Arbeit und Recht seit 1800. Historisch und - H-Soz-Kult

J. Rückert (Hrsg.): Arbeit und Recht seit 1800
2016-2-199
Rückert, Joachim (Hrsg.): Arbeit und Recht
seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global. Köln: Böhlau Verlag Köln 2014.
ISBN: 978-3-412-22278-9; 389 S.
von Arbeit, die mit Arbeitslosenversicherung,
Renten- und Krankenversicherung eigentlich
auch eher eine Kodifizierung von „NichtArbeit“ umfasst. Wie wenig kanonisiert das
Wissen um die historische Fixierung von Arbeitsrecht bezeichnet werden kann, erweisen
die in diesem Teil des Buches vorgeschlagenen ganz unterschiedlichen Definitionsangebote und das Ringen um die Systematisierung des komplexen Beziehungsgeflechts
von Arbeit und Recht. Trennt Rückert vor allem die politisch-soziale und rechtliche Ebene, sind es bei Ute Schneider am Beispiel des
Bürgerlichen Gesetzbuches und der Familiengesetzgebung der DDR eher die Debatten
um die Behandlung von (Haushalts-)Tätigkeit und Arbeit, die sich, in der überzeugend
dargelegten Diskussion, um die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie sowie die geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Erwerbstätigkeit ranken. Die Synthese von Robert Knegt
wiederrum würdigt in kritischer Weise vor allem die Verengung des Arbeitsbegriffes auf
die marktorientierte, moderne Form von Arbeit und zweifelt an, ob sich mit der alleinigen
Fixierung auf die Moderne tatsächlich ein adäquater Arbeits- und Rechtsbegriff operationalisieren lässt. Dieser Zweifel lässt sich aus
der Perspektive einer Frühneuzeithistorikerin
nur nachdrücklich bekräftigen.
Eine systematische Vorstellung oder Übersicht über die verschiedenen Beziehungsebenen von Recht und Arbeit erhält der Leser bzw. die Leserin im Weiteren nur eingeschränkt, wohl aber einen sehr lebhaften
Eindruck über die Komplexität des Themas.
Dieses Bild wird genährt durch die verschiedenen Themenangebote der Rubriken „Sich
Recht verschaffen“ und „Arbeitsschutz“, die
im engeren Sinne auf Facetten des Arbeitsrechtes reflektieren, bevor letztlich eher historische Wandlungsprozesse („Arbeitsregime
im Übergang“ und der „Staat als Arbeitgeber“) reflektiert werden.
Unter der Rubrik „Sich Recht verschaffen“ werden vor allem die Schattenseiten
der Kodifizierung von Arbeit herausgearbeitet. Die Durchsetzungsprobleme von ar-
Rezensiert von: Katrin Moeller, Wirtschaftsund
Sozialgeschichte,
Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg
Die Kodifizierung von Arbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt nicht
mehr und nicht weniger als der historische
Meilenstein, der ein fundamentales Element
moderner Gesellschaften wegweisend formen
und damit den nationalstaatlich organisierten Wohlfahrtsstaat entscheidend prägen sollte.1 Die Organisation der Gesellschaft um die
Arbeit herum, die Etablierung von Leistung
als Motor gesellschaftlichen Prestiges freier
Rechtssubjekte, die individuelle Ausprägung
von Berufsidentitäten und die rechtliche Fixierung von Arbeit gelten als Herzstück der
Moderne. Nach der einprägsamen Formulierung dieses Forschungsparadigmas macht
sich jetzt der Sammelband „Arbeit und Recht
seit 1800“ auf, die zentralen Thesen des Forschungsfeldes inhaltlich zu unterfüttern bzw.
kritisch zu diskutieren. Dabei ist nicht nur
der Themenkomplex Recht und Arbeit bisher wenig erforscht. Viele Detailfragen der
Arbeit blieben besonders in der deutschsprachigen Forschung bisher unkommentiert. So
existieren zwar sehr präzise Überblickswerke über die Begriffsgenese der Arbeit von der
Antike bis zur Postmodernen, empirische Studien und thematisch weit aufgefächerte Forschungsansätze bleiben – vor allem auch für
die Zeit vor 1800 – jedoch immer noch Desiderat. Daher leistet der Band eine ganz wesentliche Pionierarbeit und macht sich vor allem
mit den einleitenden Artikeln von Joachim
Rückert, Ute Schneider und Robert Knegt zur
Definition von Arbeitsrecht erst einmal daran,
Bausteine für eine Rechtsgeschichte der Arbeit zusammenzutragen.
Ohne direkt auf die Kodifizierungsthese
einzugehen, verlegt Rückert den entscheidenden rechtlichen Neuansatz zur Arbeit vom
späten 19. Jahrhundert auf die Wende des
18./19. Jahrhunderts vor und beschäftigt sich
vor allem mit der Frage eines Rechts auf
Arbeit, statt mit der späteren Kodifizierung
1 Sebastian
Conrad, Elisio Macamo und Bénédicte Zimmermann, Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum,
Gesellschaft, Nation, in: Jürgen Kocka / Claus Offe
(Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt
am Main 2009, S. 449–475.
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beitsrechtlichen Vorgaben, ja überhaupt die
Schwierigkeit über rechtliche – wenn auch auf
Antizipation angelegte – Normen die riesige
Kluft zwischen den europäischen und afrikanischen Vorstellungen, wirtschaftlichen Interessen und Arbeitspraktiken zu überbrücken,
reflektiert Andreas Eckert sehr eindrücklich
am Beispiel der Kolonien des Britisch-Afrika.
Vor allem die grundsätzlich gegenläufigen
Formen der Rechtsnutzung führten letztlich
nicht zu einer Partizipation am Wohlfahrtsstaat durch Recht, sofern die Lage der afrikanischen Arbeiter betrachtet wird. Zum gleichen Fazit gelangt auch Naoko Matsumoto
in seinem Vergleich der Nutzung japanischer
und deutscher Gewerbegerichte um 1900.
Trotz eines Exports der normativen Voraussetzungen nach Japan, entwickelte sich dort
keine vergleichbare Justiznutzung der Gewerbegerichte durch Arbeiter oder Handwerker.
In fast unterhaltsamer Weise und mit wunderbar klaren Worten liefert schließlich Jürgen
Brand eine logisch strukturierte Geschichte
der Nichtkodifizierung von Arbeitsbeziehungen und setzt damit klare Antithesen zum
eingangs erwähnten Paradigma, indem er anschaulich beschreibt, wie über die ganz praktische Ausgestaltung von Arbeit auch die juristische Fixierung in Deutschland vorangetrieben wird. Lesenswert sind ebenso die Ausführungen zur Ausgestaltung von Arbeitsverträgen in der Transformation von der Frühen
Neuzeit zur Moderne, für die er Kontinuitätslinien (Rolle der Gewerkschaften) klar unterstreicht.
Ein in den einzelnen Beiträgen sehr informatives Thema bildet zudem das Kapitel zu den „Arbeitsregimen“ im Wandel. Sowohl der Beitrag von Christoph Rass zur unfreien, oft mit Migrationsprozessen verbundenen, Arbeit in der Moderne wie auch der Vergleich des Vertragskündigungsrechts in verschiedenen Arbeitsregimen und ein dritter
Beitrag von Sabine Rudischhausler zum Tarifvertragsrecht in Deutschland und Frankreich entwickeln sehr systematisch sowohl
allgemeine wie spezifische Aspekte des Themas und belegen differenziert die gewonnenen Erkenntnisse. Alle drei Beiträge verweisen immer wieder auf das Auseinanderklaffen von Rechtstheorie und Rechtspraxis. An
diese Stelle ließe sich auch der Beitrag von
Christoph Boyer zum Arbeitsregime „Staatssozialismus“ besser platzieren (das im Titel erwähnte Recht bleibt in der Betrachtung
weitgehend außen vor), als dies im Tagungsband geschehen ist. Boyer – und schließlich
Christoph Conrad resümierend – zeigt, dass
die verschiedenen in der Forschung diskutierten Wohlfahrtsregime sich nicht ohne weiteres auf die Arbeitssysteme staatssozialistischer Gesellschaften übertragen lassen. Conrad macht allerdings ebenso deutlich, dass
auch die westlichen Arbeitsregime für sich
genommen, aus verschiedenen Perspektiven
gelesen (etwa aus dem Blickwinkel der Genderperspektive), keine klar definierten Container mit deutlich abgrenzbaren Definitionen
bieten und fordert berechtigter Weise insgesamt einen differenzierteren Blick ein, als ihn
Boyer leistet. Genau diesen liefert Thorsten
Keiser (weiterführend, zum Teil auch kritisierend dazu die Zusammenfassung von Friedrich Lenger) mit seinem Vergleich des westund ostdeutschen Kündigungsrechts, einer
arbeitsrechtlichen Form, die es wie die anderen beiden behandelten Aspekte (unfreien Arbeit, Tarifrecht) dieses Kapitels insgesamt verdient hätte, als eigene Rechtsformen
statt als Arbeitsregime Darstellung zu erhalten. Dies gilt umso mehr da der Begriff des
Arbeitsregimes bereits zur Charakterisierung
gesamtgesellschaftlicher Arbeitssysteme Verwendung findet. Zu einem solchen Kapitel
wäre dann auch der Beitrag von Paul-André
Rosental zum Konzept der „Berufskrankheit“
passfähiger erschienen, der vielleicht ein wenig zu sehr politisierend und detailreich die
Problematik entfaltet.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Kapitel über den Staat als Arbeitgeber. Inhaltlich fügt sich dieses Kapitel nicht eben einfach in die Struktur der allgemeinen Reflexion
über rechtliche Aspekte von Arbeit ein, zumal
dann wenn die Einzelwürdigungen vergleichbarer Rechtsbeziehungen (Betrieb, Familienunternehmen, Selbständige) fehlen. Darüber
hinaus bleiben – legt man die Latte eines
Überblicks an – deutliche inhaltliche Lücken wie beispielsweise die innerbetriebliche
Rechtssetzung, Auseinandersetzung und Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten und
Arbeitnehmern, Weisungsrechte von Arbeitgebern, verschiedene Qualitäten von Arbeits-
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verträgen und Arbeitszeitregelungen sowie
die rechtliche Ausgestaltung der Verbetrieblichung im 19. Jahrhundert etc., die wichtige
Aspekte von Arbeitsrechtsbeziehungen umfassen. Dennoch gelingt es den beiden Autoren des Abschnitts, Therese Garstenauer
und Thomas Pierson, diesen Eindruck vollständig wettzumachen. Indem sie das Beamtentum als spezifische Form des Beschäftigungsverhältnisses konzipieren, das weitreichende Aussagen über die Ausgestaltung
von Verwaltungshandeln und Staatlichkeit erlaubt. Damit schließen sie wiederrum an das
eingangs aufgestellte Paradigma an und fragen nach der Verdichtung von Staatlichkeit
durch die Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen. Besonders für Thomas Pierson wird
im Ergebnis die Erweiterung des Begriffspaars der abhängigen und freien Arbeit nötig, die er um die gleichgeordnete, genossenschaftliche Arbeit in Zusammenschlüssen
und die öffentliche-rechtliche Subordination
im öffentlichen Beschäftigungsverhältnis ergänzen möchte.
Als Fazit kann festgehalten werden: Der
Band versammelt eine große Bandbreite von
Rechtsaspekten in Arbeitsbeziehungen und
darüber hinausgehender gesamtgesellschaftlicher Aspekte, welche die Komplexität und
Vielseitigkeit des Themas plastisch vor Augen führt. Wie der Titel verspricht, sind viele
Beiträge vergleichend und europäisch-global
konzipiert, systematisieren einzelne Aspekte und kommen zu präzisen, gut nachvollziehbaren Schlussfolgerungen. Dennoch fehlt
dem Sammelband am Ende eine integrierende Klammer, ein zusammenfassender Kommentar, der alle Beiträge zu einem großen
Ganzen zusammenfügt, zumal letztlich internationale Geschichte über zweihundert Jahre
berührt wird. Am Ende steht kein systematisierender Überblick über die verschiedenen
Qualitäten und Ebenen der Beziehungen zwischen Recht und Arbeit. Vielleicht kann diese
Aufgabe auch nur durch eine Monografie geleistet werden.
Aus meiner Perspektive lässt sich der Band
als Gegenentwurf zum Paradigma der Moderne als Epoche der kodifizierten Arbeitsbeziehungen lesen. Fast alle Beiträge machen auf die Bruchstellen dieser Argumentation aufmerksam und an manchen Stellen
wird letztlich auch direkt auf die Weiterentwicklung von begrifflichen Arbeitsrechtsbeziehungen (Pierson), auf die notwendige
begriffliche Ausweitung des modernen Arbeitsbegriffes (Rückert, Schneider, Knegt) und
die Divergenzen zwischen Rechtsanspruch
und -wirklichkeit (Eckert, Matsumoto, Conrad, Boyer, Rass, Rosental etc.) verwiesen. Bislang werden die Rechts- und Arbeitsbeziehungen der Modernen quasi durch eine Abwertung des nicht nationalstaatlich organisierten vormodernen Arbeits- und Berufsbegriffes zum epochalen Charakteristikum stilisiert. Der Sammelband ist – wie von Jürgen
Brand auf den Punkt gebracht – ein Einspruch
dagegen.
HistLit 2016-2-199 / Katrin Moeller über
Rückert, Joachim (Hrsg.): Arbeit und Recht
seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global. Köln 2014, in: H-Soz-Kult
24.06.2016.
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