Gottesdienst am 1. Januar 2017 (Neujahr) Predigt zur Jahreslosung Hesekiel 36, 26: Beherzt und begeistert Am 3. Dezember 2017 ist es 50 Jahre her, dass der südafrikanische Chirurg Christiaan Barnard zum ersten Mal eine Herztransplantation durchführte. Der Erfolg hielt sich zwar zuerst in Grenzen — der Patient überlebte die Operation nur um 18 Tage — aber seither wurde bei über hunderttausend Menschen ein Herz verpflanzt. Das Problem ist jedoch, dass das neue Organ natürlich nicht neu ist. Auch wenn es meistens von einem jüngeren Menschen stammt, so altert das Spenderherz trotzdem genau wie der übrige Körper. Das Leben eines Transplantationspatienten wird durchschnittlich um zehn Jahre verlängert — ursprünglich hatte die Medizin mit deutlich mehr gerechnet. In seiner Autobiografie machte Christiaan Barnard noch auf einen anderen Zusammenhang aufmerksam. Die gelungene Operation machte ihn zu einem Medienstar; Politiker, Wirtschaftsbosse und sogar der Papst luden ihn zu sich ein. Der Chirurg genoss den Ruhm, aber er vernachlässigte seine Familie. Nur drei Jahre später reichte seine Frau die Scheidung ein, insgesamt war Christiaan Barnard dreimal verheiratet. In seiner Autobiografie schrieb er als Entschuldigung, dass er im Gegenzug keinen seiner Patienten je im Stich gelassen hätte ... Wäre es falsch zu sagen: Der weltberühmte Chirurg hätte selbst ein neues Herz gebraucht? Ein Herz, das weiß, was richtig ist; ein Herz, das nicht nur an sich, sondern auch an andere denkt. Ein Herz, wie wir alle eines bräuchten. Doch solche neuen Herzen können Menschen nicht transplantieren, das übersteigt unsere medizinischen Möglichkeiten. Das kann allein Gott — so sagt es uns die Jahreslosung aus Hesekiel 36: »Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch«. Wer war dieser Hesekiel, der diese göttliche Operation ankündigt? Hesekiel war der Sohn eines Jerusalemer Priesters, bei der Eroberung der Stadt wurde er 598 v. Chr. als Teil der jüdischen Oberschicht nach Babylon verschleppt. Hier in der Fremde beruft ihn Gott zum Propheten. Hesekiel verurteilt den Götzendienst und Ungehorsam der Israeliten mit scharfen Worten. Aber er verspricht auch, dass Gott sein Volk nicht vergessen hat. Doch es reicht nicht aus, dass nur die Sünden der Vergangenheit vergeben werden. Zu nahe liegt die Gefahr, wieder in die alten Fehler zurückzufallen; zu hoch ist das Risiko, Gottes Gnade erneut zu verspielen. Deshalb darf Hesekiel seinen Mitgefangenen eine große Verheißung ausrichten. »Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch«. Auch in diesem Jahr hat die Esslinger Künstlerin Dorothee Krämer die Jahreslosung grafisch gestaltet. Ihr Bild heißt »Beherzt und begeistert«. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir zwei Gestalten. Links unten kauert ein gebeugter Mensch, die Künstlerin hat ihn in dunklem Blau und Grau gemalt. Die aufrecht gehende Person dagegen strahlt in leuchtenden Farben, wir spüren Freude und Lebensmut. Ist das ein Vorher-Nachher-Bild? Unten der Patient vor der Operation, niedergedrückt und verzweifelt — oben der »neue Mensch«, beherzt und begeistert? 2017 jährt sich nicht nur die erste Herztransplantation zum 50. Mal, sondern wir feiern auch 500 Jahre Reformation. Martin Luther hat über uns Menschen einen traurigen Satz gesagt. Er bezeichnet uns als »in sich selbst gekrümmt« — oder wer es auf lateinisch hören möchte: homo incurvatus in se ipsum. In sich selbst gekrümmt — wir Menschen sind ständig mit uns selbst beschäftigt. Nie zuvor wurde das so deutlich wie heute — beobachten Sie mal, wie sich Jugendliche über ihr Smartphone krümmen. Ständig muss ich mich ablenken und amüsieren; dauernd möchte ich dem Rest der Welt mitteilen, wie es mir gerade geht. Der in sich selbst gekrümmte Mensch betreibt eine permanente Nabelschau, er wird für sich selbst zum Maß aller Dinge. Doch in seiner Verkrümmung kann er seinen Mitmenschen nicht mehr in die Augen sehen, er kann nicht mehr auf sie zugehen, er ist vom Leben abgeschnitten. Und er kann auch nicht nach oben zu Gott schauen, er hat den Kontakt und die Verbindung mit dem Vater im Himmel verloren. Der in sich selbst gekrümmte Mensch ist mit sich allein. Gott ist für ihn kein Thema mehr. Der Berliner Pfarrer Alexander Garth hat im Blick auf den Osten Deutschlands treffend formuliert: »Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben«. Doch im Rest der Republik sieht es nicht viel anders aus. Warum soll ich an Gott glauben, wenn ich scheinbar alles habe? Ich kann auch ohne Religion glücklich sein, mir stehen doch alle Möglichkeiten offen. In der Medizin wird seit den 70er Jahren eine Krankheit namens Arteriosklerose erforscht, sie gilt als die häufigste Todesursache in den westlichen Industrienationen. Ursache ist vor allem falsche Ernährung und Bewegungsmangel, so dass sich an den Schlagadern zum Herzen Blutfette und Bindegewebe ablagert. Dies führt zu einer Verhärtung, die tödliche Folgen haben kann. Verhärtung des Herzens — ist das auch die Diagnose für die Menschen in unserer Zeit? Wohlstand führt nicht nur zu falscher Ernährung und Bewegungsmangel — Wohlstand kann auch bedeuten, dass ich mich auf mich selbst verlasse; dass ich der Meinung bin, Gott nicht nötig zu haben; zu brauchen; dass ich mit meinem Leben allein zurechtkomme. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch — Wohlstand ist nichts Schlechtes. Ich bin dankbar, dass es meiner Familie und mir gut geht, dass wir uns den einen oder anderen Luxus leisten können. Aber erinnern wir uns an die Ursache von Arteriosklerose — falsche Ernährung und Bewegungsmangel. Wenn ich bei mir selbst bleibe und mich nicht zu Gott hin bewege, wenn ich meinen Lebenshunger mit Besitz und Bequemlichkeit stille — dann verhärtet sich mein Herz, dann verkümmert mein Glaube, dann bleibe ich ein in sich selbst gekrümmter Mensch. Das ist die eigentliche Herzenskrankheit unserer Zeit: Wir vergessen, dass wir als Gegenüber zu Gott geschaffen sind. Der Sinn unseres Lebens ist die Gemeinschaft mit ihm. Gott wünscht sich eine Beziehung zu uns, unser Glaube ist sein Herzensanliegen. Und Gott ist fest entschlossen, das Herzversagen der Menschen zu heilen — in der Lutherübersetzung der Jahreslosung heißt es: »Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen.« Es nützt leider nichts, an unseren guten Willen zu appellieren. Wir Menschen schaffen es nicht aus eigener Kraft, in die Gemeinschaft mit Gott zu kommen. Unser Ungehorsam, unser Unglaube, unser Unvermögen ist offensichtlich — damals bei den Israeliten und heute in unserer Wohlstandsgesellschaft. Doch Hesekiel verkündigt die frohe Botschaft: Gott hat sich zu einem neuen Bund entschlossen. Und das ist keine alte Ware in neuer Verpackung. Gott packt nicht noch einmal die Gebote ein, um sie uns erneut ans Herz zu legen. Sondern der neue Bund ist wirklich neu. Gott setzt an der menschlichen Schwachstelle an, an unserem verhärteten Herzen. Für Israel hatte Gott sein Gesetz auf zwei steinerne Tafeln geschrieben — aber es war nicht im Herzen verankert. Nun will Gott uns ein neues Herz schenken. Die Gemeinschaft mit ihm soll unser Lebensinhalt werden. Gott zu gehorchen soll keine lästige Pflicht mehr sein, sondern ein inneres Bedürfnis. Was hier in einem kurzen Satz angekündigt wird, war für Gott eine Operation am offenen Herzen. Er gab seinen Sohn in den Tod, damit wir als neue Menschen leben können. So groß ist seine Liebe zu uns — so schwer wiegt aber auch die Sünde, die unser Herzversagen verschuldet hat. Jesu Leiden und Sterben am Kreuz ist das Herzstück des neuen Bundes. Bei jeder Feier des Abendmahls hören wir die Worte, die er seinen Jüngern sagte: »Das ist mein Blut des neuen Bundes, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden«. Und Gott tut noch mehr. Das neue Herz bekommt einen Herzschrittmacher. In jeder Lebenslage sollen wir Gottes Kraft spüren. »Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch«. Gottes Geist hilft uns, nach Gottes Willen zu leben. Das ist keine Sache des Kopfes und der