Der Freihandel Amerikas
Hans-Joachim Stadermann
Berlin
Dienstag, 8. November 2016
Genua 2001
C:\Users\Joachim\Documents\MyWorks\Word\Aufsätze\Freihandel.docx
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Inhalt
1.
Vorwort .............................................................................................. 3
2.
Freihandel ist eine Idee, kein Handlungskonzept für
die Praxis ....................................................................................................... 9
3.
Über „gute Regierungstätigkeit“, Ordnung und
Barbarei........................................................................................................23
4.
Stetig ist nur die Veränderung ..............................................35
6.
Literatur ...........................................................................................77
5.
Die Verfälschung des Wettbewerbs mit
Institutionen ..............................................................................................41
Es war einmal …
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1. Vorwort
Dieses Paper wird dem Leser eine Reihe ungewöhnlicher Ansichten über die ihm vertraute Art, die Beziehungen zwischen den
Vereinigten Staaten von Amerika und Europa zu sehen, vorführen. Missverständnisse zu vermeiden, ist die Aufgabe dieses für
so kurze Publikationen sonst nicht üblichen Vorwortes.
Beschrieben werden in den nachfolgenden Abschnitten Aspekte der Theorie der Außenwirtschaft auf der Grundlage monetärer und damit nominalökonomischer Theorie der Wirtschaft.
Zuerst wird darauf hingewiesen, dass es keine Wirtschaft frei von
Ordnung geben kann. Darauf wird am Beispiel der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) von seinen Mitgliedsländern eingeforderten sogenannten guten Regierungenstätigkeit ein Paradox gezeigt, Die Propagandisten des „Freihandels“ sind sicher,
der von Staatsintervention freie Handel könne selbst nicht ohne
Staatsintervention entstehen. Sie halten ein Freihandelsabkommen deswegen für ebenso nötig wie eine nach ihrer Vorstellung
gut geordnete Regierungstätigkeit. Die Grundsätze hierfür kommen aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Einsichten
gewinnt der Schulökonom aus der neoklassischen Theorie. Neoklassik kann in dem hier interessanten Zusammenhang gar
nichts leisten. Niemand tauscht in diesem Zusammenhang Güter
zur subjektiv optimalen Bedürfnisbefriedigung privater Haushalte. Auf den folgenden Seiten ist die Aufmerksamkeit auf institutionell bewirkte Umverteilungen und Übertragungen von fälligen und noch nicht fälligen Forderungen und Verbindlichkeiten
gerichtet. Die Neoklassik wird behandelt wie eine alte Brille: Man
wirft sie nicht weg, verstaut sie aber in einem Schubfach ganz
weit hinten.
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Keine Ordnung hat Ewigkeitswert. Die „Wirtschaft“ ändert
sich, auch um Ordnungen zu erodieren. Bestehender Wettbewerb verliert seine Wirkung durch technische und organisatorische Änderungen in der Produktion. Dies und anderes fordert
eine dauernde Überwachung und gegebenenfalls Veränderung
der bestehenden Ordnung. Ist der Wettbewerb nicht mehr funktionstüchtig, muss er auf einem höheren Niveau durch Neuordnung wiederhergestellt werden. Wettbewerbsverzerrung und
aufholende Rückgewinnung des Wettbewerbs sind die Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung. Wo durch Blockade dieser
„Mechanik“ der Wettbewerb dauerhaft verfälscht wird, stellen
sich Stagnation und wirtschaftlicher Abstieg ein.
Die Ordnung der Außenwirtschaftsbeziehungen ist rund um
den Erdball, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Vereinigten Staaten von Amerika determiniert worden. Care und das
Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) hatte anfangs in Europa praktisch die Aufgaben der heutigen Welthungerhilfe und
die Projektförderung der Weltbank übernommen. In der Gegenwart sind der IWF und die Weltbank die dominanten Elemente
dieser Ordnung. Es soll gezeigt werden: Diese Elemente bestimmen nicht nur den Ablauf dieser Beziehungen, sondern sie bestimmen sie auf eine eindeutig und einseitig das Interesse von
Wall-Street-Banken berücksichtigenden Art und Weise, nämlich
indem sie die Wall-Street-Banken und damit den bedeutendsten
Teil des Dienstleistungssektors der Wirtschaft der Vereinigten
Staaten von Amerika weitgehend von Wettbewerb freihalten.
Die Relevanz dieser Behauptung hängt − so kann es wohl gesagt werden − von der Qualität der „Beweismittel“ ab. Wunderbar ist es, wenn der Autor einer solchen These über zuverlässige
Dokumente oder Zeugen verfügte. Wenn nach dem Urteil der
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Aufsichtsbehörde der rund um die Erde wichtigste Zinssatz, der
unter Londoner Banken angebotene Zins (LIBOR) oder der Preis
des Goldes jahrelang von einer Handvoll Banken in Londoner
Hinterzimmern bestimmt wurde, Strafzahlungen verhängt und
akzeptiert wurden, gibt es eine nur ausnahmsweise bestehende
Sicherheit: Dieser Zins und der Goldpreis wurden nicht „vom
Markt“, sondern nur von dem Interesse in einem engen Bankoligopol diktiert.
Eher selten ergeben sich die Argumente der Thesen aus derart präzise dokumentierten Handlungen. Der Autor dieser Zeilen
war nicht in „Hinterzimmern“ anwesend, in denen der Umgang
mit den wirtschaftlichen „Tatsachen“ vereinbart wurde. Ihm
wurden auch keine Dossiers von als vertrauenswürdig angesehenen Whistleblowern zugesteckt. Kann unter diesen Umständen ein so gravierender Vorwurf, wie er hier am Ende erhoben
wird, glaubwürdig werden?
Er kann es sehr wohl, weil die Institutionen Strukturen haben, die bestimmten Handlungen bestimmte Ergebnisse zuordnen lassen. Diese aber können bestimmbaren Interessen innerhalb oder auch außerhalb der Institutionen dienen. Die Frage:
„Wem nutzt es?“, führt den Forscher nicht immer aber doch in
der Mehrzahl der Fälle auf den richtigen Weg.
Der Autor dieser Zeilen hat sich bemüht die Argumentation
ganz und gar auf Institutionen zu beschränken. Personen spielen
keine bedeutende Rolle, auch wenn der Mensch, wie es heißt, im
Mittelpunkt steht. Es wird unterstellt, dass das Verhalten der
Menschen durch Änderungen der Institutionen beeinflusst werden kann. Den Menschen selbst zu verändern, wird dagegen als
unwahrscheinliche Möglichkeit nur am Rande betrachtet.
