FAZ-Interview vom August - Jeder hat das Recht, seine Meinung in

Müller und Chebli im Interview „... als würden Muslime
für Aliens gehalten“
Folgen:
Chebli: Wir dürfen die Integrationsdebatte nicht mit der Diskussion über Muslime und Islam oder
Religion insgesamt vermengen. Mein Vater ist ein frommer Muslim, spricht kaum Deutsch, kann weder
lesen noch schreiben, ist aber integrierter als viele Funktionäre der AfD, die unsere Verfassung in
Frage stellen.
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Müller: Wir brauchen in der Tat eine offensivere Diskussion darüber, welchen Stellenwert Religion in
unserer Gesellschaft hat. Das gilt für den Islam, aber genauso für Christentum oder das Judentum.
Wir sind ein säkularer Staat, aber Religion hat eine wichtige, ja auch eine stabilisierende Funktion.
Es wird aber doch ständig versucht, Religion zu verdrängen. Hat sich Deutschland nicht
längst von einem säkularen in einen laizistischen Staat verwandelt?
Müller: Nein, das sehe ich nicht so. Meine Wahrnehmung ist eher, dass sich viele Leute zurückziehen
aus Parteien, Gewerkschaften und eben auch Kirchen. Vielleicht entsteht so der Eindruck, dass die
Kirchen nicht mehr zu den Säulen der Gesellschaft gehören. Das ist schade und politisch ganz sicher
nicht gewollt. Die Trennung von Religion und Staat ist richtig, aber wir brauchen die christlichen
Kirchen, die jüdischen Organisationen und auch die muslimischen Gemeinden als Partner für Dialog
und Verständigung. Wir haben in den vergangenen Jahren vor allem in unseren Beziehungen zu den
Muslimen wichtige Meilensteine wie das Integrationsgesetz zurückgelegt.
Ist das Berliner Neutralitätsgesetz, also das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, nicht
Ausdruck einer schleichenden Abkehr vom Säkularismus und einer Hinwendung zum
Laizismus?
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Müller: Nein. Das Neutralitätsgesetz hat nichts mit Gleichgültigkeit gegenüber Religion oder der
Einschränkung von Religionsfreiheit zu tun. Das Gesetz verhindert ja nicht Religion in unserem
Zusammenleben oder dass im Roten Rathaus auch Frauen mit Kopftuch arbeiten. Es heißt
Neutralitätsgesetz, weil es Bereiche wie Schulen, Gerichte und Polizei gibt, in denen der Staat strikte
Neutralität wahren muss. Das gilt für Kopftücher ebenso wie für die Kippa oder das KreuzChebli: Die Realität ist doch, dass Frauen mit Kopftuch als potentiell unterdrückt gelten, als Frauen,
die man aus den Zwängen ihrer Väter oder Ehemänner befreien muss. Meine Mutter und meine fünf
Schwestern tragen ein Kopftuch, einige auch gegen den Willen ihrer Männer, und berichten von
wachsenden Anfeindungen auf der Straße. Im „Juma“Projekt, das ich ins Leben gerufen habe („Juma“
steht für das Freitagsgebet, aber auch für „jung, muslimisch, aktiv“), tragen neunzig Prozent der
Mädchen ein Kopftuch. Fast alle studieren, sind talentiert und wollen etwas leisten für die
Gesellschaft. Es tut mir weh zu sehen, wie viel Potential wir einfach so vergeuden.
Berlin hat ein Integrationsgesetz, das ohne „Leitkultur“ auskommt. Bayern geht jetzt einen
anderen Weg. Brauchen wir Leitkulturgesetze?
Müller: Der Begriff „Leitkultur“ ist mir zu eng gefasst und wird auch gerne politisch zur Ausgrenzung
missbraucht. Wenn wir aus den Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte lernen wollen, dann
doch, dass wir konkret formulieren müssen, was wir wollen. Im Berliner Integrations- und
Partizipationsgesetz regeln wir Dinge wie Bestattungen oder auch Feiertage, aber vor allem
anerkennen wir die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in unserer Stadt. Es geht darum, dass
jeder dazugehört und mitwirken kann. Wir alle – in unserer Vielfältigkeit – sind Berlin, und jeder soll
die Möglichkeit haben, sich bei der gemeinsamen Gestaltung unserer Stadt einzubringen. Das
bayrische Gesetz ist mir zu dünn. In Berlin setzen wir der Abgrenzungskultur eine offene Kultur
entgegen.
Unter muslimischen Jugendlichen der dritten Generation steigt der Anteil derer, die im
Zweifel die Scharia über das Grundgesetz stellen. Wie kommt das?
© Matthias Lüdecke
„Eine selbstbewusste muslimische Mittelschicht sagt: Wir gehören dazu!“: Michael Müller, Regierender
Bürgermeister von Berlin
Chebli: Manchmal habe ich das Gefühl, wir würden für Aliens gehalten. Fakt ist: Auch Muslime
hungern nach mehr Demokratie. Für mich und für die allermeisten Muslime gilt das Grundgesetz ohne
Wenn und Aber. Für Muslime hat es auch deshalb einen besonderen Wert, weil es sie als Minderheit
schützt und ihnen Religionsfreiheit gewährt – die sie in vielen islamisch geprägten Ländern nicht
genießen würden. Und dennoch halte ich diese Gegenüberstellung – Identifikation mit Deutschland
und dem Grundgesetz versus Islam – für künstlich und auch lebensfern. Warum wird das immer als
Widerspruch konstruiert? Alle reden über Scharia, aber kaum jemand weiß, was Scharia bedeutet.
Scharia heißt auf Deutsch: Weg zur Quelle, also der Weg zu Gott. Sie regelt zum größten Teil das
Verhältnis zwischen Gott und den Menschen. Es geht um Dinge wie das Gebet, um Fasten, um
Almosen. Das stellt mich als Demokratin doch vor kein Problem im Alltag, sondern ist absolut
kompatibel, wie es für Christen, Juden und andere auch der Fall ist.
Müller: Für mich ist klar: Es gilt immer das Grundgesetz. Punkt. Für alle, die hier leben. Ich liebe unser
Grundgesetz. Es regelt für uns alle unteilbar, wie wir zusammenleben wollen – gleichberechtigt,
gewaltfrei, offen und tolerant jeder Religion gegenüber, jedem Menschen gegenüber. Das ist die
Grundlage für jeden, der hier lebt. Auf dieser Grundlage ist Integrationsarbeit zu leisten – über
Bildung, Teilhabe für alle und gute Arbeit.
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Chebli: Für Muslime ist der islamistische Extremismus eine große Bedrohung. Terroristen treffen
mitten ins Herz der islamischen Gemeinden. Und wenn Sie sich die Opferzahlen terroristischer
Anschläge anschauen, dann sehen sie: Die große Mehrheit unter den Toten sind Muslime. Es liegt
also im ureigenen Interesse von Muslimen, der Radikalisierung in ihren Reihen entgegenzutreten.
Aber nicht nur Muslime, jeder von uns entscheidet mit darüber, wohin es junge Menschen treibt. Wir
alle, auch wir Muslime müssen unsere Hausaufgaben machen.
Was nutzt uns aber das Grundgesetz, wenn es im Kindergarten heißt, wir können
Weihnachten nicht mehr feiern, weil es so viele muslimische Kinder gibt, oder wenn das
Kreuz im Klassenzimmer abgehängt wird, weil der Staat es so will. Reicht da der Hinweis,
das sei alles in Ordnung, weil es sich auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung vollziehe?
Müller: Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, man kann diese
Veränderungsprozesse nicht wegdiskutieren. Meine Kinder sind 18 und 20 Jahre alt, sie gehen ganz
selbstverständlich damit um und haben keine Vorurteile. Ich finde, unterschiedliche Kulturen und auch
Religionen haben unsere Gesellschaft positiv geprägt. Das heißt nicht, dass man sich nicht mehr
traut, seine eigene Geschichte und Biographie zu leben. Das wäre fatal. Warum soll ich nicht mit
meinem türkischen Freund essen und leben und beten, genau wie er ja auch meine Lebensweise
teilt? Es geht um gegenseitigen Respekt.
Chebli: Sie haben recht. Wenn wir als Muslime wollen, dass andere unsere Religion respektieren,
müssen wir Andersdenkenden auch Respekt zollen! Ich bin deshalb auch dagegen, dass im
Kindergarten aus Rücksicht auf muslimische Kinder kein Weihnachten gefeiert wird. Ich komme aus
einem religiösen Elternhaus. Das Gebet fünfmal am Tag war Pflicht, und das Auswendiglernen des
Korans nach der Schule gehörte zum Alltag. Mein Bruder war mit einer Christin verheiratet.
Gemeinsam mit ihrer Familie haben wir Weihnachten gefeiert. Zu Nikolaus standen die Stiefel vor der
Tür, und zu Ostern haben wir Eier bemalt. Ich finde, wir könnten die Kirche mal im Dorf lassen und alle
ein wenig entspannter miteinander sein.
© Matthias Lüdecke
„Manchmal habe ich das Gefühl, wir würden für Aliens gehalten“: Sawsan Chebli, stellvertretende
Sprecherin des Auswärtigen Amtes, ist das Kind einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie.
Müller: Natürlich wird in einem Kindergarten weiter Weihnachten gefeiert! Zum gegenseitigen Respekt
gehört auch, sich darauf einzustellen, dass muslimische Kinder nicht alles essen. Wo ist da der
Widerspruch? Ich möchte ein soziales Gemeinwesen, in dem sich alle Menschen unabhängig von
ihrer kulturellen oder religiösen Identität friedlich und frei entfalten können.
Chebli: Schrecklich ist nur, dass die AfD diese Beispiele nutzt, um gegen Muslime zu hetzen. Da
müssen wir klar Stellung beziehen und Rassismus mit aller Vehemenz zurückweisen. Wenn
Minderheiten diffamiert, sie zu Sündenböcken gemacht oder ihnen Verfassungsrechte aberkannt
werden sollen, dann müssen wir Demokraten unsere Stimme erheben.
Warum ist es der AfD aber gelungen, sich einen solchen Resonanzraum zu verschaffen?
Müller: Zuerst will ich festhalten, dass ja ganz offensichtlich die übergroße Mehrheit der Gesellschaft
anderer Meinung ist als die AfD. Viele Dinge kommen zusammen: die Lage in der Welt, die
Flüchtlingskrise, Europa ist in der Krise. Die Menschen erleben neue Unübersichtlichkeiten und einige
reagieren darauf, indem sie sich zurückziehen und die anderen einfach machen lassen. Nationales
Denken wird als Lösung für alle diese Probleme propagiert. Das sehen wir leider in ganz Europa. Die
AfD schürt diesen nationalistischen Virus. Doch unsere Gesellschaft ist stärker: Wir sollten nicht wie
das Kaninchen auf die Schlange starren und glauben, die AfD dominiere die Politik. Das tut sie nicht.
Wie verändern die Flüchtlinge den Islam in Deutschland? Bisher war er eher türkisch
geprägt, jetzt kommt der arabische stärker zur Geltung.
Chebli: Bisher stellten die Türkeistämmigen die größte Gruppe unter den Muslimen dar. Araber
bildeten eine kleine Minderheit. Traditionell sind die arabischen Gemeinden in Berlin weniger religiös
aufgestellt. Insgesamt wissen wir aber noch zu wenig über die Gruppe der neuzugewanderten Araber,
um was Belastbares sagen zu können. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die
muslimischen Gemeinden massiv gefordert sein werden, all diese Menschen in ihren Reihen zu
integrieren.
Brauchen wir einen Euro-Islam? Oder ist der nur der Wunsch-Islam der Deutschen?
Chebli: Es gibt seit Ende der neunziger Jahre eine Debatte in Europa über die Frage, wie Muslime ihr
Muslimsein in einem nichtislamischen Umfeld als Minderheit ausleben können, wie man muslimisches
Leben in Einklang bringen kann mit dem Leben in westlichen Gesellschaften. Hier geht es um eine
zeitgemäße Auslegung der Religion und der islamischen Quellen, Koran und Sunna. Das finde ich
gut. Vom Begriff Euro-Islam halte ich aber dennoch nichts. Im Übrigen ist das ein innerislamischer
Prozess, der auch nicht von außen bestimmt werden sollte.
Müller: Es ist doch normal, dass man sich und wie man seine Religion praktizieren möchte, den
Lebensumständen anpasst. Das ist deswegen aber doch keine neue Religion, die entsteht oder gar
aufgezwungen werden muss.
© AP, reuters Papst Franziskus: „Der Islam ist nicht gewalttätig“Aber vielleicht anpassungsfähiger.
Chebli: Muslimische Gelehrte haben sich in der Geschichte stets den Kopf darüber zerbrochen, wie
man auseinandergehende Meinungen – sogar innerhalb von Rechtsschulen – aushalten kann. Das
ist also keine Neuerung, das ist islamische Tradition. Extremisten wie die des „Islamischen Staats“
wischen diese islamische Tradition einfach weg. Für sie ist der Koran eine Art Kochbuch. Sie
interpretieren das Geschriebene im wortwörtlichen Sinne und beschäftigen sich mit Fragen wie: Wie
lang muss mein Bart und wie lang muss meine Hose sein? Sie pervertieren unseren Glauben und
nehmen die ganze muslimische Gemeinschaft in Geiselhaft.
Sie haben von einer „Muslimisierung“ der Integrationsdebatte gesprochen. Was meinten
Sie damit?
Chebli: Soziale Konflikte – Bildungsprobleme, Jugendgewalt, Arbeitslosigkeit – werden zunehmend
religiös aufgeladen und mit der Kultur und Religion erklärt. Menschen, deren Eltern aus einem
islamisch geprägten Land stammen, die mit dem Islam aber sonst nichts am Hut haben, werden zu
Muslimen erklärt. Das Ergebnis ist ganz häufig eine Überidentifikation mit dem Islam, auch mit
negativen Folgen.
Was ist dafür ausschlaggebend gewesen?
Chebli: Bis in die späten neunziger Jahre hinein war der Islam in Deutschland unsichtbar. Es gab hier
und da eine Hinterhofmoschee, aber in der Öffentlichkeit spielte diese Gruppe keine Rolle, da stand
die Wahrnehmung als ethnische Gruppe – Türken, Araber – im Vordergrund. Mit den Anschlägen vom
11. September hat sich das schlagartig verändert. Jeder, der Wurzeln im Nahen Osten oder in der
Türkei hat, ist plötzlich, ob er wollte oder nicht, zum Muslim und zum Sprecher der muslimischen
Community erklärt worden.
Kann das denn so falsch sein, wenn doch klar ist, dass Religion identitätsstiftend ist?
Christen sind auch oft nur „Kulturchristen“, müssen sich aber trotzdem sagen lassen, sie
seien Christen.
Chebli: Das Christentum ist hierzulande die Mehrheitsreligion, und die Zugehörigkeit zum Christentum
ist kein Stigma. Der Islam dagegen gilt als rückwärtsgewandt, gewaltbereit, undemokratisch, und
Muslime werden als schwer integrierbar wahrgenommen.
Hat es nicht auch damit zu tun, dass das Christentum seit Jahrhunderten
selbstverständlicher Teil des Lebens ist in Deutschland, der Islam aber nicht?
Müller: Wir haben in Berlin eine sehr selbstbewusste muslimische Mittelschicht, die sagt: Wir gehören
zu Deutschland, wir gehören zu Berlin – warum sollen wir unsere Religion verstecken? In der
öffentlichen Diskussion wird daraus eine einseitige Reduzierung auf das Muslimsein. Dabei wollen die
Muslime nur sagen: Religion spielt nicht allein, aber eben auch eine Rolle für uns. Geht es nicht
vielen Christen in Deutschland auch so?
Auf wen hören die Muslime? Auf die Verbände? Auf Prediger im Inland? Auf Prediger im
Ausland?
Chebli: Der Islam kennt keinen Klerus. Als Muslim ist man nur Gott gegenüber zu Rechenschaft
verpflichtet. Das ist ein Segen, macht es zugegebenermaßen aber auch schwieriger, die
Zusammenarbeit mit dem Staat zu organisieren.
Haben Muslime denn wirklich niemanden, auf den sie hören?
Chebli: Für viele Muslime sind Moscheevereine und Verbände wichtige Ansprechpartner, wenn es um
religiöse und rituelle Fragen geht. Das gilt auch, wenn man keinem Verband offiziell angehört. Das
Beharren auf religiöser Autorität und klaren Hierarchien bringt uns aber nicht weiter.
Müller: Dass sich Menschen einem Verband oder einer Gemeinde anschließen, ist ja kein
eigenständiges Merkmal des Islams. Wo Deutsche in der Fremde waren, haben sie erst einmal eine
Kirche gebaut oder Traditionsvereine gegründet. Wo ich fremd bin, suche ich Halt in Vertrautem. Aber
Respekt vor der Kultur der neuen Heimat ist genauso wichtig.
Haben wir davon im Fall der Muslime zu viel oder zu wenig? Die muslimischen Verbände
sind nicht unbedingt repräsentativ, und wir wissen immer noch zu wenig über sie.
Müller: Ja, deshalb ist es gut, dass wir seit zehn Jahren das Berliner Islamforum haben, einen Ort des
Dialogs und der Verantwortung. Da sitzt der Staat mit Sunniten, Schiiten, Aleviten, Christen und Juden
an einem Tisch. Hier wird deutlich, dass es eben nicht die eine muslimische Stimme gibt, sondern
viele und nicht selten auch untereinander um Positionen gerungen wird. Auch der Tag der offenen
Moscheen ist eine schöne Tradition. Wir brauchen noch viel mehr solcher Foren der Begegnung, wo
wir einander besser kennenlernen. In Berlin funktioniert es ganz gut, auch wenn nicht alles
reibungslos verläuft.
Warum ist es so schwierig, Staatsverträge mit den Verbänden zu schließen?
Müller: Verträge mit muslimischen Verbänden und Vereinen können einen Beitrag dazu leisten, um
Rechte und Pflichten zu definieren. Vieles haben wir bereits geregelt. Aber es gibt natürlich noch
offene Fragen. Deswegen haben wir in Berlin einen runden Tisch geschaffen. Ziel ist es, ein klareres
Bild darüber zu haben, wer unsere Ansprechpartner und was ihre Vorstellungen sind oder was wir im
Sinne verbindlicher rechtlicher Regelungen vereinbaren könnten.
Chebli: Und bei aller Kritik an den Verbänden dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Arbeit größtenteils
ehrenamtlich ist. Zudem sind sie auf Spenden angewiesen, was angesichts der sozioökonomischen
Lage der Muslime hierzulande das Ganze nicht einfacher macht. Es fehlt also ganz häufig an
Ressourcen, um den vom Staat an sie herangetragenen Aufgaben als Sozialarbeiter, Kämpfer gegen
Radikalisierung, Jugendhelfer professionell nachkommen zu können.
Müller: Genau das wollen wir mit Verträgen regeln, um so auch eine bessere Arbeit zu ermöglichen.
Außerdem richten wir das Institut für islamische Theologie an der Humboldt-Universität ein. Das sind
alles Schritte hin zu dieser Professionalisierung. Natürlich lösen solche Verträge allein nicht alle
Probleme. Es gibt Grenzen.
Welche Grenzen meinen Sie?
Müller: Ein praktisches Beispiel: Wir haben immer mehr muslimische Bestattungen in Berlin. Das ist
schön, weil es uns zeigt, dass Muslime Deutschland als ihre Heimat sehen. Aber wo sollen wir die
Flächen für die Bestattungen finden? Wir haben den Verbänden und Glaubensgemeinschaften
Flächen angeboten, die von den christlichen Kirchen nicht mehr genutzt werden. Die einen haben
gesagt: Eine anständige Lösung. Andere haben gesagt: Das ist doch nicht euer Ernst! Das ist
unreine Erde! Wir kommen also an Grenzen, weil wir nicht nur einen, sondern mehrere
Vertragspartner haben, die sich nicht immer einig sind. Am Berliner Islam-Institut wiederum richten wir
mehrere Professuren ein, auch um unterschiedliche Richtungen abbilden zu können, da gibt es keine
Kontroverse.
Hängen die Lehrstühle nicht in der Luft, wenn die Moscheegemeinden die ausgebildeten
Imame nicht akzeptieren?
Müller: Wir wünschen uns natürlich, dass das funktioniert. Es wäre jedenfalls ein großer Fortschritt,
dass hier aufgewachsene, hier ausgebildete Imame in den Moscheen auch predigen können. Ein in
Berlin angebotener muslimischer Religionsunterricht von in Berlin ausgebildeten Lehrkräften: das ist
ein weiteres Signal religiöser Integration.
Chebli: Das sieht auch die Mehrheit der Muslime so. Es ist wichtig, dass junge Menschen
Ansprechpartner in den Moscheen haben, die ihre Sprache sprechen und sich auch in ihre
Gefühlswelt hineinversetzen können.
Wer soll die Imame eines Tages bezahlen? Wer gut ausgebildet ist, will auch ein
ordentliches Gehalt haben.
Chebli: Richtig. Und ich glaube nicht, dass die Verbände oder die Moscheen in der Lage sind, ein
solches Gehalt zu zahlen.
Müller: Auch hierüber müssen wir diskutieren und gemeinsame Lösungen finden. Beim
Religionsunterricht funktioniert es ja auch gut, indem wir eine Mischfinanzierung zwischen staatlichen
Anteilen und Finanzierung durch die Religionsgemeinschaften haben.
Sind das alles Ergebnisse eines Lernprozesses auf beiden Seiten?
Müller: Wir hatten zu lange, auch in der SPD, die Haltung: Wenn Menschen zu uns kommen, ist das
gut, und irgendwie wird sich das Zusammenleben dann schon ergeben. Das war ein Irrtum. Für das
Zusammenleben muss es einen klar benannten und für alle nachvollziehbaren Rahmen geben. Es
gibt keinen Automatismus, sondern wir müssen in einem Geben und Nehmen aktiv mit den
Herausforderungen von Integration umgehen. Die für alle verbindlichen Regeln müssen
ausgesprochen werden.
Chebli: Wir haben schon einiges erreicht, wenn man bedenkt, dass wir vor gar nicht allzu langer Zeit
kaum etwas übereinander wussten. Es ist revolutionär, wie schnell sich muslimisches Leben in
Deutschland emanzipiert hat.
Sawsan Chebli ist seit 2014 stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amts. Von 2010 bis 2014
war sie die erste Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten im Berliner Innensenat unter
Ehrhart Körting (SPD). Die Politikwissenschaftlerin ist eines von zwölf Kindern einer palästinensischen
Flüchtlingsfamilie. Sie wurde 1978 in Berlin geboren, war bis 1993 „geduldet“, erhielt dann die
deutsche Staatsangehörigkeit. Sie ist Initiatorin des Arbeitskreises Muslime in der SPD.
Michael Müller ist seit Dezember 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin und Spitzenkandidat
der SPD für die Wahl im September. Im April wurde er zum Vorsitzenden der Berliner SPD gewählt,
was er schon von 2004 bis 2012 war. Von 2001 bis 2011 leitete er die SPD-Fraktion im
Abgeordnetenhaus. Müller wurde 1964 in Berlin-Tempelhof als Sohn eines Buchdruckers geboren. Er
ist Mitglied der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Quelle: F.A.Z.