Vernunft. Sondern der Heilige Geist schreibt dieses Wissen in unser Herz. Jetzt reden wir mit Gott in der Sprache der Liebe. Jetzt verstehen wir, was er von uns haben möchte. Jetzt können wir seine Gebote erfüllen. Nicht weil wir so anständig und so vorbildlich und fromm sind. Sondern weil Gott durch seine Vergebung unser Herzversagen heilt. Weil sein Geist als Herzschrittmacher in uns arbeitet. Der neue Bund kann nicht mehr daran scheitern, dass wir Menschen die Alten geblieben sind. Gottes Vergebung und Gottes Geist wollen uns erneuern. Schauen wir noch einmal auf das Bild von Dorothee Krämer. Der Mensch mit dem neuen Herzen ist bunt und fröhlich gemalt. Er geht aufrecht und schaut ins helle Licht hinein. Vielleicht hat die Künstlerin bei ihren Farben an Früchte gedacht? Der Apostel Paulus zählt im Galaterbrief »Früchte des Geistes« auf, die aus dem neuen Leben im Glauben wachsen: Liebe, Freude und Frieden, Geduld, Güte und Großzügigkeit, Treue, Freundlichkeit und Selbstbeherrschung (Gal 5,22f). Wenn ich jedoch mich selbst anschaue, dann wünsche ich mir mehr Farben und Früchte. Viel zu oft bin ich ein in sich selbst gekrümmter Mensch. Viel zu oft steigen verkehrte Gedanken in mir aus — alter Geist. Viel zu oft geht es nur um mich und meine Bedürfnisse — verhärtetes Herz. Viel zu oft mache ich das, was scheinbar alle machen — altes Leben. Wo ist in meinem Alltag der neue Anfang, schlägt in meiner Brust etwa kein neues Herz? Paulus hat das ähnlich erlebt und empfunden. Deshalb stellt er klar: Wer an Jesus Christus glaubt, bei dem hat das neue Leben begonnen — voll und ganz, hier und jetzt, wirklich und wahrhaftig. Doch solange wir hier in dieser Welt unterwegs und noch nicht bei Gott sind, durchdringt die Beziehung zu ihm noch nicht alle Bereiche meines Lebens. Paulus drückt diese Spannung im Römerbrief so aus: »Ich habe den Wunsch, das Gute zu tun, aber es fehlt mir die Kraft dazu. Ich will eigent- lich das Gute und tue doch das Schlechte; ich verabscheue das Böse; aber ich tue es dennoch« (Röm 7,18f). Wir Menschen leiden unter unserer Unvollkommenheit — und doch dürfen wir wissen: Ich gehöre zu Gott. Im Glauben an Jesus Christus ist mir das neue Herz geschenkt. Gott ist in meinem Leben am Werk und schenkt Wachstum. Manche Früchte müssen erst reifen und brauchen noch Zeit, doch andere sind schon bunt und farbenfroh. Die Jahreslosung will uns ermutigen, auf Gott zu vertrauen und den Herzschlag des neuen Lebens zu spüren. Ich möchte schließen mit einer Beispielgeschichte. Der österreichische Maler Gustav Klimt erhielt vor mehr als 100 Jahren den Auftrag, ein Porträt der Baronin Sonja von Knips zu malen. Die adelige Dame war keine Schönheit, ein Leben voller Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen hatte seine Spuren hinterlassen. Doch Gustav Klimt wollte nicht nur das Äußere malen, sondern das innere Wesen, gewissermaßen das Herz der Baronin. In langen Gesprächen machten sich die beiden miteinander bekannt, bevor der Künstler sein Werk begann. Das fertige Porträt sah dann allerdings der Baronin nicht unbedingt ähnlich, sondern zeigte eine Frau voller Anmut und Schönheit. »Das ist mein Bild, das ich von Ihnen habe« erklärte der Maler seiner erstaunten Auftraggeberin. Die Baronin war zuerst ein wenig unsicher, doch sie ließ das Bild trotzdem aufhängen. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Als Gustav Klimt die Familie von Knips ein paar Jahre später besuchte, da verschlug es ihm fast die Sprache. Die Baronin war dem Porträt, das er vor Jahren gemalt hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten. Kummer und Sorge hatten sich verflüchtigt und eine schöne Frau zum Vorschein gebracht. Genauso soll auch unsere Veränderung geschehen. In Jesus Christus legt Gott ein neues Bild in unser Herz. Und je mehr wir dieses Bild anschauen und auf uns wirken lassen, umso mehr werden wir ihm ähnlich und durch seine Liebe verwandelt. Amen. Tobias Geiger, Pfarrer in Sielmingen
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