Interview: Tobias Graden Ahmad Mansour, die Niederlande haben kürzlich ein Teilverbot der Gesichtsverschleierung beschlossen, also ein Burkaverobt. Was halten Sie davon? Ahmad Mansour: Die Burka gehört nicht zu unserem Wertesystem. Sie passt nicht zu den europäischen Werten, nicht zu Deutschland, nicht zu den Niederlanden, nicht zur Schweiz. Punkt, aus. Was sagt es über den Zustand einer Gesellschaft aus, wenn sie einem kleinen Teil ihrer Mitglieder diesen Teil der Religionsausübung verbieten will? Das ist ja nicht ein Verbot der Religionsausübung, darum geht es doch nicht. Wenn eine Religionsgemeinschaft kommt, die der Meinung ist, man müsse die Frauen beschneiden wäre es dann gegen die Religionsfreiheit, wenn man das verbietet? Auch die Religionsfreiheit ist begrenzt. Sie hat ihre Grenzen dort, wo andere Grundrechte betroffen sind. Die Burka ist ein Akt der Unterdrückung von Frauen. Aus vermeintlich religiösen Gründen soll die Identität der Frauen negiert werden. Das gehört nicht zu unserer Gesellschaft, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Sollte nicht gerade ein liberaler Staat es aushalten können, Niqab- und Burkaträgerinnen in der Öffentlichkeit zu sehen? Ich glaube nicht, dass man Intoleranz mit Toleranz bekämpfen kann. Klare Botschaften sind gerade in liberalen Gesellschaften wichtig, weil manche Leute ein ganz anderes Verständnis von Religionsfreiheit entwickelt haben und versuchen, mit der Religionsfreiheit andere Werte in der Gesellschaft zu unterdrücken. Sie haben kürzlich mit einer bekannten Schweizer Niqab-Trägerin debattiert, in der TV-Sendung von Anne Will. Der Auftritt von Nora Illi hat für viel Aufsehen gesorgt. Wie haben Sie den Auftritt in der Erinnerung? Er verdeutlichte, was ich eben gesagt habe: Es geht nicht um dieses Kleidungsstück, sondern um die Ideologie, die dahinter steckt und verschleiert wird. Der Islamische Zentralrat der Schweiz und seine Frauenbeauftragte vertreten eine Ideologie, die gefährlich ist, die gewalttätig ist, die in dieser Gesellschaft nichts zu suchen hat. Nora Illi trägt den Niqab aber freiwillig. Es ist nicht nur Frau Illi, die so argumentiert. Sondern auch andere Frauen, die jahrelang für Gleichberechtigung gekämpft haben. Das erstaunt mich immer wieder. Sie rasten aus, wenn man bestimmte Texte nicht gendert, aber sie sind der Meinung, es sei eine freie Entscheidung, wenn Frauen den Niqab oder die Burka tragen. Das ist aber nicht so. Eine Frau trägt die Burka aus theologischen Gründen, weil ihr Religionsverständnis es ihr vorschreibt. Mit der Verschleierung geht der Druck zu einem bestimmten Umgang mit anderen Menschen einher. Die Frau nimmt die Menschen des anderen Geschlechts als Sexobjekte wahr, die nicht in der Lage sind, ihre Sexualität unter Kontrolle zu haben und sie definiert sich selber als blosses Sexobjekt, das man verstecken muss, weil es sonst von Gott bestraft wird. Das ist hochproblematisch, und es ist eine sehr traurige Entwicklung, die wir bei bestimmten Feministinnen sehen: Sie tolerieren im Namen der Freiheit die Unfreiheit. Das macht mich sprachlos. In einem Kommentar zum Fall Illi habe ich gelesen: „Was wäre diese Frau ohne ihren Niqab?“. Eine radikale islamische Haltung mit zur Schau gestellter Praxis in Form von Niqab oder Burka scheint hierzulande die letzte Möglichkeit zu sein, Autoritäten und Öffentlichkeit schocken zu können. Das ist einer der Gründe, warum sich manche Jugendliche radikalisieren. Sie machen so ganz klar sichtbar, dass sie nicht zu dieser Gesellschaft gehören, dass sie deren Werte verachten und sich selber als etwas Besseres sehen. Aber das erklärt nicht alles, denn es geht um Ideologie. Frau Illi ist ohne diese Ideologie nicht Frau Illi, sie hätte in der Sendung nichts zu suchen gehabt, wenn sie nicht hinter dem Niqab diese Ideologie verschleiert hätte. Sie schreiben vom "Pop-Jihadismus“. Die Codes des Jihad machen offenbar einen Teil seiner Faszination aus. Der Begriff des "Pop-Jihadismus" ist ein Versuch zu erklären, wie Jihadisten heute arbeiten. Die Islamisten vermitteln heute nicht mehr nur eine Ideologie, sondern sie tun dies mittels pop-jihadistischer Inhalte. Als ich 13 war und mich radikalisiert habe, hat mein Imam aus einem Buch gelesen und erzählt, was die Menschen erwartet, die in die Hölle kommen. Heute nutzen die Islamisten ganz andere Wege. Sie nutzen Themen aus Hollywood-Filmen, um die Angst vor der Hölle zu beschreiben. Sie stellen sich als coole Jugendbewegung dar, die eine eigene Sprache und eigene Symbole verwendet. Aber dabei handelt sich keineswegs bloss um eine Jugendbewegungen, die in zwei, drei Jahren wieder verschwindet. Man muss auch die Inhalte dieser Ideologie ganz klar erläutern und darstellen, denn sie wird auch in zehn, 20 Jahren noch nicht verschwunden sein. Wir müssen versuchen, die Jugendlichen zu erreichen, bevor es den Akteuren dieser Ideologie gelungen ist. Das ist nicht einfach, denn diese beherrschen mittlerweile die sozialen Medien komplett. Wie gross ist denn das Problem der Radikalisierung? Man liest in Ihrem Buch keine Zahlen. Es gibt diese Daten nicht. Es gibt keine Studien, die sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinandersetzen. Die einzigen Zahlen, die verfügbar sind, sind jene des Verfassungsschutzes und der Geheimdienste. Sie konzentrieren sich aber auf jene Menschen, die in festen Strukturen Führungspositionen innehaben. Das reicht nicht. Ich habe mein Buch bewusst „Generation Allah“ genannt, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, die aber auch bestimmte Elemente der radikalen Ideologie mitträgt. Wenn Sie in die Schulen gehen und fragen, wie viele Jugendliche an Verschwörungstheorien glauben, dann sehen Sie, wie verbreitet diese Verschwörungstheorien sind. Wenn Sie Flüchtlinge fragen, wie Sie zu Israel stehen, sind Sie schockiert, wenn Sie feststellen, wie viele Flüchtlinge das Existenzrecht Israels nicht anerkennen. Wenn Sie untersuchen, welche Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit diese Menschen haben, dann sehen Sie, wie verbreitet patriarchale Strukturen sind. Wenn Sie in Schulen über Religion reden wollen, sehen Sie rasch, wie viele Jugendliche ihre Religion als Tabu verstehen und jeglicher Kritik mit Aggression begegnen. Das sind genau die Elemente, die zur Radikalisierung führen können, und diese Menschen sind jene Gruppe, aus der die Radikalen ihre zukünftigen Anhänger fischen können. Es ist die Aufgabe der Lehrer, diese Jugendlichen pädagogisch zu erreichen, und dazu braucht es ganz viel Präventionsarbeit. Noch vor kurzer Zeit übte der IS grosse Faszination für Muslime aus, die für radikale Ideen anfällig sind. Mittlerweile befindet er sich militärisch eher auf dem Rückzug. Geht damit nicht auch seine Strahlkraft verloren und vermindert sich damit das Problem der Radikalisierung? Gerade in den letzten Monaten haben wir gesehen, dass man für seine Gewaltfantasien keine Strukturen braucht. Das war so in Würzburg, in Ansbach und in Nizza. Diese Attentäter standen nicht direkt mit einer Struktur in Verbindung, sondern sie haben sich inspirieren lassen von einer Ideologie und waren dadurch schon bereit zu Selbstmordattentaten. Auch wenn der IS besiegt und nicht mehr existieren wird – was ich sehr hoffe –, wird seine Ideologie nicht verschwinden. Es werden sich andere Formen und Organisationen mit dieser Ideologie herausbilden. Sie ist stärker als die Strukturen, die auf ihr aufgebaut sind. Ein Deso Dogg kann aber schlecht in die heile Welt des Kalifats locken, wenn es dieses nicht mehr gibt. Er kann aber die Leute dazu aufrufen – und das tut der IS ja bereits –, nicht mehr nach Syrien zu kommen, sondern ein Messer oder ein Auto zu nehmen und in Europa Attentate zu verüben. Gibt es denn einen entscheidenden Punkt, der dafür sorgt, dass sich jemand radikalisiert? Nein, es sind mehrere Faktoren, die miteinander in Verbindung kommen und sozusagen eine kritische Masse bilden, die zur Radikalisierung führen. Radikalisierungen sind Prozesse, sie fangen nicht bei Punkt A an und enden an Punkt B. Die Prozesse sind teilweise sichtbar, aber auch teilweise unsichtbar. Es gibt Menschen, die superintegriert waren, aber jahrelang radikale Werte und Ideologien in sich getragen haben. Sie sind der Meinung, dass sich die Welt in Muslime und Nicht-Muslime teilt, dass die Muslime immer die Opfer sind und die anderen die Täter. Wenn diese Menschen in eine psychologische Krise geraten, kann diese Ideologie auf einmal explodieren. Wenn man über Radikalisierung redet, muss man drei Ebenen betrachten. Welche sind das? Einerseits die psychologische: Die meisten Radikalen haben eine psychische Krise erlebt, sie waren unzufrieden mit ihrem Lebensverlauf, ihnen fehlt eine Vaterfigur oder eine heile Familie, sie haben Bindungsprobleme, sie sind depressiv oder haben eine problematische Persönlichkeitsstruktur. Wenn diese Last ein Gewicht erreicht, so dass die Menschen nicht mehr wollen und können, suchen sie Entlastung, Befreiung. Die Radikalen bieten ihnen eine echte Alternative an: einen Neuanfang. Viele radikalisierte Menschen reden davon, dass sie neu geboren worden sind. Und die zweite Ebene? Das ist die soziologische: Die Suche nach einer Identität, nach einer klaren, sichtbaren Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft, nach Rebellion. Die Suche nach Zugehörigkeit zu einer Elite – diese Menschen können sagen, Gott habe sie lieb, andere nicht. Und dann gibt es natürlich noch die ideologische Ebene: Die Ideologie, die das untermauert, die Grundlagen gibt. Das sind Islamverständnisse, die auf Patriarchalismus gebaut sind, auf der Unterdrückung der Sexualität, auf Opfer- und Feindbilder. Sie legen die Religion buchstabengetreu aus und sind kritikunfähig. Alle Ebenen zusammen können zur Radikalisierung führen. Ihnen ist vorgeworfen, Ihre Definition von Radikalität sei zu schwammig, Ihr Buch sei reisserisch und diene der Angstmache. Was entgegnen Sie? Das ist mittlerweile eine Standardaussage, die von jenen benutzt wird, die nicht mit Kritik umgehen können. Sie wollen auch nicht mit mir reden. Warum findet sich in ganz Deutschland keine Muslima, die mit mir in einer Talkshow über meine Thesen diskutiert? Ich habe von Anfang an versucht, mein Buch differenziert zu schreiben und ich habe auch gesagt: Ich bin selber Teil dieser Community, ich bin Moslem. In meiner ganzen Arbeit mit Jugendlichen aus diesem Kulturkreis geht es mir nicht darum, mein Buch besser zu verkaufen oder bestimmte Gruppierungen zu bedienen. Sondern ich mache auf bestimmte Punkte aufmerksam. Ich tue dies als Psychologe, der mit Jugendlichen arbeitet. Sie kritisieren gerade auch die moderaten muslimischen Vereinigungen – das macht es diesen leicht, Ihnen den Vorwurf zu machen, Sie dienten sich der „Mehrheitsgesellschaft“ an. Solche Kritik geht davon aus, dass ich ein unmündiger Mensch sei, der instrumentalisiert werde. Doch ich weiss genau, wen ich bediene, und ich wähle meine Worte ganz gezielt, um bestimmte Probleme anzusprechen. Die Polarisierung in unserer Gesellschaft lässt sich nicht dadurch bekämpfen, dass man Probleme tabuisiert. Sondern indem man sie differenziert in der Mitte der Gesellschaft anspricht. Wenn wir das nicht tun, tun es die Radikalen. Wenn ich als moderater Muslim die Meinung habe, meine Religion sei so schwach, dass sie geschützt werden müsse und darum nach jedem Anschlag nichts anderes weiss als zu sagen, „das hat mit dem Islam nichts zu tun“, dann kann ich die Polarisierung der Gesellschaft nicht stoppen. Im Gegenteil: Ich mache viele Menschen wütend und ich führe dazu, dass die Rechtsradikalen an Macht gewinnen. Wenn ich aber auftrete und sage: Unter uns entsteht ein Ungeheuer, unsere Religion braucht eine Reformation, wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den heiligen Texten – dann kann ich die Leute dazu bringen mitzumachen und die Muslime nicht als homogene Gruppe zu sehen, sondern auch als Menschen, die kritikfähig sind, die Fragen stellen und Lösungen suchen. Man muss auch fragen, ob diese „moderaten Muslime“ überhaupt moderat sind, welche Hintergedanken oder versteckte Agenda sie führen. Sie fordern nichts weniger als eine innerislamische Reform. Das ist ein gewaltiges Vorhaben. Wie soll dieses gelingen? Ich glaube nicht, dass ich das noch erleben werde. Aber es gibt keine anderen Alternativen, und zwar nicht nur in Bezug auf Europa, sondern besonders auch für die islamische Welt. Wenn man nach Aleppo schaut, nach Syrien, nach Yemen, Saudiarabien, Jordanien, dann merkt man, dass derzeit ein Religionskrieg stattfindet zwischen Schiiten und Sunniten. Diesen Krieg kann man nicht anders lösen als mit Reformation. Wenn wir nicht in der Lage sind, Jugendlichen ein humanistisches Religionsverständnis anzubieten, werden wir immer ein Gewaltpotenzial haben, das ab und zu explodiert. Wir haben derzeit ein Religionsverständnis, das darauf aufbaut, dass die Menschen blind folgen, dass sie unmündig sind, weil sie den Texten ohne Wenn und Aber folgen müssen. Sie glauben an einen patriarchalischen Gott, der zornig ist, der bestraft, der mit Angst arbeitet. Wir sind der Meinung, nur wir hätten die Wahrheit, alle anderen seien Ungläubige und müssten missioniert werden. Das ist weder humanistisch noch ist es mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar. Ab wann ist denn eine verstärkte Hinwendung zur Religion ein Problem für unsere Gesellschaft? Wenn ich meine Religion als private und intime Angelegenheit zwischen mir und Gott verstehe, die mir Stärke, Orientierung und Halt anbietet, dann gehört das zu meinen Grundrechten. Wenn ich beten gehe, wenn ich fasten und nach einem bestimmten Verständnis leben will, dann ist das überhaupt nicht problematisch. In dem Moment aber, wo ich meinem Religionsverständnis eine politische Dimension gebe, wo ich anfange, die anderen, die nicht danach leben, abzuwerten, in dem Moment, wo ich Menschenrechte und Kinderrechte einschränke, wo ich anfange, andere Menschen unter Druck zu setzen – dann wird es problematisch. Und dann kann man auch nicht mehr von Religiosität reden, sondern von Radikalität. In der Schweiz wird es schon zu einem nationalen Medienthema, wenn irgendwo Schüler ihrer Lehrerin den Handschlag verweigern. Wie ist mit so einem Fall sinnvollerweise umzugehen? Das ist ein klares Signal von Radikalisierung. Denn diese Menschen tun das nicht, weil sie der Meinung sind, es gehöre zu ihrer Tradition oder ihrer Kultur, sondern sie tun das, weil sie ihr Gegenüber als Sexobjekt wahrnehmen, das sie schmutzig macht, wenn sie ihm die Hand geben. Es ist ein Signal für Geschlechterapartheid. Das findet man ausschliesslich in radikalen Gruppierungen, es ist nicht Teil einer Kultur – auch in den arabischen Ländern gibt man den Frauen die Hand. Lässt sich der verweigerte Handschlag nicht auch gerade als Zeichen des Respekts vor der Frau deuten? Entschuldigung, wieso soll ich die Frau respektierten, indem ich sie nicht berühre? Ist die Frau ein Schmuckstück, das ich unbedingt bewahren will? Ist das ein respektvoller Umgang, wenn ich sie zu einem Objekt mache? Diese Leute geben ihr die Hand nicht, weil jede Berührung zwischen Mann und Frau als hochsexualisiert wahrgenommen wird. Was ist zu tun, wenn ein muslimischer Vater seine Tochter nicht in den Schwimmunterricht schicken will? Ich stelle eine Gegenfrage: Ist es zu tolerieren, wenn ein Vater seine Tochter nicht am Biologieunterricht teilnehmen lassen will, weil dort die Evolutionstheorie gelehrt wird? Ist es zu tolerieren, wenn Salafisten der Meinung sind, Musikunterricht sei verboten? Das hat alles damit zu tun, dass dieses Islamverständnis versucht, die Sexualität zu kontrollieren, und zwar so, dass Frauen weniger Rechte haben. Dass ihre Sexualität vom Vater kontrolliert werden muss. Das ist ein krankhafter Umgang, der nichts Gutes bringen wird. Es gibt aber auch Fälle, in denen fundamentalistischen Christen Ausnahmen gewährt werden. Warum soll man gerade bei Muslimen anders verfahren? Das muss man ja nicht. Man sollte das auch bei fundamentalen Christen nicht tun. Jede Ideologie, die der Meinung ist, man müsse die Kinder anders behandeln, ihnen weniger erlauben, als es die Schulpflicht vorschreibt, ist etwas, was wir nicht dulden dürfen. Sehen Sie, das Problem ist doch: Mit Christen gehen wir anders um, sicherer. Aber bei Muslimen reagieren wir unsicher, und diese Unsicherheit ist mit ein Grund für die vielen Probleme, die wir haben. Im Buch „Unterwerfung“ beschreibt Michel Houellebecq die westliche Gesellschaft als eine, die ein Wertevakuum geschaffen hat, die sich selber überdrüssig geworden ist. Teilen Sie diesen Standpunkt – dass gerade liberales „anything goes“ die Radikalisierung von Muslimen in Europa begünstigen kann? Das sehe ich ein bisschen anders. Ich bin der Meinung, dass wir doch Werte haben, aber dass wir diese unsicher kommunizieren, dass wir unsicher sind, was uns als Gesellschaft und als Nation ausmacht. Diese Werte sind im Grundgesetz verankert, sie machen uns aus. Wenn aber Linke der Meinung sind, die Burka sei ein Zeichen der Emanzipation, wenn sie der Meinung sind, die Absenz vom Schwimmunterricht sei ein Zeichen der Religionsfreiheit, dann kann ich doch vom Gegenüber nicht erwarten, dass es unseren Werten folgt. So kommt mir unsere Gesellschaft vor: Für jene, die neu hinzustossen, wird sie als schwach, als zerrissen wahrgenommen. Was mich an der Silvesternacht von Köln so wütend gemacht und erschreckt hat, ist, dass diese Täter ihre Taten mit einer solchen Selbstverständlichkeit begangen haben, nicht nur gegenüber den Frauen, sondern auch gegenüber der Polizei. Sie waren sich so sicher, dass sie das tun können, ohne grosse Konsequenzen erleben zu müssen. So eine Gesellschaft kann die Jugendlichen nicht begeistern, wenn auf der anderen Seite eine Ideologie kommt, die sagt, Gott könne nicht einmal Selbstbefriedigung akzeptieren, man werde in der Hölle schmoren dafür – selbst diese Ideologie wirkt attraktiver als eine Gesellschaft, die jahrelang darüber diskutiert, ob eine Burka zu ihrem Wertekanon gehört oder nicht. Man sollte also beispielsweise den Tätern von Köln viel härter gegenübertreten? Natürlich. Solche Botschaften sind sehr wichtig. Wer in dieses Land kommt und Frauen vergewaltigt, hat hier nichts zu suchen. Wir müssen doch den Neuankömmlingen vermitteln, was in diesem Land gilt und was nicht! Ihr Buch ist 2015 erschienen. Seither ist viel passiert, eine Million Flüchtlinge sind in Deutschland angekommen, das Klima hat sich stark verändert. Wie bewerten Sie beispielsweise den Aufstieg der AfD? Ich finde diesen gefährlich. Denn ich sehe die verstärkte Polarisierung der Gesellschaft, der Welt insgesamt. Die Frage ist: Was können wir dagegen tun? Sollen wir wegen des Aufstiegs der AfD manche Themen verschweigen in der Hoffnung, damit nicht die AfD zu bedienen? Oder sollen wir nicht besser die Themen der AfD zu unseren Themen machen und sie in der Mitte der Gesellschaft offen und differenziert ansprechen? Im Fall der Silvesternacht muss man thematisieren, dass die Herkunft der Täter eine Rolle gespielt hat und gleichzeitig auch klarmachen, dass es genug Muslime gibt, die keine solchen Probleme bereiten, die sich von den patriarchalischen Strukturen und den entsprechenden Frauenbildern gelöst haben. Sie kritisieren auch die Opferhaltung von Muslimen. Aber wenn man beispielsweise sieht, was dieser Tage in Aleppo geschieht, oder wenn man an den letzten Gaza-Krieg zurückdenkt – kommt man da nicht unweigerlich zum Schluss, dass die herrschenden weltpolitischen Machtverhältnisse tatsächlich Muslime zu Opfer machen? Nun, wer bringt denn die Muslime in Aleppo um? Die Russen, unter anderen. Und die „anderen“ sind Muslime! Wer hat die Muslime in Raqqa umgebracht? Wie viele Muslime haben andere Muslime umgebracht? Auch in Palästina, bei den Kämpfen zwischen Hamas und Fatah? Die Welt ist viel komplexer, als dass man sie einfach in schwarz und weiss teilen könnte. Natürlich hat der Westen gerade in Aleppo versagt und hat auch Unheil in arabischen Ländern angerichtet. Aber die Welt ist viel komplizierter. Sie sind kürzlich in Bern an der pädagogischen Hochschule für ein Referat aufgetreten. Sie hatten zwei Bodyguards dabei. Werden Sie bedroht? Ich stehe unter Personenschutz, weil ich bedroht werde, seit mein Buch erschienen ist. Ich werde nicht nur diffamiert, sondern erhalte auch Morddrohungen. Wer bedroht Sie? Einerseits radikale Muslime. Ich bekam aber vor allem nach den Anschlägen in Paris auch Drohungen von den Rechten, weil ich gesagt habe, es sei nicht nur ein Problem der Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, sondern dass es Islamisten gibt, die seit Jahren unter uns leben. Die kamen nicht 2015 mit der Grenzöffnung. Wie können Sie unter solchen Umständen Ihre Arbeit mit Jugendlichen noch machen? Die lasse ich mir nicht verbieten. Ich bin da, wo die Jugendlichen sind, wo sie mit mir reden wollen. Ich gehe immer noch an die Schulen, leite Workshops, bin in Jugendheimen und mache meine Arbeit. Aber ich bin sicherer, wenn die Polizei vor Ort ist.
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