KITA-MANAGEMENT // ARBEITSFÄHIGKEIT Q} Arbeitsfähigkeit erhalten – Wer trägt die Verantwortung? Wie kann es gemeinsam gelingen, dass Beschäftigte arbeitsfähig bleiben? ■ Nach dem Arbeitsschutzgesetz (§ 4 Allgemeine Grundsätze) muss die Arbeit so gestaltet sein, dass die Gesundheit der Beschäftigten möglichst nicht gefährdet wird. Das gilt es natürlich für alle Altersgruppen von Beschäftigten. In diesem Beitrag geht es um die Frage, was Arbeitsfähigkeit ist und wer welche Verantwortung dafür trägt. Dr. Attiya Khan Diplom-Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin I m Zuge des demografischen Wandels arbeiten immer mehr ältere pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter. Vor allem der Anteil der über 55-Jährigen hat sich überproportional erhöht und beträgt im Jahr 2015 gemittelt 15% für alle Bundesländer (Ländermonitor der Bertelsmann-Stiftung), gerade in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands ist der Wert jedoch um einiges höher. » Als Basis dient die Gesundheit und Leistungsfähigkeit.« Um den gestiegenen beruflichen Anforderungen und dem Fachkräftebedarf auch zukünftig mit engagiertem und gesundem Personal zu begegnen, ist es nicht nur notwendig die Rahmenbedingungen für gute Arbeit zu schaffen, sondern auch innerbetrieblich die Besonderheiten der verschiedenen Lebensphasen zu berücksichtigen. Ein Schlüssel zu besseren Arbeitsbedingungen: Arbeitsfähigkeit erfassen und stärken In den letzten Jahrzehnten haben sich viele Forscher mit der Frage beschäftigt, was Arbeitsfähigkeit eigentlich bedeutet. Ein finnischer Wissenschaftler namens Juhani Ilmarinen (2005) und Kollegen haben ein inzwischen weltweit anerkanntes theoretisches Modell der Arbeitsfähigkeit entwickelt: das sogenannte Haus der Arbeitsfähigkeit. Nach Ilmarinen ist die Arbeitsfähigkeit das Dach des Hauses, das sich aus verschiedenen Etagen zusammensetzt. Als Basis dient die Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Darauf bauen die berufliche sowie persönliche Kompetenz und die Werte bzw. Einstellungen auf. Die höchste Etage besteht aus der Arbeit, der Arbeitsumgebung und der Führung. Alle Stockwerke sind miteinander verbunden und stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Wenn es in einer Etage »bröckelt«, gerät das ganze Haus ins Wanken. Wenn wir die Arbeitsfähigkeit erfassen und gegebenenfalls verbessern wollen, müssen wir alle »Etagen« in den Blick nehmen. » Wir Menschen verändern uns und die Arbeitsanforderungen und -bedingungen auch.« Was bedeutet nun Arbeitsfähigkeit? Wie von Ilmarinen (zitiert nach Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2013) definiert, beschreibt die Arbeitsfähigkeit »das Potenzial eines Menschen, einer Frau oder eines Mannes, eine gegebene Aufgabe zu einem gegebenen Zeitpunkt zu bewältigen. Dabei muss die Entwicklung der individuellen funktionalen Kapazität ins Verhältnis zur Arbeitsanforderung gesetzt werden. Beide Größen können sich verändern und müssen alters- und alternsadäquat gestaltet werden« (S. 8). Das bedeutet, dass die Arbeitsfähigkeit nichts Statisches ist, sondern sich kontinuierlich wandeln kann. In der Regel nimmt die Arbeitsfähigkeit mit dem Alter ab. Wir Menschen verändern uns und die Arbeitsanforderungen und -bedingungen auch. Wenn beides aus dem Gleichgewicht gerät, haben wir und der Arbeitgeber ein Problem. Dann heißt es für beide Seiten, sich wieder um die Balance zu kümmern. Da aber diese Veränderungen uns nicht plötzlich und unerwartet ereilen, können wir auch schon frühzeitig für eine gute Passung sorgen. Abb. 1: Haus der Arbeitsfähigkeit (Quelle: Ilmarinen 2012) KiTa MO 1 | 2017 21 #PP KITA-MANAGEMENT // ARBEITSFÄHIGKEIT 22 Abb. 2: In der Kindertagesstätte gibt es keine Schonarbeitsplätze. Studien belegen, dass 60% der Gründe für eine Abnahme der Arbeitsfähigkeit, also die Störung der Balance, auf mangelnde Arbeitsgestaltung und ca. 40% auf fehlende bio-psychosoziale Fähigkeiten des Individuums zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass Interventionen zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit sich auf beide Ebenen konzentrieren sollten. Eine gute Arbeitsfähigkeit ist die Voraussetzung für die erfolgreiche und lange Erwerbstätigkeit sowie das persönliche Wohlbefinden. Die Arbeitsfähigkeit eines Menschen lässt sich mithilfe eines anerkannten Fragebogens erfassen, dem sogenannten Work-Ability-Questionnaire (www. arbeitsfähigkeit.net). Diese Untersuchungen bieten besonders qualifizierte Beraterinnen und Berater an. Schauen wir uns an, was sich innerhalb der einzelnen Stockwerke tun lässt: KiTa MO 1 | 2017 » Wenn es mehr Personal gäbe, würde die Arbeit Spaß machen.