3. Einheit - Vertragsrecht II

Vertragsrecht II
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
1
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
alle Schuldverhältnisse erfassender Rechtsgrundsatz
Wortlaut: enger Anwendungsbereich
nach seinem Wortlaut nur Bestimmung der Art und Weise der
Leistungserbringung („Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so
zu bewirken“)
entspricht Willen des historischen Gesetzgebers
allgemeine Auffassung heute: allgemeines Rücksichtnahmegebot
jeder hat bei der Ausübung seiner Rechte und Erfüllung seiner
Pflichten auf die berechtigten Interessen anderer Rücksicht zu
nehmen
Anwendungsbereich: alle Teile des BGB, andere Bereiche der
Rechtsordnung (ÖffR)
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
2
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Bedeutung
allen Rechtsvorschriften übergeordnetes Rechts- und Gerechtigkeitsprinzip, Generalklausel (Wortlaut hat geringe Bedeutung)
Funktion
Einfallstor für sozialethische Wertungen, Billigkeitserwägungen
Einfallstor für Rechtsfortbildung
Einfallstor für Verfassungsrecht
Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit
Flexible Anwendung des Rechts auf veränderte Lebensverhältnisse
AGB-Kontrolle (RG: erst über § 242 BGG, AGBG erst 1976)
Dauerschuldverhältnisse: Kündigung aus wichtigem Grund (§ 314 BGB)
Störung der Geschäftsgrundlage (heute § 313 BGB)
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
3
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen Formalität & Informalität
Grundspannung des Rechts
das Recht oszilliert zwischen den extremen Polen der Formalität und
der Informalität
Aufgabe der Rechtswissenschaft: Herstellung einer Balance
Formalität: Rechtssicherheit
formales Gesetzesrecht gewährleistet Rechtssicherheit
aber: abstrakt-generelle Regelungen ermöglichen nur unscharfe Allesoder-Nichts-Entscheidungen (keine Einzelfallgerechtigkeit)
Informalität: Einzelfallgerechtigkeit
flexible Korrektur unbilliger Ergebnisse
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
4
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
P: Gefahr des Aushebelns der Entscheidungen des Gesetzgebers
Problem der Gewaltenteilung, Gesetzesbindung des Richters
(Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG)
Lösung: restriktive Anwendung, Korrektur des Gesetzes nur in
Ausnahmefällen, umfassende Begründung
Rechtsvergleichung: Parallelproblematik im anglo-amerikanischen Recht
unter dem Stichwort „judicial self restraint“
historische Wurzeln: bona fides des römischen Rechts
Begründung von Klagen aus gesetzlich geregelten Rechtsgeschäften (Kauf,
Miete, Auftrag)
Später: Bestimmung des Maßstabes für die Leistungspflichten
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
5
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Anwendungsgrundsätze
eigenständige Bedeutung: Vom Wortlaut der Norm losgelöste eigenständige
Bedeutung als Generalklauseln
P: Schuldverhältnis als Anwendungsvoraussetzung?
e.A: Schuldverhältnis
a.A: rechtliche Sonderverbindung
a.A: allgemeines Rechtsprinzip
allerdings: kaum abweichende Ergebnisse, praktische Auswirkungen
bleiben gering
umfassende Interessenabwägung im Einzelfall
flexible Anwendung am Maßstab der Kriterien „Treu und Glaube“
sowie „Verkehrssitte“
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
6
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Abwägungskriterien
Treu und Glauben
Paarformel weitgehend synonymer Begriffe
keine strenge Subsumierbarkeit
Ziel: gerechter Interessenausgleich
Rücksichtnahme auf Interessen anderer
Schutz des berechtigten Vertrauens
Wahrung der allgemeinen Redlichkeit im Geschäftsverkehr
weitergehende Konkretisierung
normative Kriterien (keine bloße „Normativität des Faktischen“)
Grundrechte, sozialethische Gerechtigkeitsprinzipien
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
7
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Gesetzliche Konkretisierungen und Ausprägungen
auf der Grundlage von § 242 BGB entwickelte Rechtsinstitute
AGB-Recht: §§ 307 ff. BGB
Störung der Geschäftsgrundlage: § 313 BGB
Kündigung von Dauerschuldverhältnissen: § 314 BGB
§ 157 BGB: Regel zur Auslegung von Willenserklärungen
Treu und Glauben hier mittelbarer Maßstab
im Rahmen von § 242 BGB: unmittelbarer Maßstab
weitere Normen: §§ 138, 226, 826 BGB
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
8
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Fallgruppen und Funktionen
Konkretisierungs- und Ergänzungsfunktion
betrifft vor allem Hauptleistungspflichten (Leistungsort und -zeit)
Nebenleistungspflichten (Obhuts- und Erhaltungspflichten mit Blick
auf den Leistungsgegenstand
Rücksichtnahme- und Schutzpflichten (jetzt in § 241 Abs. 2 BGB)
keine Begründung von Hauptleistungspflichten
Schrankenfunktion
Schutz vor unzulässiger Rechtsausübung (Verletzung des
Rücksichtnahmegebotes, Schutz der Interessen der anderen Partei)
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
9
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Schrankenfunktion
Fallgruppen
fehlendes schutzwürdiges Eigeninteresse
dolo agit-Einrede: man darf nichts fordern, was man sofort
zurückerstatten müsste
Unverhältnismäßigkeit
Nutzen der Rechtsausübung steht in keinem sinnvollen
Verhältnis zu den Nachteilen für den Schuldner
Leistungsort und -zeit: vereinbarte Regelung für Schuldner
unzumutbar, Änderung für Gläubiger problemlos möglich
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
10
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Unzumutbarkeit aus persönlichen Gründen
Glaubens- und Gewissenskonflikte (Art. 4 GG)
Sonderregelung für persönliche Leistungspflichten: § 275
Abs. 3 BGB
Unredliche Rechtserwerb und unredliche Verhinderung des
Rechtserwerbs der anderen Partei
Missbrauch tatsächlich eingeräumter Vertretungsmacht
Zugangsvereitelung
widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium)
vorherige Schaffung eines Vertrauenstatbestandes
ausnahmsweise Verzicht auf Vertrauenstatbestand
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
11
Vertragsrecht II
§ 1 Einführung und Grundlagen
Treu und Glauben
Verwirkung
Sonderfall widersprüchlichen Verhaltens
Zeit- und Umstandsmoment
Recht längere Zeit nicht geltend gemacht (Zeitmoment)
Geltendmachung nach langer Zeit aufgrund besonderer
Umstände treuwidrig (Umstandsmoment)
Schutz berechtigten Vertrauens
Kontroll- und Korrekturfunktion
va. AGB-Kontrolle, §§ 313, 314 BGB
weitgehend durch Sondervorschriften kodifiziert
Prozessual: von Amts wegen zu berücksichtigende Einwendung
str. bei Verwirkung
Privatdozent Dr. Matthias Wendland, LL.M. (Harvard)
12