Hélène Vuille sorgt seit Jahren dafür, dass Lebensmittel nicht

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MAGAZIN
1. Januar 2017
«Esswaren
gehören
nicht in den
Abfall»
Hélène Vuille sorgt seit Jahren dafür, dass
Lebensmittel nicht weggeworfen, sondern an
Bedürftige verteilt werden. Menschen am Rande
der Gesellschaft verdankt sie wichtige Einsichten.
INTERVIEW: FRANZISKA K. MÜLLER FOTOS: MIRIAM KÜNZLI
Sammelt beim Grossverteiler Backwaren
ein: die Schweizer
Wastefood-Pionieren
Hélène Vuille (63).
Zur
Person sik – und erkannte ihre ­Berufung vor 18 Jahren, als sie sich mit
Hélène Vuille (63) ist in Einsiedeln SZ aufgewachsen. Ihr Schicksal
lehrte sie früh, wie fragil das Glück ist: 17-jährig erlitt sie einen Unfall,
Foodwaste zu befassen begann. Vuille rettet jährlich mehrere Tonnen
der ihr fast das Leben kostete und den Traum von einer Karriere als PiaLebensmittel vor der Vernichtung, tausende Menschen profitieren danistin platzen liess. Sie fand ihr Glück in der Arbeit mit Menschen und Mu- von. Sie ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt im Zürcher Limmattal.
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MAGAZIN
1. Januar 2017
Hélène Vuille über ... Obdachlose und hungrige Kinder: Davon gibts in der Schweiz mehr als man denkt. ... Jene, die nichts haben: Sie teilen mit anderen am ehesten. ... Lebensmittel­
verschwendung im Alltag: Ich achte darauf, nicht zuviel einzukaufen – und verwende die Resten. ... den Hype um Foodwaste: Jeder Kampf gegen die Vernichtung von Lebenmitteln macht
Sinn. ...Lachsbrötchen: Gibts bei uns nicht jeden Tag. ... Ihren Wunsch fürs Neue Jahr: Dass alle Grossverteiler direkt nach Ladenschluss übriggebliebene Lebensmittel verteilen.
An solchen Festtagen isst die Schweiz Filet
im Teig und schlürft Champagner: Was
stand im Hospiz auf dem Tisch?
Kartoffelsalat und andere Salate, dazu Bündnerfleisch, Aufschnitt, kalt aufgeschnittener
Braten und knusprige Brötchen. Als Getränke
gabs Softdrinks und ausnahmsweise Rotwein. An Silvester wird jeweils Lotto gespielt
und um Mitternacht heisse Käseküchlein verteilt. Das Dessertbuffet ist jeweils das Highlight. Denn Crèmeschnitten, Fruchttörtchen
und Schokoladenkuchen können sich diese
Menschen übers Jahr nicht leisten.
Sie gedenken überdies den Menschen, die
nicht mehr da sind ...
Genau. Wir legen jeweils vor dem Christbaum eine Schweigeminute für die Verstorbenen ein. Alle wissen, welche Stühle leer geblieben sind. Oft erzählen wir uns Anekdoten, die an jene erinnern, die letztes Jahr
noch mit dabei waren.
Was stand auf den Wunschlisten, die Ihnen
im Vorfeld der Feiern ausgehändigt werden?
Nidelzältli und Bärendreck. Kiwis – ihres Geschmackes wegen und weil sie weich sind.
Frischhalteboxen. Hustentee, warme Handschuhe, Schals und genug grosse Finken für
die geschwollenen Füsse.
Seit 18 Jahren sorgen Sie dafür, dass bedürftige Menschen von übriggebliebenen
Nahrungsmitteln profitieren. Gabs einen
Schlüsselmoment für dieses Engagement?
Absolut. Ich stand irgendwann in einem
­Lebensmittelgeschäft, es war kurz vor Laden-
schluss, und ich beobachtete, wie sämtliche
Tagesfrischprodukte in ein Fass gekippt und
entsorgt wurden. Ich war entsetzt. Ich dachte immer, Esswaren kommen in den Magen
– nicht in den Abfallkübel.
Heute gelten Sie als Schweizer «Foodwaste»-Pionierin. Sie wehren sich gegen die
Verschwendung der Lebensmittel. Wann
begann der Kampf richtig?
Das war Ende der 1980er-Jahre. Ich wurde
schon an besagtem Abend aktiv und suchte
das Gespräch mit dem Chef. Nach anderthalbstündiger Diskussion willigte er per
Handschlag ein, Lebensmittel künftig an
obdachlose Menschen zu verteilen. Aber
erst nach Jahren konnte ich das Projekt auf
andere Filialen ausdehnen. Der dafür erforderliche Prozess war schwierig, die Akten
füllen einen dicken Bundesordner.
Wie ging es weiter?
Ich schrieb 2012 mein erstes Buch zum Thema, danach erhielt mein Engagement sofort
einen neuen Stellenwert. Ein Vertrag zwischen mir und der Caritas kam zustande.
Heute müssen alle Filialen der Migrosgenossenschaft ­Zürich – und zwischenzeitlich
auch der ­Migrosgenossenschaft Aare – Tagesfrischprodukte zur Verteilung an unsere
Fahrer abgeben. Dazu gehören Brote, Wä-
Viele Verkaufsorganisationen sind nicht bereit, mich zu empfangen. Man will keine Veränderungen – meist mit der Begründung, es
fehle an Zeit und Personal, um sich meinem
Anliegen anzunehmen. Auch die Zusatzkosten, die Logistik werden ins Feld geführt.
Kunden bis zum Ladenschluss die volle Auswahl haben – es darf also keine halbvollen
oder leeren Regale geben. Bäckereien, die in
unserem Projekt mitmachen, ist das nicht der
Fall. Und was übrig bleibt, erhalten wir zur
Verteilung.
Verhindern auch rechtliche Aspekte, dass
Grossverteiler ihre Waren ohne Riesenaufwand abgeben können?
Bei Tagesfrischprodukten lässt sich das Problem tatsächlich nur mit einer Gesetzesänderungen lösen – auf nationaler Ebene. Man
müsste Verkäufer dazu verpflichten, frisch
zubereitete Lebensmittel gratis an zertifizierte Heime oder an bedürftige Menschen abzugeben. Dazu müsste man jedoch die Handelsund Gewerbefreiheit samt den damit verbundenen Gesetzen anpassen. Bereits 2003 –
nachdem ich einen Vortrag im Bundesamt für
Gesundheit halten durfte – versprachen namhafte Politikerinnen und Politker, mich zu
unterstützen. Im Jahr 2006 wurde ich in
­dieser Hinsicht erneut aktiv, doch den Worten folgten abermals keine T
­ aten. Anders regionale Vertreter. In Zürcher Gemeinden wie
Birmensdorf, Dietikon und Bülach erhielt ich
sofort grosse Unterstützung.
Kann man sagen: Je reicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Lebensmittel werden
weggeworfen?
Das ist absolut zutreffend.
Jene, die am Rande unserer Gesellschaft
­leben, gehören zu Ihrem Alltag: Ihnen verteilen Sie das Essen, ihnen hören Sie zu und
nehmen an deren Schicksalen teil. Welche
Erfahrungen und Einsichten haben Sie dabei am stärksten geprägt?
Es sind Menschen, die mir zeigen, dass man
auch im so genannten Scheitern etwas finden
kann: Ein Zustand, in dem es keine Erwartungen mehr gibt und keine Voreingenommenheit, dafür ehrliches Verständnis füreinander: Weil es im Nichts nichts zu verlieren
gibt. Für mich gehören die vielen Begegnungen mit diesen Menschen zu den wichtigsten
überhaupt. Natürlich gibt es auch Streitereien untereinander. Aber ihre Beziehungen
­beruhen meiner Erfahrung nach auf der
Menschlichkeit und auf Hilfsbereitschaft.
Tatsächlich kenne ich keine anderen Menschen, die über eine so hohe Sozialkompetenz verfügen, wie jene, die am Rand der
Gesellschaft leben.
Wieviele Menschen profitieren heute von Ihren Bemühungen?
«Leben auf der Strasse
ist für alle gleich hart»
hen, Feingebäck und Snacks, Sandwiches,
Canapés, Salat- und Fruchtportionen, Birchermüesli, Torten und Patisserie.
Was ist mit dem Gemüse, den Früchten,
den Milchprodukten?
Dabei handelt es sich nicht um Tagesfrischprodukte, die Anbieter müssen Gemüse&Co.
nicht am gleichen Abend abgegeben. Sie
können in der Folge tagsüber eingesammelt
und verteilt werden – was vieles vereinfacht.
Jedes Jahr tausende. In den Gemeinden haben arme Menschen nun die Möglichkeit, mit
einer Berechtigungskarte oder einer sogenannten Kulturlegi an einem oder zwei Abenden pro Woche Lebensmittel abzuholen. Die
Legi erhalten sie vom Sozialamt oder von den
Kirchen. Auf regionaler und lokaler Ebene
profitieren heute zehn Obdachlosenheime in
der Stadt Zürich und verschiedene Gemeinden im Kanton Zürich von der Gratisabgabe
der Tagesfrischprodukte.
Schon vor Jahren versuchten Sie, Ihr
­Projekt auf andere Kantone und Verkaufsorganisationen auszubreiten. Bislang
ohne Erfolg. Woran liegts?
Was ist schuld daran, dass täglich tonnenweise Lebensmittel übrig bleiben?
Die so genannte Verkaufssicherheit. Diese
muss bis am Abend gewährleisten, dass die
Hat sich der Umgang der Gesellschaft mit
Randständigen über die Jahre verändert?
Ja. Vieles wird in der heutigen Zeit übers
Geld definiert, über den Job, die eigene Leistungsfähigkeit. Wie schnell sich das ändern
kann, darüber geben jene Menschen Auskunft, die obdachlos werden. Dass ein fulminanter Absturz fast jeden treffen kann, wollen viele nicht wahrhaben. Ein Schicksalsschlag und eine Verknüpfung unglücklicher
Umstände genügt. Randständige Menschen
werden ausserdem oft mit mangelndem Respekt behandelt, wir ignorieren ihre Existenz.
Fotos:
F
rau Vuille, wie haben Sie Weihnachten und Sylvester
verbracht?
Hélène Vuille: An
Weihnachten waren ich und mein
Mann wie immer
im Hospiz. In einem Heim für dreissig Männer, die nach einer langen Reise durch zahlreiche soziale Institutionen, psychiatrische Kliniken und dem
Gefängnis dorthin finden – viele lebten jahrelang auf der Strasse. Wir feiern also mit
­Menschen die man in unserer Gesellschaft
nicht sieht, weil man sie nicht sehen will –
und mit denen kaum jemand etwas zu tun
haben möchte. An beiden Abenden freuten
sich natürlich alle auf ein feines Essen.
Wenn ein Physikprofessor ins Elend abgleitet: Hadert er mehr mit dem Schicksal als
jemand der schon immer randständig war?
Nein. Das Leben auf der Strasse ist für alle
gleich hart – egal, was zuvor war. Die einen
trauern v um ein Leben, das sie nie hatten.
Die anderen um ein Leben, das sie verloren
haben.
Trotzdem gibt es Bedürftige, die nichts von
einem Dach über dem Kopf und von Ihren
Fest-Mahlzeiten wissen wollen.
Absolut. Es gibt Menschen, die bleiben selbst
an Silvester und Weihnachten lieber draussen und wollen allein bleiben: Weil sie keine
festen Strukturen mehr ertragen, weil sie das
normale Leben verlernt haben.
Ein Schicksalsschlag hat ihr mit 17 gezeigt, wie
fragil das Glück ist: Hélène Vuille.
Birchermüseli und
Patisserie für Arme
1989
Das Thema Nahrungsmittelverschwendung
bringt Hélène Vuille vor 18 Jahren dazu, sich für
Menschen in schwierigen Situationen zu engagieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
2012
In diesem Jahr schreibt die Einsiedlerin ihr erstes
Buch – und erreicht, dass sich ein Grossverteiler
vertraglich dazu verpflichtet, übriggebliebene
Tagesfrischprodukte nicht mehr wegzuwerfen ,
sondern an Bedürftige abzugeben.
2016
Erscheint ihr zweites Buch «Die Brückenbauerin» (Verlag Wörterseh). Darin erzählt sie
von Begegnungen mit jenen Menschen, denen sie
eine Stimme und ein Gesicht geben möchte.
Gleichzeitig setzt sie sich für eine Gesetzesänderung ein – diese soll helfen, den Abfallberg an
Lebensmitteln schweizweit stärker abzubauen.
Weshalb?
Sie haben einen anderen Rhythmus, und die
Vorstellung von menschlicher Wärme und
Geborgenheit ist ihnen derart fremd geworden, dass sie damit seelischen Schmerz verbinden. Andere haben ihren Frieden und ihre
Freiheit in der Natur gefunden und leben
dort ein erfülltes Leben. Letztere sind aber
eher Ausnahmen.
Zu denen zählt der «Flussmann», den Sie in
Ihrem neuen Buch beschreiben und dem Sie
jeweils im Sommer Glacékübeli mit seiner
Lieblingssorte vorbeibringen.
Ja. Jedes Mal, wenn ich den Mann besuche,
steht er zwischen verschiedenen Ahornbäumen, ­Eichen, Weiden, Birken und Sträuchern, die mit ihren weitverzweigten Wurzeln bis zum Ufer reichen. Da, wo sich der
Flussmann seine ureigene Welt, eine neue
Heimat erschaffen hat. Seine Nachbarn sind
Eichhörnchen, er kennt sie alle. Auch die
Fledermäuse, die sich tagsüber in ihren
Baumhöhlen ausruhen und ihr Versteck erst
in der Dämmerung verlassen. Wenn ich an
ihn denke, sehe ich seine Feuerstelle, die ihn
wärmt, und die lang gezogene Biotoplandschaft mit dem Wasserdurchlauf: Eine durchdachte, von Hand angelegte Oase, in der kleineren Wasserbewohner aufwachsen, geschützt vor den grösseren Jägern.
Was verbinden Sie damit?
In dieser Stube am Fluss zeigen sich die Regeln des Miteinanders – und nicht des Nebeneinanders. Alle Lebewesen scheinen sich hier
ihrer Zusammengehörigkeit bewusst zu sein.
Wissen Sie, wie dieser Mann die Feiertage
verbracht hat?
Nein. Aber ich weiss, dass er sich eins fühlt
mit der Einsamkeit, der Ruhe und der Flusslandschaft. Sie ist ihm heilig zeigt ihm den
Sinn des Lebens. l
Helene Arnet/Hélène Vuille: «Die Brückenbauerin – Die
Geschichte und die Geschichten der Hélène Vuille»,
192 Seiten, Verlag Wörterseh.