kalten Nacht ist
gerade die Heizung ausgefallen. Bänziger kratzt das wenig, den 77-Jährigen wärmt das innere Feuer. Kurz von den Feiertagen
erreichte die Art-Dockler die Nachricht vom Tod Marianne Wydlers, der Zürcher Malerin, die früher mal die Schweizer Popart
miterfand und in der späteren Phase ihres Schaffens betörend schöne Stillleben schuf.
Marianne Wydler, «Stillleben mit Gingertopf», Öl auf Leinwand, 2015, 64 x 70 cm, 4200 Fr.
Nun muss man wissen, dass sich Art Dock einem ganz besonderen Dienst am zürcherischen Patrimoine verschrieben hat:
Es geht darum, dass das nachgelassene Werk von Künstlerinnen und Künstlern nicht mit ihnen gemeinsam verschwindet,
sondern dass es noch dableibt, mit uns, für uns, materieller Zeuge der Zeit und auch ein lebendes Wesen, das seine eigene
Geschichte noch schreiben kann, auch über den Tod des Künstlers hinaus.
Authentisch ungezähmt: Art Dock beim Hartplatz in Zürich-West.
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Eigentlich selbstverständlich, nicht wahr? Aber eben doch nicht, denn die Museen sind voll. Zum Bersten voll! Mit 1A-Kunstware. Und die Erben oft überfordert. Nachlässe von den zwar wunderbaren, aber eher nur lokal bedeutenden Bildhauern,
Malern und vor allem auch ihrer notorisch unterschätzten weiblichen Pendants finden in den Depots der grossen Häuser kein
Zuhause.
Das Zuhause der nachgelassenen Zürcher Skulpturen. Unverkennbar: Otto Müllers Köpfe
Man muss nur einen Blick in die Gleis-Galerie des Art Docks hineinwerfen, um zu verstehen. Dort stehen, geheimnisvoll, Nase
an Nasse, die Skulpturen von Otto Müller, Trudi Demut, ja, sogar der grossen Germaine Richier. Eine wunderschöne Menge
von Figuren ergibt das. «Das wäre alles nicht mehr da, hätten wir es nicht aufbewahrt», sagt Bänziger. Selbst den minderen
Werken von Richard Kissling, dem Schöpfer des stolzen Alfred-Escher-Denkmals am Bahnhofplatz in Zürich, sei kein Nachleben vergönnt gewesen, erzählt Bänziger, viele seiner Gipse und Bronzen seien in den See «entsorgt» statt aufbewahrt worden.
Mit dem Laufe der Jahre fand man eben die heroischen Gesten des 19. Jahrhunderts nicht mehr so cool. Immerhin stehen
Kisslings Escher vor dem Zürcher Bahnhof und auch der Wilhelm Tell in Altdorf immer noch stolz und trutzig da.
Werke von Marianne Wydler, im Art Dock zu erwerben.
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Und nun geht Marianne Wydler von uns, die schöne, beliebte Malerin, einst Gefährtin Paul Nizons, für die er einen wunderschönen Text schrieb, den ich hier weiter unten im Manuskript-Ausschnitt zeigen darf.
«Lukullische Schönheit», ein Text Paul Nizons über das Werk von Marianne Wydler.
Der Mann, mit dem Marianne Wydler zuletzt ihr Leben teilte, stammt aber aus Chile. Nach dem Tod seiner Partnerin plant er
eine Rückkehr in die Heimat – das Werk sollte mit ihm dorthin, nach Südamerika «wo es aus dem kollektiven Gedächtnis des
Ortes, wo es entstanden ist, wo es kulturell verwurzelt ist, für immer verschwände», sagt Bänziger. Der beherzte Art-Dockler,
seines Zeichens Architekt, der aber schon als «Phantom des Güterbahnhofs» bezeichnet worden ist, führt uns in die oberen
Säle, um zu zeigen, was den Ausstellungsmachern gelungen ist, in wenigen Wochen zusammenzutragen: eine umfangreiche
Retrospektive Wydlers!
In wenigen Wochen zusammengetragen: Umfangreiche Retrospektive Marianne Wydlers.
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An der Vernissage am Sonntag, wenige Tage nach unserem nächtlichen Besuch im eiskalten Art Dock, zitiert Peter Killer einen
Satz von Harald Szeemann, den er kurz vor seinem Tod geäussert haben soll: «Es gibt keinen Fortschritt mehr, aber Bereicherungen aller Art.» Das passt wunderbar zu diesem stillen Werk, das hier von allen Seiten sichtbar wird.
Bereicherung: «Korb mit Fischen», Öl auf Leinwand, 2010, 42 x 60 cm, 4300 Fr.
Dass die ehemalige Popkünstlerin Marianne Wydler zu einer Malerei gefunden hat, die an holländische Altmeister anknüpft,
mag schon etwas anachronistisch Rückgewandtes haben. Und doch ist ihr Werk genau das, eine beglückende Bereicherung.
Diese Bilder leuchten ganz besonders. In der Struktur der Krüge, Früchte, im Kräuseln des Blumenkohls und im roten Aufbrechen der Wassermelone offenbart sich das schönste Geheimnis der materiellen Welt: Mit ihrer selbstverständlichen Grosszügigkeit tröstet sie uns über das unvermeidliche Platzen der Träume.
«Mädchen auf roten Kissen» aus Privatbesitz: Die Künstlerin in eigener Erinnerung?
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Viele der Bilder in der Ausstellung kann man kaufen. Die Preise sind verglichen mit dem, was man heute für Kunst zahlt, moderat, auch wenn ich keinen Hehl daraus mache, dass das keine «Flipper»-Bilder sind, also solche, die man jetzt kaufen und
später mit Gewinn verkaufen kann. Nein, diese Bilder sollten Sie einfach haben wollen. Und wer wollte sie nicht haben? Ich bin
schon am Rechnen, ob ich mir dieses reizende Doppelporträt eines Radieschenbundes nicht etwa doch leisten kann … Die
Initiatoren der Ausstellung sehen sich in dieser Hinsicht als Matchmaker an: Wenn sich ein Besitzer und ein Bild finden, macht
das die Engel im Zürcher Künstlernachlass-Himmel glücklich.
Leuchten der materiellen Welt: Lachs, Blumenkohl oder Spargeln von Marianne Wydler.
Anschauen soll man sich die Schau auf jeden Fall. Denn es sind für die kurze Zeit der Ausstellung auch viele Bilder dabei, die
schon ein Zuhause haben, also aus Privatbesitz. Etwa das wunderbare Mädchenbildnis aus dem Jahr 2006, von dem ich gerne
denke, dass sich die Künstlerin darin selbst als junges Mädchen, das sie einst war, abgebildet hat.
Und wenn man sie alle so beieinander sieht, die vielen Gemälde eines Lebens, welche Art Dock hier zusammengebracht hat,
wird einem leicht nostalgisch zumute. Und man verlässt insgeheim den Vernunftspfad im eigenen Kopf und denkt sich: digitaler Nachlass, schon gut, aber so etwas wie hier ist nun mal unersetzbar.
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