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Das Urteil des BGH vom 6. Oktober 2016 zum Fall Kunduz
Am 4. September 2009 befehligte ein deutscher Offizier im Rahmen einer NATO-geführten ISAFMission nahe der afghanischen Stadt Kunduz einen Luftschlag gegen zwei Tanklastwagen, die
von Taliban entführt worden waren. Der Offizier ging zum Zeitpunkt des Luftschlages davon aus,
dass sich keine Zivilisten in der Nähe der Lastwagen befänden, was sich im Nachhinein jedoch
als Fehleinschätzung herausstellte. Tatsächlich wurden bei dem Luftschlag nicht nur Taliban,
sondern auch eine nicht mehr aufklärbare Zahl von Zivilisten getötet. Mit dem Fall Kunduz beschäftigten sich daher in der Folgezeit nicht nur der Verteidigungsausschuss des Deutschen
Bundestages als Untersuchungsausschuss (BT Drs. 17/7400), sondern auch die Zivilgerichte. So
forderten zwei Hinterbliebene der zivilen Opfer vor dem Landgericht Bonn (Az. 1 O 460/11) und
dem Oberlandesgericht Köln (Az. 7 U 4/14) von der Bundesrepublik Schadensersatz und Schmerzensgeld.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nunmehr sein Urteil vom 6. Oktober 2016 (Az. III ZR 140/15)
zum Anlass genommen, um zwei wesentliche Leitlinien für die Rechtsfolgen von Schäden durch
Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte festzulegen. Einerseits bestätigte er seine ständige
Rechtsprechung, nach welcher das Völkerrecht trotz seiner Fortentwicklung nach 1945 keinen
Anspruch von Einzelpersonen auf Schadensersatz oder Entschädigung begründet. Andererseits
entschied der BGH erstmals höchstrichterlich, dass das deutsche Amtshaftungsrecht keine
Anwendung findet, wenn bei einem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte ausländische Staatsangehörige zu Schaden kommen. Diese Frage wurde in den vorangegangenen,
ähnlich gelagerten Fällen Distomo (Az. III ZR 245/98) und Varvarin (Az. III ZR 190/05) noch
offen gelassen. Wichtig ist, dass die Entscheidung des BGH sich ausschließlich auf Schäden in
bewaffneten Konflikten bezieht. Außerhalb solcher Konflikte – etwa bei Auslandseinsätzen der
Bundeswehr im Rahmen von Friedensmissionen (Verkehrsunfälle) – ist das deutsche Amtshaftungsrecht grundsätzlich anwendbar.
Hintergrund der Entscheidung ist, dass das Völkerrecht grundsätzlich keine unmittelbaren Ansprüche für Privatpersonen bereit hält. Vielmehr wird das Individuum im Völkerrecht durch den
Staat mediatisiert, d.h. es wird zum Schutzobjekt zwischenstaatlicher Verpflichtungen, ohne
dass ihm dabei selbst einklagbare Ansprüche eingeräumt werden. Individuen werden in der
Regel mittelbar durch zwischenstaatliche Verpflichtungen begünstigt, nicht aber berechtigt.
Zunehmend werden Individuen zwar auch als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt und –
etwa im Bereich der Menschenrechte – mit Verfahren zur Durchsetzung ihrer Rechtspositionen
ausgestattet. Der BGH stellt jedoch noch einmal ausdrücklich klar, dass sich die Anerkennung als
partielle Völkerrechtssubjekte auf die Primärebene beschränkt, d.h. jene Ebene, die Schutzrechte
und Begünstigungen für Einzelpersonen betrifft. Auf der Sekundärebene, also der Ebene, auf der
Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung in Frage stehen, ist diese Fortentwicklung des
Völkerrechts (noch) nicht durchgedrungen. Hier gilt weiterhin der Grundsatz, dass etwaige
Haftungsansprüche allein im Verhältnis von Staat zu Staat zu klären sind. Individuen können
Nr. 29/16 (09. Dezember 2016)
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Das Urteil des BGH vom 6. Oktober 2016 zum Fall
Kunduz
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sich nach dem geltenden traditionellen Völkerrechtsverständnis lediglich an den eigenen
Heimatstaat wenden und um diplomatischen Schutz bemühen. Ob der Heimatstaat diesen gegenüber einem potentiellen Schädigerstaat ausübt, bleibt eine Ermessensentscheidung, welche nicht
zuletzt von außenpolitischen Erwägungen getragen wird.
Bislang war für die nationale Rechtslage zudem ungeklärt, ob das deutsche Amtshaftungsrecht
Schadensersatzansprüche bereit hält, wenn deutsche Streitkräfte bei Auslandseinsätzen Normen
des Völkerrechts verletzen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Der BGH verneint die
Anwendbarkeit des Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB mit dem Argument, dass das (Kriegs-)Völkerrecht die speziellere Rechtsmaterie (lex specialis) gegenüber den allgemeinen Amtshaftungsansprüchen sei. Entstehungsgeschichtlich sei die Amtshaftung auf Fälle alltäglichen Verwaltungshandelns in Friedenszeiten zugeschnitten. Diese seien im Ausnahmezustand bewaffneter Konflikte suspendiert. Der Gesetzgeber habe auch nach dem Anstieg der bewaffneten Auslandseinsätze der Bundeswehr in den 1990er Jahren keinen Willen dahingehend geäußert, dieses
traditionelle Verständnis zu erweitern. Würde die Rechtsprechung die Amtshaftung nun im
Wege richterlicher Rechtsfortbildung auf bewaffnete Auslandseinsätze ausweiten, verstieße sie
gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, nach welchem derart grundlegende Entscheidungen
dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Außerdem bestehe die Gefahr einer kaum eingrenzbaren
Haftung, da über § 830 BGB auch völkerrechtswidrige Akte von Bündnispartnern zugerechnet
und eine gesamtschuldnerische Haftung begründet werden könnten. Diese würde bei realitätsnaher Betrachtung die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik und deren außenpolitischen Gestaltungsspielraum erheblich einschränken.
Während die Klägervertreter bereits angekündigt haben, gegen die Entscheidung des BGH sowohl
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht als auch Beschwerde beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte zu erheben, wurde die Entscheidung in Fachkreisen der Sache
nach kaum kritisiert. Diejenigen, die anders als der BGH für eine dynamische Auslegung des
Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB und damit für die Anwendbarkeit des deutschen Amtshaftungsrechts plädieren, wenden ein, dass die Entscheidung einen Zustand verfestige, in welchem keine
Sanktionsmechanismen für die Verletzung geltenden Völkerrechts bestehen. Zudem widerspreche es dem Sinn und Zweck des Amtshaftungsrechts, wenn besonders gefahrgeneigte Situationen
wie bewaffnete Konflikte aus dessen Anwendungsbereich ausgenommen würden.
Das vorherrschende Meinungsbild in der Rechtsliteratur geht indes weiterhin in die Richtung,
dass das deutsche Amtshaftungsrecht nicht für Fälle des bewaffneten Konflikts geschaffen
wurde. Vielmehr werden individuelle Kriegsschäden über pauschalierte Leistungen wiedergutgemacht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 13 GG). Auch der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen zeigt, dass
eine Anwendung des nationalen Amtshaftungsrechts auf Handlungen von Streitkräften in bewaffneten Konflikten weltweit einmalig wäre. Schließlich ist eine dynamische, völkerrechtsfreundliche Auslegung des Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB erst dann zulässig, wenn das Völkerrecht
einen Entwicklungsstand erreicht hat, bei welchem es selbst einklagbare Individualansprüche auf
Sekundärebene begründet. Solange dies noch nicht der Fall ist, stehen etwaige Schadensersatzansprüche weiterhin allein den jeweiligen Heimatstaaten der Opfer zu.
Quellen:
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Siegfried Jutzi, „Auslandseinsätze der Bundeswehr unter dem Amtshaftungsrecht?“, NZWehrr 2015, S. 177189.
Christian Raap, „Staatshaftungsansprüche im Auslandseinsatz der Bundeswehr“, NVwZ 2013, S. 552-555.
Paulina Starski, „Die Geister der Vergangenheit ‒ Eine kritische Reflexion zur Kunduz-Entscheidung des
BGH“ (10. November 2016): http://verfassungsblog.de/die-geister-der-vergangenheit-%E2%80%92-eine-kritische-reflexion-zur-kunduz-entscheidung-des-bgh/ (zuletzt aufgerufen am 22. November 2016).
Verfasserin:
Dr. Ina Gätzschmann – Fachbereich WD 2, Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe