SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Zwischen Denken und Dichten“ Friedrich Rückert zum 150. Todestag
(5)
Von Antonie von Schönfeld
Sendung:
Freitag 16. Dezember 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
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SWR2 Musikstunde mit Antonie von Schönfeld
„Zwischen Denken und Dichten“ Friedrich Rückert zum 150. Todestag (5)
SWR 2, 12. Dezember – 16. Dezember 2016, 9h05 – 10h00
Signet
... mit Antonie v. Schönfeld. „Zwischen Denken und Dichten“ - Friedrich Rückert
zum 150. Todestag, heute die 5. und letzte Folge: Weltgeheimnis.
Titelmusik
Die armenische Journalistin Muriel Mirak-Weißbach beginnt einen Vortrag mit
dem Titel
„Weltpoesie - Übersetzung als Völkerverständigung“,
den sie auf dem "Festival persischer und deutscher Dichtung" gehalten hat, mit
den Worten:
„Unter all den furchtbaren Nachrichten, die wir täglich bekommen, gibt es ab
und zu auch eine schöne: wie zum Beispiel die, dass Goethes West-Östlicher
Divan jetzt erstmals ins Persische übersetzt worden ist. Oder dass das Werk von
Mawiana Dschalaladin Rumi, Mathnawi, in die chinesische Sprache übertragen
worden ist.“
Gehalten hat Muriel Mirak-Weißbach den Vortrag im April 2002 und auch heute
sind viele Nachrichten, die wir hören, furchtbar, Nachrichten, wie die um sich
greifende Rückbesinnung auf das Nationale, die Tendenz zur Abschottung - hier
in Europa, aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks „Postfaktisch“ ist ja auch das Wort des Jahres 2016...
Bezogen auf die Übertragungen eines deutschen Werks ins Persische und eines
arabischen ins Chinesische fragt Muriel Mirak-Weißbach: „Warum sind solche
Nachrichten wichtig?“
Weil Miteinander nur gelingen kann, wenn man sich gegenseitig respektiert und
das wiederum kann am ehesten gehen, wenn man bereit ist, einander zu
begegnen, wenn man sich also zunächst einmal - im Wortsinn - überhaupt
versteht.
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Und jetzt bin ich bei Friedrich Rückert angekommen:
Der fränkische Dichter und Orientwissenschaftler war der Überzeugung, dass nur
die "Kenntnis fremder Sprachen und Kulturen zu gegenseitigem Verstehen" führen
könne. Dieser Überzeugung und einfach Rückerts Leidenschaft für den
orientalischen Kulturraum verdanken wir, dass uns - durch seine Übertragung - so
viele Dichtungen aus dieser fremden Welt zugänglich sind.
Musik 1a
Dschelaleddin Rumi/Rückert
Du bist der Schreiber
gelesen von Nina Petri
Ullstein Hörbuch 9 783550090981
0´40 <3>
Musik 1b
Anouar Brahem
Astrakan Café
Anouar Brahem, Oud
ECM 1718 159 494-2, LC 2516
3`10 <2>
Astrakan Café - ein Stück des tunesischen Musikers Anouar Brahem,
und zuvor las Nina Petri eine Dichtung des arabischen Dichters Dschelaleddin
Rumi in der Übertragung von Friedrich Rückert.
Die Musik von Anouar Brahem ist stilistisch irgendwo zwischen Weltmusik und Jazz
anzusiedeln. Das zentrale Instrument in seiner Musik ist die arabische Oud, die
Laute, in ihrem Klang lässt Anouar Brahem die verschiedenen musikalischen
Einflüsse der Länder rund ums Mittelmeer zusammenfließen.
In gewisser Weise zeigt das eine Parallele zu Friedrich Rückert: Auch der Dichter
arbeitet in vielen seiner Werke mit einer Art ‚zentralem Instrument’: Seines ist
dabei jene Gedichtform, die er im Arabischen kennenlernt und in die deutsche
Literatur einführt: das Ghasel.
Die Form eines solchen Ghasel ist klar definiert: Auf ein erstes Verspaar, das sich
reimt, folgen viele weitere und von denen wiederum reimt sich jeweils die zweite
Zeile auf das erste Paar, schematisch also aa - ba - ca - usw. Diese Form bindet
den Dichter einerseits sehr, andererseits aber gewährt sie erstaunliche Freiheiten.
Das Ghasel war Anfang des 19. Jahrhunderts geradezu in Mode im deutschen
Sprachraum, bei manchem Dichterkollegen klingt es gezwungen, gewollt, bei
Rückert aber perlen die Ghaselen geradezu aus der Feder: Er ist ein Meister dieser
Form, die in ihren besten Beispielen - durch den durchgehenden Reim -einen
langsamen, kreisenden Bewegungsablauf hat.
4
Entsprechend eines Themas und der Begabung des Wortschöpfers lässt sich das
dann unendlich fortführen.
Rückert überträgt viele arabische Ghaselen ins Deutsche und er benutzt diese
Form später auch für eigene Dichtungen. Auf diese Weise nimmt er das
erzählende Element der arabischen Dichtung in seine Gedichte mit auf - ihm
fallen immer wieder Reime ein auf ein erstes Verspaar, auch wenn er dabei die
Worte zum Teil dehnt und zieht... „rädert“ wie Jean Paul einmal kritisch bemerkt, doch der hatte auch einen sehr eigenen sprachlichen Stil.
Hafis - in der Übertragung von Friedrich Rückert:
Musik 2
Hafis/Rückert
Was sagt der Herbst der Ros in Ohr
gelesen von Marlen Dieckhoff
Ullstein Hörbuch 9 783550090981
1´42 <17>
Marlen Dieckhoff mit dem Gedicht „Was sagt der Herbst der Ros in Ohr“ des
arabischen Dichters Hafis in der Übertragung von Friedrich Rückert.
Seine erste Übertragung des persischen Dichters Dschelaleddin Rumi hat Rückert
mit den folgenden Zeilen eingeleitet:
„Die neue Form, die ich zuerst in deinen Garten pflanze, Oh Deutschland, wird
nicht übel stehn in deinem reichen KranzeNach meinem Vorgang mag sich nun
mit Glück versuchen mancher, So gut im persischen Ghasel, wie sonst in welscher
Stanze.“
Fast zeitgleich mit Rückert übrigens gab August von Platen erste Übertragungen
von Ghaselen im Deutschen heraus. Die Literaturwissenschaft hat lange Zeit ihn
als den früheren genannt, das ist inzwischen allerdings korrigiert: Tatsächlich
trennen die ersten Übertragungen nur wenige Monate und Rückert kann hier
guten Gewissens „ich zuerst“ schreiben.
Ghaselen finden sich auch in Rückerts späterer großer Sammlung, dem
Lehrgedicht „Die Weisheit des Brahmanen“: In über zweieinhalbtausend
Gedichten verarbeitet Rückert hier Anregungen aus der Hindu-Literatur, aus den
Heiligen Schriften des Islam und des Christentums und verschiedensten
Strömungen der abendländischen Philosophie.
Die Übergänge von einer zur anderen Kulturwelt, die Parallelen, aber gerade
auch das exotisch Andere faszinieren ihn lebenslang - und Rückert arbeitet
unermüdlich daran, diesen Schatz dem Westen zu erschließen.
5
Häufig werden seine Übertragungen dann auch von der Musikwelt aufgegriffen
und manche Geschichte wird singend erzählt, auch die Erzählung „Das Wunder
auf der Flucht“ aus den „Sieben Büchern morgenländischer Sagen und
Geschichten“:
Carl Loewe hat die kleine Legende unaufgeregt musikalisch inszeniert - und in
ruhigem Rhythmus und durchaus etwas pathetisch lässt er die Gläubigen dank
des Wunders ziehen und den Verfolgern entkommen:
Musik 3
Carl Loewe
3´20 CD12 <19>
Das Wunder auf der Flucht op. 75,4
aus: Liederkreis nach Gedichten von F. Rückert op. 62
Yvi Jännicke, Mezzosopran
Cord Garben, Klavier
cpo 777 355, LC 8492
„Das Wunder auf der Flucht“ - Yvi Jännicke, am Klavier begleitet von Cord
Garben, sang die Vertonung von Carl Loewe.
Die Erkenntnis, dass aus der Synthese von arabischen Erzählstrukturen und
Versmodellen und deutscher Sprache Neues entstehen kann, dass sich beides
reibt und gegenseitig befruchtet, ist für Friedrich Rückert eine immerwährende
Herausforderung, die nie ihren Reiz verliert. Doch seine intensive Beschäftigung
mit dieser Thematik stößt keineswegs nur auf positive Resonanz:
Nach den Erlanger Jahren als Professor für orientalische Sprachen holt ihn König
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 1841 mit einem höchst attraktiven Angebot
nach Berlin.
Rückert folgt dem Ruf, der ihm keineswegs von allen gegönnt wird: Man neidet
ihm seine Brillianz im Umgang mit Sprache, man wirft ihm vor, dass er trotz
Universitätstätigkeit immer noch kein großes wissenschaftliches Werk veröffentlicht
hat und vor allem ist es vielen Zeitgenossen ein Dorn im Auge, dass sich Rückert
so sehr für den orientalischen Kulturraum interessiert und einsetzt.
Einer dieser Kritiker ist Franz von Dingelstedt, ein Dichter des Vormärz, er schreibt
1842 seine „Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters“ und bereist als solcher
die deutschen Lande. Die „Sechste Stazion“ ist Berlin und dieses Spottlied des
Nachtwächters schreibt Dingelstedt nicht zufällig in Rückerts bevorzugter Form
des Ghasel:
Nach Mekka zieht der Araber auf stolperndem Kameele,
Und so der Dichter nach Berlin auf holperndem Ghasele.
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Berlin ist Deutschlands Orient, und wenn ihm Palmen mangeln,
So sagt doch niemand in der Welt, daß Sand und Staub im fehle,
Berlin ist Deutschlands Minarett und dank der Muezzin schreien
Sich tausend Journalisten wund die wolgeschmierte Kehle.
(Dann sinken im Gebete hin die Gläubigen und Frommen,
Ein Pietisten-Derwisch tanzt, kasteiend Leib und Seele;
Im Fusel-Opium berauscht sich offen auf der Gasse
Herr Nante mit dem ganzen Schwarm, der immer kreuzfidele.)
Und so geht es weiter, bis es am Schluss heißt:
Verschnitt’ne schleichen auch umher, triefäugige Eunuchen,
Und suchen, wo noch Männer sind, nach Hader und Krakeele.
Und daß das Gleichniß fertig sei, befiehlt zuletzt der Mufti:
Ich will an meinem Throne seh’n die deutschen Prachtjuwele;
Es werde Frühling in der Mark, und eilig laßt mir kommen
Herrn Bül-Bül Rückert, Wolgebor’n, des Ostens Philomele!“
Musik 4
Prabhati
4´02 CD17 <1>
Yehudi Menuhin, Violine
Ravi Shankar, Sitar
Alla Rakhar, tabla
Nodu Mulli, small tambura
Amiya Dasgupta, bass tambura
Warner 0825646777051, LC 02822
Box: The Historic Recordings
7/1966 Studio Nr.1 Abbey Road London
SWR M0322298 003
Prabhati - Musik aus Indien, gespielt ebenfalls von Mittlern zwischen den Kulturen:
von Ravi Shankar und Yehudi Menuhin.
Der Vorwurf übrigens, dass Rückert bei seinem Wechsel von Erlangen nach Berlin
immer noch kein wissenschaftliches Werk veröffentlicht habe, ist berechtigt, auch
in Berlin, wo er sieben Jahre bleiben wird, schreibt er keine Poetik der
7
orientalischen Sprachen, kein kulturhistorisches Werk, - und die Bedingungen - ein
„festes Diensteinkommen von 3000 Talern jährlich“ und die Verpflichtung, nur
während des Wintersemesters Vorlesungen halten zu müssen - sind eigentlich wie
gemacht für eine solche Arbeit. Doch in den Sommern auf Gut Neuses in Franken
gibt es so viel Lyrisches aus dem Orient, das der Dichter übertragen will...
- Bei Rückert findet sich die ganze Wissenschaft im Werk, also in der Anwendung
seines Wissens von Sprachen und über Kulturen - und in den Fußnoten, in seinen
zahllosen Anmerkungen zu seinen Übertragungen.
Friedrich Rückert war ein Universalgelehrter und er ist sich der fehlenden Gabe des fehlenden Wollens! - ein Thema systematisch wissenschaftlich aufzubereiten
durchaus bewusst. Rückblickend schreibt er:
Ein Teppich scheinet mir mein Leben,
Und immer sticket meine Hand;
An welcher Stell’ ich auch mag weben,
Am obern oder untern Rand;
Zuletzt, wo soviel Kleinstes
Sich still verband, entstand
Ein großes Allgemeinstes.
Friedrich Rückert ist auch der erste, der Teile des Korans ins Deutsche überträgt,
nicht zuletzt sein Freund und Kollege August von Platen hat ihn dazu
aufgefordert:
„Rückert sollte den Koran übersetzen, wozu er vor allen Andern berufen
wäre. Das Buch hat gewiß viele poetische Schönheiten, die er allein
wiedergeben könnte. (...)
Wer weiß, wann es wieder einen Poeten geben wird, der zugleich
arabischer Orientalist ist?“
Und er fügt hinzu:
„Es wäre gewiß keine gemeine Aufgabe, die Bibel einer halben Welt
dem
Occident zugänglich zu machen. Eine einzige Sure würde schon sehr
verdienstlich sein, um wenigstens den poetischen Reiz des Originals anschaulich
zu machen.“
Rückert macht sich an die Arbeit - und Goethe kommentiert später Rückerts
Übertragung und das Werk ein wenig kryptisch:
„Der Styl des Korans ist seinem Inhalt und Zweck gemäß:
streng, groß,
furchtbar, stellenweis wahrhaft erhaben; so treibt ein Keil den andern und darf
sich über die große Wirksamkeit
des Buches niemand verwundern.“
Koran - Sure 31
gelesen von der großartigen Monika Bleibtreu:
8
Musik 5
Koran - Sure 31
Die fünf Schlüssel der Geheimnisse
gelesen von Monika Bleibtreu
Ullstein Hörbuch 9 783550090981
0´33 <9>
„...in welchem Lande dein Grab wird sein.“
In manchen von Rückerts Gedichten kommt alles zusammen: Seine sprachliche
Virtuosität, seine souveräne Handhabung auch fremder lyrischer Formen oder
auch biographische Details, eigenes Erleben und das Bedürfnis - je nachdem eigene Gefühle hinaus zu singen oder auch hinaus zu schreien in die Welt.
Die wohl eindringlichsten Gedichte schreibt Rückert nach dem Tod seiner kleinen
Kinder Ernst und Luise, die noch während seiner Erlanger Jahre an Scharlach
gestorben sind. - Ein Kind zu verlieren gehört wohl zum Schrecklichsten, was Eltern
widerfahren kann: Fünf der damals sechs Kinder der Rückerts erkranken im Winter
1833, drei genesen, Ernst und Luise aber - vom Vater liebevoll „Messerchen und
Gäbelchen“ genannt - schaffen es nicht.
Die Mutter berichtet erschütternd im Tagebuch, der Vater schreibt lyrische Texte,
die alle Stadien der Krankheit, des Schwebens zwischen Hoffen und Bangen, des
Sterbens und des „Danach“ widergeben - und dann kommen die Fragen und es
ist gut, wenn auch ein Geistlicher sagen kann, er habe keine Antworten.
Wenn man sie liest... sie gehen nah.
Musik 6
Friedrich Rückert
Ich möchte wissen
gelesen von Kornelia Boje
Ullstein Hörbuch 9 783550090981
0´42 <10>
Wenn wir das Stichwort „Kindertodtenlieder“ hören, dann denken wir vermutlich
weniger konkret an den Tod von Kindern als an die eindringliche Musik, die
Gustav Mahler zu fünf der Totenlieder von Friedrich Rückert geschrieben hat.
Und von den Gedichten wissen vermutlich die meisten auch nur durch
Vertonungen. Doch es gibt wesentlich mehr als die fünf, die Mahler ausgewählt
hat: Rückert hat weit über 400 Klagegesänge auf den Tod von Ernst und Luise
geschrieben.
Die ausgewählten fünf aber hat Mahler kongenial in Musik gesetzt und Christian
Gerhaher weiß sie einfühlsam zu interpretieren:
„Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein“:
9
Musik 7
Gustav Mahler
4´08
Wenn dein Mütterlein
aus: Kindertodtenlieder
Christian Gerhaher, Bariton
Orchestre Symphonique de Montreal
Ltg. Kent Nagano
SWR M0358746 007
‚Auf die Endlichkeit des Lebens antwortet Friedrich Rückert mit der Ewigkeit der
Kunst’, seine „Kindertodtenlieder“ sind beschrieben worden als der ‚Versuch der
Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung im Schmerz’ - für Friedrich Rückert,
den Vater, waren sie als sein persönlichstes Ausdrucksmittel in der Zeit der Trauer,
eine Möglichkeit der Verarbeitung des Verlustes. Diese mehr als 400
„Kindertodtenlieder“ zählen wohl zu den „größten Totenklagen der Weltliteratur“,
- die meisten übrigens bleiben zu Rückerts Lebzeiten ungedruckt.
Mahler hat die von ihm ausgewählten Lieder dramaturgisch zu einem
geschlossenen Zyklus gefügt: Im ersten scheint noch kein Unglück geschehen,
das im zweiten Lied dann dräut, im dritten wird eine Szene skizziert, in der
normalerweise das geliebte Kind lebendig und quirlig an der Seite der Mutter mit
ins Haus springt, im vierten denkt das Lyrische Ich, die fehlenden Kinder seien nur
ausgegangen - doch sie sind ‚voraus gegangen’ und im letzten schließlich
hadert der Vater mit dem Unabwendbaren, scheinbar mit einem Unwetter, bei
dem man kein Kind hinauslässt - doch „man hat sie hinausgetragen“ und es
endet halb versöhnlich mit dem Gedanken, dass kein Sturm sie mehr erschrecken
kann - „von Gottes Hand bedecket“.
Es heißt, dass Rückerts Verhältnis zur Musik schwierig war und er Vertonungen
seiner Texte zunächst skeptisch gegenüberstand - vielleicht hätte ihn Mahlers
Musik überzeugt, vielleicht hätte er sie nicht ertragen.
Traurige Ironie der Geschichte: Wenige Jahre nach Mahlers Vertonung dieser
Texte stirbt seine und Almas älteste Tochter an Scharlach.
„Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen“ Musik 8
Gustav Mahler
2´41
Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen
aus: Kindertodtenlieder
Christian Gerhaher, Bariton
Orchestre Symphonique de Montreal
Ltg. Kent Nagano
SWR M0358746
10
Noch einmal Christian Gerhaher mit einem der „Kindertodtenlieder“ von Gustav
Mahler und Friedrich Rückert:
„Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen“.
Kent Nagano hat das Orchestre Symphonique de Montreal geleitet.
„Meine Sachen sind weder zum Singen noch zum Malen, sondern zum Lesen und
Erbauen“ sagt Rückert einmal über seine Gedichte, - die „Kindertodtenlieder“
aber waren vermutlich vor allem für ihn selbst, ein Weg, den Verlust zu
verarbeiten, zu trauern und wieder zurück ins Leben zu finden: Die Beschäftigung
mit dem Wort - die ihm vielleicht liebste Beschäftigung - wird ihm geholfen
haben.
Und dem Dichter ist das wohl bewusst: Unter seinen späten Gedichten finden sich
ein paar eher unscheinbare Zeilen, die großen Dank ausdrücken:
Wenn ich einmal vergesse,
Wieviel Dank ich dem Himmel
bin für mein Leben schuldig,
Nehm ich nur meine Lieder
Und zähle sie und spreche:
Undankbarer, o siehe,
So viel sind deiner Freuden
Als Sterne sind am Himmel
Und Blumen auf der Wiese,
Und hier im Buche Lieder...
Musik 9
Franz Schubert
4´25 <14>
Du bist die Ruh op 59, 3 D776 (1823)
Barbara Bonney, Sopran
Geoffrey Parsons, Klavier
Apex 2564 68071-7, LC 4281
SWR M0026924 013
Franz Schubert war der erste, der je ein Gedicht von Friedrich Rückert in Musik
gesetzt hat und zwar „Du bist die Ruh“ 1823, etwa zwei Jahre, nachdem Rückert
es geschrieben hat. Hier hat es Barbara Bonney gesungen, am Klavier begleitet
von Geoffrey Parsons.
„Du bist die Ruh“ gehört übrigens zu Rückerts am häufigsten vertonten
Gedichten: Neben Schubert kennt man Fanny Hensel, vielleicht Moritz
Hauptmann und Franz Lachner, Siegfried Karg-Elert - doch dann wird es dünn:
11
Namen wie Carl Friedrich Curschmann oder Johanna Rufinatscha, Leopold Lenz
oder Rudolf Radecke sind uns als Komponisten kaum bekannt.
Auch den jungen armenischen Pianisten und Komponisten Artur Avanesov
werden die wenigsten kennen, der allerdings hat nicht den Text von Friedrich
Rückert neu vertont, sondern das Lied von Franz Schubert bearbeitet als reines
Klavierstück. Damit transportiert er das Lied aus dem Abendland ein Stück weit
nach Osten...
Du bist die Ruh,
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du
Und was sie stillt.
Musik 10
Artur Avanesov
Du bist die Ruh
Artur Avanesov, Klavier
Brilliant 95244, LC 9421
3´45 <21>
Friedrich Rückerts Verhältnis zur Vertonung seiner Gedichte übrigens ändert sich
später, vielleicht liegt das mit daran, dass er - ganz pragmatisch - erkennt, dass
seinen Liedern Vertonungen durchaus zugutekommen:
Sie werden bekannt.
Wenn er aber auch nur eine Idee davon gehabt hätte, dass sie auch noch mehr
als hundert Jahre nach seinem Tod in Musik gesetzt werden, er würde vermutlich
sein Erstaunen darüber wieder in Versen ausdrücken...
Inzwischen wird neben der Musik der großen romantischen und
spätromantischen Komponisten, die sich mit Rückert auseinandergesetzt haben,
auch die Musik einer Reihe weniger bekannter Komponisten wie Georg Göhler
wieder zugänglich gemacht: Göhlers Schaffen steht ganz in der Tradition der
deutschen Romantik, er hat gelebt von 1874 bis 1954.
Der Pianist Hendrik Bräunlich hat Göhlers in seinem Nachlass etwa 200 Lieder
gefunden. Der Form nach reichen sie vom einfachen Strophenlied über
romantische Miniaturen bis hin zu orchestral angelegten Balladen, und es gibt
auch kleine Duette, wie: „Wer der Liebsten in die Augen blickt“, das Georg
Göhler zu einer innigen kleinen Szene verwandelt:
12
Musik 11
Georg Göhler
Wer in der Liebsten Augen blickt
Antje Perscholka, Sopran
Henryk Böhm, Bariton
Hendrik Bräunlich, Klavier
GEN 87089, LC 12029
1´30 <15>
Antje Perscholka, Sopran, und Henryk Böhm, Bariton mit dem Duett
“Wer in der Liebsten Augen blickt“ von Georg Göhler. Hendrik Bräunlich
begleitete sie am Klavier.
In den letzten Jahrzehnten wird es ruhiger um Rückert, seine große Popularität hat
ihren Zenit längst überschritten, Berlin gibt er 1848 auf und zieht mit großer
Erleichterung aus der großen Stadt ganz nach Franken auf sein geliebtes Gut
Neuses bei Coburg. Friedrich Rückert ist sechzig und Arbeit gibt es genug, er
überträgt beispielsweise noch das große persische National-Epos „Schahname“.
Als 1859 seine geliebte Frau Luise nach langer Krankheit stirbt trifft ihn das hart Das Leben war immer ein Gesang für Rückert - jetzt fehlt die zweite Stimme.
Sprache, die Pflege der Sprache und auch das Spielen mit ihr war Rückert immer
Teil seiner Existenz, die Erforschung der Sprache betrieb er lebenslang, und zwar
als Gelehrter wie als Dichter. Die Gewichtung allerdings hat sich allmählich
verschoben ‚vom gelehrten Dichter der ersten Lebensjahrzehnte zu Gunsten des
dichtenden Gelehrten in der zweiten Lebenshälfte’ (Helmut Prang 1963).
Und was die Musik angeht schätzt er wohl vor allen Robert Schumann.
Schumann seinerseits hat sich immer wieder mit Friedrich Rückerts Werken
auseinandergesetzt, neben seinen vielen Lied-Vertonungen sind auch seine
Sechs Impromptus zu vier Händen „Bilder aus Osten“ inspiriert durch Rückerts
Dichtung, durch seine freie Übertragung der „Makamen des Hariri“ aus dem
Arabischen. Dass es Rezensenten gegeben hat, die seinen Versen „einen Mangel
an Musikalität“ vorwarfen, entbehrt nicht der Ironie.
Mir scheint, ich habe Friedrich Rückert gerade erst gestreift, das gelbe ReclamBändchen ist immer noch nicht ganz gelesen, von Rückerts Texten fehlen
Tausende, der noch unbekannten Lieder werden eher mehr denn weniger...
Vielleicht ist im Frühjahr Zeit, den Rückert Wanderweg im Fränkischen zu gehen,
der von Schweinfurt durch die Haßberge bis hinauf nach Neuses bei Coburg
führt. Und dort wohnen noch Rückerts Nachfahren, die wohl bei Anmeldung
auch Rückerts ehemalige Studierstube öffnen.
Und in dem immensen Schatz an Gedichten aus Orient und Okzident lässt es sich
immer trefflich flanieren.
13
Weltgeheimnis
Weder Anfang hat die Welt noch Ende,
Nicht im Raum noch in der Zeit;
Überall ist Mittelpunkt und Wende,
Und im Nu die Ewigkeit.
Wie du lebst von einem Nu zum andern,
Ewig eines lebest du;
Laß die Welt vorüber ruhlos wandern,
Und sieh' aus der Ruh' ihr zu.
Nicht mit unzulänglichen Gedanken
Macht du das Geheimniß klar,
Doch in schwanken Schranken, Wortes Ranken,
Stellt es dir sich bildlich dar.
Musik 12
Robert Schumann
3´00 CD2 <8>
1. Lebhaft
aus: Bilder aus Osten, 6 Impromptus op. 66
Eric Le Sage u. Frank Braley, Klavier
ALP 135, LC 516