MEDIZIN EDITORIAL Wie effektiv sind hausärztliche Versorgungskonzepte? Antonius Schneider Editorial zum Beitrag: „Effekte hausarztzentrierter Versorgung – Eine Fallkontrollstudie mit Routinedaten“ von Antje Freytag, Janine Biermann et al. auf den folgenden Seiten. D ● ie wesentlichen Grundprinzipien der Allgemeinmedizin sind (1): ein niederschwelliger Zugang zu medizinischer Versorgung ● ein ganzheitliches Verständnis beziehungsweise eine umfassende Behandlung der Menschen ● die Langzeitbetreuung und ● die Koordination der medizinischen Behandlung. Mit diesem umfassenden Ansatz trägt sie zu einer effektiven gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung bei. Dementsprechend geht eine gut definierte Primärversorgung mit einem besseren Gesamtergebnis für die Patienten und einer höheren Verteilungsgerechtigkeit der Ressourcen im Gesundheitssystem einher (1, 2). Die Hausarztmedizin bildet also das Rückgrat des Gesundheitssystems. Im Widerspruch zu dieser wichtigen Funktion steht die niedrige Vergütung für die sogenannte sprechende Medizin, das Nachdenken und die gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Patienten. Im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung (HzV) werden Anreizsysteme gebildet, um die Primärversorgung zu stärken. Hierdurch sollen Ungleichheiten der Vergütung im Vergleich zu technikorientierten Fächern der Medizin teilweise ausgeglichen werden. Gleichzeitig werden aber auch die Ansprüche erhöht, denn einhergehend mit den HzV-Verträgen soll die Qualität der medizinischen Versorgung weiter optimiert werden. Der HzV-Vertrag mit der AOK PLUS Thüringen enthält alle wesentlichen Elemente hierfür. Die Intervention bestand unter anderem aus folgenden Punkten: ● verpflichtende Teilnahme an Qualitätszirkeln ● Erstellung eines schriftlichen Medikationsplans ● vollständige Befundübermittlung bei Überweisungen und Krankenhauseinweisungen ● Förderung von Früherkennungsmaßnahmen ● Intensivierung der hausärztlichen Betreuung. Interpretation der Studie Institut für Allgemeinmedizin, TU München: Prof. Dr. med. Schneider Freytag et al. (3) haben anhand einer Analyse von Routinedaten die Effekte des seit 2011 bestehenden HzV-Programms der AOK PLUS in Thüringen hinsichtlich Versorgungskosten, Versorgungskoordination und Pharmakotherapie evaluiert. In der Inter- Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 47 | 25. November 2016 ventionsgruppe waren Einsparungen im Bereich der Arzneimittelkosten nachweisbar, bei der haus- und fachärztlichen Versorgung waren jedoch Kostensteigerungen zu verzeichnen – und die stationären Krankenhausfälle nahmen sogar zu. Vor dem Hintergrund der qualitätsorientierten Auflagen und Vergütungsanreize für eine intensivierte hausärztliche Versorgung sind die Ergebnisse der Untersuchung von Freytag et al. (3) schwer zu interpretieren, denn letztlich handelt es sich um eine Studie mit negativen Resultaten. Die Autoren schlussfolgern etwas ratlos: „Die vorliegenden Daten liefern an dieser Stelle keine Erklärungsmöglichkeit.“ Möglicherweise hilft die Betrachtung der Rahmenbedingungen, unter denen die Studie durchgeführt wurde, bei der Interpretation der Ergebnisse weiter. Insgesamt nahmen 419 Hausarztpraxen an der HzV teil, wobei die Behandlungsergebnisse der Patienten von HzV-Praxen mit denen der Patienten von Nicht-HzV-Praxen verglichen wurden. Hier stellt sich zum einen die Frage, inwiefern sich HzVÄrzte, die immerhin zahlreiche HzV-Vorgaben umsetzen mussten, von Nicht-HzV-Ärzten unterscheiden. Zum anderen wäre es interessant zu erfahren, ob es einen Unterschied macht, wie häufig und wie intensiv die Hausärzte mit den gesundheitlichen Beschwerden ihrer Patienten konfrontiert werden. Immerhin nahm die Rate an hausärztlichen Kontakten in der Interventionsgruppe um 47 % zu. Denkbar ist, dass als Folge der häufigeren Arzt-Patienten-Kontakte öfter auffällige Laborwerte und sonstige pathologische Befunde entdeckt wurden, und es in der Konsequenz vermehrt zu Überweisungen und Krankenhauseinweisungen kam. Zu dieser Überlegung passt das Studienergebnis, wonach die Zahl der Facharztkonsultationen unter anderem hauptsächlich auf hausärztlich ausgelöste Laboruntersuchungen zurückgingen. In diesem Zusammenhang wäre besonders die Klärung der Frage interessant, ob durch die vermehrten Facharztkonsultationen und Laboruntersuchungen harte Endpunkte wie Mortalität und Morbidität beeinflusst wurden. Dies ist aber auf Basis einer Routinedatenanalyse nicht möglich. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass es sich um eine Fallkontrollstudie handelt. Um eine möglichst große Vergleichbarkeit von Inter- 789 MEDIZIN ventions- und Kontrollgruppe zu erreichen, wurde ein sorgfältiges Propensity-Score-Matching angewendet – eine hochwertige Methode (4). Ein solches Matching kann jedoch nur für bekannte und tatsächlich gemessene Störgrößen adjustieren, das heiß,t die Gruppen könnten sich dennoch bezüglich relevanter Merkmale unterscheiden. Ein randomisierter Vergleich, der diesem Problem vorbeugt, war aber unter den gegebenen Versorgungsbedingungen nicht möglich. Vergleich mit anderen Studien Ein Vergleich mit anderen Studien aus dem deutschen Versorgungskontext könnte helfen, die Ergebnisse der aktuell vorliegenden Studie besser einzuordnen. In einer eigenen Analyse des ersten Quartals 2011 wurden 1 229 372 Patienten mit Überweisung zum Facharzt mit einer ebenso großen Zahl von Patienten verglichen, die ohne Überweisung einen Facharzt aufsuchten (5). Hierbei zeigte sich, dass eine Koordination der Versorgung – vor allem mit steigendem Alter der Patienten und bei Patienten mit erhöhter psychischer Komorbidität – kosteneffizient ist. Dabei werden die Kosten als Surrogat für die Häufigkeit und Intensität medizinischer Prozeduren interpretiert. Ein Vorteil der Studie war, dass sie nicht an eine Intervention gebunden war; auch war HzV zu der Zeit in Bayern nicht existent. Es handelt sich also um eine naturalistische Beobachtungsstudie. Die von Freytag et al. (3) zitierten HzV-Studien aus Baden-Württemberg (6, 7) zeigen unter anderem deutliche Vorteile der HzV im Bereich Hospitalisierung, Medikationskosten, Multimedikation und Überweisungen. Diese Studien umfassten jedoch einen längeren Beobachtungszeitraum, wobei auch eine stärkere Interventionsintensität als Argument für die höhere Effektivität der HzV in Baden-Württemberg angeführt wird. Fazit Sowohl nationale (5–7) als auch internationale Analysen (2, 8) weisen auf die große Bedeutung der Hausarztmedizin für eine gute medizinische Versorgung der Gesamtbevölkerung hin. Letztlich scheint eine Verbesserung der Gesundheitsergebnisse durch eine Stärkung der Primärversorgung die Regel zu sein – darauf weisen auch differenzielle Resultate der HzV-Studie in Thüringen (3) hin. Potenzielle zusätzliche Analysen müssten sich mit der Frage beschäftigen, ob bestimmte Teilaspekte der Umsetzung der HzV in Thüringen dysfunktional sein könnten. Wichtig wäre auch, nachfolgende Studien im Design so anzulegen, dass unterschiedliche Elemente derart komplexer Interventionen kontrolliert und gegebenenfalls miteinander verglichen werden können (9). Darüber hinaus sollten nachfolgende Analysen einen längeren Zeitraum erfassen, um den Einfluss von HzV auf die wirklich patientenrelevanten Parameter wie Morbidität und Mortalität längerfristig untersuchen zu können. 790 Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. LITERATUR 1. Starfield B: Is primary care essential? Lancet 1994; 344: 1129–33. 2. Starfield B, Shi L, Macinko J: Contribution of primary care to health systems and health. Milbank Q 2005; 83: 457–502. 3. Freiytag A, Biermann J, Ochs A, et.al.: The impact of GP-centered healthcare—a case-control study based on insurance claims data. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 791–8. 4. Kuss O, Blettner M, Borgermann J: Propensity score: an alternative method of analyzing treatment effects. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 597–603. 5. Schneider A, Donnachie E, Tauscher M, et al.: Costs of coordinated versus uncoordinated care in Germany: results of a routine data analysis in Bavaria. BMJ Open 2016; 6: e011621. 6. Laux G, Kaufmann-Kolle P, Bauer E, Goetz K, Stock C, Szecsenyi J: [Evaluation of family doctor centred medical care based on AOK routine data in Baden-Wurttemberg]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2013; 107: 372–8. 7. Laux G, Szecsenyi J, Mergenthal K, et al.: [GP-centered health care in Baden-Wurttemberg, Germany: results of a quantitative and qualitative evaluation]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2015; 58: 398–407. 8. Kringos DS, Boerma W, van der Zee J, Groenewegen P: Europe’s strong primary care systems are linked to better population health but also to higher health spending. Health Aff 2013; 32: 686–94. 9. Craig P, Dieppe P, Macintyre S: Developing and evaluating complex interventions: the new Medical Research Council guidance. BMJ 2008; 337: a1655. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Antonius Schneider Institut für Allgemeinmedizin Klinikum rechts der Isar Orleansstraße 47 81667 München [email protected] Zitierweise Schneider A: How effective are care plans in primary care? Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 789–90. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0789 @ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de Die Reichweite des Deutschen Ärzteblattes ● Das Deutsche Ärzteblatt ist mit einer Auflage von mehr als 350 000 Exemplaren die mit Abstand größte medizinische Zeitschrift in Deutschland. ● Einen cme-Artikel im Deutschen Ärzteblatt bearbeiten im Durchschnitt mehr als 19 000 Teilnehmer. ● Der wissenschaftliche Teil des Deutschen Ärzteblattes wird auch in der meinungsführenden Publikumspresse mehr als andere deutschsprachige medizinische Journale als wichtige Quelle wahrgenommen. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 47 | 25. November 2016
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