Mein Indien ist eine Erfin

WDR 3 Kulturfeature
Mein Indien - Karthographie eines Sehnsuchtsorts
Musik-Intro
Sprecher (Zitate)
„Mein Indien ist eine Erfindung. Es hat mit Erfinden, mit Fingieren oder mit
Wiederfinden zu tun.“
O-Ton Peter Herbert
Indien: viele Farben, und viele Gerüche…
Sprecher (Zitate)
„Mein Indien ist ein Land, das weit zurückreicht. Es liegt in meiner Kindheit.“
O-Ton Wolfgang Herbert
… die Yogis, die heroischen, religiösen Virtuosen, die tollkühne Geisteserkundungen
machen.
Sprecher (Zitate)
„Indien ist ein Kontinent, heißt es. Er harrte und harrt meiner Entdeckung.
Es ist ein innerer Kontinent.“
Herbert 2014: 4.
O-Ton Peter Herbert
Eine Sehnsucht war sicher bei ihm ident, wie bei mir, das ist eben dieses Studieren
und dieses Kennenlernen wollen von neuen Dingen und Kulturen, bei ihm ist es
Wissen, bei mir ist es vielleicht eher geografisch und musikalisch, aber dort gibt es eine
absolut idente Sehnsucht.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig.
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O-Ton Wolfgang Herbert
Jeder Tag gibt neue Lernmöglichkeiten. Sowohl in der Kunst des Karate, wo ich selbst
in meinem hohen Alter jeden Tag neue Sachen entdecken kann, und in der Meditation,
auch dort sind die Tiefen nie, nie, nie ausgeschöpft. Auch das, was mich da hin zieht,
dass ich meditieren will, das ist ja auch eine Form von Sehnsucht, und die wird mich
nie verlassen.
Titel
Mein Indien – Kartographie eines Sehnsuchtsorts. Ein Feature von Merzouga.
O-Ton Wolfgang Herbert
Indien hat mich nicht enttäuscht. Dieser Magnetismus, der ist überhaupt nicht verloren,
im Gegenteil. Ich möchte unbedingt wieder und so oft es geht, nach Indien gehen. Ich
glaube die Sehnsucht wird mir bleiben bis zum letzten Atemzug. Das hängt damit
zusammen, dass der Weg, den ich beschreite völlig unabgeschlossen ist.
O-Ton Alexandra Freund
Sehnsüchte erfüllen sich nicht. Das ist genau der Knackpunkt an den Sehnsüchten. Sie
sind Utopien und als solche nie komplett umsetzbar.
O-Ton Wolfgang Herbert
Weil wir unsere Wege sehr konsequent gegangen sind, haben wir uns an Orte der
Sehnsucht begeben, die ein Versprechen dargestellt haben.
O-Ton Alexandra Freund
Wir sehnen uns symbolhaft nach etwas, und dieses Symbol kann immer nur teilweise
das erfüllen, worum es geht.
O-Ton Wolfgang Herbert
Für Peter war das New York als Jazzmusiker. Das Versprechen war, dass dort die
besten Musiker seiner Generation versammelt sind, und dass er dort musikalisch
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unglaublich imprägniert wird, und etwas für sein Leben mitnehmen kann, und für mich
war die Sehnsucht nach Asien zu gehen und in Japan zu leben und zu wirken.
Autorin
Schwarzweißfotografie 2001.
Zwei Männer in dunklen Jeans und nacktem Oberkörper posieren vor einer weißen
Leinwand.
Peter Herbert blickt selbstbewusst in die Kamera. Das Gesicht glattrasiert.
Schulterlanges, leicht gewelltes Haar. Marokkanischer Silberschmuck an beiden
Handgelenken, den er auch benutzt, um seinem Kontrabass neue Klangfarben zu
entlocken.
Er ist gerade aus New York nach Wien geflogen, um den „Hans-Koller-Preis“ in
Empfang zu nehmen, den renommiertesten Jazzpreis, der in seiner Heimat verliehen
wird.
Dicht hinter Peter Wolfgang Herbert. Er hat den athletischeren Körper des Karatekas.
Aus Japan ist er nach Wien gekommen, um seinem Zwillingsbruder zu gratulieren.
Kurzes Haar, offener Blick. Er lächelt.
Sie sind 41 Jahre alt.
Bei beiden krümmen sich über Bizeps und Schulter zwei identische Drachen. Ein ZenMeister aus Osaka hat sie in die Haut der Zwillinge gestochen.
Die Schlange steht in Japan für das Element Erde. Der Drache, des Fliegens mächtig,
verbindet die Erde mit dem Himmel.
O-Ton Peter Herbert
Mein Name ist Peter Herbert, ich bin Musiker, vornehmlich Kontrabassist und
Komponist, Weltreisender mithilfe der Musik, ich hab viele Länder gesehen und viele
Sprachen gelernt, auch musikalischer Natur.
O-Ton Wolfgang Herbert
Mein Name ist Wolfgang Herbert, ich bin von Beruf mit einem Lehrstuhl ausgestattet
für Vergleichende Kulturwissenschaften, das ist ein weites Gebiet, wo ich meine vielen
Interessen unterbringen kann, ich lebe und arbeite in Japan seit über 25 Jahren...
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O-Ton Alexandra Freund
Mein Name ist Alexandra Freund, ich bin Entwicklungspsychologin und als Professorin
an der Universität Zürich tätig.
Autorin
Vorarlberg. Das Haus, in dem die Zwillingsbrüder Wolfgang und Peter Herbert in den
frühen 1970er Jahren aufwachsen, liegt im Schatten eines schroffen Berges. Darüber
ein Stückchen Himmel, scharf umgrenzt von schwarzen Felsen.
O-Ton Peter Herbert
(auf Amerikanisch) I was born in the middle of the Alps in Bludenz, and looking at the
sky, the sky was very narrow, and all I saw was mountains. For that reason I became a
mountain-climber in order to see more of the sky.
O-Ton Wolfgang Herbert
(auf Japanisch)
Sprecher (Voice-Over)
Ich komme aus Vorarlberg in Österreich, dem Land, aus dem Mozart kommt, nicht aus
dem Land mit den Kängurus. Ich habe lange in Wien gelebt, aber ursprünglich komme
ich aus den Bergen.
O-Ton Wolfgang Herbert
(auf Japanisch bis Ende)
Autorin
Der unverstellte Blick in die Ferne steht nur demjenigen offen, der sich hinauswagt aus
dem Schutz des Tals, dem Kletterer und dem Wanderer.
Zuhause wird musiziert, sonntags geht man in die Kirche. Die Mutter ist
Geigenlehrerin, der Vater ein ambitionierter Hobbypianist. Es gibt keinen Fernseher.
Dafür wird jeden Abend gemeinsam ein Violinkonzert gehört.
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O-Ton Peter Herbert
In unserem Elternhaus gab es auch Bücher über Indien, eines ist mir in Erinnerung von
Paul Brunton...
O-Ton Wolfgang Herbert
... „Von Yogis, Magiern und Fakiren“...
O-Ton Peter Herbert
... das hab ich schon als Jugendlicher gelesen.
O-Ton Wolfgang Herbert
... der Titel allein war anziehend genug, um alle möglichen Fantasien auszulösen.
Autorin
Auch in dem Buch von Paul Brunton, in das die beiden Brüder sich vertiefen, ist von
einem Berg die Rede. Von dem Heiligen Berg Arunachala in Süd-Indien, von dem
Asketen Ramana Maharishi, der dort in einer Höhle gelebt haben soll. In Meditation
versunken. Jahrelang.
Sprecher (Zitate)
„Eine der Anweisungen, die Paul Brunton zum geistigen Wachstum gab, war die
sogenannte ‚Erweckung und Pflege höherer Gefühle‘. Dazu zählte er die
Beschäftigung mit den schönen Künsten, vorab mit Poesie und Musik. Letztere war in
meinem Elternhaus allgegenwärtig und so begann ich, in den Stunden, in denen ich
alleine zuhause war, die Schallplatten meiner Eltern aufzulegen.“
Autorin
Als Studentin, hatte die Mutter der beiden eine Zeit lang in England gelebt. Das war
viele Jahre her. Damals hatte sie einen indischen Freund, der ihr Yogaübungen zeigte,
und bei dem sie lernte, wie man Curries kocht.
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O-Ton Wolfgang Herbert
Auch meine Mutter dürfte eine Infektion mit Indien mitgebracht haben. Sie hat jeden
Morgen Yoga gemacht, das haben wir natürlich mitbekommen. Sie hat aber zu mir
gesagt: das ist zu früh für dich, und eine Aussage, wie diese, macht die Sache
natürlich doppelt reizvoll.
Sprecher (Zitate)
„Mendelssohn Bartholdy, Sibelius, Tschaikowsky und Bruch…“
O-Ton Wolfgang Herbert
Deshalb habe ich dieses Buch von Paul Brunton auch heimlich aus der elterlichen
Bibliothek entführt und gelesen. Und seit ich dieses Buch gelesen habe, kann ich
sagen, dass ich Richtung Orient orientiert worden bin. Diese Asien-Umpolung ist in
meiner späten Pubertät passiert, und die ist auch geblieben.
Autorin
Während die Mutter nebenan Yoga macht, versucht Wolfgang morgens auf dem
Kopfkissen zu meditieren.
Sprecher (Zitate)
„Ich ließ mich ganz von der Musik umhüllen und erfüllen, ließ mich schmelzen und
verschmelzen mit den Tönen. Ich schwelgte in diesen Gefühlsüberschwemmungen
und vermeinte, sie seien Ausdruck eines mystischen Verlangens nach Vereinigung mit
dem Göttlichen.“
Herbert 2014: 15.
Autorin
Kurze Zeit später beginnt er mit Karate.
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O-Ton Alexandra Freund
Warum haben wir Sehnsucht? Eine Funktion und auch ein Ursprung der Sehnsucht
aus unserer Sicht ist, dass Sehnsucht eine Form ist, zu versuchen die
Unvollkommenheit, die wir immer haben, in jedem Leben, zu transzendieren und mit
der Sehnsucht vollkommen zu machen.
Autorin
Farbfotografie 1978.
Blick ins Wohnzimmer. Orange- und Brauntöne. Am Ende der schmalen Zimmerflucht
ein schwarzes Klavier. Stapel von Büchern und Noten. Eine Lampe mit schief
sitzendem Schirm. Vor dem Klavier ein Sofa, gehäkelte Decke, die sorgfältig
arrangierten Zierkissen zitronengelb. Das Tischtuch des Sofatischchens im selben
Blümchen-Muster wie die Tapete. Auf dem Tisch eine Uhr und frische Glockenblumen
aus dem Garten.
Im Vordergrund: Wolfgang Herbert. Der 18-Jährige ist Junior Staatsmeister im Karate.
Den nackten Oberkörper leicht zur Seite gedreht, jeden Muskel angespannt, steht er
mitten im Raum. Entschlossener Blick, die Augenbrauen zusammengezogen. Ruhe
strahlt aus diesem Gesicht und höchste Konzentration.
Der ausgestreckte Arm schnellt durch das Bild.
Am schärfsten Punkt des Fotos die geballte Faust, die eine unsichtbare Ziegelwand
durchschlägt.
O-Ton Alexandra Freund
Aufgrund der kognitiven Komplexität, die Sehnsucht impliziert, kann man davon
ausgehen, dass Sehnsüchte erst im Jugendalter auftreten. In der Kindheit sind es eher
Fantasien, Wünsche, Träume. Aber diese Form des Bitter-Süßen, das Gefühl „Mir fehlt
etwas“, die tritt erst auf, wenn man das, was wir in der Psychologie „kontrafaktisches
Denken“ nennen, entwickelt hat.
Ich muss wissen, dass es eine Realität geben könnte, die nicht die tatsächlich
gegenwärtige ist. Und die muss ich dagegensetzen können, und daraus ergibt sich
dieses Gefühl, das wir Sehnsucht nennen.
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Autorin
Peter Herbert widmet jede freie Minute dem Klettern. Drei, vier Stunden täglich trainiert
er, keine Wand ist ihm zu steil. Er klettert ohne Seil und Haken. Free-Climbing wird
seine Obsession.
Bis er eines Tages in einer Steilwand danebengreift und abrutscht.
Zwanzig Meter stürzt er in die Tiefe. Er ist 20 Jahre alt.
Unverletzt übersteht er den freien Fall. Er wird nie wieder klettern.
Stattdessen widmet er seine ganze Aufmerksamkeit dem Kontrabass, schafft die
Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule in Graz. Fokussiert und diszipliniert wie
beim Klettern widmet er sich der Musik, um sich neue Horizonte zu erschließen.
MUSIK-INTERMEZZO „Klettern zu Kontrabass“
O-Ton Alexandra Freund
Es gab lange das Diktum, dass so um die dreißig unsere Persönlichkeit feststeht, wir
uns eigentlich nicht (mehr) entwickeln, und dann gibt es im hohen Alter
Abbauprozesse. Paul Baltes, damaliger Direktor des Max-Planck-Instituts, hat dieses
Diktum angezweifelt und umgedreht: Nein, wir entwickeln uns das ganze Leben lang
weiter, ganz hegelianisch, es gibt gewisse dialektische Figuren, an denen wir uns
abarbeiten, und Sehnsüchte sind solche dialektische Figuren, die uns als Menschen
individuell weiterbringen in unserer Persönlichkeitsentwicklung, vielleicht hin zur
Weisheit, und die ein Stückchen der Perfektion auch in die Gegenwart hineinbringen
können.
O-Ton Peter Herbert
Ich kenne niemanden so lange wie meinen Zwillingsbruder, wir waren lange
gemeinsam in der Schule, haben von unserer Mutter verordnet sehr lange die
identischen Kleider getragen, wir wurden oft verwechselt.
Mein Bruder hat sogar, nachdem er in der Schule viel besser war, als ich, auch
mündliche Prüfungen für mich gemacht, weil der Lehrer uns nicht unterscheiden
konnte.
Unsere Wege haben sich dann getrennt, er war sportlich sehr intensiv mit Karate
beschäftigt, ich war sportlich sehr mit Klettern beschäftigt, zwei diametral
entgegengesetzte Tätigkeiten.
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O-Ton Alexandra Freund
Das Jugendalter ist auch das Alter, wo man dann Autonomie anstrebt, wo man seine
Identität gerade als Teil eines Zwillingspaares durch Abgrenzung versucht zu
etablieren, und ich könnte mir vorstellen, dass man dann entweder auf dieser
gemeinsamen Trajektorie weitergeht, oder auch genau das Gegenteil macht, sich ganz
stark davon abgrenzt, und den Sehnsuchtstopos vielleicht einem von beiden überlässt,
aber nicht unbedingt gemeinsam weitergeht.
O-Ton Peter Herbert
Unsere Lokalitäten sind sehr weit auseinandergedriftet, bei ihm Japan und bei mir ganz
lange New York, und da gab es aber doch Momente, nachdem wir uns monatelang
nicht gehört haben, meldet man sich intuitiv wieder und findet heraus, dass es dem
einen oder dem anderen gerade nicht so gut geht. Das war fast telepathisch. Oder so
Kleinigkeiten: man geht am selben Tag zum Friseur, zum Beispiel, ohne sich
abzusprechen, der eine in New York, der andere in Osaka.
Autorin
Schwarzweißfotografie 1962.
Sepiafarben leuchten die weißen Strickjäckchen der Zwillinge in der Frühlingssonne.
Sie sind zwei, vielleicht zweieinhalb und stehen im Garten vor einem Schaukelpferd.
Beide in Lederhosen und Gummistiefeln.
Die Hufe des Holzpferds, das Peter am Zügel hält, sind fest mit einem Brett auf zwei
Kufen verschraubt.
Es überragt den Kopf des Jungen um ein paar Zentimeter.
O-Ton Wolfgang Herbert
Mein Bruder ist im Wesentlichen ein Seelenbruder. Egal, was wir äußerlich treiben, er
ist Musiker, ich bin Wissenschaftler, und, wenn wir von Sehnsucht reden, vermute ich,
dass wir dasselbe Ziel haben.
Sein Interesse an Indien war auch immer da, und wir haben uns über Meditation und
all diese Dinge immer sehr intensiv ausgetauscht. Es gibt viele Dinge, die uns auf
seelischer Ebene verbinden und ewig verbinden werden.
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Autorin
Die Mähne vom Wind zerzaust, blickt das Holzpferd in Peters Richtung über den
akkurat gemähten Rasen. Peters Blick konzentriert, seine Hand, die das Zaumzeug
führt, ist in Bewegung.
Sein Zwillingsbruder Wolfgang blickt auf einen Strohhalm in seiner Hand - Futter für
das Holzpferd.
Hinter dem Gartenzaun läuft eine Häuserzeile – Spitzdach an Spitzdach - auf den
dunklen Bergrücken zu.
MUSIK-INTERMEZZO „Sehnsucht“
O-Ton Alexandra Freund
Sehnsucht ist ein umfassendes und breites Phänomen des menschlichen Erlebens,
das wir aus einer wissenschaftlichen Perspektive versucht haben, anhand von
verschiedenen Kriterien zu definieren, und zwar als ein Gefühl, das sehr intensiv sein
kann, das bitter-süß ist, das sich auf perfekte Zustände bezieht, auf die Vorstellung
oder eine Utopie, wie das Leben, wenn es perfekt wäre, aussehen würde.
O-Ton Peter Herbert
Ich war gerade vor einem Monat in Marokko, habe Aufnahmen mit meinem guten
Freund Loy Ehrlich gemacht. Bei diesen Aufnahmen hat er hauptsächlich Rabab
gespielt, das ist dieses einsaitige Geigen-Instrument, das wahrscheinlich dem Sound
der Sahara am nächsten kommt - wenn man Musik damit verbindet, mit dieser Stille,
mit dieser Weite, mit dieser Kälte, mit dieser Hitze. Die Rabab hat eine wahnsinnige
Magie. Das ist tatsächlich ein absolutes Sehnsuchtsinstrument.
O-Ton Alexandra Freund
Auf der imaginären Ebene erlaubt uns die Sehnsucht für einen vorübergehenden
kurzen Zustand ein perfektes Leben zu haben, dann kommen wir da leider wieder
heraus, und dann ist das Leben wieder imperfekt. Aber für diesen Moment haben wir’s,
in dem wir in dieser Sehnsucht schwelgen. Das ist der Grund, warum Personen
Sehnsüchte willentlich herbeiführen, sich in bestimmte Stimmungen versetzen, sich
bestimmte Fotografien anschauen, Musik anhören, also ganz bewusst solche
Sehnsüchte aufsuchen, weil es ihnen diesen Moment des Eintauchens in dieses
Ganze gibt, was das Leben sein könnte.
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O-Ton Peter Herbert
Ich habe die Wüste oft erlebt, und wahrscheinlich ist es diese Stille, die dort herrscht,
und dieses komplett auf-sich-gestellt-sein, oder mit-sich-sein - das hat eine
wahnsinnige Anziehung, und eine irritierende Entschleunigung. Es dauert ein paar
Stunden, wo man seine europäische Unruhe ablegen kann, und nach ein, zwei Tagen
braucht man gar nichts mehr. Weder Internet, noch Handy, noch sonst irgendwas,
dann ist man völlig glücklich mit dieser Stille und mit dieser Einsamkeit.
O-Ton Alexandra Freund
Die Sehnsucht ist im Unterschied zur Nostalgie, beispielsweise, oder auch zum
Bedauern nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern hat etwas, je nachdem
wie man es sehen will, entweder Zeitloses, oder umfasst Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft.
O-Ton Peter Herbert
Manchmal gibt es auch die Sehnsucht nach Melancholie, zum Beispiel. Und dann
schreibt man ein Stück Musik, das diese Melancholie reflektiert. Oder es gibt die
Sehnsucht nach Ausgelassenheit. Das sind emotionale Sehnsüchte, die man eins zu
eins in die Musik verarbeiten kann.
O-Ton Wolfgang Herbert
Ich habe beschrieben, dass es diese spirituelle oder religiöse Sehnsucht gibt, und das
ist, glaube ich, die sublimste Form davon, und die manifestiert sich auf unserer Ebene
in allen möglichen anderen Sehnsüchten.
O-Ton Alexandra Freund
Die Funktion ist, glaube ich, wirklich diese Richtungsgebung. Was ist mir so zentral,
dass ich darüber Sehnsüchte habe, von dem ich versuchen sollte mehr in mein Leben
einzubringen.
Und wohin sollte ich mich orientieren? Das gibt keine konkreten Handlungsschritte vor,
sondern ganz allgemeine Richtungen.
Es ist ja häufig auch so, dass Sehnsucht beschrieben wird als so ein drängendes
Gefühl, mich drängt es irgendwo hin.
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Autorin
Filmsequenz: „Peter Herbert – A Portrait in Music“ 1999.
Rhythmisches Kontrabass-Ostinato. Leere Quinten.
Peter Herbert vor einem rostig, silbergrauen 1976er – Cadillac.
Er blickt auf das Auto und lacht.
Schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans. Der tätowierte Drache auf dem rechten Oberarm.
„FOR SALE“ steht auf der Windschutzscheibe.
Schnitt.
O-Ton Wolfgang Herbert
Sehnsucht kann sich in sehr verschiedenen Formen manifestieren, das ist ein
Hingezogen sein, ein Hingedrängt werden zu Menschen, Ideen, Künsten, Schönheit
und anderen abstrakten Dingen, die einem das Leben verschönern.
Autorin
Schnitt.
Peter Herbert am Steuer des Cadillacs. Die Linke lenkt, mit der Rechten zündet er sich
eine Zigarette an.
Schnitt.
Fahrt über die Brooklynbridge. Die Lichter der entgegenkommenden Autokolonnen wie
Lampions vor dem silbergrauen Abendhimmel.
O-Ton Alexandra Freund
Sehnsucht ist ein Phänomen, bei dem viele sagen würden, man weiß, wenn man sie
hat, man spürt sie, aber sie zu definieren ist ganz schwierig.
O-Ton Wolfgang Herbert
Das zu definieren ist deshalb schwierig, weil das ein Gefühl ist, das dich irgendwo hin
zieht, und oft sogar den reflexiven Begleiter auf der Strecke lässt. Das kann passieren,
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wenn man sich verliebt, und das passiert in anderer Weise in der mystischen
Sehnsucht.
Nur geht es da eben nicht darum, die Rationalität abzulegen, sondern die Rationalität
zu überschreiten, und aufzuheben im Hegelschen Sinne, d.h. man ist auf einer
anderen Stufe, aber die Rationalität ist immer noch verfügbar.
Autorin
Schnitt.
Heller Tag. Blick über die Dächer. In der Ferne die Twin-Towers des World Trade
Center.
Schnitt.
In der Mitte eines Flachdachs, von Schornsteinen umgeben, spielt Peter Herbert
seinen Kontrabass.
Um ihn herum: der Lärm der Großstadt.
O-Ton Alexandra Freund
Ziele beschreiben bestimmte Endzustände, die man erreichen oder vermeiden möchte,
durch bestimmte Handlungen. Bei einer Sehnsucht ist es letztendlich nie erreichbar, es
ist die Utopie dessen, was ich damit verbinde, es ist vager, insofern, als, selbst wenn
ich diesen Zustand erreicht habe, habe ich immer noch nicht meinen Utopie
Sehnsuchtszustand erreicht.
Autorin
Schnitt.
New Mexico. Eine asphaltierte Straße, schnurgerade bis zum Horizont. Links und
rechts davon die Wüste.
Schnitt.
Er schleppt seinen Kontrabass über das dürre Steppengras.
Schnitt.
Gelb und Beigetöne. In der Ferne ein einsamer Berg. Verloren in der Leere der
Landschaft spielt Peter Herbert seinen dunkelbraunen Kontrabass.
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Um ihn herum: die Stille der Wüste.
O-Ton Alexandra Freund
Ziele sind nicht ambivalent, sondern eindeutig positiv besetzt, das sind Zustände, die
will ich wirklich erreichen. Sehnsüchte haben dieses bittersüße, dieses Ziehen, das ich
gleichzeitig in der Brust spüre.
Autorin
Peter Herbert studiert mit einem Fulbright-Stipendium an der renommierten Berklee
School of Music in Boston. Nach seinem Abschluss zieht er weiter nach New York,
damals das Epizentrum zeitgenössischer Jazzmusik.
15 Jahre lebt er an der Lower- East-Side in Manhattan, entwickelt sich zu einem
gefragten Musiker der Downtown-Szene. Er spielt auf über Hundert Alben, unter
anderem mit Art Blakey oder Paul Simon und tourt auf der ganzen Welt.
Bis die Begegnung mit dem arabischen Musiker und Komponisten Marcel Khalifé seine
Sehnsucht nach dem Orient erneut anfacht.
O-Ton Peter Herbert
Die Tournee war in zwei Wochen, und ich krieg einen Anruf von Simon Shaheen, „Hey
Peter, can you play with us? Rehearsal is tomorrow in Brooklyn.“ Und dann bin ich in
dieses Wohnzimmer in Brooklyn gegangen, und dort war eben dieser Simon Shaheen
und Marcel Khalifé und sein Sohn Bashar. Marcel hat kein Wort Englisch gesprochen,
und dann ging gleich die Probe los, auch mit den ganzen Vierteltönen. Ich hatte keine
Ahnung, und es war eigentlich ein Desaster, aber mit dem Marcel hab ich mich intuitiv
sofort großartig verstanden. Er sagt immer „la langue des yeux et du coeur“, also „die
Sprache der Augen und des Herzens“. Ich konnte wirklich nur ein paar Worte
französisch, ich bin im dem Bus neben Marcel gesessen, und der Marcel hat mir seine
ganze Geschichte erzählt. Also Bürgerkrieg, Flucht und Exil nach Paris. Ich konnte nur
sagen, „ah, oui?“, „c‘est vrai?“ und „c’est ne pas possible“, das war mein Vokabular
damals. Aber dieses Geschichtenerzählen hat uns sehr verbunden. Und nach dieser
Konzert-Tournee war ich der ständige Bassist von Marcel Khalifé bis vor zwei Jahren,
als diese ganzen Revolutionen wieder begonnen haben in all den Ländern, in denen
wir sehr oft waren, also Syrien inklusive und Ägypten, Tunesien und Jemen.
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Autorin
Peter Herbert lernt französisch, zieht nach Paris, wo auch Marcel Khalifé lebt. Mit dem
Trio Khalifés spielt er in arabischen Ländern vor Hunderttausenden in Stadien und
Arenen.
MUSIK-INTERMEZZO „Orient“
Autorin
Wolfgang vertieft seine meditativen Experimente, die er als Jugendlicher im
Schneidersitz auf dem Kopfkissen begann, und praktiziert weiterhin täglich Karate.
Sprecher (Zitate)
„Das Wort Meditation stammt aus einer Wortwurzel, die im deutschen messen steckt.
Den Raum des Geistes ausmessen, die Grenzen des Denkens ermessen, bis ins
Unermessliche vorstoßen, das alles ist Meditation.“
Herbert 2014: 2.
Autorin
Er zieht von zuhause aus, beginnt in Wien Philosophie zu studieren...
Sprecher (Zitate)
„Philosophie nährt sich vom Staunen, vom skeptischen Blick auf das Gegebene, dem
Zweifel am Hergebrachten und auch von der Scheu oder gar Ohnmacht, die einen
befällt angesichts der Dimensionen des Kosmos und der – im Vergleich dazu –
radikalen Hinfälligkeit des Menschseins.“
Herbert 2014: 1.
Autorin
Er versucht es mit katholischer Theologie…
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Sprecher (Zitate)
„Es sind die Fragen nach den letzten Dingen, die uns keine Ruhe lassen, und auf die
eine ehrliche Wissenschaft nur mit Agnostizismus antworten kann: dem Eingeständnis
des Nicht-Wissen-Könnens.“
Herbert 2014: 2.
Autorin
Er schreibt sich für Vergleichende Kulturwissenschaften ein…
Sprecher (Zitate)
„Ich höre Vorlesungen über die vedische Religion. Ich lese die Bhagavad Gita. Ich
lasse mich vom Leben und von der Lehre Buddhas beeindrucken.“
Herbert 2014: 6.
Autorin
… landet schließlich bei der Japanologie und promoviert.
Am Institut für Ostasienwissenschaften verliebt sich Wolfgang Herbert in eine
Japanerin. Sie bekommen ein Kind, und beschließen nach Japan zu ziehen.
Dort setzt er seine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem fernen Osten
fort, arbeitet an der Universität von Tokushima über japanische Themen, wie Zen und
Tattoo. Buddhismus wird einer seiner Forschungs-Schwerpunkte.
Jetzt lebt er auf einer Insel, um ihn herum das weite Meer.
Sein Sehnsuchtskontinent und der heilige Berg Arunachala, der Sehnsuchtsort seiner
Jugend, liegen nun im Westen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Dieses Schlüsselwerk von Paul Brunton hat meinen ganzen Kompass nach dem Orient
umgepolt. Und diese Umpolung war von massiver Natur, und die ist geblieben. Das
war immer mein Leitfaden.
Das Karate war ein anderes Moment, das die Polung dann noch etwas weiter, in den
Fernen Osten mit sich gebracht hat, wodurch ich in Japan gelandet bin. Aber meine
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wissenschaftlichen Dinge, die ich über Japan mache, vor allem meine Beschäftigung
mit dem Buddhismus, ist eine, die ja wiederum nach Indien zurückführt, weil der
Buddhismus von dort kommt.
Autorin
Jahrelang scheitert der Versuch, gemeinsam nach Indien zu fahren, an den dichten
Terminkalendern der beiden. Sie geben den Wunsch nicht auf, und schließlich gelingt
es den Zwillingsbrüdern gemeinsam den Sehnsuchtsort ihrer Jugend, den Heiligen
Berg aus Paul Bruntons Buch mit den „Yogis, Magiern und Fakiren“, zu besuchen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Und das ist in der Tat mein Sehnsuchtsort gewesen und geblieben, dieser Arunachala
oder Annamalai, dieser Heilige Berg, wo der archetypische Weise Ramana Maharishi
gelebt und gewirkt hat.
Diese mächtige Anziehungskraft hat Indien nie verloren.
Autorin
Eine Farbfotografie.
Die Reisenden vor einer hellblau gestrichenen Wand.
Peter lehnt sich an die rechte Schulter seines Zwillingsbruders. Das T-Shirt hellgrün
und ausgebleicht von der Sonne, die Ärmel hoch geschoben.
Sein ungekämmtes Haar im Ansatz grau, silbern hebt sich der kurze Bart ab vor der
tiefbraunen Haut. Die buschigen Augenbrauen verraten seine alpenländische Herkunft.
Das Gesicht ernst und entspannt, die blau-grünen Augen lächeln.
Wolfgangs Haar, zurückgekämmt, ist länger und grauer, als das seines Bruders. Der
Kragen des mangofarbenen Polo-Shirts ist gebügelt. Er lächelt, und sein Blick verrät
Wachheit, Offenheit, Neugier.
Man sieht, dass sie Brüder sind, aber man würde sie nicht mehr verwechseln.
O-Ton Peter Herbert
Wir haben uns in Chennai getroffen, er kam aus Japan, ich kam aus Paris, glaube ich,
wir trafen uns in einem Hotel, und am nächsten Morgen sind wir mit dem Bus nach
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Tiruvannamalai gefahren und sind jeden Tag in diesen Ashram gegangen zum
sogenannten „Sitzen“, also einfach meditieren.
Und von dem Hotel in den Ashram war es ein Fußweg von einem Kilometer, und dieser
Fußweg alleine war schon ein Universum für sich. Man geht an anderen Tempeln
vorbei, es sitzen viele „Sanyassins“ an der Straße, und die ganzen Tiere, Kühe und
Affen, die laufen unbekümmert frei herum. Und auch sehr viel Müll. Ja, diese vielen
bunten Farben. Alleine dieser Fußweg war umwerfend.
Sprecher (Zitate)
„Tiruvannamalai - Eine Tempelstadt am Fuße des Arunachala, eines, den Indern
hochheiligen Berges von imposanter Gestalt. Dort hat der als großer Weiser verehrte
Shri Ramana den Großteil seines Lebens verbracht. Nach Jahren des In-Sich-gekehrtSeins hauste er vorerst in der Höhle eines Heiligen aus dem Mittelalter. Später
errichteten ihm seine Anhänger eine Wohnstätte wenige Meter über dieser Höhle mit
einem Baumhain und einer Quelle. Shri Ramana hingegen lehnte jede Überhöhung
seiner Gestalt ab, nicht einmal ein Guru wollte er sein. ‚Der wahre Guru liegt in Euch
selbst‘, pflegte er zu sagen.“
Herbert 2014: 57f
O-Ton Wolfgang Herbert
Wie kleine Lichtlein am Sternenhimmel ist Indien übersät mit diesen Ashrams, wo
irgendwelche lokale, kleine Gurus und Lehrer wirken. Und es gibt diese alte Tradition,
die so lebendig ist, nämlich der Welt zu entsagen. Es gibt eben diese Millionen von
Saddhus in Indien, nach wie vor, viele sind einfach Bettler, oder nicht unbedingt einer
sehr, sehr strengen Askese oder spirituellen Übung verpflichtet. Trotzdem habe ich viele
Saddhus erlebt, die ein Blitzen in den Augen haben, die eine Form von Freiheit
ausstrahlen, die verführerisch wirkt auf mich. Das war immer schon eine Fantasie, dass
ich einmal das mönchische Wanderleben ausprobieren möchte. Das ist ein ganz
gefährliches Berufsbild für mich (lacht).
O-Ton Peter Herbert
Das hat sämtliche Erwartungen übertroffen. Diese Kombination aus Gerüchen, dieses
„Liveelement“ hat so eine Intensität, so eine Dichte, so eine Fülle und Buntheit, die ist
einzigartig. Ich kenne kein einziges Land, wo das so ausgeprägt ist, wie in Indien. Die
Großstadt ist extrem laut, der Verkehr ist ein komplettes Chaos. Das macht auch das
aurale Spektrum viel bunter als in New York oder in Istanbul. Und dieser Aspekt hat
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mich immer interessiert: Wie klingen verschiedene Städte und wie klingen diese
Kulturen?
Sprecher (Zitate)
„Abends nach dem raschen und nahezu dämmerungslosen Einbruch von Dunkelheit
gehen wir durch die Straßen und durch das Getümmel in den Märkten. Eigenartig, aber
ich fühle mich bei weitem weniger fremd, als in Japan. Der Weiße ist halt auch da. So
wie der Nordinder, der sein Hemd säuberlich in die von einem Gürtel gehaltene Hose
gesteckt hat, wie der Muslim, mit seinem weißen, fein gestickten Käppi, wie der
Wandermönch mit seinem Stock, dem Essgeschirr und dem grimmigen Blick. Indien ist
so reich, so vielfältig, so ‚Multi Kulti‘, dass wir unter der Auffälligkeitsschwelle bleiben.“
O-Ton Wolfgang Herbert
Bei Indien scheitert man nahezu an der Sprache, wenn man diese Fülle – rein optisch
– einfangen möchte, und dann diese unglaubliche Geistestradition, die so viele
Facetten in sich trägt.
Sprecher (Zitate)
„Ich gehe jeden Tag in den Ashram, setze mich dort hin und kontempliere. Ein ruhiges
Behagen erfüllt mich. Nur morgens werden die Veden von jungen Brahmanen rezitiert,
(...) sonst herrschen Stille und Einkehr.“
O-Ton Wolfgang Herbert
Indien ist eine Chiffre. Für mich für alles, was mit tiefem religiösen Erleben, mit Mystik
und mit experimenteller Religionswissenschaft zusammenhängt. Es gibt ein paar
stereotype Bilder, die seit der Antike wiederkehren, und die von den verschiedensten
Autoren aufgegriffen und ausgeschmückt worden sind, von vielen, die gar nicht im
Lande waren. Das heißt, das war immer mit Erfindungen, Fiktionen und Fantasien
verbunden, dieses Imago, das Indien darstellt. Und von diesem Imago, also eigentlich
nicht vom wirklichen Indien, bin ich ursprünglich angezogen worden. Das war die große
Attraktion.
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Sprecher (Zitate)
„Mein Indien ist eine Erfindung. Es hat mit Erfinden, mit Fingieren oder mit
Wiederfinden zu tun. Mein Indien ist ein Land, das weit zurückreicht. Es liegt in meiner
Kindheit.“
Herbert 2014: 4.
O-Ton Wolfgang Herbert
Aber es waren nicht nur die Bilder. Die Bilder waren natürlich ein wichtiger Teil. Die
Tatsache, dass ich mit diesen meditativen Wegen begonnen habe zu experimentieren,
das hat mir diesen spirituellen oder religiösen oder letztlich romantischen Teil Indiens
erschlossen.
Sprecher (Zitate)
„Indien ist ein Kontinent, heißt es. Er harrte und harrt meiner Entdeckung. Es ist ein
innerer Kontinent.“
O-Ton Wolfgang Herbert
Ich sage immer im Scherz, dass ich beruflich und familiär mit Japan verheiratet bin,
aber meine Mätresse ist immer Indien geblieben. Und über diese meditativen
Experimente hinaus war es mir auch ein Anliegen diesen Berg zu besuchen, der mich
dazu angestiftet hat und zu sehen, was das mit mir macht.
Autorin
Es wird ein bunt bemalter, verbeulter Bus gewesen sein, der die Reisenden bis an die
äußerste Südspitze des Subkontinents gebracht hat, bis an Indiens „Land’s End“.
Man kann sie sich vorstellen: Verschwitzt und müde steigen sie aus. Nachmittagshitze.
Die staubige Straße leergefegt. Gemächlichen Schrittes ziehen sie los.
Schwarz-weiß gefleckte Ziegen im Schatten eines Banyan-Baums, die verstreuten Müll
nach Essbarem durchsuchen.
Die Straße im Rücken bleiben sie stehen. Vor ihnen: der Ozean, der Himmel, das
unermessliche Blau.
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Sprecher (Zitate)
„Die Südspitze Indiens gleicht einem Schiffsbug: Ringsum Wasser, Weite, Wind. Der
Indische Ozean, die Arabische See und der Golf von Bengalen finden hier zusammen.
Das Ineinanderströmen dieser drei Meere ist ein Schauplatz von gigantischer
Schönheit. Die Weite, die sich auftut, lässt etwas von Unendlichkeit erahnen.
Ich werde von einer sonderbaren Stimmung des Angekommen- und zugleich
Ausgesetztseins erfasst: hier geht es endgültig nicht mehr weiter, die hier Gelandeten
sind Gestrandete, es gibt nur noch ein Zurück, aber kein Voran mehr.“
O-Ton Peter Herbert
Früher oder später stellt sich die eigene Identität zur Debatte. Du studierst
irgendetwas, oder du begibst dich hundertprozentig in ein anderes kulturelles Umfeld.
Vielleicht schreibt man Musik in diesem Genre und kann das ganz gut kopieren, aber
irgendwann stellt sich der Moment ein, wo man anfängt nachzudenken: Wo komme ich
eigentlich her?
Autorin
Wien 2015. Der plötzliche Tod des Vaters hat die Brüder in Österreich
zusammengebracht.
Es ist ein spontaner Moment des Innehaltens, des Reflektierens.
Verabredung zum Interview in verschiedenen Kaffeehäusern.
Noch so ein Sehnsuchtsort. Wenn man so lange in New York und in Japan gelebt hat,
trifft man sich in Wien natürlich im Kaffeehaus. Aber auch die sprichwörtliche Ruhe des
Wiener Cafés entpuppt sich als Utopie. Es ist voll, hektisch und laut.
„Das passt zu Indien“, sagt Wolfgang Herbert, „man sucht die Stille und findet den
Lärm.“
O-Ton Wolfgang Herbert
Wie soll ich das beschreiben, mit den Ländern, das gilt ja auch für Indien, diese
Faszination, die man mit einem exotischen oder fremden Land in sich trägt, die führt wie bei einer Verliebtheit - dazu, dass man im Anfangsstadium alles im rosigen Licht
sieht, und die negativen Seiten überhaupt nicht wahrnimmt. Das ist wunderschön, aber
der Zustand hält natürlich nicht an.
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O-Ton Alexandra Freund
Entweder kommt dieses Gefühl der Ernüchterung, dass es nicht diese Erfüllung gibt,
von der ich dachte, dass es sie mir gibt, also ich habe eben nicht das perfekte Leben,
ich habe meine Utopie nicht erreicht. Es gibt dann zwei Möglichkeiten, entweder ich
transformiere diese Sehnsucht, dann hefte ich die Sehnsucht an das nächste
Sehnsuchtsobjekt. Dann ändert sich im Prinzip relativ wenig. Oder man kommt durch
die Konfrontation mit der Realität dazu, nochmal zu reflektieren: Worum ging es hier
eigentlich?
Das ist ja auch in Beziehungen oft so, nach der ersten Verliebtheit diese
Ernüchterungsphase, der andere macht mein Leben auch nicht perfekt,…
O-Ton Wolfgang Herbert
Das erste Jahr in Japan war für mich alles so glänzend und faszinierend, und
irgendwann wie ich mit den Realitäten des Alltags konfrontiert war, ist der Glanz immer
matter geworden. Und dann gibt es einen Realitätsschock, einen Blues, weil diese
Verliebtheit sich auflöst, und viele Dinge sich nicht eingelöst haben.
O-Ton Peter Herbert
Grundsätzlich geht es darum, dass man sich über längere Zeit mit einem anderen
Kulturraum auseinandersetzt, sich in diesen Kulturraum begibt, die Sprache lernt, den
Humor lernt, das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil von Kultur, die Gerüche vor
allem und die Speisen und überhaupt, wie leben die Menschen dort? Was gibt es dort
für soziale Systeme? Und wie funktionieren sie? Das finde ich extrem spannend.
Diese Suche nach der eigenen Identität und auch das, was die anderen Kulturen mit
dir machen und an dir verändern.
O-Ton Alexandra Freund
Die Idee der Narrative stammt von Dan McAdams, und ich stimme ihm zu in dieser
Konzeptualisierung von Identität. McAdams geht davon aus, dass die
Lebensgeschichte eine ganz wichtige Ebene von Identität darstellt. Wer bin ich
eigentlich? Ich bin der oder die, zu der ich geworden bin, durch meine spezifische
Lebensgeschichte.
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Auch hier geht man davon aus, dass es nicht die tatsächlich objektive
Lebensgeschichte ist, sondern die von mir rekonstruierte, oder sogar konstruierte
Lebensgeschichte. Und die folgt ganz bestimmten Figuren, die nachher meine Identität
ausmachen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Unterm Strich ist die Wahl, dass ich in Japan lebe sicher die richtige gewesen. Und ich
genieße auch meinen Status des Nichtjapaners, also des Fremden. Ich werde natürlich
als Ausländer wahrgenommen, nachdem die ethnische Homogenität in Japan ja sehr
hoch ist. Das ist ein Schwebezustand, den ich sehr mag. In vielen
Lebensgewohnheiten und vielleicht auch Denkgewohnheiten gibt es tatsächlich
Abfärbungen, die mich stark prägen.
O-Ton Alexandra Freund
Eine ganz klassische Figur dieses Narrativs ist, dass schmerzhafte Erfahrungen ins
Positive gewendet werden, und das ist eine kulturell stark verankerte Figur, die aus
dem Christentum stammt: Durch Leiden entsteht etwas Positives, und ich kann etwas
Negatives in etwas Positives ändern.
McAdams geht davon aus, dass wir diese Lebensgeschichte nicht nur anderen
Personen erzählen, sondern dass wir uns die auch selbst erzählen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Es ist völlig unmöglich als weißer Ausländer in Japan unterzutauchen oder auch völlig
akzeptiert zu werden. Eine volle Assimilation ist nicht möglich, weil die Japaner es nicht
zulassen, und auch von mir gar nicht gewünscht. Diese gesunde Distanz möchte ich
immer behalten. Es gibt gewisse Denkformen, Traditionen, aus meinem kulturellen
Umfeld mitgenommene Gewohnheiten, die ich unter keinen Umständen ablegen
möchte.
O-Ton Alexandra Freund
Selbstreflexion wird häufig durch Sehnsucht angeregt. Warum denke ich mir fehlt da
was?
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O-Ton Wolfgang Herbert
Ich brauche meinen jährlichen Europa-Aufenthalt aus psychischen Gründen, um die
Balance zu halten. Wenn ich in Japan gestrandet und festgelegt wäre, das wäre
schlimm. Da krieg ich schon einen Koller. Und im Spaß sage ich „Escape from
Alcatraz“, wenn ich nachhause fahre (lacht).
O-Ton Peter Herbert
Die Sehnsucht war eher musikalischer Natur. Vorarlberg nie. In Amerika gab’s
irgendwann einen Punkt, wo ich wieder sehr Sehnsucht nach europäischer klassischer
Musik, sprich Wiener Schule, gehabt habe. Da habe ich viel Strawinsky und Alban
Berg studiert. Das war intuitiv meine Identität, und das habe ich dann wieder einfließen
lassen in meine eigenen Projekte und Kompositionen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Es ist inzwischen so, dass ich mich, wenn ich nach Österreich zurückkomme, auch zu
einem großen Grade fremd fühle. Das heißt diese Fremdheit ist jetzt auf beiden Seiten
gegeben.
O-Ton Peter Herbert
Sehnsucht verbinde ich am meisten mit Menschen, und nicht mit Orten. Da spielt für
mich auch der Heimatbegriff hinein.
O-Ton Wolfgang Herbert
Dieses Fremdsein bringt gleichzeitig mit sich, dass ich auf der ganzen Welt zuhause
bin. Wenn ich nach Indien gehe, dass ich dort von den Leuten angeschaut werde und
nicht wirklich hineinpasse, das ist mir völlig vertraut. Ich gehe überall hin und bin
überall zuhause, weil dieses Gefühl mich permanent begleitet.
O-Ton Peter Herbert
Die Orte, nach denen ich mich sehne sind tatsächlich die Orte, wo Menschen sind, die
mir sehr wichtig sind.
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Autorin
Farbfotografie 2015.
Ein Schnappschuss: die Zwillingsbrüder stehen vor dem Bücherregal in einer Wiener
Altbauwohnung, die sie seit Studententagen mieten. Sie neigen sich über das Buch
„Von Yogis, Magiern und Fakiren“, das Wolfgang gerade aus dem Regal gezogen hat.
Sie sind 55 Jahre alt. Ihr Haar ist grau und lichtet sich. Sie lächeln.
Angeschnitten im Bildvordergrund Peters Kontrabass. Kabel. Ein Mikrophon. Rechts
Wolfgangs Schreibtisch. In einem aufklappbaren Medaillon ein kleines Foto von
Ramana Maharishi, dem Weisen vom Arunachala. Den Sehnsuchtsort seiner Kindheit,
oder das, wofür er steht, führt stets mit sich, egal ob er in Japan unterwegs ist, in
Österreich, Indien oder sonst wo auf der Welt.
Sein Koffer steht bereit. Morgen geht es zurück nach Japan.
O-Ton Wolfgang Herbert
Es gibt keine Sehnsüchte in materieller Form, dass man sagt, ich habe nie einen
Mercedes gefahren, und das muss ich noch haben, bevor ich sterbe. Aber was meine
Wissbegier und meine Neugier, und auch die Erforschung des inneren Kontinents, also
diese ganze Geistesakrobatik angeht (lacht), das ist eine unauslöschliche Sehnsucht,
die mich bis zum Schluss antreiben wird.
O-Ton Peter Herbert
Mir war immer extrem wichtig das zu tun, und die richtigen Entscheidungen zu treffen,
was mir im Moment am wichtigsten war. Und das unabhängig von persönlichen
Umständen und finanziellen Umständen. Dieses konzentrierte Tun und Suchen in eine
Richtung, das war meine ganz große Sehnsucht, und die möchte ich mir beibehalten,
bis ich umfalle. Ich bin dafür nicht reich, aber glücklich.
O-Ton Wolfgang Herbert
Diese grundlegende Sehnsucht mit Transzendentem in Verbindung zu geraten, ist
etwas, das in uns Menschen ganz tief drinnen sitzt. Und das große Problem der
Moderne liegt eben darin, dass wir uns von dieser Transzendenz abgekappt haben.
Diese Sehnsucht gehört zur conditio humana, das ist das, was mich antreibt, ich lasse
das zu, und ich versuche kleine Zipfel der Transzendenz zu erhaschen, (lacht), und
Indien hat mir da einige Wegweiser aufgestellt.
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O-Ton Peter Herbert
Ich glaube das ist ein ganz wichtiger Aspekt im Leben, dass man zusieht, dass man
seinen Sehnsüchten so treu wie möglich bleibt, und auch Entscheidungen trifft, die
gesellschaftspolitisch vielleicht nicht anerkannt sind. Aber das ist der Grund, warum ich
jetzt dort bin, wo ich bin, und ich kann das nur jedem ans Herz legen.
O-Ton Wolfgang Herbert
Ich möchte, - Sehnsucht, unerfüllte -, ein Buch schreiben über Kampfkunst und
Meditation und damit die beiden Stränge bündeln, die mich ein ganzes Leben
angetrieben haben.
O-Ton Peter Herbert
Rajasthan!
Absage
„Mein Indien – Kartographie eines Sehnsuchtsorts“ – Ein Feature von Merzouga.
Mit Auszügen aus dem Buch „Mein Indien – Reisenotizen, Meditationen,
philosophische Exkursionen“ von Wolfgang Herbert.
Es sprachen Katharina Schmalenberg und Robert Dölle.
Technische Realisation: Dirk Hülsenbusch und Sebastian Nohl.
Kontrabass: Peter Herbert.
Regie und Komposition: Merzouga.
Redaktion: Dorothea Runge.
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2016.
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