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2. Freihandel ist eine Idee, kein
Handlungskonzept für die Praxis
Fast Jedem, der den Begriff Freihandel benutzt, scheint völlig
klar zu sein, was darunter zu verstehen ist. Das aber erweist sich
in den meisten Fällen erstaunlicherweise als Irrtum. Wer über
Freihandel nachdenkt, sieht ihn 200 Jahre nach David RICARDOS
„Grundsätzen“ oft noch genau wie der Klassiker als einen Zustand
an, in dem keine Zölle den grenzüberschreitenden Warenverkehr
50 Deutsche Mark Serie I 1948, vorn Quelle: BBk,
Foto HJS
behindern. Das ist nicht nur erstaunlich, weil in der außenwirtschaftspolitischen Praxis Zölle auf Handelswaren nur noch eine
verhältnismäßig untergeordnete Rolle spielen. Mehr noch erschreckt, dass die steigende Bedeutung des Finanzmarktgesche-
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Der Freihandel Amerikas
hens, also der inzwischen bedeutendsten, wenn nicht gar eigentlichen Außenwirtschaftsaktivität, aus der Debatte ausgeblendet
wird. Sie wird der für die korrekte Beurteilung des Geschehens
notwendigen Aufmerksamkeit regelrecht entzogen. Diese Aktivitäten werden teils im Saldo der Kapitalbilanz verborgen, teils als
Einkommen maskiert, in die Dienstleistungsbilanz eingestellt.
Unsichtbar vollzieht sich dann die Preisbildung für alle außenwirtschaftlichen Finanzmarkt-Aktivitäten. Der Saldo der Kapitalbilanz erscheint als bloßer Reflex des sie determinierenden Standes der Leistungsbilanz.
Im Ergebnis werden damit die grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivitäten, die den Charakter einer Geldwirtschaft determinieren, nicht ausgewiesen. In den Köpfen „tauschen“ die Haushalte munter „3 Scheffel Korn gegen 7 Ellen Leinwand“. In der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit entscheiden die Akteure im Finanzmarkt als Investoren durch die Quantität und die mehr oder
weniger Beschäftigung von Natur und Arbeitskraft verändernde
Qualität ihrer anationalen Investitionen darüber, was in „ihrem“
− gegen nationale Gesetzgebung weitgehend unempfindlichen −
Wirtschaftsraum für den Konsum und den Export und vor allem,
mit welchen Kosten und Überschuss produziert werden kann.
Auch hier ist die Rede vom freien Markt. Nicht übersehen werden
darf: Die Bedingungen des freien Marktes sind in einem jeden nationalen Gesetzgebungsraum durch eine Ordnung der Wirtschaft
gesetzt. Diese Ordnungen sind in den Gesetzgebungsräumen
durch Überlieferung unterschiedlich. Allgemein werden sie als
Korrektur der Kräfte am sogenannten freien Markt intendiert.
Sie sollen die Ergebnisse von staatlichen Eingriffen freier Konkurrenz mit der im Gesetzgebungsraum herrschenden Vorstellung von Gerechtigkeit vereinbar machen.
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Bevor nach Überlieferung der Zorn Gottes Eva und Adam aus
dem Paradiesgarten vertrieben hat, lebten beide im Überfluss.
Knappheit von Gütern, vielleicht mehr durch Konsum-Phantasien
als durch nackte Not verursacht, zwingt die Menschheit seither
zur Wirtschaft. Da alles nur im Schweiße des Angesichts hervorzubringen ist, kann, ja muss Ordnung Erleichterung bringen. Ordnung muss spätestens herrschen, wenn nicht alle „schwitzen“
wollen und einige sich von der Arbeit der anderen mit Gütern
versorgen lassen, weil sie besonderen Beschäftigungen nachgehen, die keine handelbaren Güter hervorbringen. Nie werden alle
arbeiten, immer werden einige noch nicht oder nicht mehr arbeiten.
Gewalt und Überzeugungskraft sind die Wegbereiter der
Ordnung. Von Anfang an begleitet sie die Verteilungsfrage. Es
werden sogenannte natürliche Verteilungen gesucht. Diese entsprechen meistens den Vorstellungen jener, die nicht „schwitzen“ wollen. Dass sie sich auf natürliche Weise ergeben, kann
nicht erwartet werden. Die, die Güter für alle unmittelbar produzieren, ringen mit denen, die „anderes“ zu tun haben, um die konkrete Verteilung, wie um deren Formulierung in der Ordnung.
Dieses Ringen findet in mehr oder weniger zivilisierter Form
statt. Die Ökonomen nennen es Wettbewerb oder Konkurrenz.
Keine Ordnung der Wirtschaft ist seit der „Vertreibung aus
dem Paradies“ ohne Vorläufer. Deswegen ist jede Änderung eine
Verzerrung des bis dahin bestehenden Wettbewerbs. Es hängt
auch von der Ausgangssituation ab, ob sie in den Augen eines Betrachters als Wohltat oder Plage aufgefasst wird. Offensichtlich
darf sie aber nicht nur von der Ansicht der Betrachter abhängen,
soll die Ordnung nicht beliebig und damit unnötig werden.
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Der Freihandel Amerikas
Als Annäherung mag hier die Tatsache dienen, dass jede
neue Ordnung den Wettbewerb innerhalb der auf der Erde wirtschaftenden Menschheit und zu allem was auf dem Planeten neben ihr lebt, ändert. Der Wettbewerb zwischen den Einzelmenschen ändert sich durch die handelnden Menschen, der zwischen
ihnen und den anderen Lebewesen findet für die Behandelten
statt. Das heißt Möglichkeit zur Mitwirkung für die Ersteren und
nach dem Stand der Dinge keine Mitwirkungsrechte für Letztere.
Auch das ist keine Konstante. George Washington, der großen
Anteil an der „Menschwerdung“ der Sklaven in Amerika hatte,
hielt als Pflanzer selber auch welche.
Ganz konsequent angewendet, hieße das: Jeder wirtschaftende Mensch hat das Mitwirkungsrecht an allen bestehenden
Ordnungen der Wirtschaft. Da ist man der französischen Menschenrechtsdeklaration und auch den Neoklassikern schon sehr
nahe, nämlich auf einem hohen Niveau der Abstraktion oder im
Lande Nirgendwo. Recht kommt aber erst auf, wo Verantwortung besteht. Das der Mitwirkung bleibt in einer jeden Ordnung
auf die Menschen, die dort bereits Verantwortung tragen können
oder es wollen und dazu fähig sind, sie später zu übernehmen.
Die Beliebigkeit des Ursprungs der Ordnung erhält dadurch eine
Grenze. Sie bestimmt, wer wem was ordnet. Unbestimmt bleibt
aber die Bedeutung des Begriffs Verantwortung.
Die Wirtschaftsordnung der demokratischen Gemeinwesen
wäre damit immerhin beschreibbar als eine, die durch Verantwortung in dem Wirkungsbereich der Ordnung tragende Menschen geschaffen wird. Je genauer die Abgrenzung gezogen
scheint, desto weiter wird sie aber an anderen Stellen. Der Wirkungsbereich einer Ordnung wird irgendwo auch immer planetarisch sein und wird sich kaum jemals auf eine Firma Mayer&
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Co. KG Verwaltungsgesellschaft mbH begrenzen lassen. Es wird
daher immer eine Vielzahl Ordnungen denkbar bleiben. Da aber
nur eine wirksam werden kann, bleibt Raum für Diskussionen
und noch die Suche nach dem Weg, auf dem diese wirksam werden. In einer Demokratie muss es nicht die Aufgabe der Volksvertretung sein, über die Wirtschaft der Menschen Beschlüsse zu
fassen. Dort aber, wo Wirtschaft Privatangelegenheit ist, muss
die Ordnung der Wirtschaft ein unaufhebbares Recht der definitionsgemäß verantwortlich handeln könnenden Gesamtbevölkerung und ihrer Vertretung in Parlamenten sein.
