SPzwischenWachstumundSpaltung Keine Ruhe, kein - lu

Neuö Zürcör Zäitung
Donnerstag, 15. Dezember 2016
Sozialdemokratische Reformer gruppieren sich
SP zwischen Wachstum und Spaltung
SIMON HEHLI
Nun muckt er also auf, der rechte Flügel der
SP. Schon lange hat es gebrodelt bei den Genossen; beinahe eskalierte die Situation letztes Jahr beim Streit zwischen dem Zürcher
Regierungsrat Mario Fehr und den Jungsozialisten (Juso). Doch lange fehlte es an einem
klaren Positionsbezug der «Sozialliberalen»,
an einem Projekt, das anschliesst an das «Gurten-Manifest» von 2001. Damals provozierten
Simonetta Sommaruga und drei Koautoren
das Parteiestablishment, indem sie die unbedingte Staatsgläubigkeit der SP kritisierten
und sich für eine Begrenzung der Zuwanderung einsetzten. In die Fussstapfen der heutigen Justizministerin treten jetzt, 15 Jahre später, Pascale Bruderer, Daniel Jositsch, Chantal
Galladé, Yvonne Beutler und Marcel Züger.
Noch erreichen ihre Gedankenspiele bei
weitem nicht die inhaltliche Tiefe des zehnseitigen Manifests von 2001, noch geht es Bruderer und ihren Mitstreitern eher darum,
Gleichgesinnte innerhalb der Partei zu finden
und die Kräfte zu bündeln. Doch die SPSpitze täte gut daran, die Bewegung am rechten Flügel ernst zu nehmen. Die reformerischen Kräfte zu marginalisieren und zu desavouieren, wie das Nationalrat und Gewerkschafter Corrado Pardini sowie Vertreter der
Juso gerne tun, ist parteistrategisch unklug.
Die von Pardini beschimpften Ständeräte
sind in bürgerlich dominierten Kantonen wie
Zürich, Aargau oder Bern nur deshalb mehrheitsfähig, weil sie nahe der Mitte politisieren.
Die SP profitiert davon, dass sie in der gleichberechtigten kleinen Kammer zwölf Sitze hält
– viermal mehr als noch 1991. Jositsch, Bruderer, Hans Stöckli und Co. können zusammen
mit der CVP eine Mitte-Links-Mehrheit bilden, die ein aus der Sicht der Partei wertvolles
Gegengewicht zum Nationalrat darstellt –
derzeit beispielsweise bei der Reform der
Altersvorsorge. Ähnlich verhält es sich mit
den Regierungsräten, über die die SP eine beachtliche Exekutivmacht in den Kantonen
ausübt. Und auch die Bundesräte Sommaruga und Alain Berset zählen zum pragmatischen Teil der Partei.
Will die SP ihren Wähleranteil ausbauen,
hat sie auf ihrer rechten Seite Potenzial. Denn
während bürgerliche Wähler eine breite Auswahl von GLP bis SVP haben, klafft links der
Mitte eine Lücke. Die Fors-Studie zu den
Wahlen 2015 zeigt, dass die Kandidierenden
der GLP rechts der Mitte positioniert sind,
ihre Wähler aber deutlich links davon. Solche
Leute könnte die SP den kriselnden Grünliberalen mit einem pragmatischeren Kurs
wieder abjagen. Viele sozial gesinnte Stimmbürger in den urbanen Gebieten stehen mitten im Berufsleben und wollen Lösungen für
die praktischen Probleme, denen sie im Alltag begegnen – Wohnungssituation und Zersiedelung, steigende Krankenkassenprämien
und Sozialsysteme in Finanzierungsnöten,
Migration und Druck auf die Löhne. Die
«Überwindung des Kapitalismus» ist für
diese Menschen eine blosse Worthülse; mit
dem marxistischen Theoriegeschwurbel der
Studenten in der Juso können sie nichts anfangen.
Die SP wird nicht in globo nach rechts
wandern, dafür ist der linke Flügel zu stark –
und er hat jüngst auch Erfolge erzielt wie im
Aargau unter der Führung von Cédric Wermuth. Präsident Christian Levrat sieht sich
vielmehr vor die Herausforderung gestellt,
die breitere Aufstellung der Partei zu befördern oder zumindest nicht zu behindern. Trivial ist die Aufgabe nicht: Driften die beiden
Flügel zu weit auseinander, droht Dauerkrach und letztlich eine Parteispaltung, wie
sie die Grünen vor zehn Jahren erlebt haben.