« 1. Arbeitsbedingungen und Führung: In allen Gesprächsrunden zur Arbeitssituation in Kitas betonen Erzieherinnen und Leiterinnen immer wieder, dass die Rahmenbedingungen ihre Arbeit erschweren. Wenn es mehr Personal gäbe, würde die Arbeit Spaß machen. Tatsächlich sind die Belastungen nicht nur durch den Personalschlüssel bestimmt. Als psychisch und körperlich belastend erleben pädagogische Fachkräfte beispielsweise das Heben und Tragen, ungünstige Körperhaltungen, Lärm, ständige Präsenz und Aufmerksamkeit, Einsatz der Stimme, emotionale Anforderungen im Kontakt mit Eltern und Kindern, mangelnde Pausen, Personalmangel etc. (Zusammenfassung der Stu- dien siehe Khan, 2007, Thinschmidt et al., 2008; Schreyer et al., 2014 und Viernickel et al., 2014). Wie gesagt, aus Sicht des pädagogischen Personals ist die ungenügende Fachkraft-Kind-Relation der Dreh- und Angelpunkt der Belastungen. Tatsächlich ist beispielsweise feststellbar, dass mit der Höhe der Anzahl der zu betreuenden Kinder auch die Beschwerden am Bewegungsapparat zunehmen (DGUV, 2015). Die Mindestmenge an vorzuhaltendem Personal pro anwesendes Kind ist in Deutschland föderal geregelt, wenig transparent und oft nur eine rechnerische Größe. Die Rahmenbedingungen der pädagogischen Arbeit, wie der Personalschlüssel oder die Bezahlung, sollten sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. an der tariflichen Eingruppierung vergleichbarer Tätigkeiten orientieren. Schließlich hat nicht zuletzt die Studie von Viernickel et al. (2014) gezeigt, dass schlechte strukturelle Rahmenbedingungen wie zu wenig Zeit, räumliche, finanzielle und personelle Ausstattungsmängel, geringe Arbeitsplatzsicherheit, keine festen Pausenzeiten, fehlende Einrichtungsbesprechungen oder Supervisionsangebote das Risiko für verschiedene gesundheitliche Beeinträchtigungen erhöhen und infolgedessen auch eine Qualitätsminderung zu erwarten ist. Wenn das Arbeitsschutzgesetz in der Branche ernst genommen würde, wäre klar, was zu tun wäre. Gute Modelle gibt es bereits, wie das Konzept der Musterkita, die so gebaut wurde, dass für alle Benutzerinnen und Benutzer (ob klein oder groß) eine gesundheitsförderliche Atmosphäre entstand (mehr Infos: www.neuwied.de/kinderplanet.html). Ob die Fachkraft-Kind-Relation ebenso gesundheitsförderlich für diese Einrichtung angepasst wurde, ist nicht bekannt. » In der Kindertagesstätte gibt keine ›Schonarbeitsplätze‹ für diejenigen, die der körperlichen und psychischen Belastung nicht mehr standhalten.« 2. Werte, Einstellungen und Motivation Hier bietet das pädagogische Feld viele Ressourcen. Die Bindung der pädagogischen Fachkräfte an ihre Arbeit und die ihnen anvertrauten Kinder ist hoch. KITA-MANAGEMENT // ARBEITSFÄHIGKEIT Q} Die Betreuung und Begleitung von Kindern ist per se schon eine sinnstiftende Arbeit mit einer hohen Bedeutung für die Gesellschaft. Partizipation, Arbeiten auf Augenhöhe, Achtsamkeit, Ressourcenorientierung sind keine Fremdwörter in der Branche. Zumindest in der Haltung gegenüber Kindern – hier gilt es, diese Werte auch auf den Umgang mit den Beschäftigten zu leben und ihre Leistung angemessen zu belohnen – nicht nur finanziell. Computer arbeiten können, ist es noch schwieriger, sie von der Arbeit mit Kindern zu entlasten. Gerade leistungsgewandelte Erzieherinnen wünschen sich oft, dass sie auch ruhigere Aufgaben erledigen können. Dafür gilt es langfristig, die notwendigen Kompetenzen zu entwickeln. 3. Berufliche und persönliche Kompetenz Die meisten Fachkräfte fühlen sich gut für den Beruf ausgebildet. Schließlich können sie aufgrund des hohen Handlungsspielraums viele ihrer Kompetenzen einsetzen und möglicherweise sogar weiterentwickeln. Da die beruflichen Entwicklungswege wenige Aufstiegsmöglichkeiten bieten, ist es umso wichtiger, Kompetenzen zu entwickeln, die flexible Einsätze ermöglichen. In der Kindertagesstätte gibt keine »Schonarbeitsplätze« für diejenigen, die der körperlichen und psychischen Belastung nicht mehr standhalten. Wenn die Beschäftigten nie »kindferne« Tätigkeiten gelernt haben und beispielsweise nicht am 4. Das »Eingangsstockwerk« – die Gesundheit und Leistungsfähigkeit Die genannten Studien zeigen, dass der Zusammenhang zwischen den Arbeitsbedingungen und der gesundheitlichen Situation von pädagogischen Fachkräften naheliegt. Hier gilt es für den Arbeitgeber, entsprechend der Gefährdungsbeurteilung für bessere Bedingungen zu sorgen. Das Arbeitsschutzgesetz besagt jedoch auch, dass die Beschäftigten eine Mitwirkungspflicht haben. Das heißt beispielsweise, die Aufstiegshilfe beim Wickeln auch tatsächlich zu benutzen oder im Sinne der Lärmreduktion die Garderobenzeiten zu entzerren oder den höhenverstellbaren Stuhl anzuwenden oder oder oder. » Unabhängig vom Arbeitsschutz ist jedoch der Aspekt der eigenen Fitness und der Verantwortung hierfür.« }P BUCHTIPP Älter werden (wir) alle – Alternsgerechtes Arbeiten in der Kita Attiya Khan (Hrsg.) Durch die demografische Entwicklung wird das Thema »Altern in der Kita« immer präsenter. Zunehmend müssen oder möchten Sie als pädagogische Fachkraft in Kitas auch kurz vor dem Rentenalter noch in Vollzeit arbeiten, um Ihren Lebensstandard zu halten. Es gibt jedoch, anders als in vielen Berufsfeldern, keine Option, sich an einen »schonenden« Arbeitsplatz versetzen zu lassen. Die Belastungen für Psyche und Körper bleiben bestehen und nehmen stetig weiter zu. Wie es trotzdem gelingt, zufrieden und gesund bis zum Rentenalter in Kitas zu arbeiten, zeigt Ihnen dieses Werk: Einblick in die aktuelle Kita-Situation: Daten und Fakten zur Arbeit in Kitas Bedarfe alternder Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen erkennen und beurteilen Wege zum Ziel: Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz, Personalentwicklung Checklisten, Gefährdungsbeurteilungen, Diagnoseinstrumente Beispiele aus der Kita-Praxis Carl Link, 1. Auflage 2016, 138 Seiten, ISBN 978-3-556-07035-2 » Insofern sind an der Arbeitsfähigkeit immer beide Seiten beteiligt: Arbeitgebende und Arbeitnehmende.« Unabhängig vom Arbeitsschutz ist jedoch der Aspekt der eigenen Fitness und der Verantwortung hierfür. Für viele Berufe gibt es bestimmte körperliche und psychische Voraussetzungen der Eignung. Für die Arbeit mit Kindern sind die körperliche Fitness und seelische Belastbarkeit Voraussetzungen, um die vielen Anforderungen gut bewältigen zu können. Unabhängig vom Alter ist hier auch jede Fachkraft individuell in ihrem Verantwortungsbereich dafür gefordert. Insofern sind an der Arbeitsfähigkeit immer beide Seiten beteiligt: Arbeitgebende und Arbeitnehmende. Mit dem Einstieg über die Arbeitsbedingungen ist schon viel getan, aber das alleine reicht nicht. Mehr praxisnahe Informationen und Argumentationshilfen erhalten Sie in dem neuen Buch zur alternsgerechten Arbeit in der Kita. ■ Literatur Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2013): Why WAI? – Der Work Ability Index im Einsatz für Arbeitsfähigkeit und Prävention. Erfahrungsberichte aus der Praxis, überarbeitete 5. Auflage. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) (Hrsg.) (2015): Projekt ErgoKiTa, Prävention von Muskel-Skelett – Belastungen bei Erzieherinnen und Erziehern in Kindertageseinrichtungen. IFA Report 2/2015. Verfügbar unter: www.dguv.de/medien/ifa/ de/pub/rep/pdf/reports2015/rep0215text.pdf. Ilmarinen, J. (2005): Towards a Longer Worklife! Ageing and the Quality of Worklife in the European Union. Finnish Institute of Occupational Health, Helsinki. Ilmarinen, J. (2012): Förderung des aktiven Alterns am Arbeitsplatz. Verfügbar unter: https://osha.europa.eu/de/tools-and-publications/publications/articles/ promoting-active-ageing-in-the-workplace. Khan, A. (2007): Gesundheitsförderung für Erzieherinnen: Evaluation von Gesundheitszirkeln AV Akademikerverlag. Schreyer, I. et al. (2014): Arbeitsplatz und Qualität in Kitas – Ergebnisse einer bundesweiten Befragung. Online verfügbar unter: www.aqua-studie.de/Dokumente/AQUA_Endbericht.pdf. Viernickel. S./Voss, A./Mauz, E./Schumann, M. (2014): Gesundheit am Arbeitsplatz Kita – Ressourcen stärken, Belastungen mindern. Hrsg. Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. verfügbar unter: www.unfallkasse-nrw.de/fileadmin/ server/download/praevention_in_nrw/praevention_nrw__55.pdf. KiTa MO 1 | 2017 23
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