Insbesondere gilt das bezogen auf den Grad der Regulierung
oder des Einflusses auf die wirtschaftlichen Entscheidungen der
Investoren. Die Investoren können jedoch, wenn sie in verschiedenen Gesetzgebungsbereichen aktiv sein können, ihrerseits die
Gesetzgeber einer Konkurrenz aussetzen. Sie haben meist mehrere Standorte zur Auswahl und entscheiden sich für den, wo
ihnen unter sonst gleichen Bedingungen zum Beispiel am wenigsten Steuern und Gebühren abgefordert werden und sie die
höchsten Subventionen erhalten. Über längere Fristen kann deswegen eine vereinheitlichende Anpassung aller Ordnungen auf
einem niedrigen Niveau der Intervention erwartet werden. Die
Investoren und ihre Vordenker nennen das Ergebnis freie Wirtschaft.
Die Art und Weise, wie die Wirtschaft geordnet ist, entscheidet wesentlich über dien Grad des Wettbewerbs, der unter den
Investoren und zwischen den Investoren und den Anbietern der
Ressourcen der Produktion, also der Naturnutzungen und der
Arbeitsleistungen, herrscht. In der ökonomischen Literatur wird
regelmäßig „vollkommener“ Wettbewerb unterstellt. Vollkommener Wettbewerb soll heißen, die Marktteilnehmer müssen die
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Der Freihandel Amerikas
bestehenden Marktpreise als für sie gegeben anerkennen. Ein
Gleichgewicht ergibt sich allein aus den Anpassungen der Mengen an den Preis. Das ist für eine Wirtschaftstheorie, die den Anspruch hat, eine Preistheorie zu sein, ein recht merkwürdiger Ansatz. Was ist das für eine Erklärung des Preises, in der der Preis
bereits als gegeben in den Bedingungen existiert? Keiner der Heroen der neoklassischen Theorierevolution − außer Léon WALRAS
− hat danach gefragt, wer denn eigentlich die Preise gesetzt hat.
Zimperlich war sein Vorschlag nicht: Die Preise gibt den Wirtschaftern eine Art Vater im Himmel bekannt.
Vielleicht geht es aber auch anders? Angenommen, der vollkommene Wettbewerb herrsche auf den Märkten, wenn alle Teilnehmer am Marktgeschehen die Angebots- und Nachfragepreise
für die in ihrer Verfügung befindlichen oder gewünschten Naturnutzungen, Arbeitsleistungen und Güter aufgrund individueller Empfindungen und Überlegungen sich bilden, ohne Absprachen mit anderen getroffen zu haben. Die Preise würden auf den
Märkten dann nicht einheitlich sein. Auf jedem Wochenmarkt ist
es genauso. Um den Anforderungen der Modellwelten zu genügen, könnte ein Einheitspreis aus der Vielzahl der Preise wie bei
einem Tenderverfahren gebildet werden. Die Angebots- und
Nachfragemengen würden nach den individuellen Preisvorstellungen in eine Reihe gebracht und der Marktpreis durch den
Punkt bestimmt, in dem die Nachfragemenge der Angebotsmenge entspricht. Zu einem einheitlichen Preis führt das niederländische Versteigerungsverfahren. Wo es angewendet wird, bestimmt der letzte Umsatz der die Angebots- und die Nachfragemenge gleich groß werden lässt, den Preis für alle.
Freihandel als Idee und Handlungsanleitung
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Für die sogenannte kurze Frist kann die Preisbildung aufgrund des amerikanischen Versteigerungsverfahrens als realistischer angenommen werden. Bei dem amerikanischen Verfahren
muss ein jeder, der mit seinem Angebot oder seiner Nachfrage
zum Zuge kommt, den Preis, den er individuell angeboten oder
nachgefragt hat, auch zahlen oder als Zahlung akzeptieren.
Die unterschiedlichen Preise würden am Markt öffentlich
werden. Deswegen könnten sie nicht stabil bleiben. Nichts garantiert aber, dass in der nächsten Preisbildungsrunde ein weniger
divergierendes Ergebnis daraus resultiert. Die Bedingung dafür
wäre die bereits von den Klassikern Adam SMITH und David RICARDO gemachte Unterstellung, dass sich sonst nichts ändert.
Noch bei Léon WALRAS finden auf den Marktplätzen zur Entdeckung des Gleichgewichtspreises nur Wiederholungen der vorherigen Preisbildungsversuche statt. In der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit gibt es keine tatsächlichen Wiederholungen.
Unter der angenommenen Konkurrenzbedingung wird es immer
wieder bei mit Unsicherheit zu treffenden Marktentscheidungen
zu uneinheitlichen Preisen kommen. Das mag die Schönheit der
Grafiken in Lehrbüchern verletzen, macht aber die Theorie, die
das berücksichtigt, gebrauchstüchtiger. Es gibt keinen Weg von
der falschen Unterstellung zum richtigen Resultat.
Transaktionen bei unterschiedlichen Preisen auf einem
Markt verletzen die Ratio des Modells nicht, da die Suche nach
dem Gleichgewichtspreis Kosten verursacht. Angenommen, zwei
Marktteilnehmer hätten bezüglich der Preissuche entgegengesetzte Einkaufsgewohnheiten. Einer soll sich stets für den ersten
ihm genannten zum Kauf oder Verkauf entscheiden oder den
Markt ohne Kaufvertrag verlassen. Der zweite soll zuerst den
ganzen Markt ablaufen und alle Preise vergleichend notieren, um
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Der Freihandel Amerikas
dann die richtige Wahl zu treffen und den günstigsten zu wählen.
Beide Marktbesucher gehen dadurch ein jeweils anderes Risiko
ein. Der erste hätte wahrscheinlich ein vorteilhafteres Geschäft
machen können, wäre er bereit gewesen, mehr Informationen
vor dem Kauf zu sammeln. Der zweite läuft das Risiko, das alles
ausverkauft ist, bevor er seinen Rundgang abgeschlossen hat.
Der eine Preis für das eine Gut ist sicher die eleganteste aller
denkbaren Lösungen der Marktpreissuche. Schade nur, dass sie
als adäquate Handlungsanweisung nur für die kleinen Wochenmärkte Geltung hat, die zu Lebzeiten unserer Urgroßmütter auf
den Plätzen vor dem Rathaus existierten.
Lehrbücher mit diesen Beschränkungen sind für die Jugend
gefährlich. Es sollte mit ihnen so verfahren werden, wie der
Großvater mit CASANOVAS Erinnerungen umging: Verstecken wir
sie in dem obersten Regal des Bücherschranks, wo Minderjährige
sie nicht erreichen können.
Gleiches gilt für die überflüssige Annahme, Märkte müssten
im Gleichgewicht geräumt sein. Der Markt muss das gerade nicht,
jedenfalls nicht in dem von den Klassikern und Neoklassikern angenommenen Weise. Der Angebotspreis eines Gutes kann − ungeachtet einer aktuell nicht ausreichenden Nachfrage − durch die
Aktivitäten hinzutretender, anders motivierter Akteure stabilisiert werden. Zum Beispiel kann ein um ein zufriedenstellendes
Einkommens- oder Beschäftigungsniveau bemühter öffentlichen
Haushalt, das Überangebot quasi in der Schwebe halten, indem
er es als Zwangsersparnis aufspeichert.
Die Beispiele aus der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit
sind aber viel spektakulärer als es sich die Phantasie eines Neoklassikers ausmalen kann. Hier sollen zwei bedeutende aus dem
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reichlichen Vorrat herausgegriffen werden. Die aktuelle Agrarpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika liefert das eine, die
Zulassung von Gewerkschaften im Deutschland des 19. Jahrhunderts das andere.
Die Zulassung der Gewerkschaft der Buchdrucker als Vertretung der Arbeitnehmerinteressen gegenüber ihren Unternehmern im Königreich Sachsen im Jahre 1866 war aus Sicht der Unternehmer, wie ihre Verbandsvertreter wissen ließen, ein unumkehrbarer Schritt zum endgültigen Zusammenbruch des Wirtschaftssystems. Die Arbeitsbevölkerung sah darin einen Beitrag,
die von den Wohlstandssteigerungen infolge des technischen
Fortschritts sich − wie es heute heißt − abgehängt fühlenden Anbieter der Arbeitsleistungen wieder daran teilhaben zu lassen.
Tatsächlich fühlten die Arbeiter das nicht nur, der Fortschritt
hatte sie relativ schlechter gestellt. Sie reklamierten das Recht,
sich zu kartellieren, weil die Unternehmer im Markt für Arbeitsleistungen lange zuvor bereits ihre Interessen ebenso in Verbänden organisiert hatten. Dadurch war eine Situation entstanden,
in der die Anbieter von Arbeitsleistungen allem Fortschritt in der
Produktion zum Trotz mit ihren Löhnen auf ein Niveau fixiert
waren, das die Klassiker und auch vor ihnen schon Anne Robert
TURGOT als Reproduktionslohn beschrieben hatten.
Ein Urteil über Wettbewerbsverzerrungen sollte bei alle
dem nicht vorschnell gefällt werden. Temporäre Verzerrungen
des Wettbewerbs müssen möglich sein, wenn Fortschritt überhaupt stattfinden soll. Sie liefern den Anreiz meist kostspielige
Neuerungen in die erlebbare Wirklichkeit umzusetzen. Das gilt
nicht nur für Investoren. Alle müssen die Kosten einer Innovation als „Extraeinkommen“ erwirtschaften können. Auch die Anbieter der Arbeitsleistungen müssen das. Andernfalls können sie
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Der Freihandel Amerikas
sich nicht für eine anspruchsvoller werdende Nachfrage qualifizieren.
Entscheidend aber ist, dass der faire Wettbewerb auf einem
dann höheren Niveau wieder mit nachholende Anpassung erreicht werden kann. Wo dies durch intentionelle Vorkehrungen
praktisch ausgeschlossen ist, wird weiter unten nicht mehr von
Verzerrungen, sondern von Verfälschung des Wettbewerbs gesprochen,
Den Zusammenbruch des zinsgesteuerten Wirtschaftssystems hat die Neuordnung des Arbeitsmarkts durch die allgemeine Zulassung von Gewerkschaften nicht bewirkt. Heute erwarten ihn nur noch wenige in naher Zukunft. 1870 taten es fast
alle. Das weist darauf hin, wie nützlich eine derartige, die Zeitgenossen oft verschreckende Veränderungsmöglichkeit für den Bestand von Wirtschaftssystemen ist. Das Kartell von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden verminderte den Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt. Die neue Technik in den Industrien
hatte in der Fabrik bisher nicht beschäftigbare Frauen und Kinder für die körperlich leichteren Arbeiten als Potential erschlossen.
Der Kampf um den 8-Stunden-Tag begann als eine Antwort
darauf. In wenigen Jahren war Kinderarbeit beseitigt und die
Schulpflicht eingeführt. Es hatte aber auch die Industrie die Antwort gefunden. Sie begegnete den steigenden Löhnen mit erneut
verbesserter Technik. So konnten die Arbeitskräfte leistungsfähiger gemacht werden und den steigenden Löhne folgten wieder
steigende Gewinne. Der Wettbewerb war auf höherem Niveau
wieder funktionstüchtig. Wo es an diesem Wettbewerb fehlt,
muss er auf einem höheren Niveau wiedereröffnet werden können, wenn das Scheitern der Wirtschaft vermieden werden soll.
Freihandel als Idee und Handlungsanleitung
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In der Mitte Europas stieg die Wirtschaft des Reichs steil auf und
übertraf zum Ende des 19. Jahrhunderts selbst Großbritanniens
Industrien im Können und in der Leistungskraft.
Die Agrarpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika liefert
das zweite Beispiel für ein nicht nur denkbares, sondern praktiziertes Gleichgewicht. Sie, die permanent die Subventionspolitik
der Europäischen Union kritisiert hat, stabilisiert selbst ebenso
die Agrarpreise zu Gunsten der Landwirte. Es geschieht, indem
die öffentlichen Haushalte die Nachfrage erhöhen. Sie kaufen Getreide und werfen es zum Beispiel aus Flugzeugen über den Hungergebieten Afrikas ab, und weg ist es! Ganz ohne die hohen Lagerkosten, die früher mehr noch als heute den Europäern entstanden, wenn Getreide, Zucker, Rindfleisch, Schweinefleisch,
Milch und Butter aus dem Markt genommen wurden, um die Garantiepreise zu stützen. Jeder Versuch, diese Lebensmittel außerhalb der Europäischen Union auf dem Markt anzubieten, wurde
von den Vereinigten Staaten von Amerika keineswegs als Belebung der Konkurrenz auf dem freien Markt begrüßt, sondern als
feindlicher Akt aufgefasst, der mit regelrechtem Handelskrieg
beantwortet wurde.
Das Abwerfen von Getreide über Afrika ist auch weniger
Hilfe für die betroffenen Gebiete als es scheint. Es hebt der Absicht entsprechend den Preis des Getreides in den Vereinigten
Staaten von Amerika, zugleich aber hindert der vorgebliche
Kampf gegen den Hunger das Entstehen und die Aufrechterhaltung einer afrikanischen Getreideproduktion. Das geschieht,
wenn die Mengen ausreichend groß sind, um dort den Preis des
Getreides unter die afrikanischen Kosten der Produktion fallen
zu lassen.
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Der Freihandel Amerikas
Auch, wo der Agrarüberschuss nicht im Himmel über Afrika
entsorgt, sondern auf dem Landweg in Lager gelangt und dort
verteilt wird, ist das mit negativen Begleiterscheinungen verbunden. Aus der akuten Kampagne gegen den Hunger wird regelmäßig ein permanentes Lager. Statt der Rückkehr der Hilfsbedürftigen in Siedlungen sammeln sich in den Lagern immer mehr Menschen, wo Nahrung ohne Arbeitseinsatz zugeteilt wird. Böden,
auf denen lohnende Agrarproduktion möglich wäre, bleiben wegen der abgewanderten Arbeitskraft unbestellt.
In der Entwicklungshilfepolitik nennt die Fachwissenschaft
das Welthungerhilfe. Es dient aber vorrangig der Absicht, hohe
Agrarpreise in den Vereinigten Staaten von Amerika zu stabilisieren und ist ein grober, die Landwirtschaft von wirtschaftlich
schwach entwickelten Ländern schlechter stellender und regelmäßig ruinierender Eingriff in den Wettbewerb. Mit ähnlichen
Wettbewerbsverzerrungen sind die Länder Mittelamerikas, die
bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Selbstversorger ihrer Hauptgetreidearten waren, zu Maisimporteuren der Vereinigten Staaten von Amerika geworden. Das Argument, es sei für diese Länder nützlich gewesen, den relativen Kostenvorteil der US-Getreideproduktion zu genießen, sticht hier nicht. Die Ruinierung der
Getreideerzeugung in der Mitte des Doppelkontinents war nicht
das Ergebnis von günstigeren Marktpreisen in den Vereinigten
Staaten von Amerika. Sie war die Folge der Überflutung der Länder mit durch Subvention verursachten Überschussmengen zum
Nullpreis.
Gegen Getreide zum Nullpreis kann niemand mit Erfolg konkurrieren. Die einzige Erwerbstätigkeit, die es auslöst ist die Verschiebung eines bedeutenden Teils auf den Schwarzmarkt. Die
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Wiederherstellung eines fairen Wettbewerbs auf höherem Niveau unterbleibt. Statt vom Wettbewerb zu höherer Leistung angetrieben zu werden, fällt die Wirtschaft in Stagnation und macht
Rückschritte in der Wohlfahrtsentwicklung mit einer steigenden
Passivierung der Leistungsbilanz. Wenn ein Land noch nicht für
die weiter unten beschriebenen subprime-security-Kredite aus
den Vereinigten Staaten von Amerika reif ist, kann dieses Defizit
nur durch Auswanderung eines Teils der Bevölkerung ausgeglichen werden, die die Konsumgüternachfrage im Inland absenkt
und zum Beispiel in Deutschland zu Übertragungen, auch von im
Einwanderungsland gezahlten Sozialleistungen, der Auswanderer an Zurückbleibende führt.
Wie auch immer die Ungleichheit der Marktpreise im Gleichgewicht gehalten werden mögen, sie bleibt für den Betrachter im
Widerspruch zum „Gesetz des einen Preises“, das postuliert, es
könne in einem Markt nur einen Preis für ein und das gleiche Gut
geben. Jede Abweichung davon müsste ein Ungleichgewicht auf
dem Markt bedeuten, so lange die Kosten der Suche nach den bestehenden Preisdifferenzen geringer sind als der Arbitragegewinn, der durch Kaufen am billigsten gekannten Platz und Verkaufen auf dem teuersten entsteht. Die neoklassischen Haushalte
können dies aber nicht. Sie können die Preisunterschiede nicht
kennen, sonst würden sie ja von Anfang an die Gleichgewichtspreise und keine anderen anbieten oder fordern.
Von der Neoklassik wird das Problem nicht aufgelöst. Sie
lässt es gegen die Vernunft und gegen die Erfahrung verschwinden, indem sie jeden Marktteilnehmer mit vollständiger Information ausstattet. Je besser die Information ist, desto weiter entfernt sich der Leser allerdings der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit.
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Der Freihandel Amerikas
Mit anderen Worten: Die „freie“ Marktwirtschaft ist ein Konzept oder Gedankenspiel. Es ist eine Täuschung der naturgemäß
schlecht informierten und nicht fachkundigen Öffentlichkeit, die
die denkbare und die erfahrbare Welt nicht unterscheidet und so
Trugschlüsse verursacht. Mehr noch geschieht es, wenn die Erstere − zum Beispiel für die „Neue Soziale Marktwirtschaft“ − zur
Erklärung oder Beurteilung tatsächlicher Wirtschaftsvorgänge
genutzt wird.
3. Über „gute Regierungstätigkeit“,
Ordnung und Barbarei
Dem Publikum der Propagandisten der „freien“ Marktwirtschaft
wird dennoch weit mehr zugemutet. Der freie Markt kann nach
ihrer Auffassung offensichtlich nicht durch seine Selbststeuerungskräfte gefördert und gesichert werden. Vielmehr war „gute
Regierungstätigkeit“ wie bei Jean Baptist SAY vonnöten, um die
„natürliche“ Ordnung mit Reformen gegen das uneinsichtige Publikum durchzusetzen. Warum lacht eigentlich niemand? Das
Wort Freihandelsabkommen ist doch ein Witz!
Die gute Regierungstätigkeit ist jene, die von der Regierung
der Vereinigten Staaten von Amerika praktiziert wird. Diese Regierung scheint aber bei ihren Entscheidungen offensichtlich
nicht mehr so frei zu sein, wie sie es müsste, um nur ihren eigenen Vorstellungen Gesetzeskraft zu verleihen. Sie muss für unvoreingenommene Beobachter unter den Einfluss der ihr Kredit
geben und verweigern könnenden Banken und hier insbesondere des Marktmachers ihrer verbrieften Staatsschulden gekommen sein. Unerklärlich bliebe sonst, warum von ihr so viele und
so energisch Ziele verfolgt werden, die unübersehbar das anstreben, was der Hochfinanz in der Wall Street guttut.
Wahrscheinlich führten die Kosten zahlreicher Kriege, zu einer Verschuldung des Finanzministeriums, deren Nichtrefinanzierbarkeit die Haushaltspolitik des Finanzministers in ein Chaos
stürzen würde. Man lehnt sich also nicht zu weit aus dem Fenster
mit der These, es sei nicht die Tätigkeit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, die widerspruchslos von den zur
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Der Freihandel Amerikas
Verschuldung beim IWF drängenden Schuldnerländern nachvollzogen werden soll. Es sind Interessen der Akteure der Hochfinanz im Finanzzentrum der Vereinigten Staaten von Amerika
die mit der Institution IWF umgesetzt werden. Das ermöglicht
das auf Seite 28 erwähnte privilegierte Stimmrecht des Gouverneurs der Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Institution.
Es lässt keinen Beschluss im Gouverneursrat und im Direktorium
zu, dem die Vereinigten Staaten von Amerika nicht zustimmen.
Bezeichnenderweise sind die „Grundsätze guter Regierungstätigkeit" auch nicht im Senat oder Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika erörtert und gar beschlossen worden.
Sie sind vermutlich ein Produkt der komplexen Dreiecksbeziehung, die sich zwischen den öffentlichen Haushalten und dem
Zentralbanksystem in Washington einerseits und dem Finanzzentrum in der New Yorker Wall Street gebildet haben.
Die planetarische Exekution dieser Grundsätze gibt jedem
Mitglied des IWF eine politische Infrastruktur, wie sie in den Vereinigten Staaten von Amerika besteht. Es ist der IWF, der den an
die 10 Gebote erinnernden Katalog in die Welt gebracht hat. Er
kontrolliert auch dessen Umsetzung in die Politik der Mitgliedsregierungen bei der Gewährung von Krediten.
In diesem Zusammenhang wird oft gefordert. es sollten Ross
und Reiter genannt werden. Thomas FRANK hat es vor kurzem mit
seinem Buch „Listen, Liberal: Or: What happend to the Party of
the People“ getan und den CLINTONs vorgeworfen, sie hätten vor
allem das Interesse Hochfinanz vertreten und ihr Handeln an diesem ausgerichtet. Stimmen wird das schon, oder auch nicht. Mein
Interesse ist nicht das Auslösen einer Hetzjagd auf Personen.
Mein Anliegen ist die falsch geordnete Institution zu entdecken,
Gute Regierungstätigkeit
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um dort im Grunde unerträgliche Zustände verbessernd zu verändern. Menschen kann man für unrechtes Handeln verachten,
bestrafen usw., aber verändern kann man sie eher nicht. Institutionen können aber ohne Zweifel von der Straße und aus den
Volksvertretungen heraus verändert werden. Daher ist es wichtiger, sie und nicht (nur) die darin handelnden Personen zu studieren.
Griechenland wird einem Verfahren zur Rettung der Aktiva
seiner inzwischen öffentlichen Gläubiger seit Jahr und Tag ausgesetzt. Weiter unten wird deutlich werden, dass der IWF keine
Einrichtung zur allgemeinen Unterstützung von in Leistungsbilanzschwierigkeiten geratenen Mitgliedsländern ist. Vielmehr sichert er die Interessen des US-Haushaltsfinanzsektors, des USZentralbanksystems und der privaten die Interessen der WallStreet-Banken, indem er diese vor der Konkurrenz der Freihandelspartner schützt.
Bei der Krise infolge der Überschuldung Griechenlands will
der IWF mitbestimmen, weil insbesondere eine New Yorker
Großbank und von dieser Bank finanzierte Hedge-Fonds Großgläubiger des Landes waren. Dies, obwohl sich zeigen lässt, dass
gerade diese Akteure Griechenland mit expandierenden Krediten direkt in den Zustand kurz vor der Zahlungsunfähigkeit geführt haben. Den Beistand sollen aber nach der Auffassung des
IWF die Überschussländer des Eurosystems ganz allein leisten,
und zwar so vollständig wie es für die Auszahlung fällig werdender Anleihen, die aus dem Finanzzentrum New Yorks finanzierte
Institute mit fast neoklassischer Information im Crash der Anleihen des Landes zu abenteuerlichen Tiefstpreisen angekauft haben, zum Nominalwert ausgezahlt werden können.
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Der Freihandel Amerikas
Soweit wie das Land selbst für seine Schulden einstehen
muss, durchläuft es ein feststehendes Programm. Sein Ablauf ist
mit drei Schritten zu beschreiben: Das Kredit bei dem Internationalen beantragende Land, muss erstens eine Absichtserklärung
(letter of intent) abgeben, wie und in welchen Zeitabschnitten es
seine Schwierigkeiten einer Lösung zuführen will. Eine freie
Wahl hat es dazu freilich nicht.
Es läuft in der Regel darauf hinaus, dass der IWF zweitens die
öffentlichen Ausgaben zu vermindern sucht. Das wird fälschlicherweise mit Sparen bezeichnet. Wenn eine Schule nicht renoviert wird, Erhaltungsausgaben für Straßen nicht erfolgen, dann
wird jedoch nicht gespart, sondern nur weniger ausgegeben. Als
Folge einer Ersparnis gelangt man in den Besitz eines Vermögenswertes. Es wird somit ein Aktivtausch vollzogen. Die Folge
einer Minderausgabe ist eine Verkürzung der Bilanz. In der Praxis bedeutet das „Sparen“ die Entlassung von Arbeitskräften bei
öffentlichen Stellen, die Kürzung von Sozialleistungen und den
Verfall von öffentlicher Bausubstanz. Tatsächlich wird aber nicht
weniger ausgegeben, sondern es findet auch hier ein Tausch von
Passiva statt. Geld wird, statt in die Infrastruktur investiert zu
werden, für Forderungen der Gläubiger verwendet.
Drittens werden noch im öffentlichen Besitz befindliche Vermögenswerte erfasst. Das sind zum Beispiel Gewinn abwerfende
Hafenanlagen, Flughäfen, Eisenbahngesellschaften, Versorgungsbetriebe usw. Es wird für diese Vermögenswerte die Bereitschaft der Regierung zur Privatisierung erwartet.
Es wird langsam deutlich: Der Internationale IWF ist eine der
Institutionen, mit denen die Akteure des Banken- und Haushaltsfinanz-Komplexes der Vereinigten Staaten von Amerika ihre den
Gute Regierungstätigkeit
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Wettbewerb blockierenden außenwirtschaftlichen Ziele verwirklichen. Bei seiner Gründung in Bretton Woods im Jahre 1944
haben 46 vom Weltkrieg mehr oder minder verwüstete und finanziell ruinierte Staaten vor allem Westeuropas diese Möglichkeit geschaffen, indem sie nahezu unglaubliche Zugeständnisse
an die große Gläubigernation machten. Sie taten es in der Hoffnung, amerikanischen Kredit für den Wiederaufbau zerstörter
Städte und die Modernisierung ihrer durch unterlassene Reinvestition erbärmlichen Industrien zu erhalten, ohne sofort dafür
Konsumverzicht leisten zu müssen.
Ganz ungewöhnlich war die Entlassung der zum Leitwährungsanbieter bestimmten Führungsnation aus der Verpflichtung, die Stabilität des Wechselkurses seiner Währung durch
entsprechende Geldmarktgeschäfte (damals waren das Diskontgeschäfte) und notfalls durch ergänzende Interventionen am Devisenmarkt zu sichern. Vielmehr verpflichteten sich die anderen
Mitglieder des Systems dazu, unbeschränkt US-Dollar oder Dollar-Guthaben mit ihrer eigenen Währung anzukaufen oder umgekehrt mit von ihnen in der Währungsreserve gehaltenen Dollar
oder Dollar-Guthaben ihre eigene Währung zur Kursstabilisierung aus dem Markt zu nehmen. Dazu mussten sie Dollarvermögen − überwiegend in US-Staatspapieren − in der Devisenreserve
halten und so zu einem nicht unerheblichen Teil die niedrig verzinsten Staatsschulden der Vereinigten Staaten von Amerika finanzieren. Sie hatten damit zugleich die Kompetenz über ihre
Geldpolitik und im strengen Sinne auch über ihre Finanzpolitik
verloren. Sie konnten nicht mehr mit hartem Geld gegen den Dollar konkurrieren, aber auch nicht, falls sie es für richtig empfunden hätten, eine Politik des leichten Geldes im Verhältnis zur
Geldpolitik des Zentralbanksystems der Vereinigten Staaten von
28
Der Freihandel Amerikas
Amerika verfolgen. Sie waren mit ihrer Währung in einem Kartell
an den Dollar gefesselt.
Zu den übernommenen Pflichten gehörte auch eine Regel für
das Stimmrecht in den Gremien des IWF, das sich aus den von
den Mitgliedsländern gehaltenen Kapitalanteilen ergeben sollte.
Um zur Verschuldung bereiten Nationen möglichst große Leistungsbilanzdefizite durch die vom IWF emittierten Ziehungsrechte finanzieren zu können, musste der große Gläubiger einen
großen Kapitalanteil halten. Mit etwas mehr als 17% betrug er
dann auch ein Vielfaches der Beiträge anderer Mitgliedsländer.
Seine Wettbewerbswirkung ergibt sich aus dem Zusammenhang
mit einem Quorum, das für Beschlüsse des Gouverneursrats und
des Direktoriums eine Mehrheit von 85% der Stimmen einfordert. Im IWF konnte und kann nach wie vor kein Beschluss gefasst werden, dem die Vereinigten Staaten von Amerika nicht zustimmen.
Ursprünglich wurden die Kapitalanteile nach der globalen
Bedeutung der Wirtschaft des Mitgliedslandes bestimmt. Mit
dem allgemein kräftigen Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte hatten mehrere Mitgliedsländer die Absicht, ihre Mitspracherechte im IWF zu steigern. Sie wollten dazu ihren Kapitalanteil an ihre gewachsene Wirtschaftskraft anpassen. Auch die
Länder, die sich neu um eine Mitgliedschaft bewarben, sehen sich
oft mit nach ihrer Meinung zu niedrigen Kapitalanteilen aufgenommen. Da die Vereinigten Staaten von Amerika durch korrekte Bewertung entweder ihre Privilegierung in Abstimmungen
verloren hätten oder den eigenen Kapitalanteil entsprechend
hätten erhöhen müssen, stimmten sie stets gegen Anträge, die
die Relationen der Stimmen der Mitglieder im Gouverneursrat
geändert hätten. Es blieb alles beim Alten.
Gute Regierungstätigkeit
29
Das ist aber nur deswegen eine zufriedenstellende Lösung
für die Vereinigten Staaten von Amerika, weil das geringe Eigenkapital im IWF nicht als Beschränkung der Aktivitäten wirkt.
Braucht der Fonds mehr Zahlungsmittel, kann er sie durch einen
Beschluss des Gouverneursrats in Form von Ziehungsrechten und
Sonderziehungsrechten (SZR) selbst hervorbringen. Beschlossene Ziehungsrechte werden nach dem Kapitalanteil aufgeschlüsselt auf die Mitglieder verteilt.
Die 189 Mitglieder des Fonds haben bei ihrem Beitritt ihren
Kapitalanteil teilweise in ihrer Landeswährung und teilweise in
einer sogenannten Korbwährung eingezahlt. Der Währungskorb
des IWF enthält zurzeit fünf Währungen, das sind der US-Dollar,
der Euro, das britische Pfund, der japanische Yen und der chinesische Yuan (Renminbi). Zur weiteren Verschuldung bereite Länder mit einem Leistungsbilanzdefizit können, soweit wie sie auf
ihren in einer Korbwährung eingezahlten Kapitalanteil zurückgreifen, ohne Antrag ein ordentliches Ziehungsrecht ausüben.
Über den gezogenen Betrag können sie als Kredit in einer Korbwährung verfügen. Dazu muss der gezogene Betrag nach dem im
Fonds aus den gewichteten Wechselkursen errechneten Umrechnungskurs (nicht nach dem auf dem Devisenmarkt bestehenden
Wechselkurs) durch Einzahlung eigener Landeswährung ausgeglichen werden. Nach Abschluss der Transaktion hat das ziehende Land aus den Reserven des IWF Korbwährung auf seinem
Zentralbankkonto. Der IWF hat diesen Betrag statt in einer Korbwährung in einer Landeswährung, die offenbar nicht auf Devisenmärkten handelbar ist, in seiner Reserve. Wäre sie devisenmarkttüchtig, hätte das Land nicht auf den Fonds gezogen, sondern sie auf dem Markt angeboten. Diese Möglichkeit gehört freilich längst zum Märchenstoff für alle Schuldnerländer. Sie haben
30
Der Freihandel Amerikas
vor Jahrzehnten bereits nur noch bedingte, das heißt, erst auf Antrag vom IWF zu genehmigende Ziehungsrechte ausgeübt. Die
bedingten Ziehungsrechte übersteigen regelmäßig das ordentliches Ziehungsrecht der Schuldnerländer um ein Vielfaches. Der
IWF hält sie pari passu in steigender Abhängigkeit.
Die, so sieht es aus, gegen Unendlich wachsenden Verbindlichkeiten der Schuldner erfordern wegen des faktisch nicht zu
erhöhenden Eigenkapitals des Fonds zumindest buchhalterisches Gestaltungstalent. Die, Sonderziehungsrecht (SZR) genannte Recheneinheit hat dem IWF dem seit dem 3. Oktober 1969
neue Expansionsmöglichkeiten geschaffen. SZR sind allerdings
kein Geld, also auch keine neue Weltwährung, wie es in Wikipedia unter dem Stichwort „Sonderziehungsrecht“ heißt. Sie sind
Verbindlichkeiten des IWF und keineswegs wie dort auch zu lesen ist, durch die Währungen der Gläubigerländer gedeckt, denen SZR im Rahmen der Gläubigerquote zugeteilt werden können.
Der Gouverneursrat könnte möglicherweise dem IWF eine
grundsätzlich unbeschränkte Menge SZR durch Beschlüsse neu
verfügbar machen. Diese könnten auf die Gläubigerländer und
auf die Schuldnerländer des Fonds nach dem Kapitalschlüssel
(Schuldnerquote) verteilt werden. Den Gläubigerländern entstünde damit auch die Verpflichtung, eine Gläubigerquote in der
doppelten Höhe ihrer Schuldnerquote zu übernehmen. Denn, die
Gläubigerquote stellt den Betrag fest, bis zu dem sich ein in der
Gläubigerposition befindendes Mitgliedsland sich vom IWF, bei
Bedarf SZR zuteilen lassen müsste. Der Bedarf entstünde, wenn
ein zur Ziehung berechtigtes Schuldnerland einen auf eine „Korbwährung“ nominierten Wechsel auf den Fonds zöge und den Gegenwert in seiner Landeswährung einzahlte.
Gute Regierungstätigkeit
31
Teilte der IWF tatsächlich die SZR einem der Gläubigerländer
zu, dann stellten diese die zugeteilten SZR als Devisen, also als
Forderung gegen Fremde, hier konkret gegen den IWF, in die
Währungsreserve ihrer Zentralbank ein. Am Ende des Vorgangs
hielten die Gläubigerländer die SZR, der Währungsfonds die
nichtdevisenmarkttüchtige Währung des Schuldnerlandes und
das Schuldnerland würde sein Leistungsbilanzdefizit mit der erhaltenen Korbwährung durch Zahlung an ein Export-Überschussland ausgleichen können. Eine Deckung der in ungedeckte
Währung gewandelten SZR ist nirgends zu sehen. Das Gläubigerland hat seine Verpflichtung erfüllt und muss darüber hinaus
nichts leisten. Das Schuldnerland könnte es nicht, selbst wenn es
verpflichtet würde. Das bedeutet:
1. SZR sind kein Geld, sie sind Forderungen auf Geld, die in
Form von Reserveguthaben beim Fonds oder bei einer Zentralbank eines ihrer Mitgliedsländer existieren.
2. Als Forderungen auf Geld sind SZR in einer von fünf Korbwährungen zu nominieren. Sie können aber eine Geldschuld
nicht tilgen. Wer SZR akzeptiert, nimmt sie „an Zahlungs Statt“
an. Er hält dann eine Forderung gegen den IWF in Händen.
3. SZR können ihren Haltern, statt zur Zahlung gegen jedermann, nur der Verrechnung von Forderungen und Verbindlichkeiten in einem geschlossenen System, wie es zwischen dem IWF
und seinen Mitgliedsländern besteht, dienen.
Der IWF musste zwar bisher seiner Aktivität noch nie durch
sein Eigenkapital begrenzen. Dass eine schier endlos erscheinende Liquidität dem Fonds erlaube − wie manche Ökonomen
glauben − das globale Engagement stets den Anforderungen entsprechend zu expandieren, kann, wenn die drei Punkte zutreffen,
32
Der Freihandel Amerikas
nicht weiter angenommen werden. Deswegen wird weiter unten
auf diesen Punkt zurückzukommen sein.
Der Ausgangpunkt zu dem soeben beendeten Gedankenausflug war der Beschluss über „gute Regierungstätigkeit“. Ihn haben sicher die Koryphäen in Denkfabriken des New Yorker Finanzzentrums ausgedacht. Er sichert deswegen bestimmt den
optimalen Einsatz dieser Liquidität zur Gewinnung von Abhängigkeit und Einfluss in den Schuldnerländern des Fonds.
Nur oberflächlich läuft es darauf hinaus, dass sich Akteure
des Finanzzentrums des Planeten Erde in jedem x-beliebigen
Lande so leicht zurechtfinden, wie sie es in den heimischen Shopping Malls gewöhnt sind. KFC, McDonald, der polnische Bäcker
usw. finden sich in Houston und in Chicago, in LA wie in NY immer auf dem gleichen Platz. Erst die unveränderliche Ordnung
lässt die Mall zu dem Shopping-System werden, das sie ist. Warum sollte eine solche Ordnung nicht auch für die Funktionszusammenhänge der Regierungstätigkeit hergestellt werden können?
Weniger oberflächliche Betrachtungen lassen aber vor allem
einen Zusammenhang zwischen der Ordnung des öffentlichen
Haushaltsystems mit seinen Beziehungen zum Finanzzentrum
einerseits und den darin bestehenden Entscheidungsgewalten
und Einflussmöglichkeiten erkennen. Das erlaubt, die Zusammenarbeit des Währungsfonds mit von seinem Kredit abhängig
gewordenen Mitgliedsländern zu standardisieren. Ganz gleich,
ob Burkina Faso, Südsudan oder Nigeria beraten wird, die Absichtserklärungen zu ihren Anträgen, ähneln sich wie ein Ei dem
anderen. Selbst die landesspezifischen Lagebeurteilungen unterscheiden sich kaum. Es gab sogar den Fall, dass in textidentischen
Berichten nur der Name des Staates abgeändert worden war.
Gute Regierungstätigkeit
33
Wirtschaftsgebiete, die eine Mitgliedschaft im IWF nicht
wünschen oder sich als Mitglieder den vom in dessen Gremien
ausgeübten Eingriffen in ihre Souveränität widersetzen, werden
als Schurkenstaaten klassifiziert und können wie die Barbaren im
alten Rom nicht eine Behandlung durch die Administration der
Vereinigten Staaten von Amerika beanspruchen, wie sie unter zivilisierten Staaten üblich ist.
Die Neoklassik weiß nichts davon. Ihre Haushaltsvorstände
tauschen Brot gegen Wein auf virtuellen Punktmärkten sozusagen unter Laborbedingungen im Nirgendwo. Das ist völlig nutzlos. Wirtschaftstheorie sollte sich stattdessen mit den Märkten in
der erlebbaren Wirtschaftswirklichkeit beschäftigen. Dazu gehört auch, sich mit dem Verhalten der führenden Wirtschaftsmacht auseinanderzusetzen. Das wird jedem, der guten Willens
ist, die Wettbewerb unterdrückenden Praktiken im Finanzzentrum der Vereinigten Staaten von Amerika − die der Gegenstand
nun folgender Abschnitte des Textes sind − unübersehbar machen.
Es ist ein Skandal erster Ordnung, dass die nahezu 200-jährige Vorherrschaft des klassischen und neoklassischen Nirgendwo-Ansatzes in der Lehre von der Wirtschaft an den Hochschulen in aller Welt fast widerstandslos möglich war. Eine angemessene Theorie von der Wirtschaft hat nicht eine vollkommene
Konkurrenz als Bedingung ihres Gleichgewichts. Entsprechend
kennt sie keine freie Wirtschaft. Alle Wirtschaft ist geordnete
Wirtschaft. Sie verleiht Rechte an jene, die Pflichten zu übernehmen bereit sein müssen. Die Suche nach der angemessenen Ordnung, ist ein Entdeckungsprozess, der ein Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten einzurichten beabsichtigt. Entdeckt
werden soll nicht, was die Anhäufung der Rechte bei Wenigen
34
Der Freihandel Amerikas
und der Pflichten bei den Vielen begünstigt. Anzustreben wäre
eine Ordnung, die Rechte in Abhängigkeit von einer vom Leistungsvermögen relativierten Leistung ausgleicht.
Die Wälder ganzer Kontinente waren abzuholzen, um das Papier zu produzieren, aus dem die Weisheit mit Druckerschwärze
allen Menschen, die guten Willens sind, in Büchern hätte zur
Kenntnis gebracht werden können. Hätte, ja hätte vielleicht, hätten die Bücher nicht mit dem Staub der Jahrzehnte bedeckt wie
Ziegelsteine auf Bücherregalen gestanden, ehe sie von den Erben
ins Antiquariat verscheucht worden sind. Vielleicht war das aber
auch ein Glück. Wer weiß? Man macht sich ja keine Vorstellung
davon, was so ein nach Gerechtigkeit suchender Mensch sich alles als Naturgesetz ausdenkt.
Leider ist die ungeordnete Wirtschaftsgesellschaft ein Widerspruch in sich und damit keine Alternative. Ungeordnet ist
nicht die freie Wirtschaft, sondern der „Wilde Westen“. Wo die
Ordnung fehlt oder eine bestehende nicht durchgesetzt werden
kann, geht man gewöhnlich mit dem Colt zum Brötchen holen.
4. Stetig ist nur die Veränderung
Freilich gibt es mehr oder weniger gut geordnete Wirtschaftsräume. Eine den Buchstaben nach unveränderte Wirtschaftsordnung ändert ihre Wirkung durch die Entwicklung der Wirtschaft.
Soll sie unverändert wirken, muss sie ständig an die Entwicklung
der Wirtschaft angepasst werden. Das Motiv der Veränderung
wirtschaftlicher Vorgänge besteht aber häufig darin, eine durch
Ordnung geschaffene Restriktion wirkungslos zu machen. Dies
Motiv ist am stärksten dort, wo ein durch Institutionen erzeugter
Wettbewerb zugunsten der Betreiber des Vorgangs verzerrt oder aufgehoben werden kann. Auch die Absicht, Konkurrenten
einem schärferen Wettbewerbsdruck auszusetzen, ist ein häufiger Antrieb zu Veränderungen der laufenden technischen und
organisatorischen Wirtschaftsvorgänge. Die angemessene Theorie der Wirtschaft muss das erkennen. Sie könnte dazu den Wettbewerb als relativen Wettbewerb, wie er im Verhältnis ökonomischer Kennziffern zu entdecken ist, zum Ausgangspunkt der
Überlegungen nehmen.
Wenn in Deutschland das Verhältnis von „Lohn und Profit“
70:30 vor etwa 40 Jahