kein „lexit“ ohne „ein anderes europa ist möglich“

Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
November/Dezember
inprekorr
INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ
KEIN „LEXIT“ OHNE
„EIN ANDERES EUROPA
IST MÖGLICH“
6/2016
Ausgabe 6/2016
Europa
Palästina und Israel
DIE WIDERSPRÜCHLICHE
NATUR DES M5S
KEIN „LEXIT“
OHNE „EIN ANDERES EUROPA
IST MÖGLICH“
SCHIMON PERES
AUS DER PERSPEKTIVE SEINER
OPFER
10
Renzis Niederlage würde zu politischer Instabilität im
Land führen. „Das wäre ein Schritt zurück für
ausländische Investitionen in Italien“, warnte US-Botschafter John
Phillips.
13
Es gibt keine Abkürzungen bei der
Auf bauarbeit einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und einer antikapitalistischen Klassenorganisation. Die Rolle
des M5S ist nur eine Bestätigung dafür.
Ein Beitrag wider
die Scheinalternative Unterwerfung unter den bürokratischen
Zentralismus aus Brüssel oder Aufgabe der Perspektive eines Vereinigten Sozialistischen
Europas.
Über Tote soll nur
gut gesprochen
werden. Sich bei Verstorbenen des öffentlichen
Lebens streng an diese
Maxime zu halten, wäre manches Mal für deren Opfer nur schwer zu
ertragen.
Von Diego Giachetti
Von Franco Turigliatto
Von Catherine Samary
Von Ilan Pappe
Italien
Italien
WEGE AUS DER
SACKGASSE
DAS MODELL
RENZI IN DER
KRISE
Die Regierungskrise scheint durch
die Bildung eines rechten Minderheitskabinetts
unter Duldung der Sozialdemokratie vorerst abgewendet, die Wurzeln
der Systemkrise reichen
jedoch tiefer.
Von Antoine Rabadan
Spanien
4
16
31
I N H A LT
die Internationale
EIN (SCHWACHER)
STAAT,
ZWEI (STARKE)
LÄNDER
POLITIK ALS
STRATEGISCHE
KUNST
GRUNDZÜGE
EINER BEDÜRFNISORIENTIERTEN
ÖKONOMIE
KAPITALISTISCHE
GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN, GEOPOLITISCHES CHAOS
UND DIE FOLGEN
Nach 52 Jahren
endlosen Kampfes
stand die Zustimmung
zu den Verträgen zwischen FARC und der
Regierung Santos außer
Zweifel. Und doch ging
das Referendum schließlich ganz anders aus …
So wie „der Krieg
nichts anderes
als die Fortsetzung der
Politik mit anderen
Mitteln“ ist, bleibt
die strategische
Vorbereitung die
entscheidende
Vorbedingung zum Sieg.
44
Wenn klar ist, dass
ein systemischer
Umbruch unausweichlich ist, stellt sich die Frage, wie diese für große
Teile der Bevölkerung
essentielle Transformation verläuft und in welche Richtung.
Die strukturell instabile kapitalistische Globalisierung führt
weltweit zum Zerfall der
Legitimität und zu einem
permanenten Krisenzustand, worauf wir als Internationalisten eine
Antwort geben müssen.
Von Raúl Zibechi
Von Daniel Bensaid
Von Bernhard Brosius
IV. Internationale
Kolumbien
34
die Internationale
38
die Internationale
52
S PA N I E N
WEGE AUS DER SACKGASSE
Nachdem die Granden der PSOE sich mit ihrer Forderung, ein Minderheitskabinett
unter Rajoy durch die Stimmenthaltung ihrer Abgeordneten zu dulden, durchgesetzt
und dadurch Parteichef Sánchez zum Rücktritt gezwungen haben, scheint die
Regierungskrise vorerst beendet zu sein. Die Sozialdemokratie hingegen hat sich
damit in eine subalterne Position gegenüber der Volkspartei eingemauert und
dürfte ihre Rolle im bisherigen Zweiparteiensystem verloren haben, wie auch ihre
desaströsen Ergebnisse der Regionalwahlen in Galizien und Euskadi gezeigt haben.
Da mit diesem Manöver die ehemaligen Parteichefs González und Zapatero ihre
Botmäßigkeit gegenüber den Vorgaben aus Brüssel über die Daseinsberechtigung
der Sozialdemokratie gestellt und damit den Niedergang der Sozialdemokratie
wohl weiter beschleunigt haben, wird Sánchez versuchen, durch die Einberufung
eines außerordentlichen Parteitags und eine weitere Urwahl des Parteivorsitzes den
Zerfallsprozess zu stoppen, um weiterhin eine eigenständige „Alternative“ bei der
Verwaltung der Kapitalherrschaft präsentieren zu können.
Der folgende Beitrag wurde noch vor diesen Ereignissen verfasst, die
darin dargelegten Grundzüge der Systemkrise in Spanien und v. a. des
Anpassungsprozesses von Podemos haben jedoch ihre Gültigkeit nicht verloren.
Antoine Rabadan
„
Auf den ersten Blick liefern die Parlamentswahlen vom 26. Juni ein eindeutiges Ergebnis, wenn
man sie auf bloß zwei, freilich wesentliche Fakten reduziert.
Die Rechte in Gestalt der PP hat trotz ihrer Verwicklung in
zahllose Korruptionsaffären gegenüber den vorigen Wahlen
im Dezember 700 000 Stimmen resp. 14 Abgeordnete
hinzugewonnen. Podemos hingegen, der damalige
Senkrechtstarter, hat im Vergleich eine Million Stimmen
verloren und die Zahl der Abgeordneten (71), die sie damals
im Verbund mit regionalen Listen und den Grünen von
Equo erobert hatte, nur dank der Unterstützung durch
4 Inprekorr 6/2016
Izquierda Unida (IU) halten können. Ihr erklärtes Ziel hat
sie verfehlt, nämlich die sozialdemokratische PSOE zu
überholen und zur stärksten Kraft in der Linken und somit
zur dezidierten Opposition zur Rechten zu werden. In der
Gesamtschau jedoch relativiert sich dieser Erfolg der PP, da
sie bis heute (Ende August) noch immer keine regierungsfähige Koalition – auch nicht als geduldetes Minderheitskabinett – zusammenbekommen hat, und man muss sich fragen,
was mit Podemos zwischenzeitlich passiert ist.
Das aus dem „Übergang zur Demokratie“ (Transición)
nach dem Tode des Diktators Franco 1975 hervorgegange-
S PA N I E N
ne Regime steckt in einer tiefen Krise, die wesentlich,
wenn auch nicht ausschließlich auf die Revolte der
Empörten von 2011 (15 M) zurückzuführen ist. Das
Paradoxe an der temporären Niederlage war dann, dass im
November desselben Jahres die PP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erzielen konnte.
Das Zweiparteiensystem als tragende Säule des
Übergangsregimes
Das Zweiparteiensystem, das sich zwischen 1975 und 1978
(Verabschiedung der Verfassung) etabliert hat, gab den
politischen Rahmen ab, durch den der Radikalisierungsprozess in Politik und Gesellschaft gestoppt werden konnte,
der in der ausgehenden Diktatur zu immer bedrohlicheren
Massenstreiks und -demonstrationen geführt hatte.
Mit der Einführung einer parlamentarischen Monarchie durch ein Einvernehmen zwischen der Rechten und
der Linken (damals in Gestalt der PSOE und der KP
Spaniens) etablierten sich auch die späteren Regimeparteien. Auf der Rechten wurde 1982 die Demokratische
Zentrumsunion (UCD) von Adolfo Suárez, der seine
„historische“ Mission, die Transición angeschoben zu
haben, erfüllt hatte, durch den Vorläufer der PP, die
Volksallianz AP verdrängt. Auf der Linken wurde die KP,
die die wichtigste Partei im antifranquistischen Widerstand gewesen war, rasch an den Rand gedrängt und
erlebte bei den Parlamentswahlen 1982 einen massiven
Einbruch, während sich die beim Kampf gegen die
Diktatur nahezu unsichtbare PSOE komplett verjüngt wie
Phönix aus der Asche erhob. Dies war nur möglich, weil
die PSOE politisch und finanziell von der deutschen
Sozialdemokratie gepuscht wurde, um mit ihrer Hilfe den
1986 erfolgten Beitritt Spaniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG zu bewerkstelligen.
Mit der Transición gelang es, das politische Geschehen
weg von den Protesten auf den Straßen und in den Betrieben zu holen und ins Parlament zu verlagern, wo es sich in
ausgewogenen und kontrollierten Debatten erschöpfte.
Während es sich unter der Diktatur noch in Stillschweigen
geübt hatte, schwang sich dies Parlament nunmehr zur
exklusiven Wirkungsstätte der Demokratie schlechthin auf
und entzog dadurch der außerparlamentarischen Opposition die Legitimität. Dieses Manöver blieb auch lange
erfolgreich und prägte nachhaltig die politische Landschaft.
Die politische Systemkrise
In der gesamten Zeit von 1982 bis 2008 dominierten die
beiden Regimeparteien die Wahlen, bei denen sie jeweils
stets mit 50 % (1989) bis 63 % (1982) der Stimmen gewinnen konnten. Den Auftakt dabei bildete 1982 die Sozialdemokratie unter Felipe González, der sich 14 Jahre an der
Regierung hielt. Nach Jahren des Aufschwungs kam 2011
dann der relative Einbruch, als erstmals seit 1989 die
Schwelle von 50 % für die Regierungspartei nur knapp
überschritten werden konnte. Dies war dann freilich erst
der Auftakt zum späteren Absturz im Dezember 2015
(35 %), der auch bei den Neuwahlen im Juni 2016 mit 38 %
nur wenig gemildert werden konnte.
Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man die Stimmen
(gemessen an den Wahlberechtigten) für die beiden
Systemparteien im Zeitraum 1982–2011 zusammen
betrachtet, die stets zwischen 72 % und 83 % lagen. Dieser
Spitzenwert wurde im Krisenjahr 2008 erzielt, als José Luis
Zapatero trotz der unübersehbaren Vorboten der Wirtschaftskrise (wiederkehrende Inflation und zunehmende
Arbeitslosigkeit) seine Wiederwahl sichern konnte. Bereits
2011 jedoch wurde dieser Spitzenwert mit „bloß“ 73 % um
10 % unterschritten, während zugleich die Wahlbeteiligung zurückging. Der freie Fall, nämlich auf 50 %,
erfolgte dann im Dezember 2015 und konnte mit den 55 %
im Juni 2016 nicht substantiell aufgefangen werden.
[…]
Insofern kann man sagen, dass das bestehende Regime
infolge der Bewegung der Empörten und drei Jahre später
der Entstehung von Podemos einen historischen Einbruch
an Attraktivität und Legitimität erlebt hat. Dafür spricht
auch, dass erstmals in der Geschichte des Landes eine
Neuwahl nach sechs Monaten erfolgen musste und gar
eine weitere droht. Obendrein besteht momentan durch
die fehlenden Mehrheitsverhältnisse ein Zustand eingeschränkter Regierungsfähigkeit. Insofern lässt sich von
einer langfristigen Nachwirkung der Protestbewegung
von 2011 sprechen, die das gewohnte Zweiparteiensystem
mit einem Wechsel von PP und PSOE an der Regierung
erschüttert hat.
Keine regierungsfähige Mehrheit in Sicht
Die systemtreue Tageszeitung El País beklagt, dass „die
Legislative so lange wie noch nie in ihrer demokratischen
Funktion gelähmt ist. Das Abgeordnetenhaus hat seit
neun Monaten kein einziges Gesetz mehr verabschiedet
und die Regierung steht seit nahezu zehn Monaten nicht
mehr unter parlamentarischer Kontrolle. Über 2500
Anfragen der Abgeordneten an die Exekutive sind
unbeantwortet. Die Experten warnen bereits, dass die
Blockade einer der drei Staatsgewalten gegen die Regeln
Inprekorr 6/2016 5
S PA N I E N
der Verfassung verstößt und schwere Konsequenzen
drohen.“ Selbst der Haushaltsplan für 2017, in dem eine
Beschränkung der Staatsausgaben und eine Reduktion
der Neuverschuldung gemäß der nachdrücklichen
Vorgaben der EU-Kommission vorgesehen sind, steht in
Gefahr und damit die Raison d’être der herrschenden
Politiker.
Eine Große Koalition nach deutschem Vorbild, wie sie
von den Granden der PSOE propagiert wird, scheint
vorerst ausgeschlossen zu sein, weil die gegenwärtige
Parteiführung um Pedro Sánchez blockiert. Weniger aus
politischer Überzeugung – denn so etwas liegt diesen
Herren fern – sondern aus einer politischen Kosten-Nutzen-Rechnung heraus, dass davon nur die Protestbewegung und Podemos – trotz der inkohärenten Linie dieser
Partei – profitieren würden. Viel zu stark wiegt noch die
Wahlniederlage von 2011 nach und eine Große Koalition
könnte den Absturz beschleunigen.
Podemos vor dem Eintritt ins Regierungslager?
Wie erwähnt lag das Wahlergebnis im Juni für die Partei
weit unterhalb der Prognosen. Trotzdem muss dies
Scheitern vor dem Hintergrund der tiefen Systemkrise des
herrschenden Zweiparteiensystems gesehen werden, für
deren Entstehung Podemos trotz ihrer Schwächen mithin
ausschlaggebend ist. Denn trotz des relativen Rückgangs
von 16 % gegenüber den Wahlen vom Vorjahr konnte
Podemos im Juni über fünf Millionen Wähler mobilisieren
und damit – im Bündnis mit anderen politischen Kräften
– viermal so viel wie vor zwei Jahren allein bei den
EU-Wahlen – gerade mal vier Monate nach der Gründung. Die Formation unter dem Label Unidos Podemos
bildet noch immer einen mit dem System inkompatiblen
Anziehungspunkt, dessen Wahlergebnis fast 40 % des
Stimmenanteils ausmachen, den die beiden Systemparteien
zusammen erhalten haben.
Deren Verluste sind teils durch zunehmende Wahlenthaltung entstanden, teils auch durch Wählerwanderung zu
Podemos oder Ciudadanos, die fast halb so viel Stimmen
wie die PP erzielen konnten und damit eine systemimmante Wählerreserve bilden – allerdings außerhalb des
traditionellen Zweiparteiensystems. Und genau darin liegt
das Verdienst von Podemos, nämlich im Gefolge der
Proteste von 2011 zu der Systemkrise und der gegenwärtigen Lähmung an der Regierung beigetragen zu haben.
Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Podemos im
Begriff ist, sich von ihren Wurzeln in der Protestbewegung
trotz der wechselseitigen Befruchtung zu lösen und sich in
6 Inprekorr 6/2016
den bestehenden politischen Alltag zu integrieren. Dort
agieren „vernünftige“ Leute, die um Einigung bemüht
sind und den institutionellen Rahmen nicht sprengen
wollen, der trotz aller Schwächen das System von 1978
aufrecht erhält. Die Festlegung auf den Elektoralismus, die
Ende 2014 auf dem Kongress von Vistalegre erfolgte und
deren scheinradikale Losung vom „Himmel, den es im
Sturm zu erobern“ gälte, im Verbund mit dem charismatischen Auftritt von Pablo Iglesias die Sinne der Mitglieder
vernebelte, sowie die zwischenzeitlichen Wahlerfolge als
scheinbare Bestätigung dieser Linie haben die Partei
immer weiter zu einer Maschinerie verwandelt, die nur
noch für Wahlen auf die Beine zu bringen ist.
Über diesen Aspekt ist bereits hinreichend geschrieben
worden1, hier soll nur ein zentraler Punkt hervorgehoben
werden, nämlich die Entscheidung, gemeinsam mit der
PSOE eine Regierung „für den Wandel“ bilden zu wollen,
auch wenn diese sich vorerst sträubt. Vergessen soll
werden, dass die PSOE bis vor kurzem und noch nach dem
Kongress von Vistalegre, als die Fixierung auf die Wahlen
noch nicht alle Schranken niedergerissen hatte, als Teil der
politischen „Kaste“ galt, die strukturell mit ihrem konservativen Alter Ego in Gestalt der PP verbandelt ist. Die
Führung um Iglesias revidiert damit die bisherige politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen Anliegen
der Protestbewegung von 2011, der radikalen Gegnerschaft zum bestehenden System. Die vor den Europa-Wahlen hochgehaltene Abgrenzung gegen die bestehende
Ordnung schwindet damit oder wird sogar mit Füßen
getreten. Die Hoffnung auf eine wirkliche Alternative, die
zumindest unter den enthusiastischsten Anhängern
herrschte, weicht dem grauen Alltag einer Regierungsbeteiligung, die für einen Regimewandel stehen soll – eine
Quadratur des Kreises.
Eine Liebeserklärung an die Sozialdemokratie
Die Kür der PSOE zum Wunschpartner an der Regierung
geht einher mit einer opportunistischen Verfälschung der
jüngeren Geschichte, als Pablo Iglesias während der letzten
Wahlkampagne José Luis Zapatero zum besten Regierungschef seit Bestehen der spanischen Demokratie erklärt
hat. Damit gerät in Vergessenheit, dass u. a. gegen dessen
Regierung und namentlich gegen dessen Reform des
Arbeitsrechts die Protestbewegung von 2011 ihren
Aufschwung genommen hat.
Ein weiteres Beispiel für Zapateros politisches Wirken
ist die Verfassungsänderung, die er mit den Stimmen der
PP im September 2011, zu einem Zeitpunkt also, als die
S PA N I E N
Bewegung der Empörten abgeflaut war, verabschieden
ließ. Diese Änderung des Artikels 135 der Verfassung
unterwirft die gesamte Haushaltspolitik und alle öffentlichen Ausgaben der Maßgabe, dass die von der EU vorgegebene Defizitquote und Begrenzung der Staatsverschuldung eingehalten werden. Notabene wurde diese
Verfassungsänderung, mit der jedwede Sozialpolitik durch
Weigerung von Podemos und seiner Partner von Unidos
Podemos, dieses Schmierentheater mitzuspielen, hat der
Partei in diesem Schauspiel die wenig verlockende Rolle
eines gehörnten Ehepartners verschafft, der als enttäuschter
Liebhaber unermüdlich versichert, über die erlittene
Abfuhr hinwegzusehen und jederzeit für eine dauerhafte
Beziehung mit der PSOE zur Verfügung zu stehen. Die
Die Führung um Iglesias revidiert damit die bisherige
politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen
Anliegen der Protestbewegung von 2011, der radikalen
Gegnerschaft zum bestehenden System.“
Sparzwänge torpediert wird, auch mit der Stimme des von
Iglesias mittlerweile hochgeschätzten und damaligen
Abgeordneten Pedro Sánchez verabschiedet, selbst wenn
sich dieser heute halbherzig davon distanziert. Wie kommt
die Führung von Podemos unter diesen Umständen zu der
Behauptung, dass es auf der Grundlage wesentlicher
programmatischer Übereinstimmung zwischen PSOE und
Unidos Podemos möglich sei, eine Politik des „Wandels“
zu betreiben, ohne im geringsten dabei zu bedenken, dass
die neoliberale Verfasstheit der EU einem solchen „Wandel“ entgegensteht?
Daneben spricht es Bände, dass Podemos ohne Weiteres
auf die vereinbarte Abschaffung dieser Verfassungsänderung verzichten will oder – entgegen ihrer wahlprogrammatischen Aussagen – die Frage des Selbstbestimmungsrechts Kataloniens nicht mehr durch die Betroffenen
entscheiden lassen will, um dadurch der in diesem Punkt
unverrückbaren PSOE entgegen zu kommen. Ein weiteres
Zugeständnis an die Sozialdemokratie war die Revision
des geforderten staatlichen Konjunkturprogramms aus
dem Wahlkampf von 2015 von 90 Milliarden Euro auf 60
Milliarden beim Wahlkampf vom Juni 2016.
Dabei bildet das Verhältnis zur PSOE nur den augenfälligsten Meilenstein des politischen Richtungswechsels
einer Partei, die gegen das System angetreten ist und
nunmehr in einer Dynamik gefangen ist, die sie immer
näher an das System heranführt und sie dabei zunehmend
an Attraktivität verlieren lässt. Nach den Wahlen 2015 hat
sich die PSOE zu der Umwerbung durch Iglesias unmissverständlich verhalten, indem sie eine ménage à trois
vorgeschlagen hat, nämlich mit Ciudadanos, die wiederum eine ménage à quatre vorziehen – mit der PP. Die
wiederum hat sich bei Ciudadanos eine Abfuhr geholt, die
der Zickzackmanöver überdrüssig waren und lieber mit
der PP anbandeln wollten, um mit ihr über eine Regierungsbildung zu verhandeln.
Paradigmenwechsel
Statt nur im Geringsten zu verstehen, dass der Einbruch
bei den Wahlen im Juni damit zusammenhängt, dass die
Partei von der radikalen Systemkritik aus der Tradition der
15M abgerückt ist, statt sie auf die politische Ebene zu
heben, hält die Führung von Podemos an ihrem Anpassungskurs fest und forciert ihn sogar. Man betrachte nur
den Auftritt von drei Führungsfiguren von Podemos,
darunter Pablo Iglesias, bei der Sommerschulung in der
Universität Complutense Madrid (UCM) am 4. Juli, um
diese Anbiederung und das Bestreben um politische
Mäßigung zu erkennen.2
Bei dieser strategischen Revision geht es immer wieder
um die Stimmenverluste bei den diesjährigen Parlamentswahlen. Die Stimmenthaltung von Teilen ihrer Wählerschaft wird von Podemos völlig willkürlich als ein Signal
dafür interpretiert, dass man auf die „Bremse treten“, wie
Errejón offen sagt, und sich von den alten Konzepten
verabschieden müsse, da deren Radikalismus diese Leute
nur abgeschreckt hätte. Mit der ihm eigenen Flapsigkeit
beschreibt Iglesias die neue Lage, die durch die Wahlverluste entstanden ist: Das alte „Modell Podemos“ mit seinen
Vorstellungen vom außerparlamentarischen Kampf – von
„Blitzkrieg und Bewegungskrieg“ sprach die Führung
damals in der ihr eigenen Gramscianischen Diktion – habe
sich seit den Wahlen vom Dezember 2015, eigentlich
schon seit den Kommunalwahlen im Mai 2015 überlebt.
Inprekorr 6/2016 7
S PA N I E N
Die Führung argumentiert, dass jetzt der Übergang zu
einem langwierigen „Stellungskrieg“, in dem man die
parlamentarische Verankerung vertiefen und ein Bündnis
mit der als Garant des Wandels angesehenen Sozialdemokratie anstreben müsse, anstünde. Dabei verschweigt sie,
dass genau das monatelange Streben nach einer Verständigung mit der Sozialdemokratie im Gefolge der Parlamentswahl 2015 zu dem Einbruch bei den Wahlen im Juni
geführt hat. Fakt ist, dass bei der o. g. Veranstaltung in der
UCM die Parteiführung offen für einen Paradigmenwechsel eintritt, den sie bereits unter der Hand vollzogen hat,
ohne die Basis in diese Entscheidung einzubeziehen.
Nachdem vollendete Tatsachen geschaffen worden sind,
kann man nun offen sprechen: Podemos muss und wird, da
die Systemkrise – zumindest vorläufig – vorüber sei, zu
einer „normalen Partei“ werden, so normal, dass sie die
PSOE für sich gewinnen kann, die auf wundersamen
Wegen zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln zurückgefunden habe.
Um diese Behauptung zu stützen, schreckt die Führung von Podemos sogar vor einer Geschichtsrevision über
die Transición nicht zurück, die ja schließlich eine schützenswerte demokratische Verfassung ermöglicht habe, wie
Luis Alegre meint. In diesem Plädoyer für das herrschende
System findet sich kein Wort über die Funktion der Transición, nämlich mit der Amnestierung der Franquisten die
wesentlichen Elemente der Politik und Wirtschaft der
Franco-Ära hinübergerettet zu haben, in der Ära Felipe
González eine unkontrollierte Umstrukturierung der
Industriewirtschaft in Gang gesetzt zu haben, eine a priori
kastrierte und autoritär geprägte Demokratie eingeführt
zu haben und die Reichen durch Steuererleichterungen
immer reicher, die Armen durch niedrige Löhne hingegen
immer ärmer gemacht zu haben, um so den Eintritt in die
EU unter „wettbewerbsfähigen“ Bedingungen vollziehen
und sich darin behaupten zu können. Von wegen zurück
zu den sozialdemokratischen Wurzeln! Stattdessen regiert
in der PSOE der finsterste neoliberale Ungeist, worüber
die Podemos-Spitze natürlich kein Wort verliert.
Die Anbiederung an die PSOE unterstreicht Iglesias
mit der bemerkenswerten Formulierung: „Wir haben in
Madrid und Valencia [wo Podemos im Bündnis die
Kommunalwahlen gewonnen hatte] gelernt, dass man die
Verhältnisse aus den Institutionen heraus ändert. Die
schwachsinnige Behauptung aus unseren linksradikalen
Kindertagen, dass die Verhältnisse auf den Straßen und
nicht von den Institutionen aus geändert werden, war bloß
eine Lüge.“3 Abgesehen davon, dass hier eine grobschläch8 Inprekorr 6/2016
tige, wenn auch selbstkritisch ummantelte Bilanz der
radikalen Linken in Spanien gezogen wird, lautet die
zentrale Aussage dieser Polemik, dass die Mobilisierungen
an der Basis nicht mehr der Hebel zur Änderung der
Verhältnisse sind, sondern allenfalls Begleitmusik, und dass
Podemos kein Interesse daran hat, diese Basisbewegungen
zu fördern und zu unterstützen, um auf diesem Wege die
Kräfteverhältnisse zu beeinflussen und das System zu
ändern.
Um diesen Positionswechsel zu rechtfertigen, distanziert sich Iglesias davon, dass die Politik wieder auf der
Straße gemacht werden könnte, wobei die Fehler der
Vergangenheit vermieden werden müssen, und verweist
darauf, dass Podemos entstanden ist, als die Bewegung
15M rückläufig war. Die Messe ist gelesen und man wird
nicht mehr auf eine Podemos-Führung zählen können, die
sich auf die parlamentarische Option versteift und in der
lediglich Monedero, wie gewohnt, den Finger auf die
Wunde legt oder ein paar Vorbehalte gegenüber dem
Kurswechsel äußert und stattdessen an der Tradition der
15M festhalten bzw. wieder daran anknüpfen will. Es geht
nur noch darum, aus dem klassischen Zweiparteiensystem
als Erbe der Transición ein Dreiparteiensystem aus PP,
PSOE und Podemos zu machen, das uns als künftige
Neuversion des Zweiparteiensystems verkauft werden soll:
die „Fortschrittlichen“ (PSOE + Podemos) gegen die
„Konservativen“ (die PP, die nach Iglesias’ Worten
langfristig die Ciudadanos schlucken wird). Dabei ist
keineswegs ausgemacht, dass nicht Podemos beim Versuch,
sich die PSOE der 70er Jahre herbeizuphantasieren und
sich deren Überbleibsel einzuverleiben, dasselbe Schicksal
erleidet wie weiland die KP, die beim Marsch durch die
Institutionen zur Randfigur wurde.
Eine autonome Alternative
Was lässt sich in einer solchen Situation des parlamentarischen Stillstands und der politischen Degeneration von
Podemos erhoffen?
Es ist nicht auszuschließen, dass es erneut zu Neuwahlen – voraussichtlich am 25. Dezember – kommt, wenn die
PP nicht durch Stimmenthaltungen aus den Reihen der
PSOE eine Regierung bilden kann. Ebenso wenig lässt
sich ausschließen, dass die PSOE und Unidos Podemos
anschließend eine Regierungskoalition bilden, die dann –
angesichts der Kompromissbereitschaft der Podemos-Spitze – mit weiteren politischen Zugeständnissen einhergehen wird. Natürlich vorausgesetzt, dass die Neuwahlen
entsprechend ausgehen, was keinesfalls ausgemacht ist,
S PA N I E N
aber angesichts der Unpopularität von Rajoy und seiner
korrupten Entourage denkbar ist. Einfacher wäre noch,
dass es zu einem parlamentarischen Abkommen zwischen
PSOE, Podemos und katalanischen und/oder baskischen
Nationalisten kommt, die eine „Regierung des Wandels“
ermöglicht, zugleich aber zu einem Desillusionierungsprozess führt wie 2012 in Frankreich, als die Hoffnungen
derer, die „Alles, bloß nicht Sarkozy“ haben wollten, rasch
verflogen. Daran würde auch die Regierungsbeteiligung
„radikaler Scharfmacher“ im Gefolge von Iglesias wenig
ändern, da die bereits ihre radikalen Überzeugungen im
Vorfeld abgelegt haben und den Weg von Syriza noch vor
der Regierungsteilhabe gegangen sind. Der Unterschied
zu Griechenland ist bloß, dass nicht zugleich die PSOE
eine solche Implosion wie die PASOK erlebt hat.
Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Verhältnisse
bei Podemos ins Rollen geraten, v. a. was die autoritäre
Entscheidungsstruktur im Innern anlangt, die der Parteiführung freie Hand für den genannten Richtungsschwenk
lässt. Dies zu ändern, wäre unerlässlich, freilich nicht
ausreichend, um wieder eine dezidiert antikapitalistische
Orientierung auf den Weg zu bringen, die auf einer
Protestbewegung fußt, die entschlossen gegen das Diktat
der Troika kämpft und auf diesem Weg eine – ansonsten
zwangsläufige – Entwicklung wie in Griechenland
verhindert, wo die Weigerung, gegen die neoliberal-kapitalistische Ausrichtung der EU zu kämpfen, die Niederlage
vorprogrammiert hatte.
Noch ist der Kampf um Podemos nicht verloren, sofern
sich die Basis die Macht zurückerobern kann. Dies zeigen
bspw. die Vorwahlen von Podem in Katalonien, wo die
Opposition gegen die Parteizentrale unter Iglesias mit
Unterstützung der AntikapitalistInnen erfolgreich für den
Vorsitz kandidierte. Oder dass die Stellungnahmen von
400 Basisverbänden („Kreisen“) von der Parteiführung
offiziell zur Kenntnis genommen werden mussten, die sich
überwiegend kritisch gegen die Wahlkampagne zum 26.
Juni gerichtet haben, da diese „zu sehr vom Geist der
Sozialdemokratie statt von Rebellion“ getragen war. Allerdings werden die AntikapitalistInnen keinen leichten
Stand haben, nicht nur, weil sie in ihrer Autonomie durch
die undemokratische Funktionsweise der Organisation
beschnitten werden, sondern auch, weil sie wider Willen
in Wahlkampagnen eingespannt werden, deren politische
Ausrichtung nur zur Desorientierung an der Basis und zur
Erstickung der dort noch vorhandenen rebellischen
Stimmung führen kann. Hier droht eine Entwicklung, wo
Podemos spiegelbildlich zu Ciudadanos vom neuen „Stern
am politischen Firmament“ zum bloßen Satrapen im
jeweiligen Lager verkommt, die Einen an der Seite der
PSOE, die Anderen unter der PP. Davon würden nur die
alten Systemparteien und natürlich die Kapitalherrschaft
im Spanischen Staat profitieren, die flexibel genug sind,
ihren Fortbestand durch neue politische Konstellationen
zu sichern.
Es ist höchste Zeit, die Orientierung auf die Institutionen und damit die Kanalisierung der Proteste – sei es nach
1978 oder nach 2011 – zu revidieren und die Politik wieder
auf die Straße zu tragen. Dies heißt nicht, dass man sich der
Teilnahme an Wahlen a priori verschließen müsste,
sondern nur, dass man nicht in die Falle des Elektoralismus
treten darf, so wie die jetzige Führung von Podemos.
Übersetzung: MiWe
„
1 Vgl. u. a. Inprekorr 1/2016, Zeitenwende im Spanischen Staat?,
ein Dossier mit 6 Beiträgen
2 www.anti-k.org/2016/07/11/96885/#.V7nh56...
3 Siehe Endnote 1
Inprekorr 6/2016 9
I TA L I E N
DAS MODELL RENZI IN
DER KRISE
Seit über zwei Jahren geriert sich Matteo Renzi als junger, energischer Politiker,
der dazu in der Lage ist, einen Wandel in Italien herbeizuführen. In Wahrheit
jedoch betreibt er dieselbe unsoziale Sparpolitik wie seine Vorgänger und stößt
damit zunehmend an seine Grenzen.
Diego Giachetti
„
Die seit Februar 2014 amtierende
italienische Regierung unter Matteo Renzi steckt trotz
ihrer Umtriebigkeit in denselben Schuhen fest wie ihre
diversen Vorgängerregierungen der vergangenen 20 Jahre,
deren markanteste Figur Silvio Berlusconi war. Deren
gemeinsames Anliegen war der Abbau des Sozialstaats, die
Umwälzung des Arbeitsmarktes zugunsten der Unternehmer, die Interessenvertretung der Wirtschafts- und
Finanzkonzerne und der strukturelle Umbau der Institutionen. In dieser Hinsicht kann die Regierung des PD-Generalsekretärs Renzi quasi als die Vollendung des Modells
Berlusconi gelten.
Endlich an der Regierung
Die 2007 gegründete Demokratische Partei (PD) ist das
letzte Verfallsprodukt der früheren KPI und deren
Verschmelzung mit verschiedenen Mitte-Links-Strömungen. Damit schaffte sie es, den uralten Traum ihrer
Anhänger und Wähler zu verwirklichen – nämlich an die
Regierung zu gelangen, und zwar mit einer Perfektion,
dass das Parlament zunehmend an den Rand der Legislative gedrängt wird und stattdessen die Gesetze vorwiegend von der Regierungspartei gemacht werden. Ein
Beispiel hierfür ist das Gesetz über eingetragene Partner10 Inprekorr 6/2016
schaften, das der Verfassung nach eigentlich im Senat in
seinen Inhalten hätte diskutiert werden müssen. Stattdessen hat sich der Senat bloß auf dessen Abstimmungsmodalitäten und Formalitäten kapriziert, um zu verhindern,
dass Änderungsanträge und Präzisierungen vorgelegt
werden konnten. Als dies Vorgehen zu scheitern drohte,
wurden die Senatsmitglieder aus den eigenen Reihen von
Renzi auf Linie getrimmt, indem er damit die Vertrauensfrage verknüpfte. In gleicher Manier wurde bei
zahlreichen Abstimmungen zur Verfassungsreform
verfahren.
Die PD regiert, indem sie Gesetze macht oder Dekrete
erlässt, die der Exekutive die Gesetzesgewalt verschaffen.
Ein Beispiel dafür ist der italienische Militäreinsatz in
Libyen. Nach außen wurde dieser als Bekämpfung des
Terrorismus ausgewiesen, das eigentliche Ziel jedoch war
nicht der IS, sondern die Kontrolle und Ausbeutung der
Ölvorkommen des Landes. Renzi hat entschieden,
gemeinsam mit den USA, Frankreich und Großbritannien an dieser Militäraktion teilzunehmen. Um das
Parlament bei dieser Entscheidung leichter übergehen zu
können, wurde zuvor eine Gesetzesänderung beschlossen, wonach spezielle Heereseinheiten direkt dem
Auslandsgeheimdienst unterstellt sind. Damit unterstehen
I TA L I E N
sie direkt der Regierung und können auf bloßes Geheiß
des Premierministers eingesetzt werden.
Renzis Großbaustellen
Die US-Bank JP Morgan Chase & Co, die wegen betrügerischer Machenschaften bei der Finanzkrise im Visier der
US-Behörden steht, hat 2013 einen Bericht über die
Eurozone veröffentlicht, in dem den südeuropäischen
Staaten Strukturreformen nahegelegt werden, die über die
bloße Sparpolitik hinaus auch tiefgreifende Verfassungsreformen beinhalten. Dabei geht es um die Verfassungen, die
nach dem Sturz des Faschismus beschlossen worden sind
und angeblich „sozialistisch angehaucht“ seien, weil darin
den Lohnabhängigen „übermäßige“ Rechte eingeräumt
würden und die Regierungsmacht zu sehr vom Parlament
abhinge.
Etliche Reformen der Regierung Renzi gehorchen
exakt diesem Muster. So wurde im März 2014 ein Wahlgesetz (Italicum) verabschiedet, das der Liste eine Mehrheit
von 54 % im Abgeordnetenhaus sichert, die 40 % der
Wählerstimmen erhalten hat, wobei eine Stichwahl
zwischen den beiden erstplatzierten Listen vorgesehen ist
für den Fall, dass keine Liste diese 40 % im ersten Wahlgang erzielt. Danach war das Arbeitsrecht mit dem sog.
Jobs Act an der Reihe, mit dem arbeitsrechtliche Schutzvorkehrungen ausgehöhlt oder vielmehr abgeschafft
werden sollten. Parallel dazu wurde das Schulsystem per
Gesetz nach neoliberalen Vorgaben deformiert. Die
unlängst vorgelegten weitreichenden Eingriffe in die
Verfassung von 1948 fanden auch in zweiter Lesung nicht
die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament und
müssen daher am 4. Dezember zur Volksabstimmung
gestellt werden.
Mit dem Jobs Act sollten Hunderttausende neuer
Stellen geschaffen werden und der Premierminister hatte
sich gar erkühnt, über eine Million neuer Arbeitsverträge
in Aussicht zu stellen. Am Ende waren es 764 000 neue
Verträge, von denen allerdings 578 000 lediglich auf
Änderungskündigungen beruhten, um bestehende
Arbeitsverträge nach neuem Recht zu ersetzen. Zudem
beruhen die neuen Stellen großteils auf Zeitarbeitsverträgen über wenige Wochen oder Monate.
Renzi vor dem Aus?
Renzi hat sich als Generalsekretär der PD bei den Kommunalwahlen im Juni stark ins Zeug gelegt. Das Ergebnis
jedoch war enttäuschend: Die PD verlor in Rom, Turin
und Triest und konnte sich nur knapp in Mailand behaup-
ten, während in Neapel ein parteiinterner Widersacher
von Renzi siegte. Wahlanalysen zeigten, dass die PD nur
in den Gegenden hinzugewonnen hat, wo die Reichsten
und die Ober- und Mittelschichten wohnen. In den
Arbeitervierteln, wo auch die in der Krise verarmten
Mittelschichten wohnen, verlor sie hingegen an Stimmen
– sei es durch Enthaltung oder Stimmabgabe für „Protestparteien“, egal welcher Couleur. Nach jahrzehntelanger
Kungelei heutiger PD-Granden mit dem Finanzsektor und
zahllosen Korruptionsaffären ist der Kredit beim einfachen
Volk verspielt und führt zur Retourkutsche an den
Wahlurnen.
Aber auch wenn die PD und die herrschenden Klassen
über diese Wahlergebnisse keineswegs zufrieden sein
können, bedeutet dies noch nicht, dass das Modell Renzi
inzwischen obsolet ist, sondern nur, dass es angeschlagen
ist. Einer der Gründe hierfür liegt in der PD selbst, die in
dem kritik- und beratungsresistenten Renzi, der neben
sich keine andere Meinung duldet, keinen wirklich
schlagkräftigen Vorsitzenden hat. Hingegen kann er die
Parteiführung nicht aufgeben, weil dann auch sein Amt als
Premierminister gefährdet wäre. Denn Regierungschef
konnte er nur werden, weil er die Partei kontrolliert, und
dafür braucht er gefügige Mitarbeiter, die über keine
eigene Autorität und demnach dummerweise auch über
keine Hausmacht in ihrer Heimatregion verfügen.
Dadurch gibt es neben Renzi kein dauerhaftes und
eigenständiges Kollektiv an der Parteiführung, sondern
nur eine Entourage von Gefolgsleuten. Zudem wird die
Partei von Flügelkämpfen zerrissen und die Führungsfiguren sind nicht immer in der Lage, das arrogante Auftreten
ihrer lokalen Gefolgsleute im Zaum zu halten.
Die Kommunalwahlen haben eine Kettenreaktion in
Gang gesetzt, die durch den überraschenden Sieg des
Brexit noch angefeuert wurde. Zunächst einmal ist mit
dem schlechten Abschneiden der Mythos dahin, dass die
PD mit Renzi nur gewinnen kann. Obendrein ist der
Ausgang des kommenden Referendums keineswegs
vorhersehbar. Das neue Wahlgesetz macht es möglich, dass
auch die Bewegung Cinque Stelle im zweiten Wahlgang
gewinnen könnte, eine Aussicht, die der Parteispitze der
PD und auch deren bei der Kommunalwahl unterlegenen
Lokalfürsten den Schlaf raubt. Denn es droht ein zweifaches Menetekel: Erst könnte das von Renzi zum Plebiszit
über seine Person stilisierte Referendum verloren gehen
und anschließend noch die Parlamentswahlen.
Die Probleme häufen sich: von kürzlich aufgetretenen
Spannungen mit dem Justizapparat über die massiven
Inprekorr 6/2016 11
I TA L I E N
Finanzprobleme der italienischen Banken wegen fauler
Kredite bis hin zum katholischen Klerus, der sich durch
das Gesetz über eingetragene Partnerschaften düpiert sieht.
Ebenso sind die Gewerkschaften darüber verstimmt, in
rüder Manier ruhig gestellt zu sein. Auch Teile des
politischen Machtapparats sind über das nassforsche
Auftreten Renzis verstimmt und hoffen darauf, dass er bei
den Verhandlungen mit der EU über die Defizitquote auf
die Nase fällt. Dort will Renzi – angesichts der fortdauernden Wirtschaftskrise in Italien – erreichen, dass die
Sparpolitik gelockert werden kann, um Investitionen und
Konsum zu beleben. Wenn Brüssel dies ablehnt, wäre
Renzi wieder zu einem rigiden Sparkurs gezwungen.
Für eine echte Alternative
Andererseits lastet auf Renzi wenig Druck von links, da
die sog. linke Minderheit in der PD wenig strukturiert und
recht schwach ist und – anders als in Frankreich – auch
keine nennenswerte außerparlamentarische Opposition
vorhanden ist. Bei den Kommunalwahlen kandidierten
verschiedentlich mal wieder linke Listenverbindungen, die
jedoch durchweg bescheidene Ergebnisse erzielten, was
symptomatisch für die Konfusion und Schwäche der
radikalen Linken ist.
Der Wiederauf bau einer antikapitalistischen und
anti-neoliberalen Alternative, die in den von Krise und
Sparpolitik gebeutelten Bevölkerungsschichten verankert
ist, lässt keine Abkürzungen zu und kann sich nur beharrlich auf den Klassenkampf stützen. Nur dadurch kann nach
und nach ein Kader aufgebaut werden, mit dem zunächst
kleine, aber entscheidende Erfolge als Ausgangspunkt für
eine langfristig antikapitalistische Politik erzielt werden
können. Dabei ist es wenig zielführend, bei jeder Wahl
panisch aufs Neue eine andere Sau durchs Dorf zu treiben.
So müssen wir auch mit dem anstehenden Referendum
umgehen, nämlich die Verteidigung der demokratischen
Grundrechte der Verfassung mit dem Kampf gegen die
Austeritätspolitik und das Finanzgesetz verknüpfen. Renzi
kämpft, nachdem er die Wahlschlappe verdaut hat, an zwei
Fronten: Zunächst muss er das neue Finanzgesetz zur
Finanzierung des Staatshaushalts durchbringen und
anschließend die Mehrheit der Bevölkerung von der
fälligen Verfassungsänderung überzeugen. Wie üblich
stützt sich seine Kampagne auf Werbespots, in denen sich
hohle Phrasen und leere Versprechungen mit Katastrophenszenarien vermischen, für den Fall, dass ihm und den
hinter ihm stehenden Kräften – darunter der Unternehmerverband Confindustria – die Gefolgschaft verweigert wird.
12 Inprekorr 6/2016
Die Herrschenden im In- und Ausland sorgen sich sehr
um den Ausgang des Referendums und liefern daher alle
erdenkliche Schützenhilfe, da im Falle einer Niederlage
der Regierung eine schwere politische Krise entstünde
und zu Renzi keine glaubwürdige und in ihren Augen
gemäßigte Alternative vorhanden ist. Außerdem könnte
auch eine institutionelle Krise eintreten, da unklar ist,
welches Wahlsystem bei möglichen vorgezogenen Parlamentswahlen angewandt werden soll, und das Verfassungsgericht erst noch über das neue Wahlgesetz befinden muss.
Auch das Großkapital sorgt sich um die wirtschaftlichen
Probleme des Landes und deren mögliche Auswirkungen
auf das prekäre Gleichgewicht in der EU nach dem Brexit.
Diese Auswirkungen wären umso stärker, wenn eine
politische und eine Wirtschaftskrise zugleich aufträten.
Selbst wenn sich Renzi im Referendum durchsetzen
würde, wäre angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise
denkbar, dass die Bewegung Cinque Stelle die Wahlen
2018 gewinnen könnte.
So oder so bleibt es vordringlich, dass die Arbeiterbewegung wieder die Initiative ergreift und aktiv auf das
gesellschaftliche und politische Geschehen Einfluss nimmt.
Übersetzung aus dem Französischen und Italienischen:
„
MiWe
I TA L I E N
DIE WIDERSPRÜCHLICHE
NATUR DES M5S
Die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) wurde im September
2009 durch den Komikerstar Beppe Grillo gegründet. Wie steht es um dieses
politische Phänomen, das vor dem Hintergrund des starken Rückganges der
Kämpfe und des Klassenbewusstseins einen großen Teil seines Elektorates in
der einfachen Bevölkerung gewinnen konnte?
Franco Turigliatto
„
Der Sieg des M5S in den Gemeindewahlen vom Juni 2016 in den zwei italienischen Symbolstädten,
der Hauptstadt Rom und in der wichtigsten Industriestadt
Italiens, Turin, mit seinen beiden jungen Kandidatinnen
Virginia Raggi und Chiara Appendino hat zahlreiche
Fragen über die politische Rolle und die Natur des M5S
aufgeworfen
Die Gründer und die elektorale Dynamik
Die ersten Initiativen zum Auf bau des Meetups „Amici di
Beppe Grillo“1 gehen auf 2005/06 zurück. Es sind aber die
zwei Mobilisierungstage des „Vaffanculo Day“ [Geh-zumTeufel-Tag] von 2007 und 2008 gegen die politische Elite
– die sogenannte „Kaste“ –, die die Bedingungen zur
Gründung der Fünf-Sterne-Bewegung im September 2009
geschaffen haben.
Die ersten elektoralen Tests bei den Lokalwahlen
verliefen bescheiden. Erst 2012 erringt der M5S in einigen
Städten die ersten positiven Resultate, darunter in Genua
und vor allem in der Provinzhauptstadt Parma, wo der M5S
das Bürgermeisteramt eroberte. Dies ist dann der Beginn
der großen Wahlerfolge im Jahre 2013, wo er mit 25,56 %
der Stimmen (8 691 106) zur stärksten Partei aufstieg, gegen
die 25,56 % des PD [Partito Democratico], der allerdings
zusammen mit seinen verbündeten Kräften 29,18 % der
Stimmen erreichte und damit von dem Mehrheitsaufschlag
für die Abgeordnetenkammer profitierte.
Bei den Europawahlen von 2014 erreichte der M5S
21,16 % gegenüber dem Ausnahmeresultat des PD von
40,81 % und der Forza Italia von Berlusconi, die einen
starken Verlust (16,81 %) hinnehmen musste. 2016 dann der
Sieg in Rom und in Turin; verhaltener sind die Ergebnisse
in Mailand und in Bologna und vor allem in Neapel, wo
der bisherige Bürgermeister Luigi De Magistris, an der
Spitze einer breiten Koalition der Linken mit der Bevölkerung im Amt bestätigt wurde.
Neue Umfragen bezüglich aktueller Wahlabsichten
weisen auf einen annähernden Gleichstand des M5S, des
PD und einer Einheitsliste der Rechten hin.
Zwei Männer haben das politische Projekt des M5S
aufgebaut und definiert: einerseits der schillernde Komiker
Beppe Grillo, der für seine Schmähtiraden gegen die
politische Elite, die Korruption, die Umweltzerstörung
bekannt ist und eine packende Wirkung auf ein breites
Publikum hat. Andererseits der Manager Gianroberto
Casaleggio, Eigentümer eines großen Unternehmens, der
Casaleggio Associati, das auf digitale Kommunikation und
Marketing spezialisiert ist. Dieses hat denn auch die
Bildung einer über das Internet zentralisierten und kontrollierten Organisation sichergestellt.
Inprekorr 6/2016 13
I TA L I E N
Der M5S ist eine äußerst vertikal geführte politische
Organisation mit einer dominanten Rolle der beiden
Führer. Der kürzliche Tod von Casaleggio hat an dieser
Grundstruktur nichts verändert, da die Rolle des Vaters
direkt vom Sohn übernommen worden ist; dieser führt
heute auch die oben erwähnte Firma. Allerdings haben die
Entwicklung und die Präsenz der Bewegung in den
Institutionen das Gewicht der Führerinnen und Führer der
parlamentarischen Gruppen in der Abgeordnetenkammer
und im Senat gestärkt und auf nationaler Ebene wurde ein
Führungsausschuss aus fünf Personen gebildet; Grillo behält
sich aber weiterhin das letzte Wort vor.
Natur und Besonderheiten des M5S
Was sind die besonderen Merkmale dieser Bewegung? In
einer alten marxistischen Terminologie könnte man
aufgrund der Zusammensetzung ihrer Führungsgruppe,
ihres politischen Programmes und der erklärten Zielen von
einer kleinbürgerlichen Bewegung sprechen: Demokratisierung und Rationalisierung der Gesellschaft und des
Funktionierens der Institutionen, hartes Durchgreifen
gegen die Korruption und die Privilegien, Durchsetzen
einer Transparenz des öffentlichen Handelns und eine
Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger mithilfe des
Internets. Das kapitalistische System kommt in keinerlei
Form zur Sprache; lediglich seine Auswüchse und die
Korruption seiner Verwalter werden thematisiert. Deshalb
führt der M5S keine Kampagne gegen die vorherrschende
neoliberale Wirtschaftspolitik und gegen die kapitalistische
Austeritätspolitik. Seine zentrale Losung ist die Forderung
nach Ehrlichkeit und das wichtigste politische Thema ist
der Kampf gegen die Privilegien der politischen Elite. Die
Bewegung wird als „Reinigerin“ und „Retterin“ der
Gesellschaft angesehen. Folgerichtig erklärt sich diese
Bewegung weder als links noch als rechts, nicht nur, weil sie
sich so versteht, sondern weil sie bewusst und geschickt
immer wieder eine Mischung aus verschiedenen Sprachen
einsetzt und Botschaften und Vorschläge vorbringt, die
darauf ausgerichtet sind, linke und rechte Sympathien auf
sich zu ziehen. Zu einigen Themen wie Umwelt, Verkehr,
Bürgerrechten, Energie werden linke Inhalte vertreten und
die Aktivistinnen und Aktivisten vom M5S beteiligen sich
aktiv an den Mobilisierungen hierzu. Zu anderen Themen,
etwa der Migration, den Rechten der Lohnabhängigen im
öffentlichen Sektor, der Rolle der Gewerkschaften, werden
rechte Positionen aufgenommen; so gibt es eine Menge von
öffentlichen Äußerungen einiger seiner ExponentInnen mit
klarer xenophober Ausrichtung, um die entpolitisierten
14 Inprekorr 6/2016
Sektoren der breiten Bevölkerung oder dann der Rechten
an sich zu binden.
Die Fähigkeit der Führungsgruppe besteht gerade darin,
ein mehrdeutiges, aber glaubwürdiges Image zu schaffen.
Mit dem Zusammenbruch des Klassenbewusstseins bei den
ArbeiterInnen wurde es möglich, an das durchschnittliche
politische Bewusstsein von breiten Bevölkerungsschichten
anzuknüpfen, die ihre Lebensbedingungen unerträglich
finden und eine Veränderung wollen; da sie jedoch über
keine Organisation ihrer Klasse und über keine kollektive
Antwort verfügen, suchen sie die Veränderung im Umfeld
der „Anti-Kasten“ Kampagne des M5S.
Die stürmische Entwicklung dieser Bewegung wäre in der
Tat nicht erklärbar ohne eine Berücksichtigung der Ereignisse
des ersten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts, den großen
Kämpfen der Arbeiterklasse und der sozialen Bewegungen,
deren Niederlagen, dem Scheitern der Mitte-Links-Regierung von Prodi (2006–2008) wie auch des Partito della
Rifondazione comunista. All dies sind Ereignisse, die eine
tiefe Desillusionierung und Demoralisierung in breiten
Schichten der Arbeiterklasse und einen Zusammenbruch des
Klassenbewusstseins selbst in seinen elementarsten Formen
nach sich gezogen haben. Die Wirtschaftskrise von 2008 und
die zerstörerische Austeritätspolitik haben diese Phänomene
zum Äußersten getrieben: Die Arbeiterklasse trat nicht mehr
als politisches Subjekt auf.
Die Politik von Grillos Bewegung
Der M5S hat wohl einige Entscheidungen der Außenpolitik und der militärischen Intervention der verschiedenen
Regierungen kritisiert, ohne aber die Rolle Italiens als
kapitalistische und imperialistische Macht zur Diskussion
zu stellen. Hinsichtlich der Europäischen Union hat er je
nach Umständen widersprüchliche Positionen eingenommen, die zwischen dem Vorschlag des Austritts aus dem
Euro bis zu anderen, eher moderaten und reformistischen
Ideen bezüglich der Europäischen Institutionen hin und
her schwanken. Die Zugehörigkeit zur selben Gruppe im
Europäischen Parlament wie die UKIP von Farage ist
Ausdruck der Widersprüchlichkeit der Partei von Grillo,
ohne dass sie jedoch alle politischen Positionen mit der
englischen extremen Rechten teilen müsste.
Der M5S ist ebenfalls eine stark institutionalistische
Partei: Sie führt demokratische Kämpfe im Parlament und
bekämpft aktuell die institutionelle Gegenreform von
Renzi, die die Verfassung von 1948 über den Haufen wirft.
Der M5S versucht aber nicht, sein Vorgehen mit einer
demokratischen Massenaktion und noch viel weniger mit
I TA L I E N
einer aktiven Arbeiterbewegung zu verbinden. Umso
weniger verfügt er über ein wirkliches Programm, das die
dramatischen Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung
nach Jahren der Austeritätspolitik thematisieren würde,
allem voran die Fragen der Arbeit und der Prekarität.
Der M5S schlägt in der Tat als Ziel die Einführung
weiterer Steuererleichterungen für die kleinen und die
mittleren Unternehmen vor, die als Dreh- und Angelpunkt
der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden;
ferner zielt er ein unsicheres Einkommen – eine Art
Almosen - an für diejenigen in der Bevölkerung, die ohne
Arbeit sind. In seinem Programm findet sich keinerlei
Zweifel an den neoliberalen Dogmen des Kapitalismus,
keinerlei Notwendigkeit einer neuen, starken öffentlichen
Intervention in die Wirtschaft, keinerlei allgemeine
Verkürzung der Arbeitszeit, keinerlei Verteidigung der
kollektiven Arbeitsverträge. Dies ist kein Zufall angesichts
seines klassenübergreifenden Charakters.
Seine Führungsgruppen entstammen den Mittelschichten und dem Kleinbürgertum, von Sozialarbeitern über
Wirtschaftswissenschaftler verschiedener Ausrichtung bis zu
Freiberuflern. Die Basisaktivisten stammen aus verschiedenen Milieus; es sind Arbeiter und Arbeiterinnen aus selbständiger Arbeit oder Lohnabhängige, aus intellektuellen
Bereichen, aber nicht nur. Ein Teil von ihnen sind Prekäre.
Ein viel geringerer Teil der Basismitglieder kommt aus
dem industriellen Umfeld und aus der „traditionellen“
Arbeiterklasse. Zahlreiche Arbeiterinnen und Arbeiter aus
der Privatwirtschaft wie dem öffentlichen Bereich wählen
jedoch den M5S, selbst einige Basisdelegierte der Gewerkschaften. Die letzten Gemeindewahlen haben die Fähigkeit
der Bewegung von Grillo aufgezeigt, die Stimmen von
bedeutenden Teilen der verarmten und marginalisierten
Bevölkerung zu mobilisieren, die auf der Suche nach einer
Alternative zu ihrer Situation sind.
Die innere Struktur und das Verhältnis zu anderen
Kräften
Die innere Struktur ist mit dem Ziel aufgebaut worden, den
beiden Führern die volle Kontrolle über die gesamte
politische Organisation zu sichern; die Entscheide werden
schnell online durch eine womöglich gesteuerte Abstimmung unter den Mitgliedern gefällt, ohne eine wirkliche,
öffentliche Diskussion. Und so wird auch bei Ausschlüssen
von denjenigen Mitgliedern verfahren, die als nicht
konform mit den Grundsätzen der Organisation betrachtet
werden, oder, im einfacheren Fall, von den offiziellen
Positionen abweichen. Die Basisstruktur des M5S besteht in
den sogenannten Meetups, mittels derer die Initiativen
aufgezogen werden. Seltener werden direkte Versammlungen an der Basis durchgeführt; solche nehmen während
Wahlkampagnen allerdings eine größere Wichtigkeit ein.
Aus demokratischer Sicht erweist sich deshalb das innere
Leben des M5S als sehr diskussionswürdig. Er ist ferner eine
gegenüber anderen politischen Kräften tendenziell sektiererische Formation; für seine Mitglieder existiert nur ihre
Bewegung; alle anderen sind Teil des alten Systems und gehören einer äußeren, „unreinen“ Welt an. Der M5S fördert die
Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger, aber nur im
Rahmen seiner Methoden und sofern sie sich dabei seinen
Formen unterordnen. Er nimmt nicht an, dass diese Teilnahme im Sinne einer Entwicklung gesellschaftlicher Autonomie
strukturiert werden kann; daher misstraut er unabhängigen
gesellschaftlichen Strukturen, die auf Eigeninitiative basieren. Die Regierung in Städten wie Rom und Turin setzt
den M5S einem starken Druck seiner politischen Gegner
und großen politischen und administrativen Problemen aus.
Es wird wichtig sein, die sich daraus ergebenden Entwicklungen zu beobachten.
Dies gerade auch, weil der Erfolg der Bewegung von
Grillo die vernichtende Niederlage und die Krise der
Linken in unserem Land hervorhebt und einige Sektoren
dazu treibt, ungerechtfertigte Illusionen über diese politische Formation zu hegen. Es liegt außerhalb der Natur des
M5S, auf die Entstehung der sozialen Massenbewegung
hinzuarbeiten, die für den Kampf gegen die Politik der
Unternehmer und ihrer Regierungen unverzichtbar ist.
Der M5S wird wie bis bisher versuchen, die Früchte der
breiten Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf der Ebene
von Wahlen einzusammeln, indem er einige, aber nur
einige der Untaten der Regierung anklagt, ohne jedoch den
Markt oder die Regeln des Kapitalismus infrage zu stellen.
Es gibt keine Abkürzungen bei der Auf bauarbeit einer
Massenbewegung der Arbeiterklasse und einer antikapitalistischen Klassenorganisation. Die Rolle des M5S ist nur
eine Bestätigung dafür.
Quelle (des italienischen Textes und der französischen Übersetzung): https://anticapitalista.org/2016/09/27/la-natureambigue-du-mouvement-5-etoiles/
Übersetzung: Willi Eberle
„
1 http://www.beppegrillo.it/meetup/ Meetups sind Internet
Applikationen, die wie Meetings funktionieren. Sie erlauben die
Interaktion von geographisch verteilten Gruppen und Individuen
und werden zentral aufgesetzt und moderiert. [Anm. d. Ü.]
Inprekorr 6/2016 15
E U R O PA
KEIN „LEXIT“ OHNE „EIN
ANDERES EUROPA IST
MÖGLICH“
Das strategische Ziel eines Vereinigten sozialistischen Europas ist
weder durch Unterwerfung unter die neoliberale Führerschaft der EU
(Griechenland) noch durch den defätistischen Rückzug in die reaktionäre
Nationalstaatlichkeit (Brexit) zu erreichen. Die Linken in Europa stehen vor
großen Herausforderungen.
Catherine Samary
„
Seit dem griechischen Trauma – das
neokoloniale Diktat der Euro-Gruppe sowie Tsipras’
Unterwerfung trotz des massenhaften „OXI“ – hat die
europäische radikale Linke mehrere „Pläne B“ ohne einen
strategischen oder taktischen Konsens debattiert. Das
Referendum in Großbritannien illustriert dies auf bittere
Weise, ohne dass die antirassistische und Anti-EU-Linke
in der Lage war, eine glaubwürdige Alternative zu den
herrschenden nationalen, europäischen und internationalen Institutionen und ihrer Politik auszudrücken. Mit einer
geringeren Medienpräsenz als der Brexit illustriert das
Referendum vom 6. April 2016 in den Niederlanden mit
der Ablehnung des Assoziierungsabkommens zwischen der
Ukraine und der EU auf beschämende Weise dieselbe Falle
für die internationalistische Linke.
Ist es nicht Zeit für ein „Europa, auf!“, vielfältig, aber
gegen die herrschende Politik und die herrschenden Institutionen, das einen alternativen europäischen politischen
Raum innerhalb der EU/außerhalb der EU/gegen die
EU aufbaut? Die alternative Linke in den dominierenden
Ländern der EU – besonders in Frankreich und Deutschland – trägt eine große Verantwortung für die Möglichkeit
16 Inprekorr 6/2016
der Blockade und Herausforderung der schädlichen Kräfte
der EU in einer Optik, die nicht nur eine „Abwendung“
(von der EU), sondern auch „konstituierend“ für ein anderes europäisches Projekt ist, das organisch verbunden ist,
von unten, mit den Mobilisierungen der am meisten ihrer
Rechte Beraubten und in Europas Osten, Süden und Mitte
an den Rand Gedrängten. Die Infragestellung von Verträgen und Politik auf europäischer Ebene ist eine strategische
Frage, die sich auf die geopolitischen, ökologischen und
soziopolitischen Kämpfe auf nationaler und internationaler
Ebene auswirkt.
1. Die Geschichte des griechischen „OXI“ ist weder
geschrieben noch beendet
Das „OXI“ der griechischen Bevölkerung war ein Mandat
zur Opposition gegen den mit der Eurogruppe ausgehandelten neuen Austeritätsplan. Es drückte nicht die Entscheidung für einen Austritt aus dem Euro aus und schon gar
nicht für einen Austritt aus der EU. Aber es ist nicht wahr,
dass die Kapitulation der Syriza-Führung beweist, dass die
einzige Alternative zur Unterwerfung ein Austritt aus der
Europäischen Währungsunion (EWU) oder gar der EU
E U R O PA
gewesen ist. Die Ablehnung eines solchen Austritts war
weder auf die Unterstützung für die Logik der EWU und
der EU zu reduzieren, noch auf Illusionen in eine „gute
EU“, die demokratisch reformiert werden könnte, ohne
Krise und ohne Infragestellung dieser Verträge. Mehrere
Vorschläge, die vor und nach dem „OXI“ gemacht wurden,
enthielten Opposition und Ungehorsam gegenüber der
herrschenden Politik sowie Akte des einseitigen Bruchs mit
der Troika, ohne einen Austritt aus dem Euro als Vorbedingung oder als Hauptachse der Mobilisierung: die Suspendierung der Schuldenzahlungen und die Unterstützung eines
Bürgeraudits, das die Ursachen der Verschuldung analysiert,
mit einer Weigerung, die untragbaren und illegitimen – tatsächlich illegalen – Schulden zu bezahlen; die Verstaatlichung der Banken und die Kontrolle der Kapitalbewegungen; die Schaffung einer „Steuerwährung“, die es erlaubt,
insbesondere den öffentlichen Dienst und die Unterstützung
für die Grundnahrungsmittelproduktion zu finanzieren,
usw.
Die Furcht vor einer absoluten Peripherisierung infolge
der Nichtmitgliedschaft in der Eurozone ist kein Trugbild
oder eine irrationale Furcht, die durch eine „gute Pädagogik“ überwunden werden kann. Sie kann gegen die laufenden Verträge gewendet werden.
Das „OXI“ drückte auf seine Weise diese Hoffnung aus,
ohne zu wissen, wie sie zu verwirklichen ist. Es stand nicht
nur in einem radikalen Gegensatz zu den die EU beherrschenden Kräften, sondern auch zur griechischen Oligarchie, den Mächten der Repression, der faschistischen
extremen Rechten, die auch ein großes Gewicht im
griechischen Staatsapparat darstellt. Der strategische Einsatz
war zunächst eine Klassenfrage, national wie europäisch,
mit oder ohne Euro. Wenn wir die Lehren aus der Fragilität
des Kräfteverhältnisses im Sommer 2015 ziehen, so sind
diese sowohl auf europäischer (in der Verantwortung aller
Bestandteile der Antiausteritäts- und antirassistischen
Linken) als auch auf nationaler Ebene angesiedelt. Auf all
diesen Ebenen hingen die möglichen Szenarien ab von der
Kombination politisch-ideologischer Kämpfe (gegen alle
Dominanzverhältnisse in der EU wie auch in Griechenland)
mit der Ausdehnung der Selbstorganisation der Massen auf
der Grundlage von Solidarität, die die internationalen
Warenbeziehungen und die Abhängigkeit vom Euro
minimiert: Die Erfahrung der selbstverwalteten Gesundheitszentren in Griechenland – mit ihrer Unterstützung in
Frankreich – legten eine Logik nahe, die eine Syriza-Regierung hätte unterstützen können. Öffentliche Fonds und
eine Steuerwährung könnten die Beschäftigung und den
öffentlichen Dienst wiederbeleben und die zum Überleben
wichtige Landwirtschaft unterstützen.
In Wirklichkeit ist die positive Hauptlehre aus der griechischen Erfahrung, dass das „OXI“ für die Eurogruppe
„untragbar“ war, weil es gefährlich für die EU war – die
also … zerbrechlich ist. Yanis Varoufakis hat betont, dass
Frankreich mit seinen gesetzlichen Schutzbestimmungen
die Zielscheibe war. Und das ist wahr. Das „Nuit Debout“
gegen das Beschäftigungsgesetz hat gezeigt, dass es dort noch
immer Widerstand gibt, und die Zukunft ist ungewiss.
Aber vor allem kann nie gesagt werden, wie sehr ein Sieg
des griechischen „OXI“ in Deutschland selbst gefährlich
wäre, wie in der gesamten EU, wenn es zu den Bevölkerungen und nicht zur Führung der EU (Hollande und Merkel)
spräche.
Die Erfahrung von Syriza bleibt die der ersten (und nicht
der letzten) Schlacht, die sowohl national als auch europäisch
ist, in der EU/gegen die EU und gegen ihre Rolle im globalisierten sozialen Krieg. Sich den Führern der EU zu unterwerfen und ihrem Wunsch, mehr denn je die Opposition
gegen ihre Projekte zu blockieren, ist so selbstmörderisch wie
der Verzicht auf den Kampf in der EU/gegen die EU nach
der ersten verlorenen Schlacht. Die Geschichte des „OXI“ ist
noch nicht vorbei, weder in Griechenland noch in Europa.
2. Die europäischen strategischen Fragen angehen
Der Euroskeptizismus kann nur provisorisch (konjunkturell)
und an die reale Schwierigkeit der europäischen Kämpfe und
ein ungünstiges Kräfteverhältnis gebunden sein: Es gibt große
Unterschiede in der Fähigkeit zur Initiative von „jenen an der
Spitze“ und „jenen unten“ und der europäischen Gewerkschafts- und soziopolitischen Bewegungen. Der Pessimismus
und die von ihm angebotene Entscheidung zwischen Austritt
oder Unterwerfung kann offensichtlich gestärkt werden
durch die doppelte Feststellung der realen Unterwerfungen
unter die Eurogruppe wie in Griechenland und die „ordoliberalen“ Orientierungen der EU-Führung, die bestrebt ist, in
die Verfassungen ihre eigenen Entscheidungen festzuschreiben, während sie jede Opposition knebelt.
Doch derselbe soziale Widerstand gegen dieselbe Politik
existiert de facto in der Atomisierung und der Ungleichheit
der EU-Staaten; und die Schwierigkeit, eine europäische Bewegung aufzubauen, macht ihre dringende Notwendigkeit
nicht ungültig. Wir sollten weder nationale Kämpfe ablehnen, während wir auf einen unmöglichen Konsens warten,
noch die Suche nach kollektiven Szenarien als „Unterwerfung unter die EU“ abwerten, um auf das Kräfteverhältnis
einzuwirken, den verwundbarsten Ländern zu helfen und
Inprekorr 6/2016 17
E U R O PA
die politisch wie sozial untragbare Politik zu delegitimieren,
die von der Eurogruppe und der EZB aufgezwungen wird.
Die alternative Linke in den Ländern des „Zentrums“, in
Frankreich, Deutschland – oder in Großbritannien –, trägt
auf dieser Ebene eine besondere Verantwortung.
Aber es ist dann nötig, über Theoretisierungen hinauszugehen, die das griechische Beispiel für ihre eigene
Ablehnung einer europäischen Strategie heranziehen. Es
handelt sich einerseits um das Argument, das das Fehlen
eines „europäischen Volkes“ betrifft. Wir können dies gegen
jede Idee eines etatistischen und einheitlichen europäischen
Föderalismus zugeben, der bekämpft werden kann und
muss, wie auch gegen die Vorstellung, dass jeder supranationale Föderalismus notwendigerweise progressiver sei als ein
Nationalstaat, ohne irgendeine konkrete Analyse des einen
wie des anderen. Aber solche abstrakten föderalistischen
Sichtweisen können sehr wohl in der Optik eines „anderen Europa“ bekämpft werden, in welchem verschiedene
institutionelle Varianten vollständig die freie Bestimmung
und unterschiedliche Entwicklung von Völkern anerkennen
können, die selbst nicht im Widerspruch steht mit dem Ausdruck von subjektiven Gefühlen vielfacher Zugehörigkeit,
einschließlich einer „europäischen“.
Das Fehlen eines europäischen Volkes bedeutet nicht,
dass es für die internationalistische Linke keine europäische
Strategie geben kann und Europa „in Klammern“ gesetzt
werden sollte. Dies ist jedoch die Auffassung, die besonders von Stathis Kouvelakis, Cédric Durand und Razmig
Keucheyan zur Verteidigung eines neuen Typs von Internationalismus ausgedrückt worden ist, der über die europäische
Frage hinausweisen würde, indem er von der Eroberung
der Nationalstaaten ausgeht. Im Wesentlichen ist ihr Ausgangspunkt die Denunziation (offensichtlich geteilt von der
gesamten radikalen Linken, ungeachtet ihrer Position zu
Europa) des Internationalismus der multinationalen Firmen und Märkte – oder derjenigen, die sich ihren Gesetzen
unterwerfen, verkörpert besonders durch eine EU, die die
EU dieser Oligarchien ist. Auf dieser Ebene gibt es keine
Meinungsverschiedenheit. Die Debatte beginnt danach.
Sie wird konkretisiert (über die oben aufgeworfene Frage
des „europäischen Volkes“ hinaus) mit zwei unbewiesenen
Behauptungen: erstens die Idee, dass jede Ablehnung des
Austritts aus der EU eine Unterwerfung unter diese sei, die
einen „internationalistischen“ Diskurs verwendet, um durch
den Anschluss an einen „Internationalismus des Kapitals“
einen Verrat am „realen Internationalismus“ zu verbergen,
der in den nationalen Kämpfen verankert ist. Diese erste Behauptung wird in der Praxis „illustriert“ durch die Abkehr
18 Inprekorr 6/2016
der Tsipras-Führung vom griechischen „OXI“, als sie zustimmte, das mit der EU-Führung ausgehandelte „schlechte
Abkommen“ selbst umzusetzen. Es ist richtig, dass dies eine
Entscheidung von Tsipras war und nicht bloß ein „Coup“
der EU. Und die Entscheidung für dieses angebliche „kleinere Übel“ ist immer noch ein ernsthaftes Trauma in Griechenland und in Europa. Das Risiko der „Pasokisierung“
linker Formationen besteht weiterhin überall in der EU und
in der Welt im Kontext ungünstiger Kräfteverhältnisse.
Aber auch bei der Annahme, dass der Austritt aus der
Eurozone damals ungünstig gewesen wäre, war die Entscheidung nicht unvermeidlich, in eine Regierung zu gehen
oder dort zu bleiben, um eine Politik zu verfolgen, die zuvor
abgelehnt worden war. Es war auch nicht unvermeidlich,
dass die radikale Linke nicht dafür gekämpft hat, dass der
Audit über die griechischen Schulden zu einer zentralen
Frage – in Griechenland und in der EU – gegen die herrschende Politik und ihre Lügen und die Annullierung von
Grundrechten wird. Keine der realen „Möglichkeiten“,
die zwischen den Extremen Unterwerfung und Austritt
liegen, sind umgesetzt worden. All diese Optionen werden
notwendigerweise durch einen Standpunkt verborgen, der
bestrebt ist, aus der Debatte jede europäische Strategie und
jede Möglichkeit des Widerstands in der EU/gegen die EU
auszuschließen. Diese Ablehnungen werden durch eine weitere „theoretische“ Tendenz „gefestigt“, die leugnet, dass die
EU ein „Schlachtfeld“ sein kann, indem sie sie als „Gefängnis“ charakterisiert – aus dem man um jeden Preis physisch
entfliehen muss.
Doch das griechische Beispiel kann das Gegenteil
illustrieren: Nicht nur war die „europäische Konstruktion“
durchlässig für soziale Kämpfe, wir können auch den Beweis
für eine spezifische soziale und politische Verwundbarkeit
der EU in der Heftigkeit sehen, die sich gegen das tatsächlich
recht moderate Programm von Syriza richtete.
Im weiteren Sinne und bei weitem nicht reduzierbar
auf die EU und den Euro als wichtigstes Werkzeug ist der
soziale Krieg, der effektiv von der EU geführt wird, seit den
1980er Jahren mit Margaret Thatchers „TINA“-Losung auf
der Tagesordnung, und im Zentrum und in den Peripherien durch alle Freihandelsabkommen mit oder ohne Euro
geführt worden ist. Dies gilt umso mehr seit der Krise dieser
Politik 2007/2008 im Kontext der „neoliberalen Nacht“,
wie Dardot und Laval betonen.
Aber die ist keine Logik ohne Widersprüche und Widerstand. Die Situation der Krise und Instabilität wird begleitet
von Polarisierungen, auch in der EU. Die Instabilität und
Schwierigkeit des „Regierens“ der EU zeugt davon. Aber
E U R O PA
bei dem Fehlen einer europäischen progressiven und glaubwürdigen Alternative ist es der fremdenfeindliche Nationalismus, der einen reaktionären Zerfall begünstigt. Nicht auf
eine europäische Strategie hinzuarbeiten als eine notwendige Stütze für sowohl nationale wie internationalistische
Kämpfe ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.
Der Brexit ist dafür ein deutliches Beispiel.
3. Der Brexit –“Absetzung“ (von der EU) ohne
europäisch progressive Alternative
Gewiss ist keine „Wahlentscheidung“ „rein“ oder unzweideutig. Diese war notwendigerweise gemischt: Der Brexit
der Entscheidung für Putins Russland gegen die EU (oder
umgekehrt) ablehnt? Wie antworten auf die Hoffnungen der
ukrainischen Bevölkerung – besonders ihrer Jugend – auf
eine Annäherung an die EU? Wie auch immer abgestimmt
wird, es gibt keine progressive Option in dem falschen Dilemma dieses Referendums, das Alona Ljaschewa gut analysiert hat: Die wirklichen Lösungen zu Fragen der geografischen Spaltung ergeben sich, wenn statt der Alternative „EU
oder Russland?“ gefragt wird: „Die EU, die ukrainischen
und russischen Eliten oder die Bevölkerungen Europas, der
Ukraine und Russlands?“ Dies geht jedoch nur, wenn Netzwerke der Solidarität zwischen den Unterdrückten geschaf-
Das Fehlen eines europäischen Volkes bedeutet nicht,
dass es keine europäische Strategie geben kann.“
dominierte in England und Wales, aber Schottland und
Nordirland stimmten für das „Remain“, den Verbleib in der
EU; der Brexit erhielt eine Mehrheit unter den älteren
Menschen, aber nicht unter den jungen Leuten (bei denen
auch die Wahlenthaltung größer war als bei den Älteren);
der Brexit hatte massiven Zuspruch bei den Arbeitenden
„englischer Abkunft“, aber wurde noch massiver abgelehnt
von denen, die als „Invasoren“ oder „rassisch andersartig“
abgestempelt werden. Keine soziologische, „nationale“ oder
politische Übersimplifizierung kann daraus ein „Plus“ für
progressive Kämpfe herleiten. Im besten Fall war er ein
„Tritt in den Hintern“ für die EU und eine „Ohrfeige für
das britische Establishment“, wie es Tariq Ali formuliert hat.
Zweifellos war er auch eine Ohrfeige für die Politik der
EU-Erweiterung und ihre Prätentionen, aber er war keine
internationalistische, auf Solidarität basierende und progressive Geste: Auf dieser Ebene steht er in Einklang mit
der Abstimmung in den Niederlanden beim am 6. April
2016 abgehaltenen Referendum (bei einer Beteiligung von
30 %), bei dem die von der EU vorgeschlagene Assoziierung
mit der Ukraine von mehr als 60 % der Abstimmenden
abgelehnt wurde. Aber in welchem Sinne? Worum ging es
dabei? Es ging darum, dass die EU ihre Freihandelsverträge
(ohne die Perspektive eines Beitritts) ihren Nachbarn als
spezifische „Partnerschaften“ präsentiert, in dem Bestreben, einige in Osteuropa zwischen Russland und der EU
liegende Länder zu zwingen, eine Orientierung auf letztere
„zu wählen“. Wie sollte man abstimmen, wenn man sowohl
der EU und diesen verheerenden Freihandelsabkommen
gegenüber radikal kritisch eingestellt ist, als auch jede Logik
fen werden, die in diesen Gebieten leben.
Ebenso wie die Herstellung europäischer Verbindungen
„von unten“ mit der griechischen Bevölkerung zur Verteidigung ihres „OXI“ wesentlich war und bleibt, können wir
hoffen, dass in der Ukraine gegen die von der EU vorgeschlagenen „Partnerschaften“ Koalitionen von Verbänden
der Zivilgesellschaft entstehen, die wie in Tunesien oder in
einigen schwarzafrikanischen Ländern die „Partnerschaftsabkommen“ ablehnen, mit denen die EU diesen Ländern
angeblich „helfen“ will, so wie sie behauptet, der Ukraine
vor allem gegenüber Russland zu helfen. In all diesen Fällen
entgehen diese verschiedenen Formen von Freihandelsabkommen der Kontrolle der Gesellschaft und führen zum
Abbau von Schutzbestimmungen und sozialen Rechten.
Aber von der Ukraine aus gesehen können sie als eine mögliche Etappe zu einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft erscheinen, die von einem Teil der Bevölkerung als ein Mittel
wahrgenommen wird, der absoluten Peripherisierung und
der Herrschaft der Oligarchen zu entgehen. Dieser Standpunkt sollte verstanden werden. Er ist auch in den internen
(Semi-)Peripherien der EU vorhanden.
Die Demystifizierung von Illusionen kann nicht mit
einer Logik des „Vetos“ seitens des Europas der Reichen,
gepaart mit rassistischen Zurückweisungen, erfolgen. Eine
euphorische Betrachtung dieser „Ohrfeigen“ der EU läuft
Gefahr, auch gegenüber der Tatsache die Augen zu verschließen, dass sie das Risiko der Konsolidierung eines
harten Kerns der EU oder der Eurogruppe nicht verringern,
die de facto ihre Normen verschiedenen „Kreisen“ von Mitgliedern und Nichtmitgliedern der EU aufzwingen würden.
Inprekorr 6/2016 19
E U R O PA
Der Brexit ist weit davon entfernt, diese Bedrohung abzuschwächen, auch wenn wir noch nicht alle Auswirkungen
ermessen können – Großbritannien ist eine große Finanzmacht, die kein Gründungsmitglied der EWG war, nicht
Teil des Euro ist und in der Lage ist – gestern wie morgen,
nach dem Brexit –, viele Arrangements mit den Organen
der EU zu treffen. Seine Regierungen sind, innerhalb der
EU, ein wesentliches Hindernis zu jedweder Politik gewesen, die darauf abzielte, das soziale und Steuerdumping zu
beschränken. Weit davon entfernt, sich gegen die vom Euro
erzwungenen europäischen Austeritätspläne zu wenden, ist
die britische herrschende Klasse vielmehr jahrzehntelang,
unter Margaret Thatcher oder Tony Blair, beispielhaft für sie
gewesen – auch ohne den Euro.
Die von extrem rechten Kräften dominierte britische
(faktisch englische) Bekräftigung der „Souveränität“ gegenüber der EU zielt nicht auf die Wirtschaftspolitik ab (die
auf dramatische Weise entsprechend der TINA-Ideologie
fatalistisch verinnerlicht wird), sondern auf den von der EU
erzwungenen „freien Verkehr von Arbeitskräften“. Von
daher die ekelerregende Kampagne gegen unterdrückte
Bevölkerungen, entsprechend danach, ob sie als „einheimisch“ betrachtet oder als „Invasoren“ stigmatisiert werden,
die Arbeitsplätze und Einkommen annehmen, die besonders
prekär und elend sind. Der Brexit wird der Zerstörung sozialer Rechte sowie den Jobs ohne sozialen Schutz kein Ende
bereiten, welche sich unter Verwendung des Drucks der aus
Osteuropa kommenden Armut verbreitet haben; die wird
weitergehen gemäß einer Logik, die aus jedem Holz Feuer
macht, innerhalb wie außerhalb der EU.
Das britische Referendum ermöglichte keine Opposition
gegen diese Logik. Bei Abwesenheit einer konkreten und
progressiven europäischen Alternative haben die britischen
subalternen Bevölkerungen für die eine oder andere mögliche Stimmabgabe entschieden, indem sie verschiedene
Herrschaftsverhältnisse ohne eine glaubwürdige progressive
Orientierung abgelehnt haben: Die Bestandteile der internationalistischen radikalen Linken, die den Brexit unterstützten – also einen linken Exit/Lexit –, betonten die Verantwortung der EU und nicht die der britischen herrschenden
Klasse (innerhalb und außerhalb der EU) für den jahrzehntelang erlittenen sozialen Schaden, und die Logik der
Abstimmung führte sie dazu, alle Verfechter des Remain zu
„Verteidigern“ der EU zu erklären. In symmetrischer Weise
verwischte ein Teil der Linken, die für das Remain kämpften, die Kritik an der EU, indem er für das Remain auf der
Grundlage der „in Europa verteidigten Rechte“ eintrat –
insbesondere des freien Verkehrs von Arbeitskräften – und
20 Inprekorr 6/2016
jede Stimme für den Brexit als rassistische Stimme wertete.
Diese „Lagerlogik“ – bei der alles, was „Argumente“ für
eine alternative Stimmabgabe liefern könnte, ausgeblendet
wird – dominierte dieses verminte Referendum, indem
es Mauern errichtete zwischen den internationalistischen
Strömungen des Lexit und jenen innerhalb der Befürworter
des Remain, die ihre Kampagne nicht zur Unterstützung
der EU führten, sondern für deren Bekämpfung mit der
Perspektive des „Another Europe Is Possible“ (AEIP – Ein
anderes Europa ist möglich).
In einem solchen Kontext konnten die gemeinsamen
Punkte (Antirassismus und Ablehnung des Sozialdumpings) der beiden Seiten nicht zusammengebracht werden;
es war nicht möglich in den verschiedenen Strömungen
der alternativen Linken gemeinsam die herrschende Politik
sowohl Großbritanniens als auch der EU und die reaktionären politischen Kräfte auf beiden Seiten zu bekämpfen;
dieser Kontext erlaubte keine Klärung der semantischen
Unschärfen oder der realen zu debattierenden Divergenzen,
die hinter der Verschiedenheit der politischen Sensibilitäten
standen und sich sowohl innerhalb des Lexit als auch in der
radikalen Linken des Remain manifestierten.
Solche Sackgassen zu verlassen ist dringend erforderlich.
Dies bedeutet von Anfang an die Diskurse und Analyse von
„Europa“ zu klären – das, was wir „verlassen“ wollen (von
links), und das, was wir aufbauen wollen (von links).
4. Die EWG/EU ist nicht „Europa“: die Aneignung
von Worten – eine wesentliche demokratische,
ideologische und strategische Frage
Die semantische Schlacht ist Teil der demokratischen und
Klassenkämpfe. Wir müssen den Herrschenden das Privileg
der „Worte“ und Interpretationen entreißen, die sie konstruiert haben, um ihre spezifischen Interessen zu verteidigen,
während sie sie als vorgeblich europäische „Werte“ legitimieren, die notwendigerweise progressiv, sogar universell
seien. Die EWG, zur EU geworden, explizit mit ihrem
Namen zu bezeichnen bedeutet, sie als eine soziopolitische,
institutionelle „historische Konstruktion“ zu behandeln, die
überwunden werden kann, und es damit abzulehnen, die
anderen geopolitischen Realitäten zu verbergen, die den
Kontinent geformt und gespalten haben. Es bedeutet die Genese und den Kontext eines sich entwickelnden Projekts zu
betonen, seine Betreiber zu bezeichnen, die Krisen zu
analysieren, die zu den unvorhergesehenen institutionellen
Veränderungen geführt haben, und die Widersprüche
offenzulegen. Aber auch mit den betroffenen Bevölkerungen die Illusionen und Hoffnungen zu analysieren, die mit
E U R O PA
diesen Projekten verbunden und hier und dort oder in
verschiedenen vergangenen Phasen nicht dieselben sind. Es
bedeutet, die Unschärfe der politischen Debatten zu
betonen, die der Bezeichnung „Europa“ zugrunde liegen,
apologetisch oder, schlimmer, arrogant und dominierend –
wie die USA, wenn sie sich „Amerika“ nennen.
Die Ablehnung der naiven und apologetischen Positionen zur EU bedeutet nicht, dass wir stattdessen Analysen
akzeptieren, die die konfliktträchtige Diversität der „bürgerlichen“ Projekte und ihrer Widersprüche verdunkeln.
Errichtet während des Kalten Krieges ist die EWG das
Objekt unterschiedlicher Standpunkte seitens der führenden
Kräfte der betreffenden Länder gewesen, und im Konflikt
mit anderen, ebenso kapitalistischen Projekten (wie der von
den USA unterstützten Europäischen Freihandelsassoziation
EFTA). Ein Verständnis dieser „Konstruktion“, mit ihren
Kontinuitäten und Diskontinuitäten, ergibt sich nicht einfach aus einer Lektüre der Verträge. Der Freihandel wurde
in den Römischen Verträgen als ein Ziel bezeichnet (und die
USA, die dominierende industrielle Macht, drängten in diese Richtung). Doch während des Nachkriegsbooms wurde
die EWG von einer Politik dominiert, die der Staatsintervention und der Bankenfinanzierung eine vorherrschende
Rolle zuwies (besonders in Frankreich und Westdeutschland). Aber sie stabilisierte sich nie als ein einmütiges Projekt
zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien: Es konsolidierte sich kein Konsens bezüglich der Rolle der nationalen
Regierungen, Märkte und supranationalen Institutionen
oder bezüglich der Beziehungen zu den USA, zur UdSSR
und später zum postsowjetischen Russland. Sie ist nie (auch
nicht, als sie die EU wurde) ein bloßes Freihandelsabkommen gewesen wie das NAFTA (das weder ein „Budget“
noch ein Parlament, noch politische Prätentionen hat). Der
freie Kapitalverkehr wurde durch Austauschkontrollen verboten – bis zur Einheitsakte von 1986, die diese Kontrollen
abbaute (nach der neoliberalen Wende der Sozialistischen
Partei in Frankreich). Der freie Kapitalverkehr in der EWG,
in Kraft seit 1990, war eine wesentliche institutionelle und
ökonomische Wende, die das Europäische Währungssystem
schwächte, das auf dem Ecu und den nationalen Währungen
basierte, und den „großen Markt“ von Kapital, Waren und
Arbeitskräften errichtete, der die EU kennzeichnet. Letztere
war damit vollständig Teil der neoliberalen Globalisierung.
Nachdem die meisten EFTA-Länder (mit unterschiedlichen Profilen einige der reichsten Länder Europas) der EWG
beitraten und diese sich den ärmeren südlichen Ländern
öffnete, die aus den Diktaturen in der Endphase des Kalten
Krieges hervorgingen, wurde die EWG das Schwerkraft-
zentrum des „europäischen Aufbaus“ in der kapitalistischen
und imperialistischen Welt, ohne ein bloßes Instrument der
USA in Europa zu sein. Auch beinhaltete sie keine Übereinstimmung der Mitgliedstaaten bezüglich der NATO
(insbesondere innerhalb eines der Gründungsmitglieder).
Um für eine wachsende Anzahl von mit einer starken
historischen Realität versehenen Ländern für ihr institutionelles System attraktiv zu sein, sah sie sich gezwungen, „föderale“ Dimensionen und eine sehr starke zwischenstaatliche Realität zu kombinieren. Auf dieselbe Weise bildete die
Einführung von Haushaltsmitteln zur Umverteilung und
eines Parlaments mit beschränkten Vollmachten (aber gewählt durch allgemeines Wahlrecht) seit 1979 einen Teil der
Argumente, die den Bevölkerungen vorgelegt wurden, die
per Referenden über den Beitritt ihrer Länder zu entscheiden hatten. Es war nicht ein „deutsches Europa“. Es war der
französisch-deutsche Kern, der eine politische Schlüsselrolle
in seinen verschiedenen Phasen, von der Nachkriegszeit bis
zur Zeit nach der deutschen Vereinigung, mittels der Einheitsakte und der Maastricht-Verhandlungen spielte.
Nichts von alldem macht dies zu einem egalitären
demokratischen System, das nahe bei den Menschen ist: Es
handelt stets noch als ein Projekt der herrschenden Kräfte
und Klassen. Aber im Kontext des Kalten Krieges stellten
die anerkannten Rechte und Prinzipien – die als „Nebelbomben“ bezeichnet werden könnten, um die Erweiterungen zu legitimieren und zu ermöglichen – nichtsdestoweniger auch eine „politische“ Dimension und die
Quelle mancher Schwierigkeiten dar. Für die Finanzlobbies
und alle Kräfte des Neoliberalismus wurden diese Züge
zunehmend umgangen und/oder in Frage gestellt, sodass
das System zunehmend auf „ordoliberaler“ Basis organisiert
wird, die den Rahmen für eine Freihandelszone bildet, die
die Regierungen der Union unter allen Labeln unterstützt
haben.
Die Kluft zwischen den Prinzipien oder Diskursen
(egalitär und demokratisch) und der Realität bildet einen
Teil dessen, was allen parlamentarischen „repräsentativen“ Systemen gemeinsam ist, die auf der kapitalistischen
Marktwirtschaft beruhen – was ihre gegenwärtige Legitimitätskrise erklärt, in einem Kontext, in dem ihre antisoziale und somit antidemokratische Tendenz überall als
Tatsache anerkannt wird. Dies ist damit auch nicht nur eine
EU-Realität. Und es ist auch nicht offensichtlich, dass diese
Tendenz im französischen Nationalstaat weniger stark ist
als in den europäischen Institutionen oder dass die französische Regierung nur unter dem Druck der europäischen
Vorschriften handelt. Jeder progressive Kampf muss an
Inprekorr 6/2016 21
E U R O PA
zwei Fronten geführt werden, an der nationalen und an der
europäischen Front.
5. Die vergangenen Krisen haben eine instabile
Konstruktion hinterlassen, die unfähig ist,
auf progressive europäische Bestrebungen zu
antworten
Es waren „große Krisen“ und nicht ein vorweg etabliertes
unzweideutiges Projekt, die die bedeutendsten Veränderungen des europäischen Auf baus angeschoben haben – offensichtlich alle beschlossen von den dominierenden
sozialen und politischen Kräften und „von oben“, aber ohne
eine vereinheitlichte „bürgerliche“ Vision.
Es waren somit internationale Währungskrisen, die
1979 zu der Errichtung des Europäischen Währungssystems
(EWS) um den Ecu, dann zur Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) um den Euro nach den MaastrichtAbkommen 1992 führten. Auf einer anderen Ebene war es
die Jugoslawien-Krise der 90er Jahre parallel zum Auseinanderfallen der UdSSR, die die Errichtung eines euroatlantischen „Managements“ des Balkans begünstigte, was
die Bewahrung und Neuformierung der NATO in Europa
nach der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Ende des
Kalten Krieges erlaubte.
Die „Systemkrise“ der Transformation der osteuropäischen Systeme entfaltete sich unter dem Druck der Mitgliedsstandards und -kriterien, die von der EU den Ländern
auferlegt wurden, die sich in ihrem Orbit befanden. Die soziale Verheerung, die für die große Mehrheit der Menschen
in diesen Ländern katastrophal war, wurde begleitet von
einer finanziellen, monetären und Handelsintegration in die
EU, die vollständig spezifisch war – mehrere Länder waren
dabei obendrein Nachschubbasen für deutsche Industrieund Exportstrategien. Beim Fehlen eines Kapitalmarkts und
ohne eine vorherige kapitalistische Akkumulation wurde
die Privatisierung der Banken, im Kontext der globalen
Finanzliberalisierung, einer radikalen „peripherischen“
Integration in die westeuropäischen Großbanken unterworfen – angeblich ein stabilisierender Einfluss bis zur Krise von
2008/2009, die Osteuropa ernster traf als das alte Europa.
Die Bevölkerungen Osteuropas wurden ausgebeutet,
um eine radikale Politik des sozialen und Steuerdumpings
in kontinentalem Maßstab zu etablieren: Die „Konvergenz“
zwischen dem alten und dem neuen Europa fand auf den
Grundlagen statt, bei denen die einzigen Gewinner die
Minderheiten an der Spitze all dieser Länder, ohne demokratische Legitimierung, waren, die die EU-Mitgliedschaft
22 Inprekorr 6/2016
als ein Ersatz„programm“ anstrebten, weil die EU doch eine
gewisse, wenngleich illusorische, Anziehungskraft hatte.
Die Union wurde jedenfalls auf der Grundlage eines
Diskurses erweitert, der die Stabilisierung und Befriedung
des Kontinents behauptete. Aber die neoliberale Wende war
bei jedem sozialen und politischen Zusammenhalt organisch
widersprüchlich, auf interner wie auf internationaler Ebene.
Die EU wurde (ohne Abstimmung in ihren Parlamenten) in
den ersten NATO-Krieg auf dem Kontinent (1999 im Kosovo) hineingezogen und war unfähig, positiv auf die Wurzeln
der Kriege, an denen sie unter verschiedenen Formen beteiligt
war, einzuwirken. Sie war gleichermaßen unfähig, zur sozialen Wohlfahrt der großen Masse der Bevölkerung beizutragen, als sie für die Zerstörung der alten sozialen Netze und die
wachsende Ungleichheit mitverantwortlich war. Und sie war
auch unfähig, den Flüchtlingen und der Arbeitsmigration ein
Willkommen zu bieten, als der „freie Verkehr von Arbeitskräften“ (im Osten) als eine Antwort auf die große Armut
und (im Westen) als „Raub“ von Jobs und Ressourcen, die
zunehmend prekär geworden sind, erfahren wurde.
Eine soziologische Analyse der Brexit-Stimmen illustriert
diese Realitäten. Die EU propagiert einen „egalitären“ Diskurs, der in der Ideologie und den Mechanismen des „Freihandels“ verankert ist: Unter dem Vorwand der Geschlechtergleichheit oder des Rechts polnischer Lohnabhängiger auf
einen Arbeitsplatz in Großbritannien sind viele Schutzbestimmungen und Rechte abgeschafft worden. Der Wettbewerb erlaubt, jede und jeden auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
zu reduzieren. Gleichzeitig wird die EU von extrem rechten
atheistischen oder religiösen Kräften als „dekadent“ stigmatisiert wegen der Rechte, die sie effektiv anerkennt. Aus der
Perspektive der Länder, in denen sich die herrschenden Kräfte
nicht um soziale Rechte scheren, kann die EU auch als eine
„Beschützerin“ erscheinen. Auf dieselbe Weise wurden die
französischen Behörden von den europäischen Gerichtshöfen
zu Recht wegen ihrer Angriffe auf die bürgerlichen Freiheiten und die skandalösen Verhältnisse in den französischen
Gefängnissen verurteilt.
Kurz, je nach der unmittelbaren Frage oder dem Land, aus
dessen Perspektive die EU betrachtet wird, kann sie als ein
Rahmen für den Kampf gegen den ungezügelten Kapitalismus gesehen werden oder als ein Werkzeug der Zerstörung
prekärer sozialer Netze; sie kann unterstützt werden als Trägerin feministischer, antirassistischer und antihomophober Werte, während zunehmend prekäre Beschäftigung beträchtlich
auf Frauen und ethnischen Minderheiten lastet: Die Gleichheit der Rechte, die die EU verteidigt, ist die des Fuchses und
der Hühner, wenn der Hühnerstall abgerissen wird.
E U R O PA
In anderen Worten, es ist gleichermaßen falsch, eine
apologetische und unehrliche Version der „Werte“ der EU
zu präsentieren oder ihre Widersprüche zu unterschätzen.
Und weit davon entfernt, die „proeuropäischen“ Hoffnungen von Bevölkerungen in Vergangenheit und Gegenwart
abzuwerten und zu verbergen, ist es erforderlich, sie gegen
die Realität der EU zugunsten von progressiven alternativen
Projekten in Stellung zu bringen.
Jacques Nikonoff 2 überschritten. Dabei gibt es hier keine
Zwangsläufigkeit.3 Wir müssen die Diskussion auch darauf
lenken, was der Inhalt einer „Souveränität des einfachen
Volkes“ sein könnte: Die Verteidigung und Errichtung einer
Kontrolle der Entscheidungen durch die verschiedenen
Völker der Union auf demokratischer und egalitärer Basis
kann nicht mit einem etatistischen und rassistischen Souveränismus in Übereinstimmung gebracht werden; Verteidi-
Wie antworten auf die Hoffungen der ukrainischen
Bevölkerung auf die EU?“
Der unpassende Gebrauch des Wortes „Europa“ behindert auch den Kampf gegen das, was die EU wirklich ist,
sowie die Klärung dessen, wofür wir kämpfen.
6. „Europa, auf! (Europe debout!)“ – für ein anderes
Europa
Das Motto „für ein anderes Europa“ kann auf verschiedene
Logiken hinauslaufen, die es abzuklären gilt. Es kann sich
dabei zum einen um kleinere Veränderungen handeln,
ohne dass die wesentlichen antisozialen und antidemokratischen Dimensionen der EU in Frage gestellt werden; zum
anderen um ein Set von nationalistischen und fremdenfeindlichen reaktionären Maßnahmen oder aber drittens
um fortschrittliche Zielsetzungen, die sich im Gegensatz zu
den gegenwärtigen Verträgen und Institutionen der EU
befinden und die gegen die Vermarktung und Privatisierung der Gemeingüter die egalitären Rechte und die
Umwelt verteidigen.
Wir müssen jedes Bündnis auf der oberflächlichen
„Anti-EU“-Ebene mit fremdenfeindlichen und rassistischen
Strömungen ablehnen; es stünde in organischem Widerspruch zu jeder fortschrittlichen Kohärenz in den nationalen
Kämpfen selbst: Wir müssen uns von den Strömungen der
extremen Rechten sowohl hinsichtlich der Bedeutung der
„Nation“ wie vor allem im Hinblick auf die Zielsetzung
eines solidarischen und egalitären „anderen Europas“ abheben. Dabei ist es wichtig, die falschen Alternativen zwischen
nationalen und europäischen Kämpfen zurückzuweisen und
die Verteidigung nationaler Rechte (vor allem in einer freien
Union) vom fremdenfeindlichen Nationalismus zu unterscheiden. Diese Diskussion ist nötig, denn in der Debatte
über einen „Plan B“ sind auch radikale Linien eines „Exit“
um jeden Preis aufgetaucht. Eine rote Linie der Annäherung an den Front National wurde von Jacques Sapir1 oder
gung und Kontrolle könnten auf den verschiedenen Ebene
umgesetzt werden (nicht nur der „nationalen“).
Natürlich müssen wir die dritte Variante eines „anderen
Europas“ gegenüber den Verträgen der EU verteidigen – die
sich von der ersten Variante unterscheidet, ja gegen sie steht,
die ja nur zweitrangige Änderungen vornehmen möchte,
um zu einer „guten EU“ zu gelangen. Doch man kann die
Kräfte, die bewusst an einer Politik des Sozialabbaus arbeiten, nicht mit jenen Strömungen und Menschen in einen
Topf werfen, die die vorherrschende Politik kritisieren und
dabei die Hoffnung haben, dass grundlegende „Reformen“
der EU möglich sind. Man muss also genauer bestimmen,
worüber die Diskussion wirklich geht.
Die Behauptung, die „EU ist unreformierbar“, ist
einerseits richtig und zugleich Quelle von vielen falschen
und schlechten Debatten. Sie ist richtig, als die Missetaten
der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) – also die
Entscheidungen, die bei der Errichtung der EU getroffen
worden sind – keinen Zufall darstellen (und nicht auf einfachen Irrtümern beruhen). Daraus lässt sich aber nicht die
Schlussfolgerung ableiten, es gäbe kein Interesse an Kämpfen für „Reformen“ im Sinne von konkreten Zielen oder
beschränkten Maßnahmen, die im Rahmen der EU selbst
vorgetragen werden und verschiedenen Logiken folgen
können. Menschen und politische Kräfte, Vereinigungen,
Gewerkschaften usw. können sich mit unterschiedlichen
Vorstellungen im Hinblick auf die Möglichkeit, die bestehenden Institutionen oder Systeme zu „reformieren“ (oder
sogar in der Hoffnungen, sie gegen vermeintlich Schlechteres „retten“ zu wollen) in Kämpfen gegen die vorherrschende Politik engagieren. Noch nie wurden Revolutionen mit
der Forderung nach „Revolution“ gemacht, sondern auf der
Grundlage konkreter Forderungen und Kämpfe im „System“ gegen seine Mechanismen und Auswirkungen. Man
Inprekorr 6/2016 23
E U R O PA
weiß niemals im vornherein, durch welches Szenario (und
mit wem) ein Kampf im System sich in einen gegen das System verwandelt (was man bisweilen als „Übergangslogik“
bezeichnet, wodurch die Brücke zwischen Reformen und
Systemveränderung geschaffen wird). Wenn ein legitimer
Kampf durch die herrschenden Institutionen und Kräfte im
Namen dieses „Systems“ blockiert und unterdrückt wird,
dann kann man kapitulieren oder aber die Auseinandersetzung weiter treiben. Nichts ist von vornherein festgelegt.
Diese Aussagen bedeuten natürlich nicht, dass die „antikapitalistischen (oder gegen die EU gerichteten) Analysen und Propaganda nichts nützen. Sie sind sehr wichtig.
Doch sie gehören niemandem auf exklusive Weise, und die
Menschen, die sie entwickeln, müssen ihre Fähigkeit zeigen,
zu überzeugen und/oder sich der demokratischen Diskussion stellen, wobei sie ggf. von anderen lernen können. Es
ist nicht notwendig, eine „klare“ Vorstellung von der EU
und von einem „anderen Europa“ zu haben, um sich in
fortschrittliche und egalitäre Kämpfe einzubringen und
zu sehen, dass sie sich auf allen Ebenen im Konflikt mit der
herrschenden Politik und den Institutionen, auch und gerade
der EU, befinden.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen alternativen
und pluralistischen europäischen Hegemonie-Block aufzubauen, eine Art aufrechtes Europa (Europe Debout), wie es auf
embryonale Weise in den Treffen von „Nuit Debout!“ (auf
der Place de La République in Paris und in anderen Städten,
Anm. d. Übers.) in Frankreich mit zahlreichen Beziehungen
in die Provinz und thematischen Netzwerken aufgetaucht
ist. Konferenzen und das Internet können beim Aufbau
helfen. Ein solcher Raum und die gesellschaftspolitische
Bewegung müssten, wie die Treffen von „Nuit Debout!“,
gleichzeitig für fremdenfeindliche Strömungen oder für die
Verteidiger des „Arbeitsgesetzes“ verschlossen, aber auf der
Grundlage wesentlich egalitärer und demokratischer Prinzipien und Zielsetzungen pluralistisch und für alle Übrigen
zugänglich sein. Dort wurden „Misstrauenserklärungen“
gegen die in der EU auf sozialer Ebene wie bei den Geflüchteten vorherrschende Politik abgegeben. Der offene Charakter der Diskussionen, über „welches andere Europa“ und wie
man dorthin gelangt, muss sich auf das Prinzip stützen, dass
eine neue Union aus einem demokratischen, konstitutiven
Prozess hervorgehen müsste.
Die Krisenszenarios und die kommenden Mobilisierungen, die es ermöglichen werden, zu einem anderen Europa
zu kommen, können nicht vorhergesehen werden. Sie werden mit Krisen in einem oder mehreren Ländern und/oder
der EU verbunden sein. Sie werden umso fortschrittlicher
24 Inprekorr 6/2016
und egalitärer sein, sofern sie von einem „Europe Debout“
von unten vorbereitet werden und das aufnehmen, was
bereits existiert. Die Debatten müssen das falsche Dilemma
überwinden: Nationalismus oder europäischer Föderalismus – zugunsten der Suche nach einem Weg, der sowohl
nationale wie europäische Rechte umfasst, wobei auf allen
Ebenen eine egalitäre und ökologische Politik verteidigt
werden muss; dabei muss man je nach Thema dem demokratischen Prinzip der Subsidiarität folgen.4
Dabei muss man eine strategische Debatte führen: Ist ein
Austritt aus dem Euro die Vorbedingung für fortschrittliche
Kämpfe?
7. Austritt aus dem Euro – was heißt das konkret?
Seit langem wird von vielen WirtschaftswissenschaftlerInnen gesagt, dass die WWU wegen ihrer Heterogenität
keine „optimale Währungszone“ darstellt und eine
Einheitswährung, wenn sie nicht von einem großen
Haushalt ergänzt wird, im Rahmen einer kapitalistischen
Marktwirtschaft die Unterschiede vergrößert. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der radikalen Linken
betreffen nicht diesen Punkt. Und die Idee, dass man ein
anderes System bräuchte (also aus dem bestehenden
„austreten“ müsste), findet weitgehend Zustimmung. Doch
dies sagt nichts über das wie noch das wohin eines Austritts.
Die Meinungsverschiedenheiten betreffen auch nicht
die in sozialer und ökologischer Hinsicht desaströse Bilanz
der EU, noch die Tatsache, dass die Währungspolitik und
die Einheitswährung die Ungleichgewichte zwischen den
Mitgliedsstaaten vergrößert haben, ohne sie vor Spekulation
zu schützen – weil die Märkte sich in einem unsolidarischen
System zwar nicht der Wechselkurse (denn solche gibt es im
Eurosystem nicht mehr), aber der Budget- und Handelsdefizite der schwächsten Länder bemächtigt haben.
Die wirklichen Debatten beziehen sich auf eine Reihe
von Entscheidungen im Hinblick auf mögliche Wege und
Optionen, die man wie folgt zusammenfassen kann:
„ Das erste Diskussionsfeld bezieht sich natürlich auf die
Frage einer Rückkehr zu nationalen Währungen im
Rahmen der WWU. Ist sie eine Vorbedingung, um
wirksame fortschrittliche soziale, demokratische und
ökologische Kämpfe führen zu können? Die Analysen, die
dies bestreiten, tun dies entweder, weil sie die erstrangige
Bedeutung der Währung bestreiten – und damit die Idee,
dass eine Änderung der Währung mobilisieren und
Vorbedingung für Kämpfe sein kann –, oder aber weil
ihnen eine Rückkehr zu nationalen Währungen im
gegenwärtigen europäischen Kontext als problematisch
E U R O PA
erscheint. Man muss also über ein anderes europäisches
Währungssystem nachdenken, das eines „anderen Europas“. Hinzu treten die Diskussionen über die Funktionsweise dieses anderen Systems, teilweise wegen des Scheiterns des vorherigen Systems (EWS), das auf der
gemeinsamen Verrechnungseinheit ECU und den nationalen Währungen beruhte, aber auch wegen der unterschiedlichen Sichtweisen, was die gemeinsamen europäischen
konföderativen oder föderativen Institutionen sein sollten.
„ Das zweite Diskussionsfeld betrifft die Strategie, wie
man von der WWU und EU zum angestrebten Ziel
gelangt. Offensichtlich ist es so, dass, wenn man glaubt,
eine europäische Vergemeinschaftung in Klammern setzen
zu müssen, um den heilsamen Charakter einer Rückkehr
zu nationalen Währungen zu würdigen, ja zu behaupten,
dies sei eine Vorbedingung für jeden fortschrittlichen
Kampf, man eine Parole der Strategie eines Austritts um
jeden Preis und überall aus WWU und EU verkünden
muss – wobei sich dann möglicherweise Divergenzen
hinsichtlich der „Bündnisse“ ergeben.
Wenn man aber glaubt, dass man ein „anderes Europa“
anstreben sollte, das mit einem ad-hoc-Währungssystem
ausgestattet wäre, das eine europäische Währung mit einem
Konzept des Einsatzes von nationalen Währungen verbände, dann wäre die Notwendigkeit einer gemeinsamen
Strategie unabdingbar. Natürlich würde die Diskrepanz
zwischen den Kämpfen in den verschiedenen Ländern eher
in Richtung eines einseitigen Austritts aus dem gegenwärtigen System als zu einem Verbleib in der WWU drängen
(diese Frage stellt sich besonders für Griechenland). Aber
im Rahmen einer kollektiven Strategie sind die Optionen
Austritt oder Verbleib ohne Unterwerfung Varianten einer
Logik, die in jedem Fall die nationalen Kämpfe (so weitreichend wie möglich bei der Befriedigung eines gegen die
Austerität gerichteten Programms und der eingeforderten
Rechte) mit dem Ziel, das kollektive Gewicht in die Krise
oder in eine Blockade der EU einzubringen, verbinden
muss. Dies führt uns zur Suche nach gemeinsamen Kämpfen in so vielen Ländern wie möglich, sowie zu bedeutenden Umgruppierungen. Alle Debatten über die Taktik
sind natürlich legitim und müssen in den Bedingungen
der Kämpfe im jeweiligen Land verankert sein, die sich
natürlich von Land zu Land unterscheiden und die von den
Beteiligten im jeweiligen Land mit all den Besonderheiten
artikuliert werden.
Jedenfalls stellt die Isolierung der Währung (des Euro)
vom ihn umgebenden System einen theoretischen und
praktischen Irrtum dar. Nicht weil die Währung „neutral“
wäre – das ist sie ganz und gar nicht. In ihr kondensieren
sich zahlreiche gesellschaftliche und Machtbeziehungen. Doch genau diese muss man herausarbeiten. Und es
ist keineswegs klar, dass im Rahmen der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Instabilität und der Unruhen die wichtigsten und mobilisierenden Themen die der Währung sein
werden. Im Rahmen der gesellschaftlichen, ökologischen
und systemischen Krise und einer sehr starken Ungleichheit
müssen die Reflexionen über andere, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen auch die Debatten erweitern,
die zu sehr auf den Bereich der kapitalistischen Marktwirtschaft beschränkt sind.
Müssten europäische „Strukturfonds“ (der Planung)
für Investitionen nicht am produktiven Abbau von Ungleichheiten arbeiten, wobei beispielsweise gesellschaftliche
Zielsetzungen, neue öffentliche Dienstleistungen und ein
„ökologischer Übergang“ etwa im Bereich der Transporte
angestrebt würden? Müssten ein soziales und egalitäres (also
sozialistisches) Europa oder ein „Europe Debout“ nicht auf
demokratische Weise Regeln erarbeiten, um den Abstand
bei den Einkommen zu begrenzen und die Verteidigung
und Ausweitung der nicht über den Markt laufenden
öffentlichen Dienstleistungen zu organisieren, die auf solidarische Weise in ganz Europa voranzutreiben wären?
Die Debatte über eine Kontrolle der Steuerparadiese
und der freien Bewegung des Kapitals, oder die über die
Vergesellschaftung „systemischer“ Banken, die Entwicklung von vergesellschafteten Bankpolen, der Schutz der
Einlagen der Haushalte und die Rückkehr zu einer öffentlichen Finanzierung der öffentlichen Ausgaben (über
Steuern) – sind sie auf europäischer Ebene nicht prioritär?5
Und ist es nicht dringend geboten, die Reflexionen,
die während der griechischen Krise über die „Eurodrachme“ als „Sauerstoff ballon gegen den Euro“ ohne Verlassen der WWU entstanden sind, allgemein zugänglich zu
machen?Man muss sie weiterführen und damit die Privatisierungen von öffentlichem Eigentum in der EU kritisieren,
indem man auf die „Fiskalgelder“ zurückkommt, die den
Inhalt der öffentlichen Schulden verändern könnten.6
Diese dringenden und ernsthaften Diskussionen (neben
anderen) haben erhebliche Konsequenzen hinsichtlich der
Art und Weise, wie man ein Verlassen des „Euro-Systems“
(und nicht des Euro) sich vorstellen kann – also einen
anderen Gebrauch des Euro, was die Funktionen und das
Statut der EZB in Frage stellt, aber auch die Fiskal- und
Haushaltspolitik in der EU. Es handelt sich dabei nicht um
die gleiche Debatte wie wir sie angesichts der einheitlichen
Akte 1985 über eine gemeinsame oder Einheitswährung
Inprekorr 6/2016 25
E U R O PA
hatten (damals im Rahmen des EWS, das seit 1979 existierte, und das auf nationalen Währungen, der Kontrolle des
Kapitalverkehrs und dem ECU beruhte). Seitdem hat es die
Krise des EWS nach der deutschen Vereinigung und die
Flucht nach vorne in den Euro, die Erweiterung der EU auf
Osteuropa, die Krise von 2007/08, die sich bis 2009 hinzog,
gegeben. Und weitere Krisen zeichnen sich ab, die eine
scheinbar beendete Debatte neuerlich eröffnen könnten.
Die Bankenkrise von 2008/09 hat den Diskurs und das
„Paradigma“ der Finanzinstitutionen hinsichtlich einer
„Tugend“ der Integration der Banken der neuen peripheren Mitgliedsstaaten verändert: Die dortigen Aktiva der
Banken stammen vor allem von westeuropäischen Banken,
was vor der Krise als „Sicherheit“ und Bedingung für eine
nachholende Entwicklung hingestellt wurde. Und dies
zählt (weit mehr als der Euro) hinsichtlich des Kreditangebots und der –nachfrage, was vor 2008 zu einem starken
Wachstum geführt hatte. Seit der Krise spricht man nicht
mehr vom Aufholen: Nun wird die Austeritätspolitik umgesetzt und in aller Eile musste man die „Wiener Initiative“ als
Sicherheitsvorgabe errichten, die Vorgaben für alle europäischen und weltweit agierenden Großbanken macht. Damit
sollte eine desaströse Kapitalflucht der jeweiligen Filialen
aus mehreren Ländern Ost- und Südosteuropas verhindert
werden. Diese „Initiative“ sollte als einmalig gelten, doch
sie musste 2012 angesichts der Instabilität und der fortwirkenden Gefahren wieder aufgegriffen werden und wird bis
heute angewandt.7 In der ganzen Union sind neue Bankund Finanzkrisen möglich, so fragil wie die Banken sind,
wobei überall die Aktiva der Banken und die jeweiligen
staatlichen und europäischen Politiken ineinandergreifen.
Es wäre verrückt, würde die europäische radikale Linke eine Geld- und Bankenpolitik nach der Logik
„jeder für sich“ vertreten, statt nach fortschrittlichen und
solidarischen Mitteln zu suchen, um mögliche Krisen zu
bekämpfen. Dies ist angesichts der falschen Politik und den
„Hilfs“-mechanismen sowie der Kontrolle der Banken in
Vergangenheit und Gegenwart durch IWF und die Institutionen der EU dringend. Denn sie sind Instrumente, die
neue soziale Opfer, verheerende Reformen und eine Politik
von „Strukturanpassungen“ durchsetzen möchten, so wie
dies der IWF überall im Gegenzug für seine „Hilfen“ getan
hat.
Wir können heute wiederholen, was für Griechenland
2015 schon galt: Die Weigerung, der Troika zu gehorchen
und eine illegitime Schuld zu bezahlen, „bedeutet, sich
gegen die Erpressungen durch die Eurogruppe mit Hilfe
von unilateralen Maßnahmen zu schützen, wie dies in
26 Inprekorr 6/2016
Griechenland auch vorgeschlagen, aber nicht in die Tat
umgesetzt wurde (oder zu spät und unter schwierigsten
Bedingungen): Kontrolle der Banken und des Kapitalverkehrs, Vorbereitung einer Parallelwährung, und vor allem
Beendigung der Schuldenrückzahlung. Die Vorschläge für
eine ,Fiskalwährung‘, die die Abhängigkeit vom Euro und
dem Weltmarkt begrenzte, können zu einer alternativen
Konzeption eines europäischen Währungssystems, in dem
die Funktionen des Euro umgestellt würden, führen, sie
können aber auch vorläufige Formen des Widerstandes
sein.“8
Wir möchten in diesem Geist auf die Vorschläge von
Frédéric Lordon von 2013 verweisen, die er im Hinblick
auf „Fiskalwährungen“ in der Art der oben erwähnten
Eurodrachme gemacht hat (ohne dass er diesen Begriff
gebraucht hat).9 Noch weit entfernt von seinen späteren
Polemiken gegen den „guten Euro“, schlug er einen radikal
in seinen Funktionen umgebauten Euro vor, der eine gemeinsame Währung werden sollte – ohne wieder nationale
Währungen einzuführen und unter Beibehaltung der Zentralbank EZB, deren Statut natürlich verändert würde.
Wir machen uns die Mühe, ihn zu zitieren:
„Zwischen der unmöglichen Einheitswährung und den
nationalen Währungen im EWS erneuert die gemeinsame
Währung die Möglichkeit einer Anpassung der Wechselkurse (die durch den Auf bau der Einheitswährung ausgeschlossen wird). Sie vermeidet dadurch die Instabilität eines
Systems getrennter nationaler Währungen. Aber eben nicht
in irgendeiner Konfiguration. Denn die gemeinsame Währung bewirkt all ihre Vorteile in einer Architektur, die eine
europäische Währung einführt (den Euro), aber nationale
Benennungen bestehen lässt – so würde es einen €-FR,
€-Lira, ja wohl sogar eine €-DM usw. geben (…) Der
strategische Punkt ist folgender: 1. Die nationalen Benennungen sind natürlich untereinander konvertibel, aber nur
an den Schaltern der Europäischen Zentralbank (…), die als
eine Art Wechselbüro funktionierte. Folglich ist der direkte
Tausch zwischen Privateigentümern untersagt und innerhalb Europas gibt es keine Geldwechselmärkte; 2. Die fixen
Paritäten der nationalen Benennungen im Verhältnis zum
Euro (somit die Wechselkurse der nationalen Benennungen
untereinander) können angepasst werden, jedoch in politischen Prozessen, die den (destabilisierenden) Einflüssen
der Geldmärkte völlig entzogen sind, denn diese sind ja aus
dem Innern der Zone verbannt.
Diese komplementären Vorgaben führen gewissermaßen zum Besten aus beiden Welten. Die gemeinsame
Währung hat dieselbe Funktion wie die Einheitswäh-
E U R O PA
rung, nämlich das Verhältnis zwischen dem Innen und
dem Außen der Zone abzubilden und dabei die nationalen
Benennungen vor den internationalen (außereuropäischen) Geldmärkten zu schützen. Die Konvertibilität ‚am
Bankschalter‘ (der EZB zu einem festgelegten Kurs) der
nationalen Benennungen geht mit der Beseitigung der
innereuropäischen Geldmärkte einher, woraus sich eine
interne Stabilisierung der Währung ergibt, die der der
Doch die Vorstellungen von Frédéric Lordon würden
besser auf die Ängste um eine instabile Währung (wie sie
gerade auch die Bundesbank äußert) antworten als das
gegenwärtige System, wenn sie auf kooperative und egalitäre Weise umgesetzt würden: Sie ermöglichten auch
einen Schutz des europäischen Währungssystems gegen die
Spekulationen der internationalen Finanzmärkte, der besser
wäre als der des früheren EWS.
Währungspolitik und Einheitswährung haben die
Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten
vergrößert.“
Einheitswährung entspricht. Doch im großen Unterschied
zur Einheitswährung bietet das System der gemeinsamen
Währung mit nationalen Benennungen Möglichkeiten der
Änderung der innereuropäischen Wechselkurse, die durch
die Konstruktion des gegenwärtigen Euro ausgeschlossen
sind… und dies im Unterschied zu einem erneuerten EWS,
bei einem im Innern gänzlich stabilen Währungsumfeld.“
War also Frédéric Lordon damals Anhänger eines
„anderen Europas“? Diese Diskussion muss im Rahmen der
europäischen strategischen Diskussionen nach dem Brexit wieder aufgenommen, seriös weiterentwickelt und mit
den Beiträgen zu nationalen Fiskalwährungen verbunden
werden.
8. Vom Euro zu Deutschland – und dem deutschen
Volk
Im zitierten Artikel sieht Frédéric Lordon im deutschen
Trauma der Hyperinflation nach den beiden Weltkriegen
den wichtigsten Grund für die Rigidität und Ungleichgewichte des Euro-Systems. Und er glaubt, dass Deutschland
aus einem System wie gerade beschrieben aussteigen
würde.
Er hat Recht und Unrecht zugleich. Unrecht in seinem
Pessimismus, Deutschland betreffend. Recht, diese konkrete
und historische Frage aufzuwerfen, die sicherlich in den Verhandlungen von Maastricht und den angenommenen Kriterien eine große Rolle spielte, wie ich im Übrigen ebenfalls
betont habe. Warum sollte man aber nicht annehmen, dass
die gegenwärtige Instabilität der WWU und der EU auch
und gerade in Deutschland zu Diskussionen führen kann,
die nur scheinbar unmöglich sind, weil dort die Verankerung in Europa als strategisch angesehen wird (auch über die
vorherrschenden Positionen hinaus).
Andererseits haben die Maastricht-Kriterien bezüglich
der (erlaubten) Budget-Defizite nichts „Wissenschaftliches“.
Sie drücken das Misstrauen der deutschen Unterhändler
gegen die „laxe Budget-Politik“ des „Club Med“, also der
südlichen Länder aus. Doch einerseits war dies mit einer expliziten Klausel in den europäischen Verträgen verbunden,
die die kolossalen Transfers von Steuergeldern wegen der
deutschen Vereinigung als Ausnahme genehmigte. Unter
dem Vorzeichen eines „anderen Europa“ der Kritik der EU
kann uns nichts an einer Kritik dieser Kriterien hindern,
die Deutschland (wie Frankreich) im Übrigen selbst nicht
eingehalten hat; ohne dass wir die Bedeutung gemeinsamer Regeln abstreiten. Doch diese können nicht respektiert werden, wenn sie von Fall zu Fall gebrochen werden,
also nicht für alle gleich und nicht wirklich „gemeinsam“
sind – insbesondere wenn ihre Wirksamkeit nicht bewiesen werden kann. Eine Abschaffung dieser Regeln, aber
auch der europäischen Mechanismen, die die öffentliche
Verschuldung ausgeweitet haben, wäre im Rahmen neuer
Krisen jedenfalls wirksamer. Eine alternative europäische
Linke müsste in diesem Sinn tätig werden.
Von größter Wichtigkeit ist jedoch die Debatte über eine
andere Logik in den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen in Europa. Sie bezieht sich auch, wenn nicht sogar
zuvörderst, auf die sozialen Bedingungen und den Transfer
von Eigentum, die die deutsche Einheit und die Transformation der Systeme in Osteuropa mit sich gebracht haben.
Diese Bilanz kann zusammen mit der betroffenen Bevölkerung gezogen werden. Es waren die durch die (soziale
und fiskale) Konkurrenz auf dem Rücken der Bevölkerung durchgesetzten Spaltungen, die verhindern, dass die
gemeinsamen Interessen gesehen werden. Dies wird durch
das Fehlen von „sozialen Bewegungen“ und eines europäiInprekorr 6/2016 27
E U R O PA
schen politischen Raumes verstärkt, in dem man problemlos
diverse Streiks zusammenführen könnte, die sonst scheitern,
weil sie vereinzelt bleiben.
Die große Masse der lohnabhängigen Bevölkerung
gehörte zu den Verlierern, sowohl in Deutschland wie auch
der neuen Peripherie, auch wenn die durchschnittlichen Abstände zwischen den Ländern groß bleiben. Es ist nicht der
Euro, der zunächst in Frage steht. Es geht um den sozialen
Krieg und die Abschaffung aller früheren Schutzbestimmungen in allen europäischen Ländern, wobei man sich auf
die Konkurrenz zwischen den am wenigsten geschützten
Menschen (im Osten) und den anderen verlässt – ob mit
oder ohne Euro.
Die Hoffnung, ins „Europa der Reichen“ und wenn
möglich ins Zentrum (die Eurozone, wo die großen
Entscheidungen getroffen werden) zu gelangen, stellt ein
grundlegend legitimes Verlangen dar, das man gegen die Institutionen sowie die herrschenden politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Mechanismen wenden muss, bevor man sie
gegen den Euro wenden kann.
Wir können noch hinzufügen, dass wir die Bewegungsfreiheit der Arbeitenden und der Studierenden genauso
verteidigen wie das Recht, im Heimatland ein Leben, eine
Arbeit und gute Studien- und Forschungsbedingungen zu
haben. Von dem sollten wir ausgehen und von der Art und
Weise, wie ein „anderes“ – kooperative und solidarisches
Europa alle diese Rechte schützen könnte.
9. Der Brexit – ein Schock? In welchem Sinn?
Aus dem Brexit kann man unterschiedliche Orientierungen ableiten und behaupten oder bezweifeln, dass es sich
um einen „historischen Schock“ handle;10 man kann
jedoch sicher sein, dass seine Zukunft von den Lehren
abhängen wird, die von der alternativen Linken in Europa
daraus gezogen werden.
Wenn die Orientierung auf einen „Lexit“ (einen Austritt
von links) meint, dass man „überall für Volksabstimmungen
wie in Großbritannien“ eintreten sollte, ohne dass der Inhalt
dieses Lexit durch den Aufbau einer linken europäischen
Alternative konkretisiert würde, dann verbliebe man in der
Sackgasse und der Spaltung. Dann wäre man „unter sich“.
Doch wir können auch die schlecht geführten fruchtlosen
Debatten hinter uns lassen und von einer gemeinsamen Basis
ausgehen, die sagt, dass alle fortschrittlichen und solidarischen Kämpfe die gegenwärtigen Verträge der EU in Frage
stellen sollten.
In einem Beitrag auf einer Versammlung der griechischen Volkseinheit hat Stathis Kouvelakis aus dem Brexit
28 Inprekorr 6/2016
eine erste Lehre gezogen, wonach „die Gegnerschaft zur
EU sehr klar die strategische Frage des Kampfes für eine
politische und ideologische Hegemonie im heutigen Europa
aufwirft. Doch dann macht er weiter und sagt, „die Wahl
steht heute nicht zwischen einer ,guten‘ und einer ,schlechten‘ EU, der einen oder anderen Version des Euro, wie die
gescheiterte europäische Ideologie behauptet, sondern es
geht um einen Konflikt der Linken und der Rechten mit der
EU.
Doch diese Ausführungen sind alles andere als klar.
Man kann mit Stathis Kouvelakis übereinstimmen, dass die
„Gegnerschaft zur EU“ ein Schlüsselelement der strategischen Positionierung (in Verbindung mit dem Kampf um
ideologische Hegemonie) sein muss, doch das Argument,
alle Volksabstimmungen über die EU hätten diese und
damit jede „europäische Ideologie“ abgelehnt, ist falsch.
Einerseits behandelt er nicht die großen Unterschiede in den
in diesen Referenden zum Ausdruck gebrachten Fragestellungen: Das OXI (in Griechenland) kritisierte die Politik
der EU, lehnte sie jedoch nicht ab; unser linkes Nein (in
Frankreich) gegen den Verfassungsvertrag der EU 2005 war
von Prinzipien für ein anderes Europa begleitet; hingegen
haben wir oben die armselige und problematische Fragestellungen der Referenden in Großbritannien und den Niederlanden betont. Außerdem sollte man auch den Umfang
der Enthaltungen betrachten, vor allem aber die Tatsache,
dass das Misstrauen und die Ablehnung der gegenwärtigen
Macht von Brüssel ganz und gar mit der Forderung nach
einem „anderen Europa“ kompatibel sind, ein Europa der
Völker und der Rechte, das gegen den autoritären Föderalismus stünde. Der Fall Schottland zeigt, das „das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa“ (wenn man diesen Begriff offen
interpretiert und ihn nicht auf Projekte der Finanzoligarchie
reduziert) überhaupt nicht im Widerspruch zu einem starken
Gefühl für die „Nation“ und deren Unabhängigkeit stehen
muss.
Schließlich haben wir oben gezeigt, als wir den Text von
F. Lordon zitiert haben, dass eine radikale Kritik der EU
durchaus mit dem Ansatz eines anderen Gebrauchs des Euro
und der EZB vereinbar ist – in neuen Verträgen würden
die konkreten Bedingungen festgehalten. Es würde sich
nicht um eine „gute EU“ handeln, sondern um eine andere
Union, eine andere EZB, einen anderen Euro. Daher sollte
dieses andere Europa auch einen anderen Namen annehmen
als EU.
Wir möchten betonen, dass Frédéric Lordon, Stathis
Kouvelakis und andere Mitglieder der radikalen Linken,
die ihre Meinung teilen, voll und ganz akzeptieren, in eine
E U R O PA
gemeinsame Front mit dieser Opposition für ein anderes
Europa gegen die EU einzutreten.
10. Kein LEXIT ohne „ein anderes Europa ist
möglich“: Bauen wir es gegen die „Werte“
der Konkurrenz, der Xenophobie und aller
Herrschaftsverhältnisse auf, seien sie lokal oder
planetarisch
Das neue europäische Netzwerk, das sich um den LexitAufruf geschart hat, scheint vom Brexit peinlich berührt zu
sein und hat eine wirkliche Debatte eröffnet.11 Die Hoffnung auf einen „paradoxen Effekt“ des Brexit, die in
radikalem Gegensatz zur Hypothese vom Ende der „Europabegeisterung“ steht, zeigt sich in mehreren vor kurzem
erschienenen Beiträgen. Bernard Cassen meint, dass eine
Lektion des Brexit „sowohl für die Anhänger der einen
oder anderen Form des Leave oder der Neugründung der
EU“ gilt. Nachdem er auf die Boomerang-Effekte und
Sackgasse des Brexit verwiesen hat, sagt er: „Eine Mehrheit
der Wähler missbilligt die Politik (und einige von ihnen
sogar die Existenz) der EU und des Euro, aber eine andere
Mehrheit missbilligt diejenigen, die sie bekämpfen, ohne
aber glaubhafte Alternativen formulieren zu können!“ „Der
Weg ist also sehr eng“, fährt er fort, „für diejenigen, die
glauben, dass ein anderes – solidarisches und fortschrittliches –
Europa nicht unmöglich ist. Daher kann die Umsetzung eines
Planes B – auch wenn sie von einer souveränen nationalen
Entscheidung ausgelöst wurde – kaum der Frage von Bündnissen mit einer kritischen Masse von Kräften aus anderen
europäischen Ländern, die die gleichen Zielsetzungen
teilen“, ausweichen.
Dies erforderte einen Entwicklungssprung in der europäischen alternativen Linken und die Überwindung der
Entweder-Oder-Ansätze (Bewegungen für nationale oder
europäische Rechte; Unterordnung unter die EU/WWU
oder Austritt) und der Charakterisierung der Austrittsoption als einziger „Opposition zur EU“. Die Klärungen der
Streitpunkte in der Debatte könnten der Formel des „Lexit“
die breite Bedeutung der „Gegnerschaft zur Logik und den
Verträgen der EU“ geben, ohne die verbindliche Linie eines
Austritts. Aus dem Brexit ließe sich die Lehre ziehen, dass
dringend auf europäischer Ebene eine Alternative aufgebaut
werden muss. Sie müsste als fortschrittlicher Gegenblock
Kraft gewinnen und einen europäischen „alternativen
politischen Raum“ anstoßen, eine Art „Europe Debout!“
(Aufstehen, Europa!), das sich mit allen egalitären und ökologischen Widerstandsbewegungen gegen die herrschenden
Politiken und Institutionen verbinden müsste.
Jede linke Opposition gegen die EU in einem Land
könnte organisch in das Netzwerk von diesem Europe Debout
in anderen Ländern eingebunden werden. Statt einzeln und
ungeordnet die Frage der Schulden mit der EZB und der
Eurogruppe zu verhandeln, könnte ein in einem ähnlichen Kampf wie Syriza sich befindendes Volk nach einem
Bürgeraudit ein Moratorium der Rückzahlung der Schulden beschließen und sich gleichzeitig mit Europe Debout für
eine europäische Konferenz über die öffentlichen Schulden
einsetzen, auf der dann gemeinsame Regeln ausgearbeitet
würden. Alle Verhandlungen und Forderungen von Seiten
der europäischen Regierungen würden überall in der EU
öffentlich gemacht und mit anderen interessanten Positionen, die alle Völker der Union betreffen, verglichen, um zu
einem Prozess der demokratischen kollektiven Rebellion zu
kommen, der die Forderung nach einer Konstituante erhebt,
oder aber sich für gemeinsame Projekte zusammenzuschließen.
Ein „Europe Debout“ würde von unten sein Gewicht in
mögliche Alternativen einbringen, mit den eigenen Zeitplänen der Kämpfe und Debatten, es würde alle fortschrittlichen Kampagnen und Rebellionen gegen die herrschenden
„Regeln“ unterstützen und die grundlegenden Rechte
und Bedürfnisse verteidigen. Es könnte die heute noch
vereinzelten Kämpfe oder sich abzeichnenden Brüche, die
ohne günstiges Kräfteverhältnis und Glaubwürdigkeit sind,
europäisieren und damit Verbindungen ermöglichen, also
eine Aneignung der Kämpfe und Revolutionen des 20.
Jahrhunderts von unten und auf pluralistische Weise ermöglichen, nicht als nostalgische Betrachtung der Vergangenheit, sondern als Gegengift gegen die Kriminalisierung des
Widerstandes gestern und heute.
Aber Europe Debout müsste (wie Nuit Debout) in den jungen Generationen verankert sein und Räume anbieten, die
es ermöglichen, Erfahrungen und Meinungen zu verbinden.
Die Popularität des freien Reiseverkehrs bei den jungen
Menschen muss ein Pluspunkt für eine Studentenbewegung
für ein anderes Europa werden, die in ihren Unterschieden
recht farbig ausfällt, die jedoch dieselben „Gemeingüter“
verteidigt, die Initiativen ergreift und Plena abhält, die der
Zivilgesellschaft und den Kämpfen offen stehen, wie dies
in Kroatien geschehen ist. Gleichermaßen kann man die
Erfahrungen mit der Rekommunalisierung des Wassers
in Frankreich und Italien auf europäischer Ebene sichtbar
machen, oder gegen die Banken und ihre toxischen Kredite
das Recht, ein Dach über dem Kopf zu haben und sich gegen
Vertreibungen aus den Wohnungen wehren, wie dies im
spanischen Staat geschehen ist. Gegen das Verschwinden der
Inprekorr 6/2016 29
E U R O PA
Gewerkschaften in den nationalen und europäischen Institutionen muss man die transnationalen Streikerfahrungen,
sowie die Kämpfe, die Arbeitende und Kunden gegen multinationale Firmen zusammengebracht haben, weitergeben.
Des Weiteren muss man die gemeinsamen Projekte, die
es zwischen rebellischen Städten gibt, zeitlich strecken und
auf möglichst viele Länder ausdehnen, in denen gleiche soziale Rechte und ökologische Ziele, sowie eine aktive Solidaritätsarbeit mit MigrantInnen und Geflüchteten in Gegnerschaft zu jeder Form des Rassismus verteidigt werden. Nach
dem Vorbild der Aktionen und Kampagnen der Blockade
gegen TTIP müsste man die Pläne für neue Verträge in der
EU öffentlich machen (etwa die der „fünf Präsidenten“) und
ihre antisozialen und antidemokratischen Zielsetzungen
und Vorgehensweisen herausarbeiten. Statt den fremdenfeindlichen und nationalistischen Kräften die Möglichkeit
zu überlassen, diese Kritik zu verbreiten, muss man ihnen
solidarischen, egalitären, europäischen, also auch antirassistischen Widerstand entgegensetzen und die Forderung aufstellen, dass ein demokratischer Prozess begonnen wird, um
solche Verträge zu verhindern. Reziproke Solidaritätsaktionen müssen verallgemeinert werden nach dem Vorbild von
Blockupy international, das Nuit Debout und den Widerstand
gegen das Arbeitsgesetz in Frankreich unterstützt hat.12 Die
Initiativen des Altersummit13 müssen debattiert und verbreitert werden; ebenso die Projekte des Netzwerkes Diem2514
oder des europäischen Netzes für den „Lexit“15, das gerade
gestartet wurde.
Auf der Basis von bereits vor allem auf dem Altersummit
erarbeiteten und diskutierten Projekten könnte eine WebSite Europe Debout alle diese Initiativen und Reflexionen
sichtbar machen und bei der Aktualisierung eines Manifestes
zur Verteidigung der Gemeingüter und der europäischen
Rechte helfen, was auch eine gemeinsame Basis gegen die
herrschende Politik auf nationaler und europäischer Ebene
bei kommenden Wahlen sein könnte. Man müsste sich in
eine solche Dynamik einbringen können, gleich ob man Mitglied von Syriza ist oder nicht, Mitglied des linken Flügels,
AnhängerIn oder nicht der Volkseinheit, Anhänger oder
nicht des Brexit oder der Kampagne „ein anderes Europa ist
möglich“ im Rahmen des „Remain“ (Drinbleiben) – unter
der Bedingung, die demokratische Diskussion zu respektieren und somit jede auf Hegemonie bedachte Verhaltensweise
zu unterlassen; aber auch durch praktisches Engagement zugunsten der Mobilisierungen von unten als wesentliche Bedingung für die Entwicklung einer Haltung, die sich einem
Verstecken und Misserfolgen widersetzt. Eine solche Front
entstünde in Gegnerschaft zu den „Zivilisationskriegen“ und
30 Inprekorr 6/2016
gegen jede Politik, die die subalterne Bevölkerung zueinander
in Konkurrenz setzt und egalitäre Rechte abbaut (im Bereich
des Sozialen, des Geschlechts oder der „Rassen“). Dabei müssen Gemeingüter verteidigt werden (von der Natur zu den
gemeinsam verwalteten Gütern und Dienstleistungen). Der
Aufbau von Europe Debout wäre auch eine wichtige Unterstützung der nationalen und internationalistischen Kämpfe
zugunsten anderer Kontinente.
Übersetzung: HGM und Paul B. Kleiser
„
1 Für Jacques Sapir können Bündnisse mit dem FN auf diesem
Gebiet umso mehr ins Auge gefasst werden, als er sich geändert
habe.
2 Jacques Nikonoff ist der frühere Vorsitzende von attac; er hat
die neue Partei PARDEM (Partei der Entglobalisierung)
gegründet und legitimierte in einem der LCI gegebenen
Interview seine Unterstützung des Front National-Kandidaten
Nicolas Dupond-Aignan bei den Wahlen von 2012 wegen
dessen „souveränistischer Haltung“.
3 Die britische radikale Linke hat klar gegen die rassistische
extreme Rechte Position bezogen. Obwohl er für den Austritt
steht, hat sich auch F. Lordon gegen die Orientierung von
Jacques Sapir zu diesem Punkt ausgesprochen.
4 Siehe hierzu Angela Klein, „The Crisis of the European
Union and the Left“ (http://internationalviewpoint.org/spip.
php?article4665)
5 Vgl. die von CADTM veröffentlichte wichtige Debatte, „Was
mit den Banken geschehen soll ? “,
6 Bruno Théret, http://www.cadtm.org/spip.
php?page=imprimer&id_article=13659
7 Vgl. vor allem http://www.ebrd.com/what-we-do/sectorsand-topics/vienna-initiative.html
8 http://contretemps.eu/interventions/construire-lespacepolitique-europen-danshorscontre-lunion-europeenne-endefense-commun
9 Vgl. http://blog.mondediplo.net/2013-05-25-Pour-unemonnaie-commune-sans-l-Allemagne-ou-avec
10 Vgl. Stathis Kouvelakis, http://la-bas.org/les-emissions-258/les-emissions2015-16/brexit-un-choc-historiqueune-chance-historique.
11 Diese Hoffnung besteht nach der Lektüre des Aufrufs
(http://lexit-network.org/appel). Der Text freut sich keineswegs über den Brexit und verweist darauf, dass der Aufruf „vor
der Volksabstimmung über den Brexit verfasst und veröffentlicht wurde und nicht die Absicht hatte, die Entscheidung des
Volkes in irgendeiner Form zu beeinflussen“. Andererseits soll
die Debatte über einen „linken Ausstieg“ eröffnet und geführt
werden.
12 https://blockupy.org/fr
13 http://www.altersummit.eu/?/lang=fr
14 htpps://diem25.org/home-fr/
15 Vgl. http://medelu.org/Lancement-d-unreseau-europeen
PA L Ä S T I N A U N D I S R A E L
SCHIMON PERES AUS DER
PERSPEKTIVE SEINER
OPFER
Ein notwendiger Nachruf, der an die ganz andere Bedeutung des
Friedensnobelpreisträgers und israelischen Siedlungspolitikers als die andere
Seite der Wahrheit erinnert.
Ilan Pappe
„
Die Nachrufe auf Schimon Peres sind
bereits veröffentlicht worden; zweifellos wurden sie schon
geschrieben, als die Nachricht über seinen Krankenhausaufenthalt die Medien erreichte.
Das Urteil über sein Leben ist sehr klar und wurde
schon vom US-Präsidenten Barack Obama verkündet:
Peres war ein Mann, der den Verlauf der Menschheits-Geschichte durch sein unnachgiebiges Bemühen um Frieden
im Mittleren Osten veränderte.
Ich gehe davon aus, dass nur wenige Nachrufe das Leben und die Handlungen von Peres aus der Perspektive der
Opfer von Zionismus und Israel untersuchen werden.
Er hatte viele politische Ämter inne, die große Auswirkungen auf PalästinenserInnen, wo immer sie sich befanden, hatten. Er war Generaldirektor des israelischen Verteidigungsministeriums, Verteidigungsminister, Minister
für die Entwicklung von Galiläa und des Negevs (arabisch
an-naqab), Premierminister und Präsident.
In allen diesen Rollen trugen seine Entscheidungen
und die von ihm verfolgte Politik zur Zerstörung des
palästinensischen Volkes bei. Sie leisteten keinen Beitrag
für die Sache des Friedens und der Versöhnung zwischen
Palästinensern und Israelis.
Geboren wurde er 1923 als Szymon Peres in einer Stadt,
die damals Teil von Polen war und heute zu Weißrussland
gehört. 1934 emigrierte er nach Palästina. Als Teenager in
einer Landwirtschaftsschule wurde er politisch aktiv in der
zionistischen Arbeiterbewegung, die die zionistische Bewegung und später den jungen israelischen Staat führte.
Als Führungspersönlichkeit unter den Jugendkadern
der Bewegung zog Peres die Aufmerksamkeit des Oberkommandos der Haganah, der jüdischen paramilitärischen
Kräfte im von Britannien beherrschten Palästina, auf sich.
Die Atombombe
1947 wurde Peres Vollmitglied der Organisation und von
ihrem Führer David Ben-Gurion ins Ausland geschickt,
um Waffen zu kaufen, die später 1948 bei der Nakba, der
ethnischen Vertreibung der PalästinenserInnen, und gegen
die arabischen Kontingente, die in diesem Jahr nach Palästina kamen, eingesetzt wurden.
Nach einigen Jahren im Ausland, hauptsächlich in den
Vereinigten Staaten, wo er damit beschäftigt war, Waffen
zu kaufen und die Infrastruktur für die israelische Rüstungsindustrie aufzubauen, kehrte er zurück und wurde
Generaldirektor des Verteidigungsministeriums.
Inprekorr 6/2016 31
PA L Ä S T I N A U N D I S R A E L
Peres beteiligte sich aktiv am Zustandekommen der
geheimen Zusammenarbeit Israels mit Großbritannien
und Frankreich bei der Invasion in Ägypten im Jahr 1956.
Als Gegenleistung erhielt Israel von Frankreich die Mittel,
um Atomwaffen zu produzieren.
Es war in der Tat Peres selbst, der Israels geheimes
Atomwaffenprogramm im Wesentlichen überwachte. 1
Nicht weniger wichtig war der Eifer, den Peres unter
Ben-Gurions Führung und Inspiration bei der Judaisierung Galileas an den Tag legte. Trotz der ethnischen
Säuberung von 1948 war dieser Teil Israels noch in hohem
Maß ein palästinensisch geprägtes Gebiet.
Peres stand hinter der Idee, palästinensisches Land zu
konfiszieren, um ausschließlich jüdische Städte wie Karmiel und Upper Nazareth zu bauen, sowie Militär in der
Region zu stationieren, um die territorialen Verbindungen
zwischen den palästinensischen Dörfern und Städten zu
unterbrechen.
Diese Ruinierung des palästinensischen Gebiets führte
zum Verschwinden der traditionellen palästinensischen
Dörfern und zur Verwandlung von Bauern in eine unterbeschäftigte und machtlose städtische Arbeiterklasse.
Vorkämpfer der Siedler
Als sein Meister Ben-Gurion, der Gründungspremierminister Israels, 1963 von einer jüngeren Generation von
Führern beiseite gedrängt wurde, verschwand Peres eine
Zeit lang von der politischen Bildfläche.
Nach dem Krieg 1967 kam er zurück und das erste
Amt, das er inne hatte, war das eines Ministers für die
besetzten Gebiete. In dieser Rolle legitimierte er, oft im
Nachhinein, die Siedlungsaktionen in der Westbank und
in Gaza. Viele von uns erkennen heute, dass die jüdische
Siedlungsinfrastruktur insbesondere in der Westbank eine
Zweistaatenlösung zu einer unmöglichen Option gemacht
hatte, als die Pro-Siedler-Partei Likud 1977 an die Macht
kam.
1974 verband sich Peres’ politische Karriere eng mit
der seines Erzfeindes Jitzchak Rabin. Die beiden Politiker
konnten sich nicht leiden, mussten aber zusammenarbeiten, um politisch zu überleben.
In Bezug auf Israels Strategie gegenüber den Palästinensern teilten sie jedoch die zionistisch-koloniale Siedlerperspektive, sich so viel palästinensisches Land wie möglich anzueignen mit so wenig Palästinensern wie möglich.
Sie arbeiteten gut zusammen bei der brutalen Unterdrückung des palästinensischen Aufstands, der 1987
begann.2
32 Inprekorr 6/2016
Peres’ erste Rolle in dieser schwierigen Partnerschaft
war die des Verteidigungsministers in der Regierung
Rabin von 1974. Die erste wirkliche Krise für Peres war
die massive Ausweitung des Kolonisierungsvorhabens der
messianischen Siedlerbewegung Gusch Emunim in und
um die Stadt Nablus in der Westbank.
Rabin war gegen die neuen Siedlungen, aber Peres unterstützte die Siedler. Und die Kolonien, die jetzt Nablus
ersticken, existieren da dank seiner Unterstützung.
1976 bestimmte Peres die Regierungspolitik in Bezug
auf die besetzten Gebiete. Er war überzeugt, dass ein
Übereinkommen mit Jordanien möglich wäre, wodurch
die Westbank unter jordanische Zuständigkeit bei gleichzeitiger effektiver israelischer Herrschaft gestellt werden
könnte.
Er ließ Gemeinderatswahlen in der Westbank abhalten,
aber zu seiner großen Überraschung und Enttäuschung
wurden die Kandidaten gewählt, die mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) identifiziert wurden
und nicht die, die gegenüber der jordanischen Haschemiten-Dynastie loyal waren.
Aber Peres blieb der sogenannten „jordanischen
Lösung“ treu, sowohl als Oppositionsführer nach 1977,
als auch nach seiner Rückkehr an die Macht in der Koalition mit dem Likud zwischen 1984 und 1988. Er trieb die
Verhandlungen auf Basis dieses Konzepts voran, bis König
Hussein im Jahr 1988 entschied, jegliche politische Verbindung zwischen Jordanien und der Westbank zu beenden.
Das Gesicht Israels im Ausland
Die 1990er Jahre bescherten der Welt einen gereifteren
und kohärenteren Peres. Er war das Gesicht Israels im
Ausland, als Regierungsmitglied oder außerhalb der
Regierung. Er spielte diese Rolle selbst dann noch, als der
Likud zur stärksten politischen Kraft im Land geworden
war.
An der Macht: In Rabins Regierung Anfang der
1990er, als Premierminister nach Rabins Ermordung 1995
und dann als Minister im Kabinett von Ehud Barak zwischen 1999 und 2001 trieb er ein neues Konzept voran, das
er „Frieden“ nannte.
Anstatt die Macht in der Westbank und im GazaStreifen mit Jordanien oder Ägypten zu teilen, wollte er
das nun mit der Befreiungsorganisation Palästinas tun. Die
Idee wurde vom PLO-Führer Jassir Arafat akzeptiert, der
wahrscheinlich hoffte, auf dieser Basis ein neues Projekt
für die Befreiung Palästinas aufzubauen.
PA L Ä S T I N A U N D I S R A E L
Das Konzept, so wie es in den Osloer Verträgen von
1993 festgeschrieben war, wurde von Israels internationalen Verbündeten enthusiastisch begrüßt.
Peres war der führende Botschafter dieser Friedensprozess-Farce, die für Israel einen internationalen
Schutzschirm bot, um Fakten zu schaffen für ein großes
Apartheid-Israel mit einigen verstreuten kleinen palästinensischen Bantustans3.
Dass er den Nobelpreis für einen Prozess erhielt, der die
Ruinierung Palästinas und seiner Bevölkerung vorantrieb,
ist ein weiterer Beweis für das Missverstehen, den Zynismus und die Gleichgültigkeit der Regierungen der Welt
gegenüber ihren Leiden.
Wir leben zum Glück in einer Zeit, in der die internationale Zivilgesellschaft diese Farce entlarvt hat und durch
die Boykott-, Desinvestment- und Sanktions-Bewegung
(BDS), sowie die wachsende Unterstützung für die EinStaat-Lösung, einen hoffnungsvolleren und echten Weg
vorwärts anbietet.
Qana
Als Premierminister leistete Peres einen zusätzlichen „Beitrag“ zur Geschichte des palästinensischen und libanesischen Leidens.
Als Antwort auf die endlosen Auseinandersetzungen
zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee im
Südlibanon, wo Hisbollah und andere Gruppen gegen die
israelische Besatzung kämpften, die 1982 begann und die
im Jahr 2000 mit ihrer Vertreibung endete, befahl Peres im
April 1996 die Bombardierung des gesamten Gebietes.
Während der Operation, die Israel „Operation Früchte
des Zorns“ nannte, wurden durch israelischen Beschuss
mehr als 100 Menschen in der Nähe des Dorfes Qana
getötet. Bei ihnen handelte sich um Zivilisten, die vor den
Bombardierungen flohen, und Mitglieder der UN Friedenstruppe aus der Republik Fidschi.
Trotz einer Untersuchung der UN, die Israels Erklärung, dass es sich um einen Unfall gehandelt hätte, als
„unwahrscheinlich“ einstufte4, wurde Peres internationale
Reputation als „Friedensstifter“ durch das Massaker nicht
beschädigt.
In diesem Jahrhundert war Peres mehr eine Symbolfigur als ein aktiver Politiker. Er gründete das „Peres Center
for Peace“ (Peres Zentrum für Frieden), das auf konfisziertem Land palästinensischer Flüchtlinge in Jaffa erbaut
wurde5 und nach wie vor die Idee eines palästinensischen
„Staates“ mit wenig Land, wenig wirklicher Unabhängigkeit oder Souveränität als beste mögliche Lösung verkauft.
Das wird nicht funktionieren, aber wenn die Welt
weiterhin an Peres’ Hinterlassenschaft festhält, wird es kein
Ende für die Leiden der PalästinenserInnen geben.
Peres symbolisiert die Beschönigung des Zionismus,
aber die harten Fakten demonstrieren seine Rolle bei dem
Anrichten von viel Leid und vielen Konflikten. Das Wissen über die Wahrheit hilft uns, zumindest einen Weg vorwärts zu finden und einen großen Teil des Unrechts, das
mit Peres’ Hilfe geschaffen wurde, wiedergutzumachen.
Ilan Pappe ist Auto vieler Bücher. Er
ist Geschichtsprofessor und Direktor des Europäischen
Zentrums für palästinische Studien an der Universität von
Exeter.
Übersetzung: W. W.
„
1 https://www.nytimes.com/books/first/c/cohen-israel.html
2 https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/forcemight-and-beatings-indelible-images-first-intifada
3 http://www.sahistory.org.za/article/homelands
4 https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/naftalibennett-and-qana-massacre
5 https://electronicintifada.net/content/jaffa-eminence-ethnic-cleansing/8088
Inprekorr 6/2016 33
KO LU M B I E N
EIN (SCHWACHER) STAAT,
ZWEI (STARKE) LÄNDER
Die krachende Niederlage des Friedensprozesses im Referendum vom Sonntag,
den 2. Oktober 2016 zeigt, dass es nicht reicht, ein Abkommen zu paraphieren, um
die Versöhnung zu besiegeln. Kolumbien ist in zwei Hälften gespalten, die sich gegenseitig nicht anerkennen und das auch nicht tun werden, weil sie die Möglichkeit
brauchen, zusammenzukommen und miteinander in Dialog zu treten, aber nicht
in der elitären und abgehobenen Weise des Prozesses von Havanna.
Raúl Zibechi
„
Die zwei Kolumbien, die am Sonntag,
dem 2. Oktober aufeinanderprallten, verkörpern Welten,
die sich gegenseitig fürchten. Das ist eine Realität, die vor
der ideologischen Positionierung rangiert und als Rechtfertigung für kulturelle Unterschiede dient, die über die
politischen Differenzen hinausgehen. Diese zwei Welten
hatten mehr Gewicht als die langen Verhandlungen von Havanna zwischen Regierung und FARC, mehr als die massive
internationale Unterstützung für die Unterschrift unter das
Friedensabkommen und machten den bisher stärksten und
ernsthaftesten Versuch, einen 52-jährigen Krieg zu beenden,
zunichte.
Das „Ja“ hatte alles auf seiner Seite, von der Unterstützung seitens der Regierung und der gemäßigten Linken,
die im „Demokratischen Pol“ versammelt ist, bis hin zu
den Regierungen der Region und den internationalen
Finanzinstitutionen, daneben auch diverser sozialer Bewegungen. Die Generaldirektorin des Weltwährungsfonds
Christine Lagarde selbst hatte in Cartagena versprochen,
bei Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Regierung und Guerilla eine spezielle Kreditlinie für Kolumbien in Höhe von 11 Milliarden Dollar zu eröffnen, wenn
das „Ja“ gewinnen würde.
34 Inprekorr 6/2016
Alle Welt glaubte außerdem an die Ergebnisse der
Umfragen, die eine Mehrheit von bis zu 60 % für das „Ja“
prognostizierten. Aber die Partei des „Nein“ mit dem „Demokratischen Zentrum“ von Álvaro Uribe, dem Expräsidenten und früheren Verbündeten des aktuellen Präsidenten Juan Manuel Santos an der Spitze, gewann.
Uribe kann mit Recht als der Hauptgewinner des Referendums bezeichnet werden. Aber zweifellos sollte man
ihn nicht als den sehen, der die Niederlage des „Ja“ zustande gebracht hat. Das Geschick des Expräsidenten bestand
darin, die Wut der Hälfte der Kolumbianer auf die FARC
zu benutzen, eine Antipathie, zu deren Verstärkung er als
Regierungschef (2002–2010) wie nur wenige beigetragen
hatte, indem er sich mit dem Militär und einem wesentlichen Teil der Unternehmer, insbesondere den Viehzüchtern, verbündete, und daneben auch mit Paramilitärs und
Drogenhändlern.
Erklärung für eine Überraschung
Ein wesentlicher Teil der Analysen des Ergebnisses des
Referendums legte den Schwerpunkt auf einzelne Punkte
betreffend Erfolge und Fehler der Kampagne. „Während
die Nein-Kampagne vereint den Direktiven des Uribismus
KO LU M B I E N
folgte, blieb die Ja-Kampagne zersplittert“, resümierte eine
der angesehensten Zeitungen des Landes. (El Espectador,
4.10.2016). Das Blatt wies auf die Diversität der Unterstützung für das „Ja“ hin und bekräftigte, dass, wenn alle Unterstützer des Friedensschlusses eine gemeinsame Kampagne geführt hätten, das Ergebnis anders ausgefallen wäre.
Neben weniger überzeugenden Argumenten gab es
eines, das die Wahlenthaltung von mehr als 100 000 Menschen in der Region, die am stärksten für den Frieden war,
auf den Hurrikan Matthew zurückführte, der über die karibische Küste zog. In die gleiche Richtung argumentieren
diejenigen, die die geringe Beteiligung von nicht mehr als
37 % bejammern. Man muss daran erinnern, dass Wahlen
in Kolumbien seit jeher durch eine niedrige Beteiligung
charakterisiert sind. Jedenfalls sollte man an die Gründe
denken, derentwegen die politische Führung eine derart
geringe Glaubwürdigkeit hat.
Das Portal „La Silla Vacía“ („Der leere Stuhl“ – ein
Titel, der sich auf die Abwesenheit von Manuel Marulanda bei den Friedensverhandlungen von El Caguán in
den Neunzigern bezieht), eines der solideren unter den
Analysten der kolumbianischen Politik, führte fünf Gründe an, die das Scheitern des „Ja“ erklären sollen. Der erste
ist die Unterschätzung der Feindschaft der Bevölkerung
gegenüber der FARC, die Uribe zu nutzen wusste, um die
Parole zu lancieren, dass das „Ja“ gleichzusetzen sei mit
„Gauner zu sein, zahlt sich aus“. Während der Kampagne
des Expräsidenten verbreitete er Ankündigungen in Form
von Plakaten für „Timochenko ins Präsidentenamt“, damit
unterstellend, dass langfristig das „Ja“ den derzeitigen
Führer der FARC ins Präsidentenamt bringen würde.
Der zweite Grund soll die Unterschätzung der Ablehnung von Santos sein. Tatsächlich hat die Regierung
eine Zustimmungsquote von weniger als 30 %, weswegen
sich der Präsident „vom Motor zu einer Belastung für das
Referendum gewandelt hat“ (Lasillavacia.com, 3.10.2016).
Dann wurde betont, dass die Parteigänger des „Nein“
nicht gegen den Frieden opponiert hätten, sondern für
einen „besseren Vertrag“ eintreten würden.
Das Portal bescheinigt sowohl Regierung wie auch
FARC ein gewisses Maß an Hochmut. Der Präsident
pflege einen autoritären und caudillistischen Stil, während
die FARC sich „alles andere als demütig“ gebärdet habe.
In Cartagena, vergangene Woche bei der Zeremonie zur
Unterschrift unter den Friedensvertrag, trat Timochenko
„wie ein Rockstar auf “ und stellte eine „moralische Überlegenheit“ zur Schau, die bei vielen Missfallen hervorrief,
beobachtete die Publikation. Die Führer der Guerilla hät-
ten, so wurde hinzugefügt, nie verstanden, dass es darum
ging, das Wohlwollen der anderen Hälfte des Landes zu
gewinnen, die sie nur über die Negativpropaganda ihrer
Feinde kenne.
Schließlich wies eine Wochenzeitung auf den sprichwörtlichen Konservatismus der KolumbianerInnen hin
– katholisch und homophob. Uribe rief dazu auf, die
„traditionelle Familie“ zu retten, während der Prokurator
Alejandro Ordóñez beteuerte, dass die Abkommen von
Havanna heilige Institutionen wie die Ehe ändern würden. Die Regierung konnte in einer Versammlung mit
Beteiligung von mehreren hundert christlichen Priestern
die katholische Kirche nicht davon überzeugen, dass diese
Anschuldigungen nicht wahr seien (Semana, 2.10.2016).
Land und Stadt
Es ist eine Tatsache, dass die kolumbianische Gesellschaft
seit Jahrzehnten eine tiefe und wachsende Polarisierung erlebt, an deren Anfang die Ermordung des liberalen Führers
Eliecer Gaitan am 9. April 1948 stand – der Beginn eines
Bürgerkriegs zwischen Liberalen und Konservativen, der
die Bedingungen für die Geburt der FARC in den Sechzigern schuf. Aber dieser Krieg traf nicht alle Kolumbianer
gleichermaßen, sondern in erster Linie die Landbevölkerung.
Die Gruppe „Memoria Historica“ (Geschichtliche
Erinnerung) beklagt, dass dieser Konflikt zwischen 1958
und 2012 220 000 Todesopfer gefordert hat, 80 % davon
ZivilistInnen. Parallel dazu hat das „Registro Unico de
Víctimas“ (einheitliches Opferregister) festgestellt, das
bis 2013 25 000 Verschwundene und fast sechs Millionen
Binnenflüchtlinge zu verzeichnen waren – in einem Land
mit 48 Millionen Einwohnern. Die Verschwundenen und
die Flüchtlinge stammen aus ländlichen Regionen, die
mehrheitlich für den Frieden gestimmt haben, wie Choco,
Cauca, Guaviare, Narino, Caqueta, Vaupes, Meta und Putumayo, wo das „Ja“ mit einem gewissen Abstand siegte.
Deshalb kann man sagen, dass die Opfer des Krieges mit Ja
abstimmten.
Im Gegensatz dazu siegte in den großen Städten und
den städtischen Regionen das „Nein“. Die Journalistin
Constanza Vieira drückte es so aus: „Kolumbien demonstrierte seine eigenartige gespaltene Persönlichkeit, die einen
von zwei Ländern sprechen lässt: Der am meisten entwickelte Teil, vorwiegend in der Andenregion, stimmte
mehrheitlich mit „Nein“. Die dünner besiedelte Peripherie
des Landes, votierte mit „Ja“, zusammen mit Bogotá mit
seinen 8 Millionen Einwohnern“ (Ips, 3.10.2016).
Inprekorr 6/2016 35
KO LU M B I E N
Das Interessante und in der Tat Komplexe daran ist, dass
das „moderne“ Land dem Frieden den Rücken kehrte und
sich auf die Seite des ultrarechten Uribe schlug, außer in
Bogotá, das während zweier Jahrzehnte progressistischer
Stadtregierungen einen Prozess der Demokratisierung
durchlebte.
Für diese vermeintliche Diskongruenz zwischen Modernität und konservativer politischer Haltung gibt es grundsätzlich zwei Gründe. Der erste bezieht sich auf das Kriegsszenario. Für die Stadtbevölkerung ist der Konflikt etwas,
das sich weit entfernt von ihrem täglichen Leben zwischen
Gegnern abspielt, zu denen sie keinerlei Kontakt hat. Diese
Population leidet nicht nur nicht unter dem Krieg, sondern
sie wird auch durch Medien „informiert“, die ständig von
einer Allianz aus militaristischem Staat und Unternehmern,
die Freunde der Militärs sind, kontrolliert werden.
Zweifellos gibt es in den Städten Prosperität neben
extremer Armut. Aber in einem Land wie Kolumbien sehen
sich die beiden Seiten nicht und haben praktisch nichts miteinander zu tun. Die gut 60 Prozent der Kolumbianer, die
nicht wählen, gehören in der Regel der ärmeren Hälfte der
Bevölkerung an, was erklärt, welch geringes Gewicht eine
Linke hat, die dazu noch seit einiger Zeit von der Realität
abgekoppelt ist.
Die zweite Erklärung hat etwas zu tun mit dem wachsenden Gewicht der sogenannten „Garagenkirchen“, die in
den letzten 20 Jahren dermaßen zugenommen haben, dass
die Regierung beschloss, sie mittels eines Registers zu kontrollieren. Gemäß diesem „Kataster“ gab es vor drei Jahren,
dem Datum der letzten Kontrolle, in Kolumbien 5071 beim
Innenministerium angemeldete nichtkatholische Kirchen
(Caracol, 17.1.2014). Jeden Tag gründen sich drei neue Kirchen, hinzukommen die, die „illegal“ operieren.
In ihrer großen Mehrheit handelt es sich um kleine evangelikale oder pfingstlerische Kirchen, zu denen sich einige
Dutzend Mitglieder bekennen. Wahrscheinlich haben sie
ähnliche Auswirkungen wie die pfingstlerischen Kirchen
in Brasilien, die auf einen mächtigen Medienapparat, große
Kirchen und eine große Zahl von Abgeordneten und Senatoren zählen können. Aber in Kolumbien gibt es zu diesem
Phänomen keine Studien, die es zuließen, die Zahl der
Gläubigen und ihre Einstellungen abzuschätzen. Aber man
weiß, dass das Einkommen aller dieser informellen Kirchen
zusammen vor drei Jahren bei 10 Milliarden Pesos lag – fünf
Mal so viel wie das staatliche Budget für Bildung (Dinero.
com, 24.4.2013).
Diese Tausende von Kirchen zeigten sich als dem Friedensabkommen abgeneigt. Eine der seltenen akademischen
36 Inprekorr 6/2016
Untersuchungen zu diesem Phänomen, durchgeführt von
dem Journalisten Ricardo Sarmiento, teilt die Kirchen in drei
Kategorien ein: die lokalen oder „Garagenkirchen“ mit einer
einzigen Lokalität, die fast immer pfingstlerisch sind und
Einfluss auf die Bevölkerung um ihren Sitz herum haben; die
zweiten, die verschiedene Filialen in Bogota und verschiedenen Regionen des Landes haben; und dann die „Megakirchen“, die zu internationalen Kongregationen gehören.
Dieses Universum geometrischer Ausbreitung hat einen
machtvollen Einfluss auf das Verhalten der ärmeren Schichten. Grundsätzlich arbeiten die kleinen „Garagenkirchen“,
die in den peripheren Wohnvierteln verankert sind, im
familiären Bereich und verkörpern einen „informellen
Protestantismus, der wächst, ohne fremde Mittel nötig zu
haben“, wie es der Soziologe William Beltran in einer Mitteilung formulierte. Man kann sie als „eine Form des sozialen
Widerstandes“ der Ärmsten betrachten, weil sie „Räume
gemeinschaftlicher Organisierung für die Vertriebenen und
Marginalisierten schaffen, die im Schoße dieser Gemeinschaften die Möglichkeit zur Sinn- und neuen Identitätsstiftung finden können“.
Die andere Zuflucht der Armen sind die Streitkräfte, die
sich Jugendliche greifen, die nach einem Lebenssinn und
einem sicheren Einkommen suchen, wie man bei jedem
Rundgang durch die kolumbianischen Städte feststellen
kann. „Wenn Präsident Santos wirklich Frieden im ganzen
Land schaffen will, dann muss er an das Militär, an Uribe und
betreffend die Interessen und Ängste, die dieser repräsentiert, ein Angebot machen, das sie schützt“, so schrieb lange
vor dem Referendum der Journalist Hector Abad Faciolince
(El Espectador, 30.7.2016). „Ich fürchte, dass hier der Krieg
weitergehen wird, wenn einige Militärs und Zivilisten mehr
bestraft oder an den Pranger gestellt werden als KämpferInnen der Guerilla. Wenn Santos eine spezielle Regelung für
alle Militärs und Zivilisten, die in den Konflikt verstrickt
sind, treffen würde (und nur er hat die Macht dazu), so glaube
ich, dass bis hin zum Demokratischen Zentrum alle für das
„Ja“ beim Referendum stimmen würden. Hierzulande gibt
es eine Rechte, die nicht ruhen will, bis sie die Guerilla gefangen oder tot sieht, und eine gewisse Linke, die nicht zufrieden sein wird, bis Uribe und seine Freunde im Gefängnis sitzen. Diese Rechte und diese Linke gilt es mittels einer
allgemeinen Amnestie zu entwaffnen“, resümierte Abad.
Übersetzung aus dem Spanischen: Klaus Engert
„
Die Internationale
38
POLITIK ALS STRATEGISCHE KUNST
So wie „der Krieg nichts anderes als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, bleibt die
strategische Vorbereitung die entscheidende Vorbedingung zum Sieg.
44
GRUNDZÜGE EINER BEDÜRFNISORIENTIERTEN
ÖKONOMIE
Wenn klar ist, dass ein systemischer Umbruch unausweichlich ist, stellt sich die Frage, wie diese
Transformation verläuft und in welche Richtung.
52
KAPITALISTISCHE GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN,
GEOPOLITISCHES CHAOS UND DIE FOLGEN
Die strukturell instabile kapitalistische Globalisierung führt weltweit zum Zerfall der Legitimität
und zu einem permanenten Krisenzustand.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
POLITIK ALS
STRATEGISCHE KUNST
In wieweit sind Kriege und Revolutionen vergleichbar und erfordern eine strategische
Vorbereitung, um im entscheidenden Zeitfenster anzugreifen bzw. die Machtfrage
zu stellen? Und ist die Partei als kollektiver Organisator der Massenmobilisierungen
trotz aller Diskreditierung durch die bürokratischen Deformationen im vergangenen
Jahrhundert und der zunehmenden Verbreitung plebiszitärer Modelle weiterhin
der entscheidende Akteur in solchen Situationen? Diesen Fragen geht der Autor in
diesem bisher unveröffentlichten Text nach.
Daniel Bensaid
„
„Die Politik erhält den Primat über die Geschichte.“
Walter Benjamin1
„Die Prinzipien sind fest, nur ihre Umsetzung ist
ungewiss.“ Guy Debord 2
Wenn die Politik den Primat über die Geschichte erhält,
ist damit noch lange nicht das Band aufgelöst, das beide
seit ihrem gemeinsamen Ursprung miteinander verbindet.
Oder, wie Guy Debord es ausdrückt, es kann eine Bewegung, die historischer Kenntnisse weitgehend entbehrt,
keine wirkliche Strategie – wir möchten hinzufügen: auch
keine wirkliche Politik – entwickeln. Die postmoderne
Vernachlässigung einer geschichtlichen Sichtweise und
das Zusammenschmelzen langer Zeiträume zugunsten
einer flüchtigen Gegenwart – ohne einem Davor und
einem Danach – führen unweigerlich zu einer Krise des
strategischen Denkens und damit auch der Politik, da
sich diese weder auf Verwaltungswissenschaft noch auf
institutionelle Techniken reduzieren lässt, sondern für die
38 Inprekorr 6/2016
Entscheidungsfindung einen scharfen Blick für den günstigen Moment und das zur Verfügung stehende Zeitfenster
benötigt. Insofern handelt es sich also um eine strategische
Kunst. Politik muss demnach „exakt vom Standpunkt der
Akteure“ ausgehen. Anders ausgedrückt: Der Akteur muss
„in bar zahlen, wenn er die Fortsetzung haben will“.
Der Operationsschauplatz
Dieser Standpunkt der Akteure ist „sehr schwer“ durchzuhalten. Es geht darum, mitten im Getümmel „all dessen
Umstände“ zu erfassen.3 Da er es ablehnte, den Krieg als
Gegenstand einer „dogmatischen und positiven Wissenschaft“ zu begreifen, definierte Jomini4 ihn als „eine Kunst,
die einigen Fundamentalgrundsätzen gehorcht“ und „als
ein fesselndes Schauspiel“. Eine Sache leidenschaftlicher
Vernunft also oder rationaler Leidenschaft, bei der es darum
geht, sich auf den „günstigen Moment“ vorzubereiten, um
rechtzeitig „ins Zentrum des Geschehens“ vorzustoßen.
Wohlgemerkt, man muss sich vorbereiten und stets bereit
D I E I N T E R N AT I O N A L E
sein, da jederzeit der entscheidende Augenblick zum Sieg
eintreten kann, den man nicht verpassen darf.
Genau darum geht es auch in der Politik. So wie der
Krieg als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln gelten
kann, wird sie umgekehrt und mit ihren Mitteln zur Fortsetzung des grenzenlosen Kriegs. Auch sie ist eine Kunst,
zu erkennen, welche Zeit ungünstig ist, wann die Konjunktur passend ist und wann der Augenblick günstig ist,
um zum rechten Zeitpunkt „ins Zentrum des Geschehens“
vorzustoßen. Sowohl in der Revolution wie im Krieg
„sind sich beide Seiten stets über die Lage des Gegners
unsicher“. Daher muss man mit dieser Ungewissheit leben
und „nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen“ vorgehen,
da „es illusionär ist, einen Moment abpassen zu wollen, in
dem alle Unklarheiten beseitigt sind.“5
Im Unterschied zu den Kriegen werden Revolutionen
nicht „erklärt“, werden also nicht angekündigt. Beide aber
werden vorbereitet: „Bei der Analyse […] des bestehenden
Systems der Kräfteverhältnisse kann man sinnvollerweise
auf das Konzept zurückgreifen, das man in der Militärtheorie „strategische Wechselfälle“ nennt, genauer gesagt, auf
das Konzept, das den Grad der strategischen Vorbereitung
des Kampfschauplatzes beschreibt, der ganz wesentlich
von der Qualität der Führungskräfte und der Truppen,
der vordersten Linie also abhängt. […] Der Grad der
strategischen Vorbereitung kann dazu führen, dass auch
offensichtlich schwächere Kräfte über ihren Gegner siegen.“6 Die strategische Vorbereitung dient also dazu, den
Anschein an Menge und Masse einer genauen Prüfung zu
unterziehen, sowie die Schwachstellen hinter den Stärken
und die Stärken hinter den Schwachstellen zu entschlüsseln
und diese Kräfteverhältnisse zu verändern. Der Ausgang
einer Krise hängt davon ab, wie gut die entsprechenden
Kräfte vorbereitet und geschult sind, und zwar nicht
nur das „führende Personal“, sondern auch das Netz an
Aktiven, das mit seinem Einfluss die gesamte Gesellschaft
erreicht.
Kurz nach der Französischen Revolution hat Clausewitz darüber geschrieben, inwiefern sich Taktik als
Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht zum Zwecke des Sieges in der Schlacht und Strategie als Gebrauch dieser Siege,
um die Zwecke des Krieges zu erreichen, unterscheiden.
Vom lokalen Krieg über die Länder- und Weltkriege bis
hin zum umfassenden Krieg hat sich daran nichts geändert,
aber die Schauplätze sind immer größer und die Dauer der
Operationen immer länger geworden. Im Zeitalter der
Globalisierung nimmt sich der Klassenkampf wie ein weltweiter Bürgerkrieg aus. Was gestern noch als Strategie galt,
ist heute nur noch taktische Episode in einem Spiel auf zunehmend größerem Feld. Da Krieg und Gefecht in einem
dialektischen Verhältnis zueinander stehen, muss man auch
manchmal Gefechte verlieren können, um den Krieg zu
gewinnen, oder Räume aufgeben, um Zeit zu gewinnen.
Auf dem großen Schachbrett der Globalisierung sind die
Kriege von gestern zu den Gefechten von heute geworden.
Mit den Kategorien von Taktik und Strategie soll
der unvermeidliche Anteil an Zufällen in jedem Gefecht verringert werden. In seinem Bemühen, den Krieg
zunehmend durch Vernunft zu steuern, hat Moltke als
getreuer Schüler von Clausewitz zugleich die Grenzen der
Vorausplanung erkannt: „Die materiellen und moralischen
Folgen jedes größeren Gefechts sind so weitreichender
Art, dass durch dieselben eine völlig veränderte Situation
geschaffen wird, die ihrerseits zum Ausgangspunkt neuer
Maßnahmen wird. Deshalb reicht kein Operationsplan
mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen
mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“ Der Feldherr ist
daher gezwungen, „Entscheidungen auf der Grundlage
von Situationen zu treffen, die er unmöglich voraussehen
kann.“7 Hier tritt die Geistesgegenwart an die Stelle des
vorher ausgeklügelten Plans. Wäre zuvor jedoch nicht die
Vernunft am Werke, liefe Kühnheit auf bloßen Leichtsinn
und die Entscheidung auf ein Abenteuer hinaus.
Strategie und Taktik, Offensive und Defensive, Zermürbungskrieg und Bewegungskrieg, Avantgarde und
Massen – diese Begriffe aus dem militärischen Vokabular
wurden in den Kontroversen über den Klassenkampf
innerhalb der II. Internationale zu einer Zeit aufgegriffen,
als sich Militärakademien zunehmend mit der Militärgeschichte befassten. Sie beinhalten eine schöpferische
Rationalität, die sich nicht einfach auf die Zweckrationalität der instrumentellen Vernunft reduzieren lässt. Zur
strategischen Rationalität gehören die Beobachtung des
Terrains, Informationen über den Feind, seine Logistik
und seine Nachschubgebiete, die allesamt die „objektiven Bedingungen“ des Konflikts ständig verändern. Die
Sachkenntnisse hierüber sind zwangsläufig historischer,
empirischer Natur und insofern sagt man den Militärs
auch nach, dass sie stets dem Kriegsverlauf hinterher
hinken. Denn der kommende Krieg ist notwendigerweise etwas Neues, selbst wenn man über die alten Kriege
Bescheid wissen muss, um einen neuen führen zu können. Revolutionäre stecken in einer vergleichbaren Lage
und laufen stets Gefahr, einer anstehenden Revolution
hinterherzulaufen, da zwar die Kenntnis der vergangenen
Revolutionen unumgängliche Lehren vermittelt, aber
Inprekorr 6/2016 39
D I E I N T E R N AT I O N A L E
niemand voraussagen kann, wie die künftigen Revolutionen aussehen werden.
Die Rätsel der Revolutionen von heute
Wie soll eine Gesellschaftsklasse, die sowohl ökonomisch
als auch politisch und kulturell beherrscht wird, den
Anspruch erheben, eine neue Welt schaffen zu können,
ohne von der ganzen Scheiße der alten Welt erdrückt
zu werden? Wie soll der physisch und geistig durch eine
entfremdete Arbeit deformierte Arbeiter zum Träger
dieser Emanzipation werden? Darin liegen die Rätsel der
zeitgenössischen Revolutionen. Angesichts des „Genozids“
an der Vendée empörte sich Babeuf: „Sie haben aus uns
Barbaren gemacht!“8 Dabei wird die neue Welt mit den
Menschen und dem Ausgangsmaterial der alten Welt geschaffen. Tabula rasa schaffen oder einen neuen Menschen
auf einem unbeschriebenen Blatt entwerfen zu wollen,
mündet zwangsläufig in autoritäre und bürokratische
Sackgassen.
In den Anfängen des Handelskapitalismus entstand die
Bourgeoisie durch die Akkumulation wirtschaftlicher, politischer, symbolischer und kultureller Macht, die von den
herrschenden Eliten angehäuft und an die Folgegenerationen weitergegeben wurde. Zum Proletarier zu werden bedeutete hingegen, die Herrschaft über seine Produktionsmittel und den Inhalt und Zweck seiner Arbeit zu verlieren
und dem süßen Gift des Warenfetischismus zu erliegen.
Dieses Gefangensein im Teufelskreis der gesellschaftlichen
Reproduktion erweckt das Gefühl der „ewigen Wiederkehr des Immergleichen“ – der „Ewigkeit durch die Sterne“9. Sollte die Verdammnis zur Wiederholung tatsächlich
keine andere Hoffnung zulassen, als immer wieder aufs
Neue mit zersplitterten Kräften gegen die uneinnehmbaren Festungsmauern der Herrschaft anrennen zu müssen?
In den Ländern mit langer parlamentarischer Tradition
ist der „Stellungskrieg“ schon seit Langem zugange. Ohne
eine mehr oder minder lange Erfahrung zwiefältiger
Legitimität und einer Doppelherrschaft kann dort keine
Alternative zu den bestehenden Institutionen entstehen..
Ein neues Rechtssystem, eine neue Hegemonie und neue
Eigentumsverhältnisse können nicht durchgesetzt werden,
ohne sich aus den bestehenden Gesetzesnormen gelöst und
die Kräfteverhältnisse umgewälzt zu haben. Wenn eine
Herrschaftsform verfällt, ohne dass der Wachwechsel vorbereitet ist, ist ein wirklicher Übergang mehr als unsicher.
Kann eine provisorische Regierung, die sich auf
breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen kann,
„der parlamentarische Beginn“ einer sozialen Revolution
40 Inprekorr 6/2016
bzw. „der volkstümliche Ausdruck“ einer entstehenden
revolutionären Macht sein?10 In ironischer Weise führte
Debord aus: „Die Prinzipien sind fest, nur ihre Umsetzung
ist ungewiss“. Damit eine Übergangsregierung den Bruch
mit der bestehenden Ordnung in Gang setzt und nicht
faktisch deren Bewahrung betreibt, muss sie sich auf einen
Aufschwung der außerparlamentarischen Bewegungen
stützen und von Beginn an sich kühn an die Kernbereiche
der Staatsmacht und des Privateigentums wagen.
Nach dem gescheiterten Putschversuch in Chile
vom Juni 1973 befand sich die Rechte in der Defensive
und die Arbeiter waren in höchstem Maße mobilisiert.
Tagelang bestand damals eine gute Gelegenheit für eine
revolutionäre Gegenoffensive. Die FührerInnen des
linkssozialistischen MIR (Bewegung der revolutionären
Linken) beabsichtigten, sich an der Regierung zu beteiligen, sofern diese auf den Putschversuch reagieren und
sich auf die entstehenden Organe der Volksherrschaft
stützen würde. Die Führung der Unidad Popular hingegen entschied sich für das Gegenteil, kooptierte Vertreter
des Militärs (darunter Augusto Pinochet höchstselbst) in
die Regierung, entwaffnete die aufständische Bevölkerung und zerschlug die demokratischen Organisierungsansätze innerhalb der Armee. Damit hatten die Generäle
aller drei Waffengattungen freie Bahn, um von der
Machtzentrale aus ihren Putsch vom 11. September in die
Wege zu leiten.
Nach dem Scheitern des Putschversuchs vom März
1975 in Portugal hätte auch dort die ausgebrochene politische Krise die Möglichkeit eröffnet, eine Regierung
zu bilden, die den Widerstand der Bevölkerung gegen
den Putsch verkörpert und sich auf die Radikalisierung
der außerparlamentarischen Bewegungen (einschließlich
der Armee) gestützt hätte, um somit den revolutionären
Prozess voranzutreiben, der mit der Nelkenrevolution vom
25. April 1974 angestoßen worden war.
In beiden Fällen hätte die Bildung einer Notstandsregierung, die sich gegen die putschistischen Manöver
auf die Organe der Volksmacht gestützt hätte, nicht zur
Beendigung, sondern zu einer Verschärfung der Legitimationskrise der bürgerlichen Institutionen geführt und die
Zentralisierung einer alternativen Legitimität bewirkt, was
unvermeidlich zur entscheidenden Machtprobe geführt
hätte.
Wenn sich, um Gramsci aus seinen Gefängnisheften zu
zitieren, „die historische Einheit der herrschenden Klassen
im Staat vollzieht“ und wenn „die subalternen Klassen […]
solange sich nicht vereinigen können, wie sie nicht „Staat“
D I E I N T E R N AT I O N A L E
werden können,“, dann bleibt die politische Machteroberung ein notwendiges Durchgangsstadium zur Emanzipation. Eben darum ist es auch das Anliegen der „intellektuellen und moralischen Reform“ und des Kampfs um die
Hegemonie, dass sich die subalternen Klassen durch ihren
Kampf um die politische Macht als herrschende Klassen
konstituieren. Ihr Ziel ist nicht die korporative Durchsetzung bloß der ausgebeuteten Klasse, sondern die Ausbildung eines „Kollektivwillens der gesamten Nation“, der
eine höhere Form der menschlichen Zivilisation anstrebt,
um eine globale Krise der sozialen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse zu lösen.11
In den kapitalistischen Ländern mit relativ stabilen
parlamentarischen Institutionen gilt der mit Massenerhebungen verbundene Generalstreik als die strategische
Hypothese, die sich aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ergibt. Eine Hypothese ist weder ein Modell noch
eine Vorhersage, sondern nur eine Handlungsanleitung
und ein Orientierungshorizont, woraus sich verschiedene
Aufgaben ergeben: die Entwicklung partizipativer Modelle der Selbstverwaltung, autonomer Organisierung und
Kontrolle, aus denen Elemente einer Gegenmacht entstehen können; gesellschaftliche Aneignung als Gegensatz
zur Privatisierung der Welt; die vermehrte Sozialisierung
des Nationaleinkommens durch Ausbau der Öffentlichen
Dienste und der sozialen Sicherung; Infragestellung der
bestehenden Institutionen und der Berufspolitik; Förderung des Ungehorsams in der Armee etc. Daneben ergibt
sich aus den Losungen „Generalstreik“ und „Rat der
Aufständischen“ in den Ländern, wo die Lohnabhängigen
die große Bevölkerungsmehrheit bilden, dass die Zusammenführung der Kämpfe und die Befähigung, Initiativen
zu ergreifen, angesichts der hoch organisierten Gegenseite
unabdingbar sind.12
Wenn sich in der Doppelherrschaft bestimmte Gesellschaftsschichten und Territorien unversöhnlich gegenüberstehen, wie damals die Pariser Kommune und Versailles, erfordert das geringe Zeitfenster rasches Handeln.
Anders verhält es sich bei Revolutionen, die mit nationalen
Befreiungskämpfen verbunden sind, oder in Gesellschaften, in denen die Agrarfrage im Vordergrund steht oder
die Kontrolle des Staates über das Gesamtterritorium
schwach ist.13
Die Lösung des Rätsels – wie nämlich aus Nichts Alles
werden kann – ergab sich für Marx und Engels scheinbar
naturwüchsig aus der Tatsache, dass das Industrieproletariat immer zunehmen und sich in immer größeren Produktionseinheiten konzentrieren würde, seine kollektiven
Organisationen stärker würden und sein Bewusstseinsstand graduell wachsen würde.
Hundertfünfzig Jahre später ist dieser Optimismus der
Vernunft nicht mehr angebracht. Freilich beschränkte
sich diese Wette auf die historische Dynamik der sozialen
Entwicklung nicht auf einen soziologischen Vulgärdeterminismus. Durch die Erfahrungen im Kampf entsteht
vielmehr zunächst ein rebellischer Geist, der eine politische Dimension annimmt, wenn der Kampf des Arbeiters
gegen seinen Boss zum Kampf des Proletariats gegen die
Bourgeoisie und die anonyme Herrschaft des Kapitals
wird.
Strategien und Parteien
So wie die Politik in den Institutionen, mit der die Parteien oft gleichgesetzt werden, haben diese inzwischen
einen schlechten Ruf, oft zurecht, zumal wenn sie sich wie
bürokratische Apparate ausnehmen, die nur der Karriere
und den Pfründen dienen. Die revolutionären Parteien,
die nützlich sind, um zu mobilisieren und Initiativen zu
ergreifen, wenn es in der Gesellschaft brodelt, können,
wenn die Bewegung abflaut, selbst zum Hort kleinlicher
Intrigen, persönlicher Eitelkeit und sektiererischer Hirngespinste werden.14 Trotzdem lässt sich eine Strategie ohne
eine Partei ebenso wenig vorstellen wie ein Kopf ohne
Körper oder ein Generalstab ohne Truppen, der imaginäre
Schlachten auf dem Reißbrett führt, wo sich Geisterarmeen gegenüberstehen.
Die weltweite Tendenz zur Entsäkularisierung und zur
sogenannten „Rückkehr“ des Religiösen ist ebenso eine
Kehrseite des Niedergangs der politischen Ideologien wie
die Parteifeindlichkeit, die heutzutage unter der alternativen Linken grassiert. Die exzessive Professionalisierung
des politischen Geschehens, die Bürokratisierung der
Organisationen und die eingestandene Ohnmacht linker
wie rechter Politiker angesichts der Allmacht der Märkte
werfen auf die Parteien zurecht den Verdacht von Manipulation, Karrierismus und Korruption oder schlichtweg
der Überflüssigkeit. Der politische Kampf bleibt dennoch
im Grunde ein Kampf zwischen Parteien, egal, welchen
Namen oder welches Emblem sie führen. Als kollektive
Organisation, die auf freiwilliger Zustimmung zu einem
Programm und zu parteiinternen Regeln beruht, ist eine
Partei noch immer die beste Garantie für eine relative
Unabhängigkeit gegenüber der Macht des Geldes und der
Manipulation durch die Medien.
So wie die „Berufsrisiken der Macht“ sind die Risiken
der Bürokratisierung keine Besonderheit der Parteiform,
Inprekorr 6/2016 41
D I E I N T E R N AT I O N A L E
sondern gründen auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung,
so der zwischen Hand- und Kopfarbeit oder zwischen
Stadt und Land. Genauso davon betroffen sind die Gewerkschaften und die Verbände, kurzum jede Form von
Organisation. In den heutigen komplexen Gesellschaften
ist dies ein durchgängiger Wesenszug. Im Zeitalter der
Kommunikationstechnologie und sozialer Netzwerke sind
die informellen Bürokratien der „flüchtigen (Post)moderne“ nicht weniger schädlich und die Formen „direkter“
oder plebiszitärer Demokratie können letztlich sehr viel
undemokratischer sein als die offene Konfrontation von
Parteien und ihren Programmen. So wie die Demokratie
weder eine Institution noch eine Sache ist, sondern „die
Tätigkeit, die den oligarchischen Regierungen unaufhörlich das Monopol über das öffentliche Leben […] entreißt“15, so ist auch die Partei keine Institution oder Sache,
sondern ein kollektiver Akteur, der seine Funktion und
seine Ziele im Licht der Praxis ständig neu erfindet.
Der Begriff der Avantgarde, der gleichfalls aus dem
Militärvokabular entlehnt ist, ist noch suspekter als der
der Partei. Während er zu Beginn des 20. Jahrhunderts
dem Zeitgeist entsprach, ist er inzwischen aus der Mode
gekommen. Damals wurde er nicht nur in der Politik,
sondern auch auf die Neuerer in der Literatur, Malerei, Architektur verwandt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben
sich die neuen Avantgardisten – Lettristen, Neu-Surrealisten, Situationisten – oft damit begnügt, die einstigen
Avantgardisten des Dadaismus, Futurismus oder Surrealismus, deren subversives Potenzial die Umwälzungen und
Hoffnungen im Gefolge der Oktoberrevolution widerspiegelte, zu persiflieren. Nachdem sich diese damaligen
Erwartungen zerschlagen hatten, stand den politischen
und kulturellen Avantgarden der Wirtschaftswunderzeit
der Sinn eher nach Parodie, Skeptizismus und Unterhaltung. Wider den eigenen Willen wurden sie zu einer Art
Reservearmee unter den Kopfarbeitern. Den Schriftstellern des „Nouveau Roman“ wie den „neuen Philosophen“
mangelte es an Originalität und ihre Moderne erschöpfte
sich in Spiegelgefechten, launenhafter Mode, morbider
Nachahmung des Vergangenen und neuen Klamotten aus
dem Secondhandshop. Während Lucien Goldmann dies
damals „die Avantgarde der Abwesenheit“ nannte, war
es für Debord bereits bloß noch eine „Abwesenheit der
Avantgarde“. Aber die Letzten werden die Ersten sein und
die Nachhut, die den Rückzug sichert, wird sich am Ende
an vorderster Front wiederfinden.
Da sie nur den Auftakt zu einer neuen Entwicklung
schlagen, werden die Avantgarden zwangsläufig ver42 Inprekorr 6/2016
schwinden, wenn sich das verwirklicht, was sie antizipiert
und angekündigt haben. In dem Maß, wie ihre Betätigung
nicht mehr auf die ferne Zukunft gerichtet ist, sondern der
Beginn einer greif baren Veränderung ist, treten sie der bestehenden Ordnung im Namen einer Zukunft gegenüber,
die Mühe hat, sich durchzusetzen. Ihre Krise ist weniger
ihrer eigenen Ohnmacht geschuldet, als vielmehr dem
Erwartungshorizont und dem kränklichen Schmachten
unserer Zeit.
Wenn sich eine Bewegung, sei sie minoritär oder
massenhaft, durch freiwillige Organisierung selbst abgrenzt, sich Statuten und Regeln auferlegt, ein Programm
verabschiedet und Initiativen ergreift, bildet sie, ob sie will
oder nicht, eine Art von Avantgarde. Ob eng oder breit,
die Zahl spielt an dieser Stelle so gut wie keine Rolle.
Denn die Form ergibt sich noch immer aus dem Inhalt.
Die Partei ist das zur Form gewordene Programm. Und
was eine Partei zu einer Avantgarde werden lässt, das ist ihr
spezifisches Verhältnis zur Politik und ihre politische Praxis, die die gesellschaftlichen Bereiche übergreifend wirkt,
sowie der Umstand, dass sie sich nicht damit begnügt,
einzelne Missstände zu kritisieren, sondern ihre Kritikpunkte zu einem politischen Entwurf bündelt. Sie steht
daher grundsätzlich im Widerspruch zu der postmodernen
Rhetorik der Stückwerk-Politik, die die geschichtlichen
Bezüge ignoriert und beliebige Allianzen bildet. Die
Protagonisten außerparlamentarischer Bewegungen sind
sich zumeist bewusst, dass man „die verschiedenen Felder,
in denen sich Widerstand regt, miteinander verknüpfen
muss“. Aber nach welchen Kriterien? Und mit welchem
Ziel? Wenn sich nicht eine Partei, die als intellektuelles
Kollektiv funktioniert, diesen Fragen widmet, dann bleibt
dies Experten und wissenschaftlichen Gremien überlassen,
die dicke Bände darüber verfassen. Und damit wären wir
paradoxerweise wieder bei den Avantgarden, diesmal bei
den Gelehrten und Meisterdenkern.
Erweisen sich außerparlamentarische Bewegungen
und Parteien in dieser Hinsicht als inkompatibel, so dass
man sich für das Eine oder das Andere entscheiden muss?
Angesichts der Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts ist
das Misstrauen gegenüber Parteiapparaten, Ideologien und
Parteiläden verständlich. Parteiläden jedoch gibt es aller
Arten, große und kleine, multinationale und mittelständische. Es gibt sogar Medienstars, die für sich einen eigenen
Laden bilden. Ein paar Leute reichen schon aus, um eine
Ansammlung zu bilden, und bereits der Ansatz zur Organisierung schafft einen solchen „Laden“. Da gibt es kein
Entrinnen.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Das tatsächliche Problem liegt darin, dass sich soziale Bewegungen und politische Organisationen unter
klar definierten und öffentlich gemachten Bedingungen
zueinander verhalten müssen. Dies und eine freie Aussprache führen weiter, als wenn hinter den Kulissen verhandelt wird. Denn nicht nur ist die Existenz von Parteien
keinerlei Hindernis für die Demokratie, sondern vielmehr
deren notwendige Voraussetzung. Ohne die dialektischen
Beziehungen von Mittel und Zweck, Ziel und Wegen
würde sich die Politik in Nichts auflösen. Sie würde sich
auf routinehafte Verwaltung beschränken, ohne Projekt
und ohne Vision, kurzum ohne jegliche Strategie.
Daniel Bensaïd (1946-2010),
Aktivist und Philosoph, spielte im Mai 68 als Mitglied des
mouvement du 22 mars eine bedeutende Rolle und war
1969 (nachdem im Anschluss an den Mai 68 alle revolutionären Organisationen verboten worden waren) einer der
Gründungsmitglieder der Ligue communiste, franz. Sektion
der IV. Internationale. Später war er – neben seiner aktiven
Rolle in der franz. Sektion – lange Zeit bis zum Ausbruch
seiner schweren Erkrankung Mitglied in den Leitungsgremien der IV. Internationale. Mehr Angaben zu seiner Person
finden sich unter http://danielbensaid.org, wo sich eine ganze
Reihe seiner Schriften findet, darunter einige bisher noch
nicht veröffentlichte. Der hier vorliegende Text wurde im
August 2007 geschrieben und war bis vor kurzem unveröffentlicht. Das Original findet sich unter http://danielbensaid.
org/La-politique-comme-art-strategique,1625. Die franz.
Zeitschrift inprecor, von der wir diesen Artikel übernehmen,
dankt Sophie Bensaïd für die Abdruckerlaubnis.
ebenso wenig imstande sein, wie eine neue Mode die Gesellschaft erneuern könnte.”
10 Diese Fragen blieben auch nach dem V. Kongress der
Komintern, wo sie anlässlich des Scheiterns des Deutschen
Oktobers (1923) äußerst kontrovers diskutiert worden waren,
offen.
11 Für Gramsci ist der affirmative Bezug auf die Nation legitim, solange er innerhalb einer internationalistischen Perspektive steht.
12 Die Erfahrungen in Chile und Portugal haben gezeigt,
dass die herrschenden Klassen, selbst wenn sie geschwächt
und in der Defensive sind, noch immer ihre höhere Entscheidungs- und Initiativbefugnis dafür nutzen können, bspw. den
Staatsstreich in Santiago vorzubereiten oder gegen eine zwar
mächtige, aber gespaltene und gering organisierte Volksbewegung vorzugehen, wie im November 1975 in Portugal
geschehen.
13 Diese Erkenntnis unterstrich Mao Zedong lange vor der
Gründung der Republik von Yanan in seinem 1928 erschienenen Buch Warum kann die chinesische Rote Macht bestehen?
14 Insofern unterscheidet Marx zwischen der Partei „im
großen historischen Sinn“, in der sich das Proletariat als „politische Klasse“ konstituiert, von der Partei im formellen Sinn,
die als ephemere Organisation an bestimmte Konjunkturen
gebunden ist. Daher hat er auch nicht gezögert, zweimal Parteien aufzulösen, die er selbst mitbegründet hat, nämlich den
Bund der Kommunisten 1852 und die I. Internationale 1874.
15 Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, Berlin 2016
Übersetzung: MiWe
„
1 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Suhrkamp Vlg. 1982
2 Guy Debord, Das Kriegsspiel, Merve Vlg. 2016
3 Zitate sämtlich aus Guy Debord, Œuvres, Gallimard, 2006
4 Antoine-Henri de Jomini (1779-1869), Bankier, Historiker
und militärstrategischer Theoretiker, gehörte zum Generalstab von Napoleon Bonaparte und später von Zar Alexander I.
Die folgenden Zitate sind seinem Abriss der Kriegskunst,
vdf Hochschulverlag 2009 entnommen.
5 Carl von Clausewitz, Nachrichten über Preußen in seiner großen
Katastrophe
6 Antonio Gramsci, Gefängnisheft 13, Argument-Vlg.
7 Helmuth von Moltke, Über Strategie, 1871
8 Gracchus Babeuf prägte seinerzeit den Begriff populicide “
in seiner Schrift Du système de dépopulation ou La vie et les crimes
de Carrier.
9 Zitat von Auguste Blanqui, Die Ewigkeit durch die Sterne,
Berlin 2015, ein für Walter Benjamin zentraler philosophischer Text, den er in seinem Passagenwerk so kommentiert:
„“In ihr [Blanquis Vision] figuriert die Menschheit als eine
verdammte. Alles Neue, das sie erwarten könnte, wird sich als
ein von jeher dagewesenes entschleiern; sie zu erlösen, wird es
Inprekorr 6/2016 43
D I E I N T E R N AT I O N A L E
GRUNDZÜGE EINER
BEDÜRFNISORIENTIERTEN
ÖKONOMIE
Auch wenn die derzeitige Systemkrise des Kapitalismus (siehe z. B. Scheidler 2015)
die Suche nach nichtkapitalistischen Formen des Wirtschaftens befördert, so sind
alternative ökonomische Modelle nicht erst seit Ausbruch der Krise entwickelt
worden.
Bernhard Brosius
„
Die Suche nach einer anderen Ökonomie
Schon vor über 170 Jahren empörten sich die frühen Sozialisten über die schreiende Ungerechtigkeit im Kapitalismus
und begannen mit der Suche nach einer Wirtschaftsform,
die soziale Ungerechtigkeit unmöglich machen sollte. Die
Konzepte dieser Frühsozialisten sind in die theoretischen
Arbeiten von Marx eingeflossen.
Marx hat zwar kein Buch zu einer nachkapitalistischen
Ökonomie geschrieben und keinen Aufsatz. Doch in
seinen Werken sind zahllose Gedanken enthalten zu einer
Wirtschaft, die die Menschheit versorgen kann, ohne dass
sie von Konkurrenz und Profitgier getrieben wird. Daher
sind seine Texte wichtige Quellen bei der Suche nach einer
anderen Wirtschaftsform.
Diese Textstellen zeigen außerdem, dass Marx zwei
Formen nichtkapitalistischer Ökonomie – Ökonomien,
in denen alle notwendigen Arbeiten erledigt werden ohne
Bezahlung, Geldverkehr und Tausch, indem die notwendigen Arbeiten verteilt werden nach Befähigung und die
Güter nach Bedarf – deutlich vor Augen hatte:
44 Inprekorr 6/2016
Zum einen die Familie, in der die Zeit für das Annähen abgerissener Knöpfe nicht verrechnet wird gegen die
Zeit für das Zubereiten einer Mahlzeit, – vielmehr werden
alle notwendigen Tätigkeiten schlicht und einfach ausgeführt. Zum anderen die sehr viel ausgedehntere Ökonomie der vorindustriellen, bäuerlichen Großfamilie, in
der gesponnen, geflochten, gewebt, geschneidert, gebaut,
gekocht usw. wurde, ohne dass je innerhalb des Bauernhofes die Produkte getauscht worden wären. Derartige
Beispiele verwendet Marx immer wieder, um theoretische
Prinzipien einer nichtkapitalistischen, sozialen Ökonomie
zu veranschaulichen.
Mit Marx endete gewissermaßen die erste Welle der
Suche nach der alternativen Ökonomie, gespeist aus der
Empörung über die Ungerechtigkeit im Kapitalismus.
Die zweite Welle entsprang der praktischen Notwendigkeit, nach der Oktoberrevolution in Russland eine
nichtkapitalistische Ökonomie aufzubauen. Sie begann mit
einer intensiven Debatte Anfang der 1920 Jahre, die später
aufgearbeitet wurde unter anderem von Ernest Mandel
D I E I N T E R N AT I O N A L E
KOMMUNISMUS OHNE HEXEREI – REFLEXIONEN EINES ANTHROPOLOGEN
Der US-amerikanische Anthropologe David Graeber schreibt:
siert. Aber oft besteht da eine interessante Spannung, weil hier-
„Ich definiere Kommunismus hier als jede menschliche Bezie-
archische Kommandoketten nicht sonderlich effizient sind: Sie
hung, die nach dem Prinzip funktioniert „jeder nach seinen Fä-
fördern Dummheit bei den Leuten an der Spitze und gereizten
higkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. […]
Schlendrian beim Fußvolk unten in der Hierarchie. Je dringlicher
Fast alle, die bei einem beliebigen Projekt zusammenarbeiten,
folgen diesem Prinzip. Wenn jemand beim Reparieren eines ka-
es ist, zu improvisieren, desto demokratischer wird die Kooperation in der Regel. […]
putten Wasserrohres sagt: „Gib mir den Schraubenschlüssel“,
Genauso verhalten sich Menschen mutmaßlich nach großen
wird sein Kollege in der Regel nicht antworten: „Und was be-
Katastrophen – einer Flut, einem Stromausfall oder einem wirt-
komme ich dafür?“ – nicht einmal, wenn die beiden für Exxon-
schaftlichen Zusammenbruch: Sie wenden sich einem improvi-
Mobil, Burger King oder Goldman Sachs arbeiten. Der Grund ist
sierten Kommunismus zu. Vorübergehend werden Hierarchi-
schlicht die Effizienz. […]
en, Märkte und dergleichen zu Luxusgütern, die sich niemand
Wenn Sie wollen, dass etwas wirklich erledigt wird, besteht
leisten kann. Wer so etwas einmal erlebt hat, betont den ganz
die effizienteste Methode darin, die Aufgaben nach Fähigkeiten
besonderen Charakter dieser Situation: Wie Fremde zu Brüdern
zu verteilen und den Menschen zu geben, was sie brauchen, um
und Schwestern werden und die Gesellschaft wie neugeboren
diese Aufgaben zu bewältigen. Man könnte es sogar als einen
erscheint. Das ist wichtig, denn es zeigt, dass wir nicht einfach
Skandal des Kapitalismus bezeichnen, dass die meisten kapitalis-
nur über Kooperation sprechen. Vielmehr gilt: Kommunismus ist
tischen Unternehmen intern kommunistisch operieren. Zugege-
das Fundament des menschlichen Zusammenlebens. Er macht
ben, sie operieren nicht sehr demokratisch; meistens sind sie mit
eine Gesellschaft überhaupt erst möglich.“
hierarchischen Kommandoketten im militärischen Stil organi-
und in seinen Werken ihren Niederschlag fand, z. B. in
den letzten Kapiteln der „Marxistischen Wirtschaftstheorie“ (Mandel 2007: 640–738) oder in Aufsätzen (Mandel
1989). Die Debatte wiederholte sich nach der kubanischen
Revolution 1960. Auch damals entstanden Texte, die für
unsere heutige Positionierung relevant sind (z. B. Bettelheim et al. 1969, Tablada 1989), und sicher existieren
weitere Schätze.
Die dritte Welle begann um 2000, also nach Überwindung der Schockstarre, die aus dem Zusammenbruch des
Ostblocks resultierte. Bereits 1993 erschien ein erstaunliches Buch, in dem entwickelt wird, wie sich die inzwischen erreichte, extrem hohe Produktivität in einer alternativen Ökonomie auswirken würde. Der Autor rechnet
vor, dass zur Erhaltung des bereits erreichten Lebensstandards eine Fünfstundenarbeitswoche ausreichen würde. So
heißt denn auch sein Buch: „5 Stunden sind genug“ (Dante
1993), das auch via Internet abruf bar ist. Seit Beginn der
Zweiten Weltwirtschaftskrise 2007 und angesichts dessen,
was da auf uns zukommen wird, hat sich die Beschäftigung
mit einer anderen Ökonomie weiter intensiviert. Neue
theoretische Aspekte werden thematisiert (z. B. Schäfer
2010, Harbach 2011, dort auch eine umfangreiche Lite-
(Graeber 2012: 100, 102, Hervorhebung im Original)
raturliste), aber es gibt auch zeitgenössische, praktische
Erfahrungen. Cecosesola, eine große landwirtschaftliche
Kooperative in Venezuela, feierte 2012 ihr 45-jähriges
Bestehen (Cecosesola 2013). Und zahlreiche Industriebetriebe wurden nach dem Bankrott ihrer Eigentümer von
den ArbeiterInnen übernommen und weitergeführt, z. B.
in Argentinien.
In der umfassenden (und vernichtenden) Zivilisationskritik unserer Epoche („Das Ende der Megamaschine – Die Geschichte einer scheiternden Zivilisation“)
schreibt der Autor, Fabian Scheidler: „Die Kombination
der ökologischen und sozialen Verwerfungen bringt eine
extrem komplexe, chaotische Dynamik mit sich, und es
ist prinzipiell unmöglich vorherzusagen, wohin dieser
Prozess führen wird. Klar ist aber, dass ein tiefgreifender,
systemischer Umbruch unausweichlich ist – und teilweise
schon begonnen hat. Dabei geht es um weit mehr als um
eine Überwindung des Neoliberalismus oder den Austausch bestimmter Technologien; es geht um eine Transformation, die bis in die Fundamente unserer Zivilisation
reicht. Die Frage ist nicht, ob eine solche Transformation stattfinden wird – das wird sie auf jeden Fall, ob wir
wollen oder nicht – sondern wie sie verläuft und in welche
Inprekorr 6/2016 45
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Richtung sie sich entwickeln wird. … Die Frage des Wie
und Wohin der Transformation ist daher eine Frage von
Leben und Tod für große Teile der Weltbevölkerung.
Art und Richtung des systemischen Umbruchs werden
darüber entscheiden, in was für einer Welt wir und unsere
Nachkommen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
leben werden.“ (Scheidler 2015: 13). Und gegen Ende des
Buches, wenn es um die Alternativen geht, heißt es: „Der
Motor der großen Maschine besteht darin, aus Geld mehr
Geld zu machen, vollkommen unabhängig vom Sinn oder
Unsinn der damit verbundenen Tätigkeiten. Aus dieser
Logik auszusteigen bedeutet, die Sinnfrage wieder in die
Ökonomie einzuführen. Anstatt zu fragen: ‚Wie können
wir die Wirtschaft ankurbeln?‘ oder ‚Wie können wir
Beschäftigung schaffen?‘, kehrt sich die Perspektive um:
Wozu stellen wir Dinge her? Was brauchen wir wirklich?
Wie können und wollen wir das produzieren und verteilen? Was können wir weglassen? Wie wollen wir darüber
entscheiden, was und wie wir produzieren?“ (ebd. Seite
212) … „Die verschiedenen Ansätze, aus der Profit- und
Akkumulationslogik auszusteigen, spiegeln recht unterschiedliche Auffassungen davon wider, welche Rolle dem
Markt und dem Geld zukommen soll. … Trotz dieser
Unterschiede zeigt sich aber tendenziell ein gemeinsamer
Nenner: Die Sicherung des existentiell Notwendigen muss
aus der Marktlogik herausgelöst werden. Für Wohnen,
Ernährung, Wasserversorgung, Energie, Gesundheit, Bildung, Kultur, Kommunikation und Transport geht es darum, solidarische Formen der Produktion und Verteilung
zu schaffen, sei es innerhalb von Kooperativen, landesweiten Netzwerken oder auch über öffentliche Institutionen.“
(ebd. Seite 216).
Mit dieser Liste des „existentiell Notwenigen“ sind wir
bereits mitten drin in der Diskussion um die menschlichen
Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung.
Profitorientiert oder bedürfnisorientiert?
Kapitalistische Ideologen machen es sich einfach und sagen:
„Es gibt so viele Bedürfnisse – nahezu unendlich viele –,
dass nur der Kapitalismus sie befriedigen kann.“
Dieser Satz ist in dreifacher Hinsicht falsch:
1 Die kapitalistische Ökonomie kann nur solche Bedürfnisse befriedigen, die überhaupt durch eine auf Tausch
basierende Ökonomie befriedigt werden können. Also die
Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen, die einen
Preis haben und gekauft werden können. Eine nichtkapitalistische Ökonomie hingegen hat – auch wenn es vielleicht
paradox klingen mag – das Potential, auch außerökonomi46 Inprekorr 6/2016
sche Bedürfnisse zu befriedigen, z. B. das Bedürfnis, durch
die Arbeitsprozesse nicht die Natur zu zerstören, – oder
das Bedürfnis, Arbeit und Familie besser miteinander zu
verbinden, – oder das Bedürfnis, die Güterproduktion
auch mit kulturellen Aktivitäten zu kombinieren.
2 Kann der Kapitalismus denn wenigsten die Bedürfnisse
nach käuflichen Gütern und Dienstleistungen befriedigen?
Über 800 Millionen Menschen auf der Erde sind invalide infolge chronischer Mangel- und Unterernährung.
Jedes Jahr verhungern etwa 30 Millionen Menschen. 1,3
Milliarden Menschen haben keinen dauerhaft gesicherten Zugang zu sauberem Wasser und jährlich sterben 3,3
Millionen Kinder, weil sie verschmutztes Wasser trinken
müssen (Ziegler 2005: 100, 101, 256). Und um Unterversorgung an Trinkwasser, Nahrung und Medikamenten zu
untersuchen, müssen wir nicht mehr ins Innerste Afrikas
gehen (wo die Menschen sich übrigens hervorragend selbst
versorgen konnten, bevor sie der kapitalistischen Wirtschaft unterworfen wurden): In den USA hungerten 2012
etwa 48 Millionen Menschen, fünfmal so viel wie 1960,
„weil die Löhne so geschrumpft sind“ (McMillan 2014)
und in Deutschland hungerten im gleichen Jahr sechs
Millionen (Wöhrle 2014). Diese Zahlen standen nicht in
einem linksradikalen Pamphlet, sondern im „National
Geographic“.
Kann der Kapitalismus die Bedürfnisse befriedigen?
Oder ist es nicht gerade das himmelschreiende Versagen
der kapitalistischen Marktwirtschaft, das uns zwingt, nach
Alternativen zu suchen?
3 Gibt es überhaupt so unübersichtlich viele Bedürfnisse?
Versuchen wir doch, sie näher zu bestimmen. Die eine
Gruppe der elementarsten Bedürfnisse umfasst Schutz
und Versorgung und Zuwendung in allen Fällen, in denen
der Mensch schwächer ist als die Mitmenschen und deren
Hilfe benötigt: in Kindheit, Krankheit und Alter. Gerade
hier müssen wir uns fragen, ob diese Bedürfnisse im Kapitalismus überhaupt optimal befriedigt werden, ob sie im
Kapitalismus überhaupt optimal befriedigt werden können.
Die zweite Gruppe besteht aus einem Paket konkreter
Güter und Dienstleistungen. Die Liste an Bedürfnissen,
die Fabian Scheidler (2015: 216, siehe oben) erstellte, sieht
nicht anders aus als die Listen anderer Autoren (z. B. Ernest
Mandel 1989): Nahrung, Wasser, Kleidung, Wohnung,
Energie, Hygiene, Bildung, Kultur, Gesundheit, Kommunikation, Transport. Dabei müssen wir aber einen
einfachen Sachverhalt berücksichtigen: Wenn wir durstig
sind, haben wir das Bedürfnis, etwas zu trinken. Ob dieses
Bedürfnis jedoch befriedigt wird durch Wasser, Tee, Obst-
D I E I N T E R N AT I O N A L E
saft, Wein, Bier oder Champagner, ist eine ganz andere
Frage. Denn: Ob ein Bedürfnis als Grundbedürfnis, als
erweitertes Bedürfnis oder als Luxusbedürfnis in Erscheinung tritt, charakterisiert nicht die Art des Bedürfnisses,
sondern das Niveau seiner Befriedigung! Nur, wenn wir
diese beiden Ebenen miteinander vermischen, kommen
wir zu so unglaublich vielen Bedürfnissen.
Heute wird produziert, was Abnehmer findet. Eine
soziale Gesellschaft hingegen wird demokratisch entscheiden, auf welchem Niveau Bedürfnisse befriedigt werden
nach Maßgabe dessen, was sie leisten kann und leisten will
(Mandel 1989). Kriterien könnten sein: Arbeitsaufwand,
Umweltbelastung (bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung des Produktes), Fragen der Verteilungsgerechtigkeit
etc. Und da die Konsumenten, deren Bedürfnisse befriedigt
werden sollen, ja gleichzeitig auch die Produzenten sind,
welche diese Güter herstellen, werden sie sicher auch Wege
finden, Bedürfnisse auch auf Luxusniveau zu befriedigen.
Die Behauptung, es gäbe nahezu unendlich viele
Bedürfnisse, so dass nur der Kapitalismus alle befriedigen
könne, entpuppt sich als platte ideologische Behauptung,
als Zweckpropaganda, die uns davon abhalten soll, nach
Alternativen zum Kapitalismus zu suchen.
einen Job finde, bekomme ich Geld dafür, dass ich arbeite,
also meine Arbeitskraft verausgabe. Mit dem Geld gehe ich
wieder auf den Markt (Supermarkt) und kaufe die benötigten Güter – an deren Produktion ich selbst zuvor beteiligt
war!
Schon hier drängt sich der Verdacht auf, dass das auch einfacher ablaufen könnte:
1 Zuerst stellen wir gemeinsam fest, was wir brauchen.
2 Danach entscheiden wir, wie die einzelnen Ressourcen
auf die Produktion der benötigten Güter verteilt werden.
3 Dann produzieren wir das Benötigte.
4 Zuletzt werden die produzierten Güter verteilt und
konsumiert.
Das hat den großen Vorteil, dass wir nur noch das
herstellen müssen, was wir hinterher auch konsumieren
wollen. Was keiner braucht, wird gar nicht erst gemacht.
Also
„ kein gentechnisch verändertes Getreide,
„ kein neues Sturmgewehr für die Bundeswehr,
„ keine Atomkraftwerke, keine Kohlekraftwerke,
„ keine Optionsscheine auf fallende oder steigende Aktienkurse,
„ keine Reklameflut für unsere Briefkästen,
„ …
Der Wirtschaftskreislauf
Auch wenn wir nach einer Wirtschaft suchen, welche die
Bevölkerung versorgt, ohne durch Konkurrenz und Profitgier angetrieben zu sein, müssen wir doch zuerst schauen,
wie die Versorgung heute erfolgt.
Heute erfolgt die Versorgung durch Kaufen: Ich
bekomme nur dann etwas, wenn ich etwas anderes, aber
gleichwertiges (in der Regel Geld) dafür hergeben kann.
Eine logische Konsequenz dieses Prinzips sind beispielsweise die Hungersnöte in Bangladesch. Wenn starke Regenfälle und Überschwemmungen Missernten im Süden
des Landes verursachen, bleibt den Bauern dort nichts für
den Eigenbedarf. Es bleibt ihnen auch nichts, was sie verkaufen könnten. Demzufolge haben sie kein Geld, um etwas zu kaufen. Die Bauern im Norden, deren Ernteerträge
für alle Menschen im Land ausreichen würden, können die
von ihnen erzeugten Nahrungsmittel aber nicht im Süden
verkaufen, denn dort haben die Menschen ja kein Geld,
um sie zu kaufen. Also verkaufen sie ihre Produkte nach
Indien, wo noch Kaufkraft vorhanden ist – und die Menschen im Süden des Landes verhungern (Sen 1993).
Wenn ich die Güter, die ich brauche, kaufen will, gehe
ich wie folgt vor: Zuerst begebe ich mich auf den Markt
(Arbeitsmarkt) und biete meine Arbeitskraft an. Wenn ich
Wir sehen, dass mit einer Umstellung der Wirtschaft auf
die Bedürfnisorientierung eine enorme Schrumpfung des
notwendigen Arbeitsaufkommens verbunden wäre. Da
über die Verteilung der vorhandenen Ressourcen – und
Arbeitszeit ist eine dieser Ressourcen – gemeinschaftlich
entschieden würde, wäre das Resultat nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitszeitverkürzung für alle.
Betrachten wir nun im Einzelnen die vier entscheidenden Schritte der bedürfnisorientierten Ökonomie:
1 Messung des Bedarfs,
2 Aufteilung der Ressourcen,
3 Produktion des Benötigten,
4 Verteilung des Produzierten.
Von der Messung des Bedarfs zur Produktion des
Benötigten
Zur Messung des Bedarfs müssen wir – wie heute auch
– dorthin gehen, wo die Dinge sind, die wir brauchen
(Supermarkt, Einzelhandel, Internet), also dorthin, wo ein
Vorrat der benötigten Dinge existiert. Dort entnehmen wir
diesem Vorrat so viel, wie wir brauchen. Das bedeutet: Es
muss für alle Güter ein Vorrat existieren über den Bedarf
hinaus! Die Messung des Bedarfs ist dann nichts anderes als
Inprekorr 6/2016 47
D I E I N T E R N AT I O N A L E
die Messung der Geschwindigkeit, mit der die Güter dem
Vorrat entnommen werden. Auch in einem zukünftigen
Supermarkt werden die Produkte zuletzt an der „Kasse“
gescannt. Wir müssen sie dann zwar nicht mehr bezahlen,
aber wir müssen weiterhin sehr wohl messen, wie schnell
der Vorrat schwindet. Denn mit dieser Geschwindigkeit
muss nachproduziert werden!
Der Vorrat muss also so groß sein, dass er bis zur nächsten Lieferung nicht aufgebraucht ist, und zwar auch dann,
wenn außergewöhnliche Nachfragespitzen auftreten. Nur
so kann der Bedarf festgestellt werden. (Würde der Vorrat
vorzeitig aufgebraucht, herrschte Mangel. Aber dann
könnte nicht mehr gemessen werden, wie groß der Mangel
ist.) Der Vorrat ist gesellschaftlicher Reichtum und keine
Verschwendung, denn alle Güter aus dem Vorrat werden
konsumiert. Die Größe des Vorrats bestimmt lediglich
die zeitliche Verzögerung, mit der das Gut den Endverbraucher erreicht. Durch diese Vorgehensweise legen die
Konsumenten selbst fest, was und wieviel sie brauchen. Eine
Behörde oder Bürokratie, die den Bedarf schätzt, die Güter also zuteilt und den Menschen somit vorschreibt, was
sie brauchen, kann gar nicht erst entstehen.
Wenn klar ist, was und wieviel benötigt wird, folgt der
zweite Schritt:
Die Bereitstellung der benötigten Ressourcen.
Arbeitszeit, Maschinen, Rohstoffe, Energie, Infrastruktur etc. müssen zur Verfügung stehen. Aber da für
die Produktion von Maschinen, Rohstoffen, Infrastruktur
etc. ebenfalls Arbeitszeit notwendig ist, lässt sich für die
Herstellung aller Produkte und aller Ressourcen die notwenige Arbeitszeit berechnen. Die Gesellschaft wiederum
hat nur ein begrenztes Budget an Arbeitszeit: Die Anzahl
der Arbeitskräfte, multipliziert mit der durchschnittlichen
Anzahl der Arbeitsstunden eines Menschen pro Jahr, ergibt
die Gesamtzahl der verfügbaren Arbeitsstunden. Diese
Arbeitsstunden müssen dem gemessenen Bedarf entsprechend auf die Produktion der benötigten Güter und Ressourcen aufgeteilt werden. Dazu gehört auch die Berücksichtigung des nötigen Zeitbedarfs für die Erziehung der
Kinder und die Versorgung der Alten und Kranken! Die
jeweils konkreten Entscheidungen zur Bereitstellung der
Ressourcen wiederum sind Aufgabe der demokratischen
Strukturen. Es müssen folglich bereits vor der Einführung
der bedürfnisorientierten Ökonomie basisdemokratische,
gesellschaftliche Strukturen existieren, die aus der Fülle
von Informationen letztendlich zu Entscheidungen führen
und diese auch umsetzen können. Grundlegend ist, dass
diese Prozesse demokratisch ablaufen. Denn die bedürfnis48 Inprekorr 6/2016
orientierte Ökonomie ist ja nichts anderes als die Einführung der Demokratie in die Ökonomie! Und dann stehen
beispielsweise dem Bedarf an Handys in den USA und der
EU ganz sicher auch die Bedürfnisse der kongolesischen
Arbeiter in den Coltanminen gegenüber … Es gibt also
viele Entscheidungsebenen: Betrieb, Branche, Stadtteil,
Stadt, Region … bis zur globalen Ebene. Generell ist
dieser Aspekt also nur bedingt ein ökonomischer, wesentlich ist er ein politischer, eine Frage der Basisdemokratie.
Denn auf den gleichen Wegen, auf denen die politischen
und sozialen Informationen und Entscheidungen über den
Planeten strömen werden, müssen auch die ökonomischen
und ökologischen Informationen und Entscheidungen fließen. Keim eines neuen Widerspruchs wäre es, würden die
ökonomischen Fragen in einer anderen Struktur abgehandelt als die sozialen Folgen, die sich aus ihnen ergeben.
Der gleichen Frage nach der Bereitstellung der benötigten Ressourcen können wir uns auch noch auf einem
anderem Wege nähern, nämlich indem wir uns anschauen,
wie
die Produktion der benötigten Güter erfolgt.
Die Produktion des Benötigten ist nur möglich, wenn
zuvor die Bedürfnisse der Produzenten befriedigt wurden.
Denn nicht nur die Konsumenten haben Bedürfnisse,
sondern auch die Produzenten. In ihrer Eigenschaft als
Konsumenten haben die Menschen die Bedürfnisse nach
Nahrung, Kleidung, Wohnung etc. In ihrer Funktion als
Produzenten haben die gleichen Leute die Bedürfnisse nach
Rohstoffen, Vorprodukten, Werkzeugen, Maschinen,
Energie, Ersatzteilen, Räumlichkeiten, Wissen, Informationen, Infrastruktur … Erst wenn diese Bedürfnisse der
Produzenten befriedigt sind, können sie damit beginnen,
die Produkte für die Konsumenten herzustellen.
Damit wird das Prinzip der Bedürfnisorientierung auf
die nächste Ebene gehoben: von den Konsumgütern zur
Produktion der Konsumgüter. Insofern Maschinen, Werkzeuge, Kraftwerke etc. zur Produktion der Konsumgüter
notwendig sind, müssen diese ebenfalls hergestellt werden,
und das Prinzip der Bedürfnisorientierung erreicht die
nächste Stufe, die der Produktion der Produktionsmittel. Zuletzt geht es dann um die Produktion der Rohstoffe.
Jede dieser Stufen wird erreicht, indem immer wieder
dieselben beiden Grundfragen gestellt werden:
1 Was wird benötigt?
2 Was wird benötigt, um es herzustellen?
Die damit verbundenen weiteren Fragen (Sinn der Produktion, Umweltbelastung, soziale Auswirkungen …)
D I E I N T E R N AT I O N A L E
sind Gegenstand des demokratischen Diskurses und die
gesellschaftlichen Antworten führen letztendlich zur
Entscheidung über die Bereitstellung der benötigten
Ressourcen, wie oben beschrieben. Dadurch aber, dass
jede Stufe der Wirtschaft durch die immer gleichen beiden
Grundfragen strukturiert wird, führt die Orientierung an
den Bedürfnissen zur Entwicklung einer eigenen, inneren
Logik – so, wie heute das Prinzip des Kaufens die innere
Logik der Marktwirtschaft darstellt.
Es bleibt nun noch die Frage, wie die Produkte zu den
Konsumenten gelangen. Heute erfolgt die Aneignung der
Güter dadurch, dass der Konsument an der Kasse die auf
dem Preisschild angegebene Geldmenge abgibt. Wie aber
erfolgt in der bedürfnisorientierten Ökonomie die Aneignung der Güter durch die Konsumenten?
Die Verteilung der Güter
Die wichtigste Ressource der Produktion ist die menschliche Arbeitskraft. Da in einer basisdemokratischen
Gesellschaft alle Informationen verfügbar sind und das
produziert wird, was benötigt wird, ist der Sinn der eigenen Arbeit unmittelbar einsichtig. Er besteht nicht mehr
primär im Geldverdienen, sondern unmittelbar in der Deckung des eigenen Bedarfs: Der Vorrat, dem ich die Güter
entnehme, muss gefüllt bleiben.
Ein Gebot der Verteilungsgerechtigkeit ist dann die
Gleichverteilung der notwendigen Arbeit auf alle Arbeitsfähigen (Marx 1890: 552). Die unmittelbaren Folgen
dieser Maßnahme sind:
1 Jeder kommt in den Genuss einer sinnvollen Tätigkeit.
2 Es gibt keine Arbeitslosigkeit mehr.
3 Wenn die Arbeit auf alle gleich verteilt wird, ist die Arbeitszeit für jeden am kürzesten.
Damit aber werden keine Waren mehr produziert, die
noch zu tauschen wären, sondern jeder bezahlt mit seiner
Arbeit seinen Anteil am Gesamtprodukt! (Marx 1856: 104).
Deshalb müssen die Produkte nicht mehr mit Geld bezahlt werden – sie sind bereits bezahlt mit der verausgabten
Arbeit beim Produktionsprozess. Oder anders gesagt: Die
Arbeit wird nicht mehr mit Geld bezahlt, sondern dadurch, dass man die Güter abholen kann, die man braucht.
Gleichzeitig wird beim Abholen der Güter der Bedarf gemessen und der Wirtschaftskreislauf beginnt von
neuem.
Schauen wir noch einmal auf den erwähnten Satz von
Marx, dass die Arbeitszeit für jeden am kürzesten ist, wenn
die Arbeit auf alle gleich verteilt wird (Marx 1890: 552):
„ Die Gleichverteilung der Arbeit ist eine Maßnahme zur
Arbeitszeitverkürzung! Wenn ein Teil der Arbeitsfähigen
nicht arbeiten kann, weil er exerzieren muss, dann müssen
andere umso mehr arbeiten. Wenn ein Teil der Bevölkerung nicht arbeitet, weil er reich ist, müssen andere umso
mehr arbeiten …
„ Arbeiten, die nicht benötigt werden, entfallen: Keine
Rüstung, keine Reklameflut, kein Geldverkehr … Alle
Banker und Börsianer bekommen endlich die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun.
„ Eine Milliarde Menschen weltweit sind arbeitslos.
Ihre Rückführung in die Produktion wird sie nicht nur
dem Elend entreißen, sondern gleichzeitig eine erhebliche Arbeitszeitverkürzung für die übrigen Arbeitenden
bewirken.
„ Die ungeheure Vergeudung von Arbeitszeit durch
Konkurrenz entfällt.
Und weitere Wege zu weiteren Arbeitszeitverkürzungen
lassen sich denken.
Im Jahre 1993 rechnete ein Ökonom, der sich das
Pseudonym „Darwin Dante“ einfallen ließ, diese Szenarien durch und konnte so zu quantitativen Angaben über die
eingesparte Arbeitszeit gelangen. In dem Text „5 Stunden
sind genug“ (unter diesem Suchbegriff im Internet abrufbar) führt er detailliert und gut nachvollziehbar aus, dass
bei Gleichverteilung der Arbeit eine Arbeitszeit von fünf
Stunden pro Woche ausreichend ist zur Produktion der
benötigten Güter.
Da es wenig sinnvoll ist, bis zum 60sten Lebensjahr
jede Woche für fünf Stunden am Arbeitsplatz zu erscheinen, könnte man die Fünfstundenarbeitswoche auch in
Lebensarbeitszeit umrechnen. Das Renteneintrittsalter
nach der Grundproduktion läge dann vielleicht bei 30 bis
35 Jahren. Damit wiederum eröffnen sich ganz andere Perspektiven. Denn sicher wollen viele ihren Beruf nicht nach
so kurzer Zeit wieder aufgeben, sondern länger arbeiten.
Deshalb könnten unbeliebte Tätigkeiten mit einer noch
kürzeren Lebensarbeitszeit angesetzt werden, sodass auch
solche Tätigkeiten attraktiv werden für Menschen mit
einem anderen Lebensentwurf. Die eigentliche Flexibilität
zugunsten des einzelnen Menschen ist erst in einer bedürfnisorientierten Ökonomie möglich.
Privateigentum oder Gemeineigentum?
In einer bedürfnisorientierten Ökonomie hat folglich jeder
Mensch Zugang zu den von ihm benötigten Gütern und
Dienstleistungen. In der profitorientierten Ökonomie wie
Inprekorr 6/2016 49
D I E I N T E R N AT I O N A L E
in jeder auf Tausch basierenden Ökonomie besteht das
Recht, einem anderen Menschen eine Sache nicht zu geben, selbst wenn er diese Sache noch so dringend benötigt,
wenn nicht etwas Anderes, Gleichwertiges (Geld) zurückgegeben wird. Deshalb wird beispielsweise das vorhandene Getreide nicht an die Verhungernden verteilt. Dieses
Recht besteht dann, wenn Menschen nicht nur Besitzer,
sondern Eigentümer sind. Deshalb ist für die innere Logik
der bedürfnisorientierten Ökonomie die Abwesenheit von
Privateigentum von besonderer Bedeutung.
Die bedürfnisorientierte Ökonomie bewirkt die gerechte Verteilung der Güter nicht, indem jeder das gleiche
Quantum erhält, sondern indem jeder erhält gemäß seinen
Bedürfnissen. Wer viel braucht, kommt oft und holt viel,
wer wenig braucht, kommt seltener und holt weniger
(Widlok 2010: 102). Offensichtlich ist, dass eine solche
Wirtschaftsform nur eingeführt werden und bestehen
kann, wenn es eine gemeinsame Basis, ein gemeinsam
erarbeitetes und eingehaltenes Regelwerk gibt zugunsten
dieser Form der Ökonomie (ebd. Seite 97). Auf bau und
Erhaltung der bedürfnisorientierten Ökonomie sind ein
komplexer, kultureller Prozess, dem eine bewusste Entscheidung – eine „kulturelle Innovation“ – zugrunde liegt, – die
Entscheidung, eben diese Wirtschaftsform einzuführen
(ebd. Seite 103).
Eine solche Ökonomie funktioniert vergleichbar dem
Prinzip der „kommunizierenden Röhren“ – in allen
miteinander verbundenen Röhren steht der Flüssigkeitsspiegel, der Gütervorrat, gleich hoch, unabhängig davon,
ob die Röhren dick oder dünn sind. Jeder hat die Möglichkeit, sich in dieses System einzuklinken, Güter zu
entnehmen und so am Wohlstand teil zu haben. Und alles,
was in dieses System eingespeist wird, erhöht den Flüssigkeitsspiegel, den Wohlstand, in gleichem Maße bei Allen
– der Güterfluss erreicht jeden. Und zwar ohne dass eine
Regulierungsinstanz vorhanden sein muss und ohne die
Notwendigkeit zur Standardisierung, alleine dadurch, dass
die freie Bewegung der Güter nicht behindert wird (ebd.
Seite 102).
Dass in der bedürfnisorientierten Ökonomie der Güterfluss jeden erreicht, ohne dass eine Regulierungsinstanz
vorhanden ist, alleine dadurch, dass die freie Bewegung der
Güter nicht behindert wird, erinnert sehr an die aktuellen
Forderungen neoliberaler Ökonomen. Doch je weiter der
Freihandel vorangetrieben und staatliche Regulierungsinstanzen abgebaut werden, umso mehr vergrößert sich die
Ungleichheit (Piketty 2014) und umso weniger Menschen
werden von dem Güterfluss noch erreicht (Ziegler 2005).
50 Inprekorr 6/2016
Wir müssen daraus schließen, dass es heute entscheidende
Regulierungsinstanzen und Behinderungen im Güterfluss
gibt, die von all den neoliberalen Maßnahmen überhaupt
nicht betroffen sind.
Die alles entscheidende Regulierungsinstanz und
Behinderung im Güterfluss ist der Geldverkehr selbst – der
Zwang zum Tausch! Denn die Güter fließen nur dann,
wenn Geld zurückfließt!
Dass der Wert der Güter mit einem Gegenwert bezahlt
werden muss, ist jene Regulierungsinstanz, die gerade nicht in Frage gestellt wird. Dabei ist es gerade diese
Gesetzmäßigkeit – dass jeder Wert beim Tausch mit einem
gleich großen Gegenwert abgegolten werden muss –, die
das Ziel des freien Güterflusses unerreichbar macht. Immer
mehr Menschen gelingt es nicht mehr, sich in den Güterfluss einzuklinken und ihren Lebensunterhalt adäquat
zu fristen. Gleichzeitig gelingt es ihnen aber auch nicht
mehr, durch ihre Arbeit Güter in das System einzuspeisen. Verdammt zur Arbeitslosigkeit, können sie weder
durch ihre Arbeit den Wohlstand vergrößern noch an ihm
teilhaben. Würde die Notwendigkeit des Tauschens Wert
gegen Wert entfallen, könnten alle durch ihre Arbeit den
Wohlstand mehren und durch das Prinzip des Teilens seine
Früchte genießen.
Dem allerdings steht entgegen das Privateigentum an
Produktionsmitteln. Denn die Eigentümer der Produktionsstätten wollen ihre Produkte ja gerade nicht verteilen,
sondern verkaufen, um Gewinn zu machen. Und deshalb
wollen sie auch keine Arbeiter einstellen (und bezahlen),
wenn diese dann mehr Güter erzeugen, als verkäuflich sind.
Erneut stehen wir vor dem Privateigentum an Produktionsmitteln als der entscheidenden Barriere hin zu einer
bedürfnisorientierten Ökonomie.
Heute werden die Produkte der Arbeit auf dem Markt
gekauft. Und in dieser Logik kaufen auch die Produzenten
die benötigten Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen usw. auf
dem Markt.
In der bedürfnisorientierten Ökonomie werden die
Produkte der Arbeit verteilt oder geholt. Und entsprechend müssen die Produzenten die benötigten Produktionsmittel erhalten, indem sie ihnen gegeben werden oder
indem sie sich die Produktionsmittel holen. Dazu ist der
ungehinderte Zugang zu und die freie Verfügung über
die benötigten Ressourcen notwendig. Dies wiederum ist
nur möglich, wenn es kein Privateigentum an Produktionsmitteln gibt! Denn der Eigentümer einer Ressource
nutzt sein Eigentum sicher nicht, um die Produkte seiner
Ressource nach Bedarf zu verteilen, sondern um sie zu
D I E I N T E R N AT I O N A L E
verkaufen und einen Gewinn zu erwirtschaften. Deshalb
ist eine bedürfnisorientierte Ökonomie nicht möglich auf
der Basis von Privateigentum, sondern nur auf der Basis
von Gemeineigentum. Wenn der Zugang zu den Ressourcen nicht durch Eigentumsverhältnisse geregelt ist, muss er
auf andere Weise konfliktfrei (!) geregelt sein. Zur Entwicklung und Durchsetzung dieser Regeln wiederum ist
es erneut notwendig, dass die bereits mehrfach erwähnten
basisdemokratischen politischen Strukturen schon vor dem
Übergang zur bedürfnisorientierten Ökonomie etabliert
sind!
Auf ebendieser politischen und ökonomischen Basis
ist dann auch die Ressourcennutzung ohne zerstörerische
ökologische Folgen möglich.
Privateigentum an einer Ressource verhindert öffentliche Kontrolle, verhindert die frühzeitige Erkennung von
Schäden und verhindert die rechtzeitige Schonung gefährdeter Biotope. Die Interessen des Eigentümers haben
Vorrang.
Gemeineigentum bedeutet jedoch, dass die Gemeinschaft die Ressourcen nicht nur nutzt, sondern auch kontrolliert. Und dann kann sie auch frühzeitig ökologische
Schädigungen erkennen und angemessen darauf reagieren.
Die gleichen basisdemokratischen Kommunikationswege, die für politische, soziale und ökonomische Zwecke
genutzt werden, müssen auch der Verbreitung des ökologischen Wissens dienen. Diese Wege leiten dann aktuelle
Beobachtungen von Umweltveränderungen zu allen
Betroffenen und ermöglichen es, gesamtgesellschaftliche
Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, ausgehend
auch von Impulsen von Einzelpersonen. Die Menschen
können dann nach dem richtigen Verhalten suchen, bis sie
den optimalen Umgang mit der Natur gefunden haben.
Abwesenheit von Privateigentum, öffentliche Kontrolle der Ressourcen, völlige Transparenz, offene Diskussionsprozesse und sorgfältige, verantwortungsbewusste
Planung – all das, was Gemeineigentum eben ausmacht
– werden dann nicht nur den ökonomischen, sondern auch
den ökologischen Erfolg der freien Gesellschaft ermöglichen.
Dante, D., 1993, „5 Stunden sind genug – Das Gründungskonzept einer herrschaftsfreien Gesellschaft“, Manneck
Mainhatten Verlag, Frankfurt.
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Inprekorr 6/2016 51
D I E I N T E R N AT I O N A L E
KAPITALISTISCHE GLOBALISIERUNG, IMPERIALISMEN, GEOPOLITISCHES
CHAOS UND DIE FOLGEN
Der folgende Text soll als Thesenpapier zur Vorbereitung des nächsten
Weltkongresses dem Internationalen Komitee 2017 vorgelegt werden. Der
vorläufig letzte Stand der Debatte ist hiermit auch auf Deutsch dokumentiert.
Büro der IV. Internationale
„
Der Zusammenbruch der UdSSR und das Auseinanderbrechen des Sowjetblocks Anfang der 1990er Jahre
erlaubte, die ursprünglich in Ländern wie Chile, Großbritannien und den Vereinigten Staaten umgesetzte neoliberale Politik allgemein einzuführen. Die kapitalistische
Globalisierung hat einen vollen Aufschwung erlebt und
eine neue internationale Herrschaftsform hervorgebracht,
die vielfältige und tiefgreifende Folgen hat.
Die neoliberale Ordnung bleibt jedoch unvollendet, instabil und mündet regelmäßig in eine chaotische
internationale Lage. Gewisse traditionelle Imperialismen
befinden sich unaufhaltsam im Niedergang, während neue
kapitalistische Mächte aufkommen und die geopolitische
Konkurrenz beleben. In mehreren Ländern und Regionen
hat die allgemeine Brutalität der neoliberalen Diktate den
sozialen Zusammenhalt zersetzt, scharfe Regierungskrisen
und selbst Volkserhebungen ausgelöst, aber auch gefährliche konterrevolutionäre Entwicklungen losgetreten. Viele
Völker zahlen bereits heute einen hohen Preis für die glo52 Inprekorr 6/2016
bale Umweltkrise – insbesondere, aber nicht nur in Form
der sich laufend weiter verschärfenden Klimaerwärmung.
Unterdessen konnten Erfahrungen mit der kapitalistischen Globalisierung und ihren Folgen gesammelt werden, die uns erlauben, aus einem gewissen Abstand unsere
früheren Analysen zu aktualisieren und neue Themen aufzugreifen. Die nachfolgenden „Thesen“ erheben nicht den
Anspruch, vollständig zu sein oder fertige Schlüsse zu bieten. Sie sollen vor allem einen kollektiven internationalen
Reflexionsprozess anstoßen. Sie stützen sich oft auf bereits
bestehende Argumente, versuchen aber, die Diskussion
über ihre Folgen weiter voranzubringen. Dafür „blenden“
sie – auch auf die Gefahr hin, komplexe Realitäten zu sehr
zu vereinfachen – laufende, oft unabgeschlossene Entwicklungen „aus“, um das Neue besser zu erfassen.
I. Eine neue imperialistische Galaxie
Als Erstes gilt es festzustellen, dass sich die heutige Lage
stark von der zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder der Jah-
D I E I N T E R N AT I O N A L E
EINLEITUNG ZUM TEXT
Entsprechend dem Beschluss des Internationalen Komitees von
Wir wollen verstehen, was es in der weltweiten Konstellation
Februar 2016 legt das Büro unter dem Titel „Kapitalistische Glo-
Neues gibt. Es lohnt sich, Formulierungen, Begriffe, ja auch Kon-
balisierung, Imperialismen, geopolitisches Chaos und die Fol-
zepte zu suchen, die dem Neuen Rechnung tragen. Hier werden
gen“ eine überarbeitete Version der Thesen zur Diskussion vor.
in mehr oder weniger hypothetischer Form bereits einige solcher
Durch ihre Übersetzung und Veröffentlichung sollen die vor drei
Begriffe vorgeschlagen. Oft haben wir es jedoch mit hybriden
Jahren begonnene Diskussion und die gemeinsame Reflexion
Realitäten, unabgeschlossenen Entwicklungen zu tun. Zudem
auf der Grundlage eines gemeinsamen Referenzdokuments über
haben viele Wörter je nach Land (oder politischer Tradition) un-
das Internationale Komitee hinaus ausgeweitet werden. In der
terschiedliche Bedeutungen. Die Festlegung auf einen Begriff
aktuellen Phase nimmt das Büro nicht zu den Details der Ana-
kann auch die Illusion vermitteln, eine Antwort zu haben, ob-
lyse eines „in Entstehung begriffenen“ Textes Stellung. Es hofft
wohl der Inhalt noch nicht definiert ist. Ein Ziel der Diskussion ist,
aber, dass im Herbst mit Blick auf das Internationale Komitee
unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten die Möglichkeit
von 2017 insbesondere dank der von nationalen Organisationen
und die Nützlichkeit eines der aktuellen Lage entsprechenden
eingebrachten Beiträge eine Resolution vorgelegt werden kann.
Vokabulars zu überprüfen.
Zwei weitere Texte liegen dem Internationalen Komitee zur
Schließlich können Anhänge ergänzt werden, um mit Unter-
Diskussion vor, einer zur Frage des Parteiaufbaus und einer über
stützung der betroffenen nationalen Organisationen bestimmte
das „revolutionäre Subjekt“. Diese Diskussionsfelder sind folg-
Fragen (Wirtschaftskrise …) und regionale Situationen vertieft
lich in die hier vorgelegten Thesen nicht direkt eingearbeitet. Die
analysieren zu können.
drei Dokumente werden sich in Zukunft gegenseitig bereichern
können.
Das Büro der 4. Internationale
re 1950–1980 unterscheidet. Zu erwähnen sind insbesondere folgende Faktoren:
„ Eine tiefgreifende Veränderung und Diversifizierung
des Status der traditionellen Imperialismen: „Großmacht“ USA; Scheitern der Bildung eines integrierten
europäischen Imperialismus; „Reduktion“ des französischen und des britischen Imperialismus; „zahnlose“
Militärimperialismen (vor allem Deutschland, aber auch
Spanien gegenüber Lateinamerika); weiterhin untergeordnete Stellung des japanischen Imperialismus; Krisen
des sozialen Zerfalls in manchen westlichen Ländern
(Griechenland), die historisch zum imperialistischen
Bereich gehören …
„ Die Herausbildung neuer (Proto-)Imperialismen –
allen voran China, das sich gegenwärtig als zweite weltweite Supermacht durchsetzt, wobei auch der Sonderfall
Russlands nicht zu vergessen ist.
„ Wichtige Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, mit der Dominanz der Finanzmärkte (Finanzialisierung) in der Wirtschaft, der Deindustrialisierung
vieler westlicher und insbesondere europäischer Länder,
einer neuen Konzentration der globalen Warenproduktion
insbesondere auf Asien – wobei die Vereinigten Staaten,
Deutschland und Japan weiterhin bedeutende Industriemächte sind.
„ Eine ungleiche Entwicklung jedes Imperialismus, der
jeweils in gewissen Bereichen Stärken und in anderen
Schwächen aufweist. Die Hierarchie der imperialistischen Staaten ist heute folglich schwieriger feststellbar
als in der Vergangenheit. Die Vereinigten Staaten sind
natürlich noch immer die Nummer eins; sie sind die
Einzigen, die in fast allen Bereichen den Anspruch auf
eine Vormachtstellung erheben können, auch wenn in
wirtschaftlicher Hinsicht sie einen relativen Niedergang
erleben und die Begrenztheit ihrer Weltmachtstellung
hinnehmen müssen.
Die Charakterisierung der neuen Mächte ist also nicht die
einzige Aufgabe, die sich stellt. Wir müssen auch erneut
den sich wandelnden Status der traditionellen Imperialismen – und die imperialistische Ordnung in ihrer Gesamtheit – besser evaluieren. Klassische Begriffe wie die von
„Zentrum“ und „Peripherie“, „Norden“ und „Süden“
müssen angesichts der wachsenden Diversifizierung inInprekorr 6/2016 53
D I E I N T E R N AT I O N A L E
nerhalb jedes einzelnen dieser geopolitischen Räume neu
beurteilt werden.
II. Chronische geopolitische Instabilität
Als Zweites gilt es festzuhalten, dass die kapitalistische
Globalisierung international zu keiner stabilen „neuen
Ordnung“ geführt hat, ganz im Gegenteil.
Es gibt einen dominanten imperialistischen Block,
den man, da er um die Achse Nordamerika/Europäische
Union strukturiert ist, als „atlantischen Block“ bezeichnen
könnte – sofern man den Begriff geostrategisch und nicht
geografisch versteht: Denn dazu gehören auch Australien, Neuseeland und Japan. Es ist ein hierarchischer Block
unter US-amerikanischer Hegemonie. Die NATO ist sein
bevorzugter permanenter bewaffneter Arm. Seine Aufstellung an der europäischen Grenze der „russischen Einflusszone“ hat ursprüngliche Funktion nichts an Aktualität
eingebüßt, zumal diese Grenze wieder zur Konfliktzone
geworden ist.
Die NATO nimmt sich gegenwärtig heraus, weit
über den Rahmen transatlantischer Operationen hinaus
zu intervenieren. Die Nahostkrise zeigt jedoch, dass die
Organisation als operativer Rahmen nicht in der Lage ist,
so einfach ihr Gesetz durchzudrücken. Der militärische
Beitrag der europäischen Mitglieder ist marginal. Gegenüber dem regionalen Stützpunkt Türkei bestehen intensive
Spannungen. Für jedes operative Einsatzgebiet mussten
neue Bündnisse mit Regimes geschmiedet werden, die
sich gegenseitig feindlich gegenüberstehen, wie SaudiArabien und Iran.
Zugleich intensiviert sich der innerkapitalistische
Wettbewerb. Auf geopolitischer Ebene fordert China
als Neuankömmling Zutritt zum Hof der Größeren.
Russland interveniert in seiner erweiterten Einflusszone
(Syrien). Die japanische Regierung versucht, ihre militärische Abhängigkeit von den USA zu lockern und sich von
den pazifistische Klauseln der japanischen Verfassung zu
befreien. Auf wirtschaftlicher Ebene herrscht ein scharfer
Wettbewerb, da die Bewegungsfreiheit des Kapitals sogar
„Subimperialismen“ erlaubt, über ihre regionale Sphäre
hinaus mit anderen in Wettbewerb zu treten. In ideologischer Hinsicht erleben die herrschenden Klassen eine
Legitimationskrise, sind häufig mit schweren institutionellen Dysfunktionalitäten konfrontiert und verlieren die
Kontrolle über Wahlverfahren in Schlüsselländern, wie in
den Vereinigten Staaten (Sieg von Trump bei den Vorwahlen der Republikaner) und in Großbritannien (Sieg
des Brexit). Der Kriege ist ein Dauerzustand. Die Auswir54 Inprekorr 6/2016
kungen der globalen Umweltkrise sind bereits deutlich
spürbar. In verschiedenen Weltteilen löst sich der soziale
Zusammenhalt auf. Humanitäre Katastrophen und unfreiwillige Bevölkerungsbewegungen haben ein seit dem
Zweiten Weltkrieg beispielloses Niveau erreicht.
Die Völker bezahlen für die Durchsetzung der neuen
neoliberalen Ordnung einen enorm hohen Preis. Die Ursachen der gegenwärtigen chronischen Krise sind mannigfaltig.
„ Die imperialistischen Staaten haben nach wie vor die
Aufgabe, günstige Bedingungen für die Kapitalakkumulation zu schaffen, doch das globalisierte Kapital operiert
ihnen gegenüber unabhängiger als in der Vergangenheit.
Diese Abkoppelung hat dazu beigetragen, die alten „geschützten Jagdgründe“, die nahezu exklusiven Einflusszonen der traditionellen Imperialismen in der Welt durchlässig zu machen und aufzulösen (mit Ausnahme weiter Teile
Lateinamerikas?). Die enorme Mobilität des Kapitals hat
verheerende Folgen für die gesellschaftlichen Gleichgewichte, was die staatliche Tätigkeit untergräbt.
Die kapitalistische Globalisierung, die Finanzmarktdominanz und die zunehmende Internationalisierung der
Produktionsketten ziehen auch die Fähigkeit der Staaten in
Mitleidenschaft, Wirtschaftspolitiken umzusetzen.
„ Das beispiellose Ausmaß der Finanzmarktdominanz,
die Entwicklung von sogenannt „fiktivem“ Kapital, die
dem modernen Kapitalismus eigen ist, hat in den letzten
Jahren erhebliche Ausmaße angenommen. Das führt zu
einer stärkeren Ablösung von Produktionsverfahren, ohne
dass die Verbindung ganz aufgelöst worden wäre, während
sich die Verbindung von ursprünglichem Kreditgeber und
ursprünglichem Kreditnehmer lockert. Die Finanzmarktdominanz hat das kapitalistische Wachstum gestützt, aber
ihre übermäßige Entwicklung spitzt die Widersprüche zu.
„ Das Schuldensystem operiert mittlerweile im Norden
wie im Süden. Es ist ein zentrales Mittel der vom Kapital
über die Gesellschaften ausgeübten Diktatur und spielt,
wie der Fall Griechenlands zeigt, eine unmittelbar politische Rolle in der Aufrechterhaltung der neoliberalen Ordnung. Zusammen mit den Freihandelsabkommen hindert
es Regierungen daran, eine alternative Politik umzusetzen, die einen Ausweg aus der sozialen Krise bieten würde.
„ Ein regelrechter „Währungskrieg“ (Devisen) findet
statt – eine der Facetten innerimperialistischer Konflikte,
da über den Rückgriff auf die Währung Kontrollzonen
festlegt werden.
„ Früher waren die geopolitischen Bündnisse durch den
Ost-West-Konflikt einerseits und den Konflikt zwischen
D I E I N T E R N AT I O N A L E
China und der Sowjetunion andererseits „festgefahren“
(was beispielsweise in Südasien die Achse Indien-Russland versus USA-Pakistan-China erklärt), heute sind sie
fließender und ungewisser geworden. Lateinamerikanische Regimes haben eine Zeitlang versucht, den Zugriff
Washingtons zu lockern.
„ Die innerimperialistischen Rivalitäten nähren eine
neue Spirale des Wettrüstens, selbst mit Atomwaffen, die
Länder wie die Vereinigten Staaten und Frankreich zu
„modernisieren“, d.h. im Rahmen lokaler Konflikte einsatzfähig und politisch akzeptabel zu machen versuchen.
„ Der Aufschwung arabischer Revolutionen und die anschließende Brutalität der Konterrevolution in vielen Ländern dieser Region haben dazu beigetragen, dass in einem
weiten Gebiet, das vom Nahen Osten bis in die Sahelzone
und darüber hinaus in einen Teil Afrikas südlich des Sahel
führt, eine unkontrollierbare Lage entstanden ist.
„ Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verhielten
sich die Bourgeoisien und die (traditionellen) imperialistischen Staaten in einer ersten Phase sehr offensiv, mit der
Durchdringung der Märkte im Osten, der Intervention in
Afghanistan (2001) und im Irak (2003) … Seither verzettelten sie sich militärisch und es kamen die Finanzkrise,
der Aufstieg neuer Mächte, die arabischen Revolutionen
… was alles zu einem Verlust an geopolitischer Initiative
und Kontrolle führte: Washington reagiert heute eher auf
dringliche Situationen, als zu planen, wie es seine Ordnung durchsetzen kann.
„ Vor diesem Hintergrund erhalten die Subimperialismen und regionalen Mächte wie die Türkei, der Iran,
Saudi-Arabien, Israel, Ägypten, Algerien … Südafrika,
Brasilien, Indien, Südkorea erhebliches Gewicht. Obwohl
sie im weltweiten Herrschaftssystem unter US-Hegemonie
eine untergeordnete Rolle spielen, treiben sie zusätzlich
zu ihrer Rolle als regionale Gendarmen (wie Brasilien in
Haiti) auch ihr eigenes Spiel
Eine der durch die Entwicklung der internationalen
Lage aufgeworfene Frage ist, wie die Wende nach 1989
(erobernde Imperialismen) mit der Mitte der 2000er-Jahre
einsetzenden Wende (geopolitische Instabilität) zusammenhängt.
In dieser Hinsicht bedeutete die Finanzkrise 2007/08
einen klaren Wendepunkt. Sie legte die der kapitalistischen Globalisierung innewohnenden Widersprüche frei
und hatte erhebliche Auswirkungen auf politischer Ebene
(Delegitimierung des Herrschaftssystems), auf sozialer
Ebene (in den direkt betroffenen Ländern mit ausgesprochener Härte) und strukturell, insbesondere mit der Schul-
THESENÜBERSICHT
Einleitung
I. Eine neue imperialistische Galaxie
II. Eine chronische geopolitische Instabilität
III. Globalisierung und Krise der Regierbarkeit
IV. Die neuen (Proto-)Imperialismen
V. Neue extreme Rechte, neue Faschismen
VI. Autoritäre Regime, demokratische und solidarische Erfordernisse
VII. Internationalismus gegen Lagerdenken
VIII. Kapitalistische Expansion und Klimakrise
IX. Eine Welt ständiger Kriege
X. Die Grenzen der Supermacht
XI. Humanitäre Krise
XII. Wachsende Instabilität?
denexplosion. Sie bildet den Hintergrund für die großen
Demokratiebewegungen, die einige Jahre später aufkamen
(Besetzung von Plätzen), aber auch für reaktionäre, offen
antidemokratische Entwicklungen, wie in Thailand die
aus den großen Ängsten des Mittelstands genährten Weißhemden.
In Verbindung mit der Umweltkrise und den massiven
Bevölkerungsbewegungen bringt die strukturelle Instabilität der globalisierten Ordnung neue Formen von Armut
hervor, die fortschrittliche Organisationen dazu zwingen,
ihre Politik anzupassen.
III. Globalisierung und Krise der Regierbarkeit
Die imperialistischen Bourgeoisien gedachten den Zusammenbruch des Sowjetblocks und die Öffnung Chinas
zum Kapitalismus zu nutzen, um einen globalen Markt mit
einheitlichen Regeln zu schaffen, in dem sie ihr Kapital
nach Gutdünken investieren können. Die kapitalistische
Globalisierung hatte zwangsläufig tiefgreifende Folgen –
die zudem durch Entwicklungen verschärft wurden, die
die imperialistischen Bourgeoisien in ihrer Euphorie nicht
voraussehen wollten.
Tatsächlich bedeutete dieses Projekt Folgendes:
„ Die gewählten Institutionen (Parlamente, Regierungen
…) werden ihrer Entscheidungsmacht in grundlegenden
Fragen enthoben und dazu gezwungen, Beschlüsse in ihrer
Gesetzgebung nachzuvollziehen, die anderenorts getroffen
wurden: in der WTO, internationalen Freihandelsabkommen etc. Der klassischen bürgerlichen Demokratie wurde
Inprekorr 6/2016 55
D I E I N T E R N AT I O N A L E
damit der Todesstoß verpasst – auf ideologischer Ebene
drückt sich dies in der Bezugnahme auf die „Regierbarkeit“ (Gouvernanz) statt auf die Demokratie aus.
„ Die aus der spezifischen Geschichte der Länder und
Regionen hervorgegangenen „geeigneten Formen“
bürgerlicher Herrschaft (historische Kompromisse europäischer Art, Populismus lateinamerikanischer Prägung,
staatlicher Dirigismus asiatischer Prägung, Klientelwirtschaft mit Umverteilungsfunktion verschiedener Prägung
…) werden im Namen des höher gewichteten Rechts auf
„Wettbewerb“ als illegal erklärt. Faktisch errichten alle
die ihren Interessen jeweils angepassten Beziehungen zum
Weltmarkt, was die freie Entfaltung des imperialistischen
Kapitals hemmt.
„ Das gemeine Recht wird dem Recht der Unternehmen
untergeordnet, denen der Staat auf Kosten des Rechts der
Bevölkerung auf Gesundheit, eine gesunde Umwelt und
einen gesicherten Lebensstandard die bei einer Investition erhofften Gewinne zu sichern hat. Das ist einer der
Knackpunkte der neuen Freihandelsverträge, die die aus
den großen internationalen Institutionen wie WTO, IWF
und Weltbank bestehende Struktur ergänzen.
„ Eine endlose Spirale der Zerstörung sozialer Rechte.
Die traditionellen imperialistischen Demokratien haben
die Schwäche der Arbeiterbewegung und ihre Krise in
den Ländern des sogenannten Zentrums wirklich gut
eingeschätzt. Unter Berufung auf die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt haben sie sie für eine anhaltende,
systematische Offensive genutzt, um die insbesondere in
der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften kollektiven Rechte zu zerstören. Dabei streben sie keinen neuen,
ihnen gewogeneren „Sozialvertrag“ an, sondern wollen
mit solchen Abkommen generell Schluss machen und sich
die potenziell gewinnträchtigen Sektoren des öffentlichen
Dienstes, auf die sie bislang keinen Zugriff haben, wie Gesundheitswesen, Bildung, Rentensysteme, Transportwesen
etc., unter den Nagel reißen.
„ Eine Veränderung der dem Staat zugewiesenen Rolle
und des Verhältnisses zwischen imperialistischem Kapital
und Territorium. Von Ausnahmen abgesehen, sind die
Regierungen bei bedeutenderen Industrieprojekten oder
bei der Entwicklung von sozialen Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit …) nicht mehr im Boot. Obwohl sie
weiterhin „ihre“ Multis in der Welt unterstützen, fühlen
sich Letztere (angesichts ihrer Macht und ihrer Internationalisierung nicht mehr wie in der Vergangenheit von ihren
Ursprungsländern abhängig: Das Verhältnis ist so „asymmetrisch“ wie nie zuvor … Die nach wie vor wesentliche
56 Inprekorr 6/2016
Rolle des Staates beschränkt sich darauf, Regeln einzuführen, die die Freizügigkeit des Kapitals zur allgemeinen
Regel machen, den gesamten öffentlichen Sektor dem
Appetit des Kapitals zu öffnen, zur Zerstörung der sozialen
Rechte beizutragen und die eigene Bevölkerung im Zaum
zu halten.
„ Wir haben es also mit zwei hierarchischen Systemen zu
tun, die die weltweiten Herrschaftsverhältnisse strukturieren. Die, wie in Punkt I erwähnt, bereits komplexe Hierarchie der imperialistischen Staaten und die Hierarchie der
bedeutenden Kapitalflüsse, die sich netzartig über die Welt
ziehen. Diese beiden Systeme decken sich nicht mehr, auch
wenn die Staaten im Dienste der Letztgenannten stehen.
Die kapitalistische Globalisierung stellt eine neue weltweite Form der Klassenherrschaft dar, die unabgeschlossen
und strukturell instabil ist. Tatsächlich führt sie in zahlreichen Ländern und ganzen Regionen in offene Krisen der
Legitimität und der Unregierbarkeit, in einen permanenten Krisenzustand. Die vermeintlichen Zentren globaler
Regulierung (WTO, UN-Sicherheitsrat …) sind unfähig,
ihre Aufgabe tatsächlich auszuüben.
Eine Klasse beherrscht eine Gesellschaft nicht dauerhaft
ohne Vermittlung und soziale Kompromisse, ohne sich auf
eine wie immer geartete historische, demokratische, soziale oder revolutionäre Legitimität stützen zu können … Im
Namen der Freizügigkeit des Kapitals räumen die imperialistischen Bourgeoisien mit Jahrhunderten von „Knowhow“ in diesem Bereich auf, während die Aggressivität
der neoliberalen Politiken in immer mehr Ländern den
sozialen Zusammenhalt zerstört. Dass in einem westlichen
Land wie Griechenland ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu Pflege und Gesundheitsdiensten hat,
ist bezeichnend für die Kompromisslosigkeit der europäischen Bourgeoisien.
Im Zeitalter der Imperien galt es, die Stabilität der
kolonialen Besitzungen sowie (wenn auch in geringerem
Ausmaß) der Einflusszonen aus der Zeit des Kalten Krieges
zu sichern. Was die Gegenwart betrifft, lässt sich sagen,
dass es angesichts der Mobilität und der Finanzmarktdominanz vom jeweiligen Ort und Moment abhängt … So
können ganze Regionen aufgrund der Auswirkungen
der Globalisierung in eine chronische Krise stürzen. Die
Umsetzung neoliberaler Diktate durch überholte diktatorische Regimes führte in der arabischen Welt zu Volksaufständen und in Afrika zu breiten Mobilisierungen, offenen
Regimekrisen und gewaltsamen konterrevolutionären
Gegenschlägen, die zu massiver Instabilität geführt haben.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Die Besonderheit des globalisierten Kapitalismus ist,
dass er sich mit der Krise als permanenten Zustand zu
arrangieren scheint. Krisen werden zu einem wesentlichen Bestandteil des normalen Funktionierens des neuen
globalen Herrschaftssystems. In diesem Fall muss unsere
Vorstellung von „der Krise“ als besonderem Moment in
einer langen Phase der „Normalität“ tiefgreifend überholt
Lässt sich China als neuer Imperialismus charakterisieren? Natürlich muss man präzisieren, was man im
gegenwärtigen globalen Kontext, der das Thema des
vorliegenden Textes ist, unter diesem Begriff versteht. Doch
nachdem China zur zweitgrößten Weltmacht aufgestiegen ist, scheint es immer schwieriger, ihm diesen Status
abzusprechen, wie fragil auch immer das aktuelle Regime
Dass in einem westlichen Land wie Griechenland
ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu
Pflege und Gesundheitsdiensten hat, ist bezeichnend für die
Kompromisslosigkeit der europäischen Bourgeoisien.“
werden – die ganze Tragweite davon können wir noch
nicht beurteilen und müssen sie auch noch nicht voll tragen.
IV. Die neuen (Proto-)Imperialismen
Nach 1991 gingen die traditionellen imperialistischen
Bourgeoisien davon aus, sie könnten die Märkte der
ehemaligen sogenannt „sozialistischen“ Länder so weit
durchdringen, bis diese natürlich untergeordnet wären –
und fragten sich sogar, ob die NATO gegenüber Russland
noch eine Funktion habe. Diese Annahme war nicht aus
der Luft gegriffen, wie die Lage Chinas zu Beginn des
Jahrtausends und die (dem internationalen Kapital sehr gewogenen) Beitrittsbedingungen dieser Länder zur WTO
zeigen. Doch die Dinge haben sich anders entwickelt –
was von den etablierten Mächten offenbar ursprünglich
nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden war.
In China entstand eine neue Bourgeoisie innerhalb
des Landes und der Partei, vor allem durch „Verbürgerlichung“ der Bürokratie, die sich über mittlerweile wohl
bekannte Mechanismen selbst in eine besitzende Klasse
verwandelte. Sie bildete sich also auf einer unabhängigen
Grundlage (Erbe der maoistischen Revolution) und nicht
als eine von Vornherein dem Imperialismus organisch
untergeordnete Bourgeoisie erneut heraus. China wurde
damit zu einer kapitalistischen Macht und gleichzeitig
ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats mit Vetorecht
(dasselbe gilt für Russland), auch wenn es weiterhin eine
aus der ganz besonderen eigenen Geschichte übernommene Sozialstruktur aufweist.
und seine Wirtschaft sein mögen. Für viele Mitglieder der
Linksopposition gegen das russische Regime gilt in Bezug
auf Russland dasselbe, obwohl es ökonomisch stark von
seinen Rohstoffexporten (worunter die Erdölprodukte 2/3
ausmachen) abhängig bleibt. Kann man in letzterem Fall
von einem „schwachen Imperialismus“ oder einer geringen
Fähigkeit sprechen, eine imperialistische Wirtschaftspolitik
zu entfalten?
Die BRICS-Länder haben mit mäßigem Erfolg versucht, gemeinsam auf dem Weltmarkt aufzutreten. Nicht
alle Länder dieses schwachen „Blocks“ spielen in derselben
Liga. Brasilien, Indien, Südafrika können vermutlich als
Subimperialismen charakterisiert werden – ein Begriff,
der auf die 1970er-Jahre zurückgeht – und als regionale
Polizisten, wenn auch mit einem erwähnenswerten Unterschied in Bezug auf die Vergangenheit: Sie profitieren
von einer wesentlich größeren Freiheit des Kapitalexports
(siehe das in Afrika eröffnete „große Spiel“, in dem die
Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Frankreich,
Indien, Brasilien, Südafrika, China, Katar, Türkei, Nigeria
und Angola in Konkurrenz zueinander stehen).
Drei erste Schlussfolgerungen:
1 In dem Maß, wie vor allem China, aber auch Russland
in Osteuropa und im Nahen Osten ihre Stellung behaupten, belebt sich der Wettbewerb zwischen kapitalistischen
Mächten. Dabei handelt es sich tatsächlich um Konflikte
zwischen kapitalistischen Mächten, d.h. um etwas qualitativ
anderes als in früheren Phasen.
Inprekorr 6/2016 57
D I E I N T E R N AT I O N A L E
2 Allgemeiner gesprochen können (sogar untergeordnete) Bourgeoisien und die Multis des „Südens“ in Sachen
Kapitalfreizügigkeit die nach 1991 von den traditionellen
imperialistischen Bourgeoisien aus Eigeninteresse entworfenen Regeln insbesondere für Investitionen nutzen, was
den weltweiten Wettbewerb gegenüber früher komplexer
macht. Was die Warenströme betrifft, geht die allgemeine
In-Konkurrenz-Setzung der ArbeitnehmerInnen zwar
weiterhin von den Unternehmen der traditionellen imperialistischen Zentren aus, die den Zugang zu den Verbrauchermärkten der industrialisierten Länder kontrollieren,
und nicht von den Firmen in den produzierenden Ländern; für China, aber auch Indien und Brasilien gilt dies
heute allerdings weniger.
3 Es gibt nicht nur eine Legitimitätskrise der herrschenden
Klassen, sondern auch eine ideologische Krise. Sie zeigt
sich im Ausmaß der institutionellen Krise, in der sich die
„schlechten“ KandidatInnen gegenüber dem und gegen
das Establishment durchsetzen und Wahlen an sich nach
Ansicht eines wachsenden Teils der Bevölkerung jede
Glaubwürdigkeit einbüßen. Aus Unfähigkeit, darauf zu
reagieren, werden sie immer mehr auf das Prinzip „teile und herrsche“, auf Rassismus, Islamfeindlichkeit und
Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Stigmatisierungen setzen, sei dies gegen KoreanerInnen in Japan
oder AfroamerikanerInnen in den USA und Brasilien,
MuslimInnen in Indien, SchiitInnen, SunnitInnen oder
ChristInnen in muslimischen Ländern. Der Kampf gegen
Rassismus und Ausländerfeindlichkeit ist mehr denn je
ein wesentlicher Teil des Widerstands auf internationaler
Ebene. Dasselbe gilt für andere Formen der (sexistischen,
sozialen …) Diskriminierung.
V. Neue extreme Rechte, neue Faschismen
Eine erste Folge der ungeheuer destabilisierenden Macht
der kapitalistischen Globalisierung ist der ebenso spektakuläre Aufstieg neuer rechtsextremer Strömungen und
Faschismen mit (potenzieller) Massenbasis. Manche geben
sich relativ klassisch fremdenfeindlich, wie die Goldene Morgenröte in Griechenland, oder sie richten sich
in neuer Fremdenfeindlichkeit und Isolationismus/Abschottung ein. Andere entstehen in der Gestalt religiöser
oder nationalreligiöser Fundamentalismen, und zwar in
allen „großen“ Religionen (Christentum, Buddhismus,
Hinduismus, Islam … bzw. extrem rechter Zionismus) …
Diese Strömungen stellen heute in Ländern wie Indien, Sri
Lanka, Israel eine erhebliche Bedrohung dar und konnten
in so wichtigen Ländern wie den USA (unter Bush) Ein58 Inprekorr 6/2016
fluss auf die Regierungspolitik nehmen. Die muslimische
Welt stellt hier keinen Sonderfall dar; doch dort hat diese
Entwicklung international ein besonderes Gewicht erhalten, mit „grenzüberschreitenden“ Bewegungen wie dem
Islamischen Staat oder den Taliban (siehe die Situation in
Pakistan), Netzwerken, die von Marokko bis Indonesien
und den südlichen Philippinen mehr oder weniger formal
miteinander in Kontakt stehen.
Allgemein müssen die neuen rechten Strömungen – ob
religiös oder nicht – genauer analysiert werden. Denn dabei handelt es sich nicht um simple Neuaufgüsse von etwas
Vergangenem, sondern um Ausdrucksformen der Gegenwart! Das gilt insbesondere für die fundamentalistischen
religiösen Strömungen. Um zu verstehen, welche Rolle
sie spielen, müssen sie politisch charakterisiert werden (es
sei daran erinnert, dass vor nicht allzu langer Zeit ein nicht
unerheblicher Teil der internationalen radikalen Linken
in ihnen den Ausdruck eines „objektiv“ fortschrittlichen,
wenn auch ideologisch reaktionären Antiimperialismus
sah). Dies ist auch nötig, um „essentialistische“ Interpretationen eines „Kampfs der Kulturen“ zu bekämpfen.
Es handelt sich um extrem rechte, konterrevolutionäre
Strömungen. Sie haben dazu beigetragen, die Dynamik
der im „arabischen Frühling“ entstandenen Volksrevolutionen zu beeinträchtigen. Sie haben weder ein Monopol
auf Gewalt (siehe das Assad-Regime!) noch auf „Barbarei“
(die imperialistische Ordnung ist „barbarisch“), üben aber
über die Gesellschaft eine Kontrolle und einen „von unten
kommenden“ Terror aus, die in vielerlei Hinsicht an die
Faschismen der Zwischenkriegszeit erinnern, bevor diese
an die Macht kamen.
Wie alle politischen Begriffe ist der Faschismusbegriff
oft abgedroschen oder wird unterschiedlich interpretiert.
Doch auch unsere eigenen Organisationen diskutieren
neben der Frage des Islamischen Staates die Entwicklung
fundamentalistischer und rechtsextrem-nationalistischer
Strömungen, ob sie nun als faschistisch bezeichnet werden
können oder nicht, beispielsweise in Pakistan (TalibanBewegung) oder Indien (RSS [hindu-nationalistische,
radikal-hinduistische Organisation, Anm. d. Red.]).
„Theofaschismus“ könnte unabhängig von der jeweiligen
Religion ein Überbegriff für diese Art von Strömungen
sein.
Wie auch immer sich diese neuen rechtsextremen Kräfte charakterisieren lassen, ihre zunehmende Bedeutung
stellt unsere Generation an AktivistInnen vor die bislang
unbekannte politische Aufgabe des Auf baus eines „antifaschistischen“ Widerstands im großen Maßstab. Daran muss
D I E I N T E R N AT I O N A L E
gearbeitet werden, und dafür müssen wir die Analysen wie
auch die nationalen und regionalen Erfahrungen kollektivieren.
Allgemeiner gesagt, gibt die erneut aufkommende
radikale Rechte einem sehr gefährlichen reaktionären
Aufschwung Nahrung, die vor allem grundlegende Rechte der Frauen und LGBT* infrage stellen wollen, wofür sie
vorherrschende Reaktion auf diese schwindende Legitimität besteht darin, plötzlich oder schleichend autoritäre
Regimes einzuführen, die sich der Souveränität des Volks
entziehen (als Ausnahme, die die Regel bestätigt, waren
manchmal auch ehemalige Militärdiktaturen, beispielsweise in Birma, gezwungen, einen Teil ihrer Macht abzutreten oder zu teilen). Im Namen von Abkommen oder
Die vorherrschende Reaktion auf diese schwindende
Legitimität besteht darin, plötzlich oder schleichend
autoritäre Regimes einzuführen, die sich der Souveränität des
Volks entziehen.“
sich in der Frage der Abtreibung (Spanien, wo ein skandalöser Gesetzesentwurf für das Verbot des freiwilligen
Schwangerschaftsabbruchs verhindert werden konnte)
und des Familienrechts (Werbung für die Rückkehr zu
einem sehr konservativen Bild der Rolle der Frau …) auf
institutionelle Kirchen stützen können, oder sogar eine
regelrechte Hexenjagd auf Homosexuelle (Iran, afrikanische Länder, in denen evangelikale Strömungen großen
Einfluss haben …) oder Transsexuelle betreiben. Die
Reaktion greift also das Recht auf Selbstbestimmung von
Frauen und von Menschen (Anerkennung der Vielfalt der
sexuellen Orientierung) frontal an – mithin Rechte, die in
langen Kämpfen errungen wurden.
Dieser Aufstieg reaktionärer rechter Bewegungen wird
durch die heute von den bürgerlichen Regierungen im
Namen des Kampfs gegen den Terrorismus oder die „illegale“ Immigration betriebene Ideologie der nationalen
Sicherheit begünstigt. Die genannten Regierungen nutzen
die so genährten Ängste wiederum, um das Strafrecht zu
verschärfen, zunehmend Polizeiregimes einzurichten und
freiheitsfeindliche Maßnahmen durchzudrücken: ganze
Bevölkerungen werden als „verdächtig“ behandelt und
unter Überwachung gestellt.
VI. Autoritäre Regimes, demokratische und
solidarische Erfordernisse
Die kapitalistische Globalisierung hat die sogenannt
demokratischen Institutionen, wo es diese gab, und den
bürgerlichen Parlamentarismus in eine Krise gestürzt. Die
Regulierungen sprechen Regierungen ihren Bevölkerungen das Entscheidungsrecht ab.
Das demokratische Gebot – „echte Demokratie jetzt!“
– erhält damit eine subversivere Dimension, die im Vergleich zur Vergangenheit unmittelbarer ist und erlaubt, damit einen alternativen, populären Inhalt zu transportieren.
Ebenso können sich dank der Universalität der neoliberalen Politik und der damit einhergehenden Vermarktung
von Gemeingütern als Waren soziale Widerstandsbewegungen einander annähern, wie dies im Rahmen der
globalisierungskritischen Bewegung geschehen ist. Die
schon heute spürbaren Folgen des Klimawandels bieten
ebenfalls ein neues Feld von potenziell antikapitalistischer
Annäherung.
Die dauerhaften Folgen der Niederlagen der Arbeiterbewegung, die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus sowie der Verlust der Glaubwürdigkeit sozialistischer Alternativen untergraben jedoch diese positiven
Tendenzen. Es ist schwierig, die oft beträchtlichen Erfolge
der Protestbewegungen auf Dauer zu sichern. Die Heftigkeit der Unterdrückung kann in diesem Umfeld den
auf Abschottung setzenden „geschlossenen“ Widerstand
unterdrückter Gemeinschaften verstärken, sodass sie sich
gegenüber der Unterdrückung anderer Gemeinschaften
gleichgültig verhalten (wie im Fall des „Homonationalismus“). Die religiöse Aufladung vieler Konflikte trägt auch
zur Spaltung von Ausgebeuteten und Unterdrückten bei.
Die neoliberale Ordnung kann sich nur durchsetzen,
wenn sie die bestehenden Solidaritäten zerstören und das
Inprekorr 6/2016 59
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Aufkommen neuer Solidaritäten verhindern kann. So
nötig Solidarität ist, so wenig können wir davon ausgehen,
dass in Reaktion auf die Krise „natürlich“ neue Solidaritäten entstehen, genauso wenig, wie sich der Internationalismus angesichts des globalisierten Kapitals von selbst
entwickelt. Dafür bedarf es der Zustimmung zu systematischen gemeinschaftlichen Bemühungen.
VII. Internationalismus gegen Lagerdenken
Es gibt keine „nicht-“ oder „anti-“kapitalistische Großmacht mehr (eine Kategorie, zu der Kuba nicht zählt). Die
Schlussfolgerungen daraus sind in aller Konsequenz zu
ziehen.
Obwohl wir uns nie an der chinesischen Diplomatie
orientiert haben, hatten wir in der Vergangenheit die
Volksrepublik (und die Dynamik der Revolution) gegen
das japanisch-amerikanische Bündnis verteidigt – in diesem
Sinn standen wir in diesem Lager. Unabhängig von unserer
Haltung zum stalinistischen Regime haben wir uns gegen
die NATO gestellt; dennoch vertraten wir kein „Lagerdenken“, denn dies hinderte uns nicht an unserem Kampf
gegen die stalinistische Bürokratie. Wir agierten einfach in
einer Welt, in der die Konfliktlinien Revolution/Konterrevolution, Ostblock/Westblock und China/Sowjetunion
miteinander verzahnt waren. Dies ist heute nicht mehr der
Fall.
Die Logik des „Lagerdenkens“ hatte schon immer
zur Folge, die Opfer (die auf der falschen Seite standen)
im Namen des Kampfs gegen den „Hauptfeind“ im Stich
zu lassen. Heute gilt dies noch mehr als früher, denn es
führt dazu, sich dem Lager einer kapitalistischen Macht
(Russland, China) anzuschließen oder im Gegenteil dem
westlichen Lager, wenn Moskau oder Peking als Hauptbedrohung angesehen werden. Damit nährt man aggressive
Nationalismen und heiligt Grenzen, die aus der Zeit der
Blöcke übernommen wurden, wo wir diese doch gerade
auflösen sollten.
Das Lagerdenken kann uns dazu verleihen, in Syrien
das mörderische Assad-Regime und die russische Intervention zu unterstützen – oder das Bündnis unter der
Hegemonie der Vereinigten Staaten, an dem insbesondere auch Saudi-Arabien teilnimmt. Andere Strömungen
begnügen sich damit, die imperialistische Intervention im
Irak oder in Syrien zu verurteilen (was korrekt ist), ohne
aber zu sagen, was der Islamische Staat ist und tut und ohne
zum Widerstand gegen diesen aufzurufen.
Diese Art von Position verhindert, dass die Gesamtheit
der Aufgaben klar benannt wird, die sich der Solidarität
60 Inprekorr 6/2016
stellen. Es genügt nicht, an die historische Verantwortung
der Imperialismen, die Intervention von 2003 oder die
uneingestandenen Ziele der aktuellen Intervention zu
erinnern. Die konkreten Aufgaben der Solidarität müssen
vom Standpunkt der (humanitären, politischen und materiellen)
Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerungen und der Widerstandsbewegungen aus gedacht werden. Was nicht möglich
ist, ohne das Assad-Regime und die konterrevolutionären
fundamentalistischen Bewegungen anzugreifen.
Dasselbe gilt für Grenzstreitigkeiten, die gegenwärtig Osteuropa spalten, wie im Fall der Ukraine. Unsere
Ausrichtung war, uns in allen Ländern in und außerhalb
der EU für ein Europa einzusetzen, das auf dem freien
Zusammenschluss souveräner Völker gegen alle (nationalen, sozialen …) Herrschaftsverhältnisse beruht – unser
Verständnis von Sozialismus.
VIII. Kapitalistische Expansion und Klimakrise
Mit der Wiedereingliederung des chinesisch-sowjetischen
Blocks in den Weltmarkt hat sich der geografische Raum,
in dem das Kapital dominiert, enorm erweitert. Darauf
stützt sich der Optimismus der imperialistischen Bourgeoisien. Darauf stützt sich aber auch eine in vielfältiger Weise dramatische Beschleunigung der weltweiten
Umweltkrise. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo in
den großen Ländern des Südens mit hohem Ausstoß die
Treibhausgasemissionen ebenfalls unverzüglich gesenkt
werden müssen und nicht nur im Norden.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Begleichung der „ökologischen Schuld“ an den Süden nicht
die globale kapitalistische Entwicklung fördert und weder
japanisch-westlichen Multis mit Standorten im Süden
noch den Multis des Südens (vom Typ der brasilianischen
Agroindustrie etc.) zugutekommt, denn das würde sozialen und Umweltkrisen nur noch mehr Vorschub leisten.
Selbstverständlich besteht nach wie vor Bedarf an
Solidarität zwischen „Norden und Süden“, beispielsweise in der Verteidigung der Opfer von Klimachaos. Doch
mehr denn je steht im „Nord-Süd“-Verhältnis aus Sicht
der Arbeiterklassen ein gemeinsamer „antisystemischer“
Kampf an: das heißt ein gemeinsamer Kampf für eine
antikapitalistische Alternative, eine andere Vorstellung von
Entwicklung im „Norden“ wie im „Süden“ (die Anführungszeichen sollen daran erinnern, dass „Norden“ und
„Süden“ heute so heterogen sind, dass die Begriffe auch in
die Irre führen können).
Der Ausgangspunkt muss der ökosoziale Kampf für
„eine Veränderung des Systems und nicht des Klimas“ sein;
D I E I N T E R N AT I O N A L E
seine Basis sind die sozialen Bewegungen und nicht einfach
spezifische Klimabündnisse. Also muss auf eine Verbindung
zwischen beiden hingearbeitet werden. Wenn man dem sozialen Kampf keine ökologische Dimension verleiht (gemäß
dem, was in Bauern- oder Stadtkämpfen teilweise bereits
passiert), wird die zahlenmäßige Ausbreitung von „Klima“Mobilisierungen an der Oberfläche der Dinge verharren.
mehr an, wird auch der Meeresspiegel wesentlich mehr
ansteigen. Die besiedelten Küstenregionen auf der ganzen
Welt sind bedroht, ebenso wie Inselbevölkerungen oder
sehr flache Länder und Regionen. Mehr als 50% von Bangladesch sind direkt bedroht.
Dazu kommt heute eine weitere neue Dimension: Die
ausgedehnte Eiskappe der westlichen Antarktis weist Anzei-
Wenn man dem sozialen Kampf keine ökologische
Dimension verleiht, wird die zahlenmäßige Ausbreitung
von „Klima“-Mobilisierungen an der Oberfläche der Dinge
verharren.“
Die Folgen des Klimachaos sind bereits spürbar und die
Organisierung der Opfer, ihre Verteidigung und die Hilfe
für ihre Selbstorganisation sind bereits Teil der Grundlage
des ökologischen Kampfs.
Die Folgen eines auf fossile Brennstoffe gestützten globalen Energiesystems liegen heute deutlich auf der Hand.
Angesichts der weltweiten Klimaerwärmung schmelzen
die Polkappen, steigt der Meeresspiegel, breiten sich die
Wüsten aus, wird Wasser knapper, ist die Landwirtschaft
bedroht und werden extreme Klimaphänomene häufiger.
Die Folgen des Taifuns Haiyan auf den Philippinen übersteigen im Ausmaß das, worauf man bereits vorbereitet war.
Die vorausgesagte Zukunft ist bereits eingetreten. Das hat
destabilisierende Folgen, die weit über die direkt betroffenen Gebiete hinausreichen und in Kettenreaktionen Spannungen erzeugen (siehe die Flüchtlinge aus Bangladesch
und die Konflikte mit Indien in der Migrantenfrage).
Die Fachwelt ist sich einig darüber, dass eine durchschnittliche Erhöhung der Erdtemperatur von 2° gegenüber dem Stand vor der Industrialisierung Klimafolgen
auslösen wird, die, wenn sie einmal eingetreten sind, nicht
mehr aufhaltbar sind. Damit stellt sich eine Reihe von
noch völlig ungelösten schwierigen Fragen.
Das Abschmelzen der Gletscher und der Eiskappe
könnte eine katastrophale Erhöhung des Meeresspiegels
nach sich ziehen. Selbst wenn die Erhöhung der Temperatur auf 2° stabilisiert werden kann, wird bis Ende des
Jahrhunderts der Meeresspiegel vermutlich um 0,6 bis 2
Metern angestiegen sein. Steigen die Temperaturen noch
chen von Destabilisierung auf, und ihr Abschmelzen könnte
zum Anstieg des Meeresspiegels um 7 Meter führen.
Es lässt sich vorhersehen, dass die Temperaturerhöhung
der Erdoberfläche verheerende Folgen für die Trinkwasserreserven haben wird, mit einer Zunahme von Dürren
und Hitzewellen. Die Gletscher schwinden mit beispielloser Geschwindigkeit und die Grundwasser trocknen aus.
Die Flüsse verlieren ihre Kapazität. Mehr als die Hälfte des
weltweiten Trinkwassers kommt aus den Bergen (Rieseln,
Gletscherschmelze). Die Kriege um die Kontrolle von
Wasservorräten werden deutlich häufiger werden.
Wie soll die Weltbevölkerung ernährt werden, ohne
vermehrt auf (agro-)industrielle Landwirtschaftsbetriebe
und den steigenden Einsatz von Pestiziden, Herbiziden
und GVO zu setzen, die die Biosphäre zerstören? Im Süden
ist die zentrale Frage die der Nahrungssouveränität, die
den Völkern das Recht und die Mittel gibt, das ihnen
adäquate Nahrungssystem selbst zu definieren. Sie gibt die
Macht eher in die Hände von ProduzentInnen, VerteilerInnen und KonsumentInnen statt in jene der Großunternehmen und der Marktinstitutionen, die heute diesen Sektor dominieren. Sie erlaubt es, den Landraub zu stoppen,
und erfordert eine umfassende Landwirtschaftsreform, um
den ProduzentInnen die Böden zurückzugeben.
Der zerstörerischste Einzelaspekt der Umweltkrise ist
vielleicht der Einfluss, den sie auf die Artenvielfalt hat –
man spricht immer häufiger vom „sechsten Artensterben“.
Eine Erhöhung der Erdtemperatur von rund 3 °C würde
beispielsweise bedeuten, dass die Hälfte aller Arten zum
Inprekorr 6/2016 61
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Aussterben verurteilt wäre. Ein Viertel aller Säugetiere
ist bedroht. Die laufende Übersäuerung der Weltmeere
würde den Tod von Korallenriffen sowie von Organismen
bedeuten, die von der Verkalkung ihrer Schalen abhängen. Die Zukunft unserer Spezies kann nicht losgelöst von
dieser Krise der Artenvielfalt gesehen werden.
IX. Eine Welt permanenter Kriege
Vermutlich steuern wir nicht auf einen dritten Weltkrieg
nach dem Muster des Ersten oder Zweiten Weltkriegs
zu, denn einen Konflikt um die territoriale Aufteilung der
Welt im selben Sinn wie früher gibt es heute nicht. Doch
die Kriegsfaktoren reichen tief und sind vielfältig: neue
Konflikte zwischen Großmächten, Konkurrenzen auf dem
Weltmarkt, Zugang zu Ressourcen, Zerfall von Gesellschaften, Aufstieg neuer Faschismen, die der Kontrolle
ihrer Schöpfer entgleiten, Kettenreaktionen im Klimachaos und umfassende humanitäre Krisen …
Wir stecken mittendrin in einer Welt permanenter
Kriege (im Plural). Jeder Krieg muss in seinen Besonderheiten analysiert werden. Wir sind mit sehr komplexen
Situation konfrontiert, wie heute im Nahen Osten, wo
innerhalb eines einzigen Kriegsschauplatzes (Irak-Syrien)
Konflikte mit ihrer spezifischen Ausprägung (syrisches
Kurdistan, Region von Aleppo etc.) zusammentreffen.
Diese permanente Kriegssituation betrifft nicht nur
internationale Konflikte. Sie kennzeichnet auch die innere
Lage von Ländern Afrikas und Lateinamerikas, etwa
Mexiko.
Die Kriege herrschen und werden in vielfältiger Gestalt auch weiter herrschen. Wir müssen neu analysieren,
wie sie geführt werden, insbesondere wie der Widerstand
an der Basis aussieht, um besser die Bedingungen des
Kampfes, die Realität jeder Situation, die konkreten Erfordernisse der Solidarität zu verstehen …
Wir brauchen aber „stabile Ausgangspunkte“, um in
der sehr komplexen geopolitischen Lage nicht die Orientierung zu verlieren: Klassenunabhängigkeit gegenüber
den Imperialismen, den Militarismen, den Faschismen und
dem Aufkommen von „antisolidarischen“ (rassistischen,
islamfeindlichen und antisemitischen, ausländerfeindlichen, kastenspezifischen, fundamentalistischen, homophoben, frauenfeindlichen, maskulinistischen …) identitätsbetonten Bewegungen.
gleicher zu sein als andere; die Vereinigten Staaten erlauben
sich Dinge, die sie bei anderen nicht durchgehen lassen. Sie
setzen auf die Bedeutung des Dollars, um ihr „Recht“ auf
Strafverfolgung zu „exportieren“; sie kontrollieren über weite Strecken die fortschrittlichsten Technologien und befehligen eine unvergleichbare Militärmacht. Ihr Staat bewahrt
globale Regulierungsfunktionen, die andere nicht haben –
oder für die anderen die Mittel fehlen.
Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor die einzige Supermacht weltweit – und trotzdem verlieren sie alle Kriege,
die sie angezettelt haben, von Afghanistan bis Somalia. Die
Schuld daran liegt vielleicht in der neoliberalen Globalisierung, die verhindert, dass sie vorübergehende militärische
Erfolge (im Bündnis mit den lokalen Eliten) gesellschaftlich
konsolidieren können. Es ist vielleicht auch eine Folge der
Privatisierung von Armeen, da Söldnerfirmen ebenso wie
„nicht offizielle“ bewaffnete Truppen im Dienst von Sonderinteressen (Großunternehmen, bedeutenden Besitzerfamilien …) eine wachsende Rolle spielen.
Es liegt aber auch daran, dass dieses Macht, so vorherrschend sie auch sein mag, nicht über die Mittel verfügt,
rundum unter strukturell instabilen Bedingungen zu
intervenieren. Sie bräuchte nachgeordnete imperialistische Mächte, die sie unterstützen könnten. Frankreich und
Großbritannien verfügen nur noch über sehr begrenzte
Kapazitäten; Japan muss erst den zivilen Widerstand gegen
seine vollständige Remilitarisierung überwinden. Der Brexit
versetzt der Herausbildung eines vereinten europäischen Imperialismus den Gnadenstoß: Großbritannien befehligt eine
der zwei einzigen einsatzfähigen Armeen der Union, eines
der wichtigsten diplomatischen und finanziellen Netzwerke
und eine der wichtigsten Ökonomien des Subkontinents.
Wer von Kriegen spricht, muss auch von der Antikriegsbewegung sprechen. Da sich die Kriege stark voneinander
unterscheiden, entstehen sich gegenseitig unterstützende
Antikriegsbewegungen nicht von selbst. Aus der Perspektive
(west-)europäischer AktivistInnen besteht in dieser Frage
Anlass zu Pessimismus, da das „Lagerdenken“ die wichtigsten auf diesem Gebiet entstandenen Kampagnen zersetzt und
handlungsunfähig gemacht hat. Dennoch gibt es Antikriegsbewegungen, insbesondere in Asien – und in Eurasien wird
die Überwindung der aus der Ära der Blöcke übernommenen Grenzen insbesondere entlang dieser Frage erfolgen.
XI. Humanitäre Krise
X. Die Grenzen der Großmacht
Die einheitlichen Regeln der globalisierten kapitalistischen Weltordnung hindern gewisse Länder nicht daran,
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Neoliberale Politik, Kriege, Klimachaos, wirtschaftliche Verwerfungen, sozialer Zerfall, zügellose Gewalt, Pogrome, Zusammenbrüche von Sozialversicherungssystemen, verheeren-
D I E I N T E R N AT I O N A L E
de Epidemien, Versklavung von Frauen, Zwangsmigration:
langsam verdurstende Kinder, die mitten in der Sahelzone
mit ihren Eltern im Stich gelassen wurden … Der triumphierende ungezügelte Kapitalismus gebiert eine Welt, in der sich
humanitäre Krisen häufen und ein Ausmaß an Leid hervorbringen, das für alle, die es nicht selbst erleben, unvorstellbar
ist – und unbeschreiblich für die, die es erlebt haben.
Anstatt angesichts dieser Dringlichkeiten das Völkerrecht zu stärken, wird es von den Nationalstaaten mit
Füssen getreten. Die Europäische Union gibt nicht einmal
mehr vor, in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen das
Völkerrecht einzuhalten. Davon zeugt das ruchlose Abkommen, das mit der Türkei ausgehandelt wurde. Dasselbe
gilt für das Schicksal der Rohingya in Südostasien.
Nach einer Phase, in der der Begriff des
Internationalismus an sich oft verunglimpft wurde, ist er
mit der Welle der Globalisierungskritik wieder zu seinem Recht
gekommen.
Der Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung trifft mit
voller Wucht auf Staaten oder Länder wie Pakistan (das im
Besitz von Atomwaffen ist) oder Mexiko, wo die Mafias gemeinsam mit der politischen Klasse ihre Herrschaft mittels
Terror durchsetzen – weshalb von gescheiterten, mafiösen
Staaten und Drogenterrorismus gesprochen wird.
Auf diese moderne Barbarei muss mit einer Ausweitung des internationalistischen Aktionsfeldes geantwortet
werden. LinksaktivistInnen und soziale Bewegungen
müssen insbesondere sicherstellen, dass sich eine Solidarität
„von Volk zu Volk“ zwischen den Opfern der humanitären Krise entwickeln kann.
Inprekorr 6/2016 63
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Nach einer Phase, in der der Begriff des Internationalismus an sich oft verunglimpft wurde, ist er mit der Welle
der Globalisierungskritik und der Zunahme von „Besetzungen“ von Plätzen und Stadtteilen wieder zu seinem
Recht gekommen. Der wiederbelebte Internationalismus
muss nun dauerhaftere Formen auf allen Ebenen des Widerstands finden.
XII. Wachsende Instabilität?
[Dieser Abschnitt muss je nach der Entwicklung der Lage, dem
Austausch und dem Fortschritt anderer Dokumente (insbesondere
in Bezug auf den letzten Absatz) nochmals überarbeitet werden.]
Im aktuellen Kontext ist es ziemlich müßig, die Zukunft voraussagen zu wollen. Die Instabilität wird jedoch
eher zu- als abnehmen und es wird in zahlreichen Ländern
und Regionen zu bedeutenden „Wendepunkten“ kommen. Zu erwähnen sind insbesondere folgende Faktoren:
In Lateinamerika kommt ein Zyklus zum Abschluss,
jener der „fortschrittlichen Regierungen“, die sich von
Washington abgesetzt haben. Das Auslaufen dieses Zyklus
äußert sich in offenen Krisen in Venezuela und Brasilien.
In Europa haben der Zustrom an Flüchtlingen 2015,
die politische Entwicklung in Ländern wie Ungarn und
der Sieg des Brexit in Großbritannien eine tiefe Gespaltenheit und zentrifugale Kräfte innerhalb der EU offengelegt.
Das Projekt der europäischen Integration ist ein Misserfolg. Weiter im Osten kann Putin mit seiner Kriegspolitik
die Schwere der wirtschaftlichen Krise und die Abnutzung
des Regimes nicht übertünchen.
In Ostasien hat die KMT die letzten Wahlen in Taiwan
verloren und die neue Regierung bemüht sich um eine
gegenüber Peking unabhängigere Politik, sodass zwischen
China, Japan und den Vereinigten Staaten besonders heftige Spannungen bestehen.
Auf geopolitischer Ebene kann man sagen, dass sich das
Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China
„vom Wettbewerb in wechselseitiger Abhängigkeit“ zu
„wechselseitiger Abhängigkeit in Konfrontation“ entwickelt.
In Indien greift der Hindu-Nationalismus (BJP-RSS)
die laizistischen Grundlagen des Staates selbst an.
Im Nahen Osten hat die massive tödliche Intervention
Russlands die Ausgangslage verändert und das Assad-Regime gestärkt. Der US-amerikanische Imperialismus hat
die sehr begrenzte Militärhilfe, die der nicht fundamentalistischen arabischen Opposition zugesprochen wurde,
eingestellt. Die westlichen Medien präsentieren unterdessen die militärischen Rückeroberungen durch das Bündnis
64 Inprekorr 6/2016
Russland-Assad als „Befreiung“ einer Stadt oder eines
Gebiets. Dabei zeigten wichtige Mobilisierungen an der
Basis, dass der Widerstand gegen die Diktatur Assads nach
wie vor lebt und unsere Unterstützung verdient.
Was die Weltwirtschaft betrifft, stellen sich verschiedene Fragen, die unterschiedlich zu beantworten sind.
Eine neue Finanzkrise droht, ohne dass man weiß, was der
Auslöser und was die Folgen sein werden. Befinden wir
uns in einer Phase langer Stagnation? Werden die technologischen Innovationen in Verbindung mit der Informatik spürbare Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität
haben oder nicht? In einem besteht jedoch Gewissheit:
Die Prekarisierung der Arbeit und der Zerfall des sozialen
Gefüges werden weitergehen.
Der globalisierte Kapitalismus führt einen globalisierten Sozialkrieg.
Die Ablehnung der neoliberalen Ordnung und der
Widerstand gegen diesen Klassenkrieg äußern sich in
vielfältiger Form, selbst in den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern wie den Vereinigten Staaten (hinter
Sanders), Großbritannien (hinter Corbyn), Spanien (Krise
des Zweiparteiensystems und Podemos) oder Frankreich
(Bewegung gegen die Zerschlagung des Arbeitsrechts).
Die Frage des Zusammenlaufens der Kämpfe innerhalb
jedes Landes und auf internationaler Ebene erweist sich
heute als wichtiger denn je.
Übersetzung: Tigrib
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