Müller und Chebli im Interview „... als würden Muslime für Aliens gehalten“ Folgen: Chebli: Wir dürfen die Integrationsdebatte nicht mit der Diskussion über Muslime und Islam oder Religion insgesamt vermengen. Mein Vater ist ein frommer Muslim, spricht kaum Deutsch, kann weder lesen noch schreiben, ist aber integrierter als viele Funktionäre der AfD, die unsere Verfassung in Frage stellen. Anzeige Emerging Markets Was Schwellenländer-Anleger erwartet Konsequenzen der US-Präsidentschaftswahl: Vier Szenarien und ihre Folgen für Schwellenländer. Mehr... Müller: Wir brauchen in der Tat eine offensivere Diskussion darüber, welchen Stellenwert Religion in unserer Gesellschaft hat. Das gilt für den Islam, aber genauso für Christentum oder das Judentum. Wir sind ein säkularer Staat, aber Religion hat eine wichtige, ja auch eine stabilisierende Funktion. Es wird aber doch ständig versucht, Religion zu verdrängen. Hat sich Deutschland nicht längst von einem säkularen in einen laizistischen Staat verwandelt? Müller: Nein, das sehe ich nicht so. Meine Wahrnehmung ist eher, dass sich viele Leute zurückziehen aus Parteien, Gewerkschaften und eben auch Kirchen. Vielleicht entsteht so der Eindruck, dass die Kirchen nicht mehr zu den Säulen der Gesellschaft gehören. Das ist schade und politisch ganz sicher nicht gewollt. Die Trennung von Religion und Staat ist richtig, aber wir brauchen die christlichen Kirchen, die jüdischen Organisationen und auch die muslimischen Gemeinden als Partner für Dialog und Verständigung. Wir haben in den vergangenen Jahren vor allem in unseren Beziehungen zu den Muslimen wichtige Meilensteine wie das Integrationsgesetz zurückgelegt. Ist das Berliner Neutralitätsgesetz, also das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, nicht Ausdruck einer schleichenden Abkehr vom Säkularismus und einer Hinwendung zum Laizismus? Die neue digitale Zeitung F.A.Z. 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Im „Juma“Projekt, das ich ins Leben gerufen habe („Juma“ steht für das Freitagsgebet, aber auch für „jung, muslimisch, aktiv“), tragen neunzig Prozent der Mädchen ein Kopftuch. Fast alle studieren, sind talentiert und wollen etwas leisten für die Gesellschaft. Es tut mir weh zu sehen, wie viel Potential wir einfach so vergeuden. Berlin hat ein Integrationsgesetz, das ohne „Leitkultur“ auskommt. Bayern geht jetzt einen anderen Weg. Brauchen wir Leitkulturgesetze? Müller: Der Begriff „Leitkultur“ ist mir zu eng gefasst und wird auch gerne politisch zur Ausgrenzung missbraucht. Wenn wir aus den Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte lernen wollen, dann doch, dass wir konkret formulieren müssen, was wir wollen. Im Berliner Integrations- und Partizipationsgesetz regeln wir Dinge wie Bestattungen oder auch Feiertage, aber vor allem anerkennen wir die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in unserer Stadt. Es geht darum, dass jeder dazugehört und mitwirken kann. Wir alle – in unserer Vielfältigkeit – sind Berlin, und jeder soll die Möglichkeit haben, sich bei der gemeinsamen Gestaltung unserer Stadt einzubringen. Das bayrische Gesetz ist mir zu dünn. In Berlin setzen wir der Abgrenzungskultur eine offene Kultur entgegen. Unter muslimischen Jugendlichen der dritten Generation steigt der Anteil derer, die im Zweifel die Scharia über das Grundgesetz stellen. Wie kommt das? © Matthias Lüdecke „Eine selbstbewusste muslimische Mittelschicht sagt: Wir gehören dazu!“: Michael Müller, Regierender Bürgermeister von Berlin Chebli: Manchmal habe ich das Gefühl, wir würden für Aliens gehalten. Fakt ist: Auch Muslime hungern nach mehr Demokratie. Für mich und für die allermeisten Muslime gilt das Grundgesetz ohne Wenn und Aber. Für Muslime hat es auch deshalb einen besonderen Wert, weil es sie als Minderheit schützt und ihnen Religionsfreiheit gewährt – die sie in vielen islamisch geprägten Ländern nicht genießen würden. Und dennoch halte ich diese Gegenüberstellung – Identifikation mit Deutschland und dem Grundgesetz versus Islam – für künstlich und auch lebensfern. Warum wird das immer als Widerspruch konstruiert? Alle reden über Scharia, aber kaum jemand weiß, was Scharia bedeutet. Scharia heißt auf Deutsch: Weg zur Quelle, also der Weg zu Gott. Sie regelt zum größten Teil das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen. Es geht um Dinge wie das Gebet, um Fasten, um Almosen. Das stellt mich als Demokratin doch vor kein Problem im Alltag, sondern ist absolut kompatibel, wie es für Christen, Juden und andere auch der Fall ist. Müller: Für mich ist klar: Es gilt immer das Grundgesetz. Punkt. Für alle, die hier leben. Ich liebe unser Grundgesetz. Es regelt für uns alle unteilbar, wie wir zusammenleben wollen – gleichberechtigt, gewaltfrei, offen und tolerant jeder Religion gegenüber, jedem Menschen gegenüber. Das ist die Grundlage für jeden, der hier lebt. Auf dieser Grundlage ist Integrationsarbeit zu leisten – über Bildung, Teilhabe für alle und gute Arbeit. Mehr zum Thema Chebli: Für Muslime ist der islamistische Extremismus eine große Bedrohung. Terroristen treffen mitten ins Herz der islamischen Gemeinden. Und wenn Sie sich die Opferzahlen terroristischer Anschläge anschauen, dann sehen sie: Die große Mehrheit unter den Toten sind Muslime. Es liegt also im ureigenen Interesse von Muslimen, der Radikalisierung in ihren Reihen entgegenzutreten. Aber nicht nur Muslime, jeder von uns entscheidet mit darüber, wohin es junge Menschen treibt. Wir alle, auch wir Muslime müssen unsere Hausaufgaben machen. Was nutzt uns aber das Grundgesetz, wenn es im Kindergarten heißt, wir können Weihnachten nicht mehr feiern, weil es so viele muslimische Kinder gibt, oder wenn das Kreuz im Klassenzimmer abgehängt wird, weil der Staat es so will. Reicht da der Hinweis, das sei alles in Ordnung, weil es sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vollziehe? Müller: Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, man kann diese Veränderungsprozesse nicht wegdiskutieren. Meine Kinder sind 18 und 20 Jahre alt, sie gehen ganz selbstverständlich damit um und haben keine Vorurteile. Ich finde, unterschiedliche Kulturen und auch Religionen haben unsere Gesellschaft positiv geprägt. Das heißt nicht, dass man sich nicht mehr traut, seine eigene Geschichte und Biographie zu leben. Das wäre fatal. Warum soll ich nicht mit meinem türkischen Freund essen und leben und beten, genau wie er ja auch meine Lebensweise teilt? Es geht um gegenseitigen Respekt. Chebli: Sie haben recht. Wenn wir als Muslime wollen, dass andere unsere Religion respektieren, müssen wir Andersdenkenden auch Respekt zollen! Ich bin deshalb auch dagegen, dass im Kindergarten aus Rücksicht auf muslimische Kinder kein Weihnachten gefeiert wird. Ich komme aus einem religiösen Elternhaus. Das Gebet fünfmal am Tag war Pflicht, und das Auswendiglernen des Korans nach der Schule gehörte zum Alltag. Mein Bruder war mit einer Christin verheiratet. Gemeinsam mit ihrer Familie haben wir Weihnachten gefeiert. Zu Nikolaus standen die Stiefel vor der Tür, und zu Ostern haben wir Eier bemalt. Ich finde, wir könnten die Kirche mal im Dorf lassen und alle ein wenig entspannter miteinander sein. © Matthias Lüdecke „Manchmal habe ich das Gefühl, wir würden für Aliens gehalten“: Sawsan Chebli, stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes, ist das Kind einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie. Müller: Natürlich wird in einem Kindergarten weiter Weihnachten gefeiert! Zum gegenseitigen Respekt gehört auch, sich darauf einzustellen, dass muslimische Kinder nicht alles essen. Wo ist da der Widerspruch? Ich möchte ein soziales Gemeinwesen, in dem sich alle Menschen unabhängig von ihrer kulturellen oder religiösen Identität friedlich und frei entfalten können. Chebli: Schrecklich ist nur, dass die AfD diese Beispiele nutzt, um gegen Muslime zu hetzen. Da müssen wir klar Stellung beziehen und Rassismus mit aller Vehemenz zurückweisen. Wenn Minderheiten diffamiert, sie zu Sündenböcken gemacht oder ihnen Verfassungsrechte aberkannt werden sollen, dann müssen wir Demokraten unsere Stimme erheben. Warum ist es der AfD aber gelungen, sich einen solchen Resonanzraum zu verschaffen? Müller: Zuerst will ich festhalten, dass ja ganz offensichtlich die übergroße Mehrheit der Gesellschaft anderer Meinung ist als die AfD. Viele Dinge kommen zusammen: die Lage in der Welt, die Flüchtlingskrise, Europa ist in der Krise. Die Menschen erleben neue Unübersichtlichkeiten und einige reagieren darauf, indem sie sich zurückziehen und die anderen einfach machen lassen. Nationales Denken wird als Lösung für alle diese Probleme propagiert. Das sehen wir leider in ganz Europa. Die AfD schürt diesen nationalistischen Virus. Doch unsere Gesellschaft ist stärker: Wir sollten nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren und glauben, die AfD dominiere die Politik. Das tut sie nicht. Wie verändern die Flüchtlinge den Islam in Deutschland? Bisher war er eher türkisch geprägt, jetzt kommt der arabische stärker zur Geltung. Chebli: Bisher stellten die Türkeistämmigen die größte Gruppe unter den Muslimen dar. Araber bildeten eine kleine Minderheit. Traditionell sind die arabischen Gemeinden in Berlin weniger religiös aufgestellt. Insgesamt wissen wir aber noch zu wenig über die Gruppe der neuzugewanderten Araber, um was Belastbares sagen zu können. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die muslimischen Gemeinden massiv gefordert sein werden, all diese Menschen in ihren Reihen zu integrieren. Brauchen wir einen Euro-Islam? Oder ist der nur der Wunsch-Islam der Deutschen? Chebli: Es gibt seit Ende der neunziger Jahre eine Debatte in Europa über die Frage, wie Muslime ihr Muslimsein in einem nichtislamischen Umfeld als Minderheit ausleben können, wie man muslimisches Leben in Einklang bringen kann mit dem Leben in westlichen Gesellschaften. Hier geht es um eine zeitgemäße Auslegung der Religion und der islamischen Quellen, Koran und Sunna. Das finde ich gut. Vom Begriff Euro-Islam halte ich aber dennoch nichts. Im Übrigen ist das ein innerislamischer Prozess, der auch nicht von außen bestimmt werden sollte. Müller: Es ist doch normal, dass man sich und wie man seine Religion praktizieren möchte, den Lebensumständen anpasst. Das ist deswegen aber doch keine neue Religion, die entsteht oder gar aufgezwungen werden muss. © AP, reuters Papst Franziskus: „Der Islam ist nicht gewalttätig“Aber vielleicht anpassungsfähiger. Chebli: Muslimische Gelehrte haben sich in der Geschichte stets den Kopf darüber zerbrochen, wie man auseinandergehende Meinungen – sogar innerhalb von Rechtsschulen – aushalten kann. Das ist also keine Neuerung, das ist islamische Tradition. Extremisten wie die des „Islamischen Staats“ wischen diese islamische Tradition einfach weg. Für sie ist der Koran eine Art Kochbuch. Sie interpretieren das Geschriebene im wortwörtlichen Sinne und beschäftigen sich mit Fragen wie: Wie lang muss mein Bart und wie lang muss meine Hose sein? Sie pervertieren unseren Glauben und nehmen die ganze muslimische Gemeinschaft in Geiselhaft. Sie haben von einer „Muslimisierung“ der Integrationsdebatte gesprochen. Was meinten Sie damit? Chebli: Soziale Konflikte – Bildungsprobleme, Jugendgewalt, Arbeitslosigkeit – werden zunehmend religiös aufgeladen und mit der Kultur und Religion erklärt. Menschen, deren Eltern aus einem islamisch geprägten Land stammen, die mit dem Islam aber sonst nichts am Hut haben, werden zu Muslimen erklärt. Das Ergebnis ist ganz häufig eine Überidentifikation mit dem Islam, auch mit negativen Folgen. Was ist dafür ausschlaggebend gewesen? Chebli: Bis in die späten neunziger Jahre hinein war der Islam in Deutschland unsichtbar. Es gab hier und da eine Hinterhofmoschee, aber in der Öffentlichkeit spielte diese Gruppe keine Rolle, da stand die Wahrnehmung als ethnische Gruppe – Türken, Araber – im Vordergrund. Mit den Anschlägen vom 11. September hat sich das schlagartig verändert. Jeder, der Wurzeln im Nahen Osten oder in