Einen Vorgeschmack dafür lieferten letzte
Woche die Basler Regierungsrätin Eva Herzog und der Vizepräsident der nationalen
Partei, Beat Jans. Sie gerieten sich bei einem
Streitgespräch über die Unternehmenssteuerreform III in die Haare. SP-Sprecher
Michael Sorg bezeichnete Herzog danach
wenig kollegial als «Mediensprecherin von
Roche und Novartis».
Die Reformer wollen in einem nächsten
Schritt darlegen, wie eine Wirtschaftspolitik
nach ihrem Gusto aussieht. Doch es wird sich
ohnehin bald zeigen, ob in der SP die Pragmatiker oder die Dogmatiker das Sagen haben:
Im nächsten Jahr muss die Partei entscheiden,
ob sie bei der Reform der Altersvorsorge
einen Kompromiss aus dem Parlament mitträgt – oder mit einem Referendum einen
Scherbenhaufen anrichten will.
Zinserhöhung in den USA
Ein längst fälliger Schritt
THOMAS FUSTER
Eigentlich sah der Plan ganz anders aus: Als
die amerikanische Notenbank vor Jahresfrist
erstmals seit Juni 2006 die Leitzinsen zaghaft
erhöhte, war vorgesehen, diese Wende 2016
mit etwa vier weiteren Zinsschritten stetig
fortzusetzen. Es kam anders: So hat es ein volles Jahr gedauert, ehe sich Amerikas Währungshüter am Mittwoch zu einer zweiten bescheidenen Zinserhöhung durchrangen. Die
Anpassung um 25 Basispunkte ist zwar zu begrüssen, sie kommt aber reichlich spät.
Die Fortsetzung der Zinswende hätte nämlich schon im Frühjahr erfolgen können. Doch
das Fed fand stets neue Ausreden, um eine
Zinserhöhung auf die lange Bank zu schieben.
Die Liste entsprechender Vorwände ist lang:
zu geringe Lohnsteigerungen, zu tiefe Erdölpreise, unruhige Finanzmärkte, ein volatiles
China, das Brexit-Votum, die Wahlen in den
USA oder schlicht das Fehlen neuer Daten
für Amerikas Aufschwung. Dabei gibt es an
diesem Aufschwung schon seit geraumer Zeit
kaum noch Zweifel: Immerhin wächst die
Wirtschaft der USA um über 3 Prozent, und
die Arbeitslosenquote liegt mit 4,6 Prozent
auf dem tiefsten Stand seit neun Jahren.
Mit seinen wechselhaften Begründungen
für das zinspolitische Abseitsstehen hat sich
das Fed keinen Gefallen getan. So stieg in den
vergangenen Monaten die Unsicherheit, an
welchen Kriterien die wichtigste Notenbank
der Welt ihre Geldpolitik überhaupt ausrichtet. Diese Zweifel unterhöhlten nicht nur die
geldpolitische Glaubwürdigkeit. Sie machten
die Währungsbehörde auch angreifbar für
politische Attacken, wie sie im Wahlkampf
namentlich Donald Trump lancierte.
Die wankelmütige Politik könnte ausserdem zu hohen Kosten führen, sollte Trump
seine Wirtschaftspläne in die Tat umsetzen.
Die vom designierten Präsidenten angedachten Stimuli in Form von Steuersenkungen und
Ausgabensteigerungen dürften nämlich die
Kerninflation, die mit 1,7 Prozent schon nahe
am Zielwert von 2 Prozent liegt, zusätzlich anheizen. Die Notenbank könnte dadurch in die
heikle Lage geraten, der Inflationsentwicklung nachzuhinken, also «hinter die Kurve»
zurückzufallen, wie dies im geldpolitischen
Jargon heisst. Sie sähe sich dadurch gezwungen, die monetären Zügel viel rascher und
kräftiger anzuziehen, als dies ihrem Ziel einer
graduellen Normalisierung entspricht.
Das Fed betont, eine solch schockartige
und aggressive Verschärfung der Geldpolitik
unter allen Umständen verhindern zu wollen,
weil die USA dadurch in eine Rezession stürzen könnten. Mit ihrer allzu zögerlichen Politik hat die Notenbank aber genau dieses Szenario wahrscheinlicher werden lassen. Daran
ändert auch die homöopathische Zinskorrektur vom Mittwoch wenig.
Schlacht um Aleppo
Keine Ruhe, kein Frieden
DANIEL STEINVORTH
Je suis Aleppo? Von wegen. Man mag ja noch
beklommen sein. Den Bildern toter Kinder
und zerbombter Häuser konnte sich niemand
entziehen. Doch unter das allgemeine Entsetzen mischen sich bei vielen heute Töne der
Genugtuung. Herrscht nicht jetzt, wo Aleppo
erobert ist, Ruhe an einem der unerträglichsten Kriegsschauplätze unserer Zeit? Besteht
nicht Hoffnung, dass der Krieg in Syrien damit insgesamt dem Ende zugeht?
Anhänger der syrischen und russischen
Sichtweise gehen noch einen Schritt weiter:
Ein souveräner Staat habe in Aleppo sein
Recht auf Landesverteidigung wahrgenommen und eine Stadt von «Terroristen» befreit.
Denn dass in Ostaleppo nur noch Jihadisten
gekämpft hätten beziehungsweise «moderate
Rebellen» ohnehin nur in den Köpfen USAhöriger Mainstream-Journalisten existierten,
gehört zu ihren Glaubensgewissheiten, für die
es in postfaktischen Zeiten keine Belege
braucht. Wer wollte sich denn noch in die
Lage der Rebellen hineinversetzen, die von
den Russen bombardiert, aber vom Westen
im Stich gelassen wurden? Wer will heute
noch wissen, dass es Kämpfe zwischen Rebellengruppen gab, aber Moskaus Intervention
die Gemässigten und die Radikalen zusammenschweisste, ja dass die Regimegegner, für
die Asads Sturz oberste Priorität hatte,
schliesslich keine Wahl mehr hatten, als ihren
Kampf gemeinsam zu führen?
Fest steht, dass jeder, der gegen Asad aufbegehrte und bereit war, dafür eine Waffe in
die Hand zu nehmen, für das Regime und
seine Unterstützer nie etwas anderes als ein
«Terrorist» war. Mit Terroristen aber verhandelt man nicht, und so offenbarte sich noch
jedes Feilschen um Frieden als eine Farce.
Noch schlimmer aber als den Widerstand
gegen Asad als Terrorismus zu diskreditieren,
ist es, in diesem «Anti-Terror»-Kampf nicht
zwischen Kombattanten und Zivilisten zu
unterscheiden – wie in Aleppo geschehen, wie
überall im Land geschehen. Der «souveräne»
Staat aber ist in diesem Krieg nur noch bedingt souverän. Er kann seine Schlachten nur
dank den zahlreichen, hauptsächlich von Iran
aus gesteuerten Milizen führen. Er ist ein
Spielball Moskaus und Teherans geworden:
zwei Mächte, die sich nicht darum scheren,
auf eine gemarterte syrische Bevölkerung
Rücksicht zu nehmen, sondern darum, weltpolitisch wahrgenommen zu werden und eine
Führungsmacht in der Region zu werden.
Es wäre schön, wenn der Krieg zu Ende
ginge, das Regime Zivilisten verschonen und
keine Vergeltung üben würde, wenn der Zerfall des Landes noch aufzuhalten wäre. Aber
von alldem können derzeit nur die träumen,
die sich mit der Wirklichkeit in Syrien nicht
mehr belasten wollen.
MEINUNG & DEBATTE 13
LAUT UND LUISE
Witzischkeit
in der Anstalt
Von DANIELE MUSCIONICO
Jetzt sind sie weg. Sie sind mit der letzten Sendung aus
der Gegenwart in die Erinnerung gekippt. Und dieses
süsseste aller Endlager ist Viktor Giacobbo und Mike
Müller nur zu gönnen. Ruhet sanft, ihr beiden, ihr habt es
verdient! Denn man wird hier, ohne zu zögern, eine
öffentliche Wette lancieren: Wetten, dass in ein, zwei
Jahren ihre Sendung zu den Reminiszenzen zählt, die ein
sehnsuchtsvolles Ziehen in der rechten Hand auslösen? In
jener nämlich, in der die Fernbedienung liegt.
