Nachrichten vom Läuterungsberg

MARTIN LUTHER (FÜR NDR)
Von Martin Luther gibt es etliche Portraits, und diese wiederum sind
auf Tassen, Wimpeln, Gedenkkarten, in Büchern oder sonstwo verewigt. Schaue ich mir die Bildnisse näher an, von denen einige durchaus wahrheitsecht erscheinen, ist mir der Mann nicht unbedingt sympathisch. Er hat etwas von einem zupackenden Kraftmaxe, einem Polterer, der gern mal mit der Faust auf den Tisch haut, wobei man froh
sein kann, wenn die Faust nicht auch bisweilen auf Frau und Kinder
niedergeht. Bekanntlich war der Reformator ein großer Esser, vermutlich zeigte sich sein Gesicht im Eifer der Eßgefechte gerötet und
schweißüberglänzt. Ich ziehe die etwas feiner gebauten Herren mit
schmaleren Köpfen, trockenem Antlitz und zarterem Körperbau vor.
Melanchthon, dieser kluge, eher zurückhaltende und bedachtsame
Mann, hätte mir ungleich besser gefallen.
Aber das stimmt so nicht. Blickt man länger in eines der berühmten
Portraits, die es von Martin Luther gibt – etwa das von Lucas Cranach
dem Älteren – so erkennt man darin auch einen eingezogenen Menschen, der die Stille der Bedachtsamkeit hegt und nicht nur vom Ungestüm davongerissen wird. Beide Charaktereigenschaften waren ihm
wohl zueigen – die der polternden Stärke und zugleich eine Fähigkeit,
sich in sich zu versenken, um als beständiger Gottsucher Gewißheit zu
erlangen über das eigene Suchen und Streben.
Ganz oben! Sein Drang ging nach ganz oben. Dahin, wo aus schwindelerregender Entfernung auf die Menschlein herabgeblickt wird,
meistens ungerührt, manchmal jedoch auch mit scharfen Erkenntnispfeilen im Gepäck, die auf Herz und Hirn des Menschen zielen. In
diesem Fall war der Pfeil ein Blitz. Natürlich ist Martin Luthers Blitzerlebnis ein Erlebnis von zündender Schärfe. Es mag im nachhinein
von ihm selbst und später von denen, die eifrig am Mythos der Mannes strickten, aufgebauscht und ins Großartige einer fundamentalen
Erleuchtung gerückt worden sein, etwas Schlagendes wird aber dennoch ‚dran’ gewesen sein, sonst kann ein derartiges Erlebnis nicht solche geistigen und ins Mythische driftenden Spätfolgen zeitigen. Besäen wir das Ereignis also nicht ungebührlich mit unseren Zweifeln. Daß
Martin Luther davon wieder und wieder sprach und damit versuchte,
sich mit Hilfe der steuernden Hand von ganz Oben selbst zu beglaubigen – geschenkt!
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Jedenfalls führte das starke Erlebnis eine radikale Lebensumkehr im
Gepäck und damit auch die – sei es nun eigens oder höhererseits vergebene – Lizenz, im Namen Gottes zu sprechen. Und zwar zu allen
Christen. Zunächst auch ein wenig zu den Juden. Doch davon später.
Verweilen wir noch beim Blitz. Schon vom alten Jupiter her ist der
Blitz das göttliche Zeichen par excellence. Martin Luther setzte sich
damit natürlich kein heidnisches Denkmal seiner selbst, aber ein alle
Sinne bewimmelndes, Furcht und Schrecken verbreitendes und in den
Ohren nachdröhnendes sehr wohl. Stark genug, um ihn aus der vorgezeichneten Lebensbahn zu scheuchen, die für ihn vorsah, ein im Großen und Ganzen brav sich fügender Mann der katholischen Kirche zu
werden. Daraus wurde bekanntlich nichts. Mit einem potenten Beglaubigungsschein von ganz, ganz oben nimmt man die damit notgedrungen lauernden Strapazen und Gefahren leichter in Kauf. Um Widerstand zu leisten, bedarf es der Kraft, bedarf es großen Mutes, und
den besaß Martin Luther ohne Zweifel. Man darf dabei ja nicht vergessen, daß es glücklichen Umständen zu verdanken ist, daß der Mann
nicht auf dem Scheiterhaufen landete. Damit zu rechnen hatte er sehr
wohl gehabt.
Das sprachliche Können des Reformators war unzweifelhaft enorm.
Diesbezüglich fliegt dem Mann meine Verehrung mit Pfeilgeschwindigkeit über die Jahrhunderte hinweg zu, stracks gen Wittenberg. Am
liebsten würde ich jetzt nach Burschensitte der damaligen Zeit ein
kleines Samtkäppchen vom Kopfe zieh’n und mich vor ihm verneigen. Kraftvoll, wie er nunmal war, hat Luther in allen möglichen Suppentöpfen der verschiedenen deutschen Dialekte, will heißen: in deren
Sprachkuriositäten gerührt, hat mit der Kelle die fettesten Brocken in
einen Riesenteller geschöpft. Silbenketten, Buchstabenpaare, ganze
Wörter, zuweilen auch den Spruchweisheiten entlehnte Wortverbindungen regten seinen Appetit an.
Vom Starkzehrer, der er nunmal war, wurden sie mit Wonne verputzt,
wobei sie natürlicherweise mit den Säften des Verdauungstraktes in
Berührung kamen, dann aber mit geschliffener geistiger Politur wieder
ans Tageslicht treten durften, um nicht zuletzt gottvater- oder zumindest sprachvater- und sprachmuttergleich die deutsche Sprache
emporzuwuchten in ungeahnte Höhen.
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Gleichzeitig wurde diese damit befähigt, in verschrifteter Form als
vereinheitlichte Sprache, eben dem Deutsch, fortan erhobenen Hauptes durch die zersplitterten Teilländchen der kleinen und klitzekleinen
Fürstentümer zu ziehen. Und das mit Hilfe der wichtigsten, geisterhellenden Schrift, die es auf Erden gibt – der Bibel. Wobei Martin Luther
die verschiedensten Tonlagen beherrschte: herzinnige, zum Beispiel
bei den Psalmen, aber auch scharfe, wenn er in seinen Randkommentaren, mit denen er die Ausgabe seiner Übersetzung umzirkte, gegen
erschwindelte oder wirkliche Feinde vom Leder zog.
Ohne Frage, das ist eine Riesenleistung. Dante Alighieri hatte zweihundert Jahre vor Martin Luther etwas Ähnliches für den italienischen
Sprachraum vollbracht – durch seine betörend kluge Glanzdichtung,
der Divina Commedia, die das moderne Italienisch bis heute prägt.
Luther erreichte mit seiner Übersetzung der Bibel etwas annähernd
Vergleichbares. Der deutsche Sprachraum rückte aufeinander zu, eine
Hochsprache konnte sich herausbilden, welche Anerkennung genoß
und so ganz nebenbei die Dichter und Gelehrten allmählich dazu verlockte, ihre Schriften auf Deutsch zu verfassen, nicht nur auf Latein
oder Französisch. Wahrlich, das ist keine Kleinigkeit. Noch die winzigsten Regionen hatten ihre ureigenen Wörter, Namen, Spruchweisheiten hervorgebracht, ganz zu schweigen von den jeweils unterschiedlichen Schreibweisen, zu denen sich die Buchstaben zusammenfanden.
Aus all diesem Salat die Übersetzungsbrocken für die wichtigste geisterhellende Schrift zusammenzusuchen, diese zu einer Landessprache
zu vereinheitlichen und sie damit über die Eigenheiten der Dialekte
hinweg verbindlich zu formen, das ist und bleibt ein Geniestreich.
Man verstehe mich bitte nicht falsch. Ich bin durchaus eine Anhängerin des würzigen dialektalen Sprechens. Aber es muß beides zugleich
geben: das sprachverbindend verschriftete Element und das ornamental erfinderische Gebrabbel, das sich von Generation zu Generation
etwas anders einfärbt. Nichts Faderes unter der Sprachsonne, als ein
aus Hannover importiertes Korrektdeutsch. Die liebenswürdigen Hannoveraner mögen mir als Schwäbin diesen kleinen Seitenhieb bitte sofort verzeihen und allenfalls die wortverbindlich sortierten Köpfe ob
solcher Zumutung ein wenig wiegen.
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Martin Luthers Mammutwerk ist hinreißend. Zu Beginn meiner Studentenzeit habe ich beim Lesen seiner Übersetzung im ursprünglichen
Wortlaut einen regelrechten Narren an der Bibel gefressen. Das Gedrängte der Sprache, die glosenden schwarzen Löcher, die zwischen
den oft knapp gehaltenen Sätzen gähnen und damit sofort die
Maschinchen der Interpretation in Gang setzen, das ungemein Würzige und Aufgetummelte des Stils, aber auch die komplexen, sprachverstolperten Barrikaden, die immer wieder ein Innehalten erzeugen –
das alles war für mich damals ein Erlebnis der besonderen Art und hat
mich regelrecht vexiert.
Nun habe ich mir in meiner Begeisterung allerdings eine Ungerechtigkeit zuschulden kommen lassen. Die deutschen Sprachregionen der
Schweiz und Österreichs kommen zu kurz, wenn man die komplette
Spracherneuerung und deren Zusammenführung allein auf die deutschen Landstriche und auf Luther bezieht. Es sei daran erinnert, daß
zum Beispiel in der Schweiz die Bibelübersetzung von Huldrych
Zwingli ein klein wenig vor der Lutherbibel erschien, ebenfalls eine
Meisterleistung, die an dieser Stelle leider nicht richtig gewürdigt
werden kann. Vielleicht erwuchs die kleine Invektive Peter Handkes,
der Luthers Übersetzung mal als volksmaulhaft bezeichnet hat, auch
aus dem Beleidigungsgrund, daß die Deutschen immer glauben, sie
allein seien maßgeblich für Gebrauch und Definition der immerhin in
drei Landstrichen verschiedener Nationen vertretenen und in den Nuancen jeweils anders ausgelegten gemeinsamen Sprache.
Unvergeßlich sind mir gewisse Wendungen, die sich mir durch die
Lutherbibel eingeprägt haben, zum Beispiel eine kleine Stelle aus
Psalm 6, Vers 3, worin es heißt: „HERR sey mir gnedig / denn ich bin
schwach / Heile mich HERR / Denn meine Gebeine sind erschrocken.“ Wir sind daran gewöhnt, daß das Herz erschrickt und mit seinem Schlagen durcheinandergerät oder gar still steht; die bis auf die
äußere Ummantelung nervenfreien Knochen eher nicht. Trotzdem ist
die Formulierung ungleich schlagender. Denn das Wort Gebeine erinnert sofort und ausschließlich an den Tod. Ein erschrockenes Herz hat
bei weitem nicht dieselbe Durchschlagskraft. Martin Luther hat aus
einem Riesensack voll hinreißender Formulierungen das entsprechende Material für seine Übersetzung herausgeklaubt. Eine meine Lieblingsformulierungen ist das „Murren wider den Herrn“ aus Mose 5.
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Sofort kann man sich vorstellen, daß da gegrummelt wird, der Ärger
sich in die Herzen gefressen hat, womöglich schon halblaute Flüche
an die Luft entlassen werden, aber alles geschieht verdruckst, noch
nicht mit der freiwerdenden Gewalt offener Rebellion. Sehr schön in
dieser Moses-Partie ist auch eine Formulierung, die Wanderschaft des
Volkes Israel betreffend. Sie „umzogen das Gebirge“ heißt es, da steht
eben nicht das viel umständlichere „sie wanderten um das Gebirge
herum“, zumal in der Kurzformulierung Luthers das eher unschöne
zweimalige Wörtlein um elegant vermieden wird. Das schlagende
Verknappungspotential so manch älterer Formulierung, die man heute
aber noch gut versteht, sollte man nicht unterschätzen.
A propos knapp. Die Knappheit, ja, sogar die Kargheit der meisten
biblischen Sätze, die hat es in sich. Die Bibel breitet nichts aus, da
wird mit geradezu herrischer Durchschlagskraft vorwärtserzählt. Um
auf den Punkt zu kommen. Man kann sich das sehr leicht vergegenwärtigen, wenn man an Thomas Mann und seinen Josefsroman denkt.
Der Schriftsteller brauchte für die elegante romanhafte Bestückung
und Ausdeutung der biblischen Geschichte, verfrachtet in allerlei retardierende Schleifen und Biegen, weit über tausend Seiten. Die entsprechende Bibelstelle enthält nur wenige Absätze, weil die Bibel
niemals offen psychologisiert, niemals allzu introspektive Gedankendeutungen vornimmt, Handlungen in ihrer motivischen Komplexität
nicht
abschnittelang
aufdröselt
und
kommentarbegleitend
dahinschnurren läßt. Gerade in der drangvollen Kürze, die sich damit
begnügt, das Wichtigste zu sagen und alles andere der Ausdeutung zu
überlassen, darin liegt ihre Stärke. Wäre das alles damals schon in
verschiedenen gedanklichen Brechungen ausformuliert worden, wäre
aus der Bibel zwar ein reizvolles literarisches Frühwerk geworden,
aber nie und nimmer ein Buch, das Generationen umgetrieben, eine
geradezu irrsinnige Zahl vom Kommentaren im Schlepp ans Tageslicht gezogen und bis auf den heutigen Tag eine verbindende und erziehende religiöse Wirkung erzielt hat.
Man kann sich das ganz einfach klarmachen, indem man die großartige Dichtung Homers danebenhält. Homers Ilias und Odyssee können
wir bewundern und ob ihrer Vielgestalt der Götter- und menschlichen
Heroenwelt poetisch genießen, daraus aber keinen einzigen Ratschluß
für unser eigenes Leben ziehen.
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Die Bibel hingegen läßt sich im rein poetischen Sinne nicht sonderlich
genießen, da sind die literarischen Texte der Antike ungleich stärker.
Homer, Ovid, Vergil, sie haben dafür ungleich betörendere Sprachmittel im Gepäck, und sie feiern das metaphorische Treiben, emanierend
aus den vielgestaltigen Abbildern der Natur, mit ungleich höherer Potenz. Aber die jüdische Bibel und das Neue Testament, sie sind, wenn
wir vom Hohelied Salomos absehen, eben keine Literatur, obwohl das
landauf landab so leichtfertig behauptet wird, weil man sich mit der
schlagenden Aufforderung, die aus der Bibel widerhallt, nicht mehr
auseinandersetzen will. Ändere dein Leben! Das will die Bibel von
uns. Die hochmögenden antiken Dichter führen solche Pfeile, die an
unser Gewissen rühren und unser Leben in Frage stellen, nicht im Gepäck. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Der einzige Schriftsteller,
der dem biblischen Geheiß in moderner Form nahekommt, ohne es als
ein Programm der Gewißheit erfüllen zu können, ist Franz Kafka. In
seinen Werken rumort es diesbezüglich gewaltig. Knapp gesagt: Gottes Existenz wird vermutet, aber nicht gefunden. Weil sie der Gottsuche müde geworden sind und sie das Dickicht der Ereignisse nicht
mehr mit Hilfe einer religiös gestützten moralischen Selbstvergewisserung durchdringen können, taumeln die Figuren bei Kafka haltlos
durch die Gegend. Was bleibt, sind hinreißende Witze und eine Literatur, die dem Leser dabei heimlich an die Gurgel geht.
Zurück zu Martin Luther. Wie müssen wir uns den Mann vorstellen?
Eine Kraftnatur war er sicherlich, ein Mensch, der es sich bei Tisch
wohl sein ließ und dort auch gern so manche Rede schwang. Kurios
ist nur, daß sein feuriger Redeeifer mitunter erlosch, er ganz in sich
gekehrt dasaß und kein Wörtlein redete. Ob er dabei in sich hineinhorchte und seine Sünden bebrütete, wissen wir nicht. Beide Haltungen charakterisieren Luther sehr gut. Zwei Naturen steckten in seiner
Haut. Der Schwadroneur und der innige Mensch zugleich, eine sehr
besondere Mischung, die auch damals vermutlich nicht alltäglich war.
An seiner tief empfundenen Religiosität kann man schwerlich zweifeln.
Man stellt sich die Tafel, an der Luther präsidierte, gern als einen langen, üppig beladenen Tisch vor. Er war aber klein. Gerade mal die
Hausleute paßten drum herum. Jedenfalls war das mitnichten eine
opulent bestückte Fürstentafel mit ausladendem Geschirr.
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Der Theologe Christian Lehnert schreibt in seinem Nachwort zu den
gerade neu aufgelegten Tischreden Martin Luthers sehr schön, die
frühe Lutherverehrung habe sich nicht nur in einem Tisch, sondern in
einem Bierhumpen aus Luthers Tischgeschirr verdinglicht, versehen
mit der Aufschrift: „Gottes Wort: Luthers Lehr / vergehet nun und
nimmermehr.“
Auch wenn er bei Tisch des öfteren schwieg, war Luther dennoch ein
Hartredner, ein Mann der Wucht, der auch rhetorisch kräftig
dreinhauen konnte. In unserer sprachzimperlichen, von hunderterlei
Verboten umstellten Rhetorik, die immerzu ängstlich Umschau halten
muß, ob sich vielleicht irgend eine Gruppe beleidigt fühlen könnte,
hatte der damalige Sprech- und Schreibstil nichts das geringste gemein. Vielleicht kann man gerade auch deshalb Luthers rhetorische
Kraftakte genießen und bewundern, die sich keinen Deut um die sogenannte political correctness schert, die inzwischen den kompletten
Bürokratieapparat und die Aussagen zumindest der demokratiewilligen Politiker verheert. Nebenbei bemerkt ist das auch deshalb eine
Katastrophe, weil man damit das zügellos enthemmte, hoch aggressive Redenschwingen den Totengräbern der Demokratie überläßt, die
gerade auch deshalb so viel Zulauf haben, weil hier nach faschoartiger
Brüllmanie alles zertreten wird, was mit genauer Differenzierung einhergeht. Die Lust an der Zerstörung wird umso größer, wenn die öffentlich tolerierte Rhetorik von lauter Warnschildern umgeben ist und
deshalb einem permanenten Weichspülwaschgang unterzogen wird.
Geharnischte Starkredner wie Franz-Josef Strauß und Herbert Wehner
wären im heutigen Bundestag kaum vorstellbar.
Bei Luthers Rhetorik war ebenfalls nichts Flaues im Spiel. Dennoch
verfügte er auch über sanftmütige und linde Wörter, die sich wie Balsam in Ohren und Herzen der Zuhörer und Leser träufeln lassen. Vielleicht ist es gerade dieses Hin und Her aus ungestümer Sprachkraft
und feinhörigem Lauschen auf die innersten Seelenregungen, was es
diesem Mann erlaubt hat, zu einem Zyklopen, einer Art Gewitterdämon des deutschen Geistes zu werden, ohne als böser Poltergeist zu
enden. Seine Stimme stellt man sich eher laut und kräftig vor, jedenfalls nicht zaghaft.
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Nach den überlieferten Portraits zu urteilen, hätte Martin Luther auch
der redebegabte Bürgermeister einer kleineren Stadt sein können oder
ein Tuchhändler, ein Bierbrauer, Büchsenmacher oder Metzger.
Als der Reformator auf den Plan trat, ging es in den Kirchen recht
bunt zu. Gelächter, Zornausbrüche, Kommerz, ein geselliges Drunter
und Drüber waren an der Tagesordnung. Gepredigt wurde vorwiegend
auf Latein, was die Priester natürlich nicht davon abhielt, dazwischen
saftige Wörter aus der Volkssprache einzustreuen. Allseits präsent war
der Tod. Man starb früh, Krankheiten, gegen die kein Heilmittel aufkam, grassierten immer wieder, die Sterblichkeitsrate der Kinder war
ohnehin sehr hoch. Sich vom Tod einschüchtern zu lassen, indem der
Priester die Höllenqualen heraufbeschwor, war eine Sache, ihm mit
karnevalesken Umzügen und Gelächter die Stirn zu bieten, eine andere. Strenge und über die Stränge schlagen, waren gleichzeitig an der
Tagesordnung.
Martin Luther waren solch wilde Umtriebe zuwider, wiewohl er im
häuslichen Umfeld durchaus zu Späßen neigte, die an Vulgarität
nichts zu wünschen übrig ließen. Vor allem aber war er ein Wortmensch, oder besser gesagt: ein Wortfex. Gott hatte sich in Wort und
Schrift offenbart. Luther nahm es damit sehr ernst. Daß Gottes Wort
dem einfachen Volk in dessen Sprache verkündet werden müsse, und
denen, die lesen konnten, das große Buch in deutscher Sprache zugänglich sein sollte, diesem Unterfangen widmete er sich mit aller
Kraft. Zweifellos war er der richtige Mann dafür, obwohl er bei weitem nicht der einzige war, der dazu aufforderte, die Liturgie auf
Deutsch zu sprechen. Freiere Formen des Gottesdienstes, in denen
Gebete und Erklärungen von den Priestern in deutscher Sprache ausgefolgt wurden, gab es im Spätmittelalter durchaus.
Für seine Übersetzung klaubte sich Luther aus den zersplitterten deutschen Sprachregionen die passenden Wörter zusammen, trieb Studien,
die man zwar nicht im modernen Sinn als philologisch bezeichnen
kann, denn ein Gelehrter, der bestrebt ist, aus kühlem Abstand auf
Texte zu blicken und sie damit auf prüfbare Distanz zu halten, ein solcher Mann war er gewiß nicht, aber ein Textexeget, der verschiedene
theologische und sprachgeschichtliche Auffassungen zu Rate zog, der
war er sehr wohl.
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Das Herz loderte, die Haut schwitzte, Gott hielt seinen Kopf besetzt.
Martin Luther stand nicht nur als Redner unter Dampf.
Den Kommentaren, mit denen er seine Übersetzung der beiden Testamente umzirkte, merkt man an, wie sehr ihn dabei etwas Gewaltiges
umtrieb und keine Ruhe ließ. Diplomatische Geschliffenheit, die sich
darauf versteht, vom direkten Kern des Anliegens abzulenken und
dennoch beharrlich darauf zurückzukommen, war gewiß nicht seine
Stärke. Luther griff gern an. Nach Möglichkeit frontal. Und das führte
letztlich zum großen Dissens mit der katholischen Kirche. Was ich
sehr bedaure, denn mir kommt die Zwiegespaltenheit der westlichen
christlichen Religion wie ein Mißgeschick vor, rechnet man die östlichen Länder hinzu, gibt es das Christentum sogar in dreifacher Form.
Zwar bin ich evangelisch und werde es auch bleiben, aber die Risse,
die sich durch die verschiedenen christlichen Konfessionen und deren
Unterabteilungen ziehen, empfinde ich dennoch als schmerzhaft.
Daß Luther kein diplomatisches Geschick besaß, spürt man nicht nur
bei den Reden, mit denen er die kirchliche Obrigkeit herausforderte,
auch bei seiner Annäherung an das Judentum, die er in jüngeren Jahren durchaus mit Eifer betrieb, fehlte ihm das feinere Gefühl. Als das
ältere Bibelvolk sich nach damaliger Lesart entgegen seiner Hoffnung
als halsstarrig erwies, war es mit Freundlichkeit und Friede vorbei.
Die Juden scharten sich nicht um Luther und sahen ihn nicht als neuen
Religionsverkünder an, der die alten Differenzen hätte aus der Welt
schaffen können. Nach seiner Lesart, also der Lesart Luthers, verbissen sie sich darein, stur auf der eigenen Tradition zu beharren.
Der zunächst freundliche Annäherungsversuch schlug denn auch alsbald in Haß um. Luthers fatale Sprüche über die Juden sind inzwischen zur Genüge bekannt. Sie werfen ein böses Schlaglicht auf den
Reformator. Persönlich kannte er so gut wie keine Juden, in privater
Begegnung kam er nie mit einer jüdischen Familie zusammen. Disputiert hat er, soweit mir bekannt, nur mit zwei Juden. Und das war’s
denn auch gewesen. Darin liegt eine große Tragik begründet. Da Luther den jüdischen Teil der Bibel enorm aufwertete, der damals bei
den Predigten eine untergeordnete Rolle spielte, kann man die verpaßte Chance nur betrauern, daß der Reformator keine versöhnliche Haltung zu den Juden entwickeln und vertiefen konnte.
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Wer weiß, vielleicht hätte es sogar in seiner Macht gelegen, das
Schwert zu begraben und das Feuer zu ersticken, mit denen die Christen den Juden nach dem Leben trachteten. Martin Luther hatte viel in
der Hand, eine zugespitzte Wirkmacht war ihm gegeben, die sich leider nicht als sänftigend erwies, erst recht nicht gegenüber den Juden,
aber auch nicht in bezug auf die Katholiken, so daß sich der aufgestaute Haß im Dreißigjährigen Krieg in der Verheerung riesiger Landstriche entlud, und der Haß auf die Juden fortdauerte. Natürlich waren
während des langen Krieges auch ganz andere Machtinteressen im
Spiel, verwirrende zumal, die mit den Auslegungsarten der Bibel nicht
das Geringste zu tun hatten. Der katholische Kardinal Richelieu etwa
ließ während des entsetzlichen Krieges dem evangelischen König
Gustav Adolf von Schweden große Summen zukommen, damit er die
katholischen Habsburger besiege.
Für die Geschichtskatastrophen nach seinem Tod kann man Luther
allerdings nicht in Verantwortungshaft nehmen. Die Greuel gingen
später weit über das hinaus, was sich der Mann vorstellen konnte –
das kriegerische Gemetzel mit den abertausend Toten, das halb Europa zwischen 1616 und 1648 verwüstete, übertraf in seinem Ausmaß
alles, was in bisherigen Kriegen zerstört worden war. Einen klaren
Blick auf die Greuel, welche die Kriege anrichteten, die er kannte, besaß Luther gleichwohl: „Buchsen und das Geschütz ist ein grausam,
schädlich Instrument, zusprengt Mauren und Felse, und führt die Leute in die Lufft. Ich gläube, daß des Teufels in der Hölle eigen Werk
sey, der es erfunden hat, als der nicht streiten kann sonst mit leiblichen Waffen und Fäusten. Gegen Büchsen hilft keine Stärke noch
Mannheit, er ist todt, ehe man ihn siehet. Wenn Adam das Instrument
gesehen hätte, das seine Kinder hätten gemacht, er wäre fur Leide gestorben.“
Die Vernichtung der Juden in den Gaskammern der Nationalsozialisten ist ohnehin ein beispiellose Katastrophe. Obwohl einige Wortführer des sogenannten Dritten Reichs, das tausend Jahre währen sollte,
aber nach zwölf Jahren als bösester Rohrkrepierer aller Zeiten endete,
ihre Hetze gegen die Juden hin und wieder mit Luthersprüchen spickten, ist es schwierig, den Reformator dafür in die Verantwortung zu
nehmen. Derartige Greuel konnte sich der Mann nicht im entferntesten vorstellen.
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Trotzdem legt sich damit ein schwerer, durchaus verstörender Schatten auf ihn. Pech gehabt, könnte man sagen. Böse Worte können böse
Taten im Gepäck führen, sogar noch Jahrhunderte später. Und man
darf spekulieren: hätte Martin Luther an seiner anfänglich versöhnlichen Sicht auf das Judentum festgehalten, wer weiß, ob sich das Verhältnis zwischen Christen und Juden nicht dauerhaft friedlicher hätte
gestalten können.
Hätte er gewollt, hätte er gesagt, hätte er geschrieben – letztlich sind
solche Spekulationen unnütz, und so bleibt es leider dabei, daß die
Vernichtung des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert nicht nur
die folgende Zeit beschwert, sondern auch als böser Schatten über die
vergangenen Jahrhunderte hinwegstreicht und ein Ausläufer davon
über dem Haupt des Reformators hängenbleibt.
Eine kleine Kuriosität sei hierzu noch angemerkt: die sogenannten
Deutschen Christen, eine Abspaltung der evangelischen Kirche während der Nazizeit, die Freiluftgottesdienste an germanischen Thingstätten abhielten, ihre Kirchen mit Hakenkreuzfahnen zierten und
Konfirmationsbildchen, nein, nicht mit Jesus, sondern mit Adolf Hitler auf der Rückseite, verteilten, die beriefen sich gern mit markigen
Sprüchen auf Luther. Was ihnen bei den Nationalsozialisten allerdings
nicht sonderlich genützt hat. Die fanden das spinnerte Theater schlicht
idiotisch. Die Deutschen Christen wollten das Alte Testament gleich
ganz – eben als jüdisch versippt, wie es damals so mörderisch hieß –
abschaffen. Dabei hatten sie die Rechnung aber ohne den Lutherwirt
gemacht. Dem hätten sich angesichts eines solchen Vorhabens sämtliche Haare einzeln gesträubt. Das zumindest muß man dem Reformator lassen.
Sibylle Lewitscharoff
für NDR / Redaktion Joachim Dicks
im Dezember 2017
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