der Türkei hat, ist plötzlich, ob er wollte oder nicht, zum Muslim und zum Sprecher der muslimischen Community erklärt worden. Kann das denn so falsch sein, wenn doch klar ist, dass Religion identitätsstiftend ist? Christen sind auch oft nur „Kulturchristen“, müssen sich aber trotzdem sagen lassen, sie seien Christen. Chebli: Das Christentum ist hierzulande die Mehrheitsreligion, und die Zugehörigkeit zum Christentum ist kein Stigma. Der Islam dagegen gilt als rückwärtsgewandt, gewaltbereit, undemokratisch, und Muslime werden als schwer integrierbar wahrgenommen. Hat es nicht auch damit zu tun, dass das Christentum seit Jahrhunderten selbstverständlicher Teil des Lebens ist in Deutschland, der Islam aber nicht? Müller: Wir haben in Berlin eine sehr selbstbewusste muslimische Mittelschicht, die sagt: Wir gehören zu Deutschland, wir gehören zu Berlin – warum sollen wir unsere Religion verstecken? In der öffentlichen Diskussion wird daraus eine einseitige Reduzierung auf das Muslimsein. Dabei wollen die Muslime nur sagen: Religion spielt nicht allein, aber eben auch eine Rolle für uns. Geht es nicht vielen Christen in Deutschland auch so? Auf wen hören die Muslime? Auf die Verbände? Auf Prediger im Inland? Auf Prediger im Ausland? Chebli: Der Islam kennt keinen Klerus. Als Muslim ist man nur Gott gegenüber zu Rechenschaft verpflichtet. Das ist ein Segen, macht es zugegebenermaßen aber auch schwieriger, die Zusammenarbeit mit dem Staat zu organisieren. Haben Muslime denn wirklich niemanden, auf den sie hören? Chebli: Für viele Muslime sind Moscheevereine und Verbände wichtige Ansprechpartner, wenn es um religiöse und rituelle Fragen geht. Das gilt auch, wenn man keinem Verband offiziell angehört. Das Beharren auf religiöser Autorität und klaren Hierarchien bringt uns aber nicht weiter. Müller: Dass sich Menschen einem Verband oder einer Gemeinde anschließen, ist ja kein eigenständiges Merkmal des Islams. Wo Deutsche in der Fremde waren, haben sie erst einmal eine Kirche gebaut oder Traditionsvereine gegründet. Wo ich fremd bin, suche ich Halt in Vertrautem. Aber Respekt vor der Kultur der neuen Heimat ist genauso wichtig. Haben wir davon im Fall der Muslime zu viel oder zu wenig? Die muslimischen Verbände sind nicht unbedingt repräsentativ, und wir wissen immer noch zu wenig über sie. Müller: Ja, deshalb ist es gut, dass wir seit zehn Jahren das Berliner Islamforum haben, einen Ort des Dialogs und der Verantwortung. Da sitzt der Staat mit Sunniten, Schiiten, Aleviten, Christen und Juden an einem Tisch. Hier wird deutlich, dass es eben nicht die eine muslimische Stimme gibt, sondern viele und nicht selten auch untereinander um Positionen gerungen wird. Auch der Tag der offenen Moscheen ist eine schöne Tradition. Wir brauchen noch viel mehr solcher Foren der Begegnung, wo wir einander besser kennenlernen. In Berlin funktioniert es ganz gut, auch wenn nicht alles reibungslos verläuft. Warum ist es so schwierig, Staatsverträge mit den Verbänden zu schließen? Müller: Verträge mit muslimischen Verbänden und Vereinen können einen Beitrag dazu leisten, um Rechte und Pflichten zu definieren. Vieles haben wir bereits geregelt. Aber es gibt natürlich noch offene Fragen. Deswegen haben wir in Berlin einen runden Tisch geschaffen. Ziel ist es, ein klareres Bild darüber zu haben, wer unsere Ansprechpartner und was ihre Vorstellungen sind oder was wir im Sinne verbindlicher rechtlicher Regelungen vereinbaren könnten. Chebli: Und bei aller Kritik an den Verbänden dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Arbeit größtenteils ehrenamtlich ist. Zudem sind sie auf Spenden angewiesen, was angesichts der sozioökonomischen Lage der Muslime hierzulande das Ganze nicht einfacher macht. Es fehlt also ganz häufig an Ressourcen, um den vom Staat an sie herangetragenen Aufgaben als Sozialarbeiter, Kämpfer gegen Radikalisierung, Jugendhelfer professionell nachkommen zu können. Müller: Genau das wollen wir mit Verträgen regeln, um so auch eine bessere Arbeit zu ermöglichen. Außerdem richten wir das Institut für islamische Theologie an der Humboldt-Universität ein. Das sind alles Schritte hin zu dieser Professionalisierung. Natürlich lösen solche Verträge allein nicht alle Probleme. Es gibt Grenzen. Welche Grenzen meinen Sie? Müller: Ein praktisches Beispiel: Wir haben immer mehr muslimische Bestattungen in Berlin. Das ist schön, weil es uns zeigt, dass Muslime Deutschland als ihre Heimat sehen. Aber wo sollen wir die Flächen für die Bestattungen finden? Wir haben den Verbänden und Glaubensgemeinschaften Flächen angeboten, die von den christlichen Kirchen nicht mehr genutzt werden. Die einen haben gesagt: Eine anständige Lösung. Andere haben gesagt: Das ist doch nicht euer Ernst! Das ist unreine Erde! Wir kommen also an Grenzen, weil wir nicht nur einen, sondern mehrere Vertragspartner haben, die sich nicht immer einig sind. Am Berliner Islam-Institut wiederum richten wir mehrere Professuren ein, auch um unterschiedliche Richtungen abbilden zu können, da gibt es keine Kontroverse. Hängen die Lehrstühle nicht in der Luft, wenn die Moscheegemeinden die ausgebildeten Imame nicht akzeptieren? Müller: Wir wünschen uns natürlich, dass das funktioniert. Es wäre jedenfalls ein großer Fortschritt, dass hier aufgewachsene, hier ausgebildete Imame in den Moscheen auch predigen können. Ein in Berlin angebotener muslimischer Religionsunterricht von in Berlin ausgebildeten Lehrkräften: das ist ein weiteres Signal religiöser Integration. Chebli: Das sieht auch die Mehrheit der Muslime so. Es ist wichtig, dass junge Menschen Ansprechpartner in den Moscheen haben, die ihre Sprache sprechen und sich auch in ihre Gefühlswelt hineinversetzen können. Wer soll die Imame eines Tages bezahlen? Wer gut ausgebildet ist, will auch ein ordentliches Gehalt haben. Chebli: Richtig. Und ich glaube nicht, dass die Verbände oder die Moscheen in der Lage sind, ein solches Gehalt zu zahlen. Müller: Auch hierüber müssen wir diskutieren und gemeinsame Lösungen finden. Beim Religionsunterricht funktioniert es ja auch gut, indem wir eine Mischfinanzierung zwischen staatlichen Anteilen und Finanzierung durch die Religionsgemeinschaften haben. Sind das alles Ergebnisse eines Lernprozesses auf beiden Seiten? Müller: Wir hatten zu lange, auch in der SPD, die Haltung: Wenn Menschen zu uns kommen, ist das gut, und irgendwie wird sich das Zusammenleben dann schon ergeben. Das war ein Irrtum. Für das Zusammenleben muss es einen klar benannten und für alle nachvollziehbaren Rahmen geben. Es gibt keinen Automatismus, sondern wir müssen in einem Geben und Nehmen aktiv mit den Herausforderungen von Integration umgehen. Die für alle verbindlichen Regeln müssen ausgesprochen werden. Chebli: Wir haben schon einiges erreicht, wenn man bedenkt, dass wir vor gar nicht allzu langer Zeit kaum etwas übereinander wussten. Es ist revolutionär, wie schnell sich muslimisches Leben in Deutschland emanzipiert hat. Sawsan Chebli ist seit 2014 stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amts. Von 2010 bis 2014 war sie die erste Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten im Berliner Innensenat unter Ehrhart Körting (SPD). Die Politikwissenschaftlerin ist eines von zwölf Kindern einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie. Sie wurde 1978 in Berlin geboren, war bis 1993 „geduldet“, erhielt dann die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie ist Initiatorin des Arbeitskreises Muslime in der SPD. Michael Müller ist seit Dezember 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin und Spitzenkandidat der SPD für die Wahl im September. Im April wurde er zum Vorsitzenden der Berliner SPD gewählt, was er schon von 2004 bis 2012 war. Von 2001 bis 2011 leitete er die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Müller wurde 1964 in Berlin-Tempelhof als Sohn eines Buchdruckers geboren. Er ist Mitglied der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Quelle: F.A.Z.
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