Wenn 2017/18 oder vielleicht doch später, zum Jahreswechsel, in den Sommerpausen, unsere öffentlichrechtliche Anstalt die Sendung «Giacobbo/Müller» aus
ihren Beständen holt – wir werden uns, keine Frage, wie
an Weihnachten fühlen: Ach Kinder, wie war das damals
schön!
Denn später, in der Erinnerung, ist keiner mehr da, der
mit Argumenten reflexhaft vom Leder zieht: kein
obligates Lästern – «Satire war früher mutiger/aktueller/
subversiver/politischer!». Kein neidisches Nationalgrollen
– «Satire in Deutschland/in Österreich/im Ausland/in der
Westschweiz ist besser!».
Öffentlichrechtliche Witzischkeit ist ein systemisches
Paradox. Kritik in der Anstalt, gebührenfinanzierte Kritik
ist ein Widerspruch. Sie ist der Widerspruch als Voraussetzung. Sie steht für das Grundrecht auf Gedanken- und
Redefreiheit, und auf Kunstfreiheit, wenn man mag. Alles
andere ist Erdogan.
Oder freie Marktwirtschaft, auch ein Tyrann, sicher
aber der Feind, naturgemäss der Spötter, Kritiker, Scharfrichter derselben. Satire, öffentlichrechtlicher Humor –
merkantil verwertbare Genres wie Comedy bleiben für
einmal aussen vor – ist zu einer Unmöglichkeit verurteilt:
Sie muss in die Hand beissen, in der das Futter liegt.
Dieses Futter sind die Gebühren, ist der demokratische
Wille zur Meinungsfreiheit.
Ob Giacobbo/Müller nun gebellt haben oder gebissen,
mag ein Geschmacksrichter entscheiden. Und natürlich
auch die Geschichte, man wird sehen. Sie hat es ja auch
geschafft, aus Ruedi Walter einen subversiven Nationalhelden zu machen. Keine Kleinigkeit, das!
Hier und heute lässt sich nur behaupten, weil die
eigene Zuschauerbeglückung Massstab ist: Giacobbo/
Müller haben gebissen. Sie bissen sogar mit Lust zu, mit
Laune und mit Langmut, wenn ihre Kritiker wieder
einmal das Haar in der Suppe suchten, das sie dort selber
versenkten: Viktor Giacobbo, Mike Müller und vor allem
ihr erster Zuarbeiter in den Kulissen, Domenico Blass,
waren eine Klasse für sich. Schweizer Satire, alles andere
ist Beilage.
Welche Qualitätskriterien gelten denn für Satire, für
Humor? Ist Zensur eine Masseinheit? Dann hätten
insbesondere Diktaturen erstaunlich viele hervorragende
Künstler!
Oder sind es die privaten Erregungsmeldungen wie im
Fall von Donald Trump, der gegen seine Darstellung in
«Saturday Night Live» in seinen ersten, eigenen TwitterKrieg zieht? Donald Trump und Alec Baldwin sorgen
dafür, dass Satire Teil der politischen Realität wird – eine
Meisterleistung!
Das hat, tatsächlich, das Schweizer Pendant nicht
geschafft. Das angemessene Fazit nach acht Jahren
Bemühungen, mit der Sendung die Aufmerksamkeit eines
Alec Baldwin zu erreichen: «Giacobbo/Müller» ist
grandios gescheitert. Sie scheiterte auf bestmögliche
Weise an unserer grandiosen Demokratie.
Daniele Muscionico macht an dieser Stelle wöchentlich
Nebensächliches zur Hauptsache oder umgekehrt.
ARCHIV-TROUVAILLEN
Heizbare Uniformen
bsa. V Schottland ist bekanntlich nicht nur im
Winter nass und kalt. Auf einem Motorrad exponiert sich daher nur, wer taff ist oder wer muss,
die Polizisten der Motorradpatrouillen zum Beispiel. Sie werden mit Hilfe der Technik warm gehalten und 1970 mit einem besonderen Gadget
ausgestattet: mit batteriebetriebenen Westen.
Die neuen Kleidungsstücke sind aus einem leitenden Material angefertigt, das zugeschnitten,
eingeweicht und genäht werden kann, ohne
dass die elektrische Leitfähigkeit beeinflusst
wird. Aktiviert man die Stromzufuhr, ist das Kleidungsstück innerhalb von 30 Sekunden warm.
Wohl ist dem, der eine portable Heizung trägt.
www.nzz.ch/archiv-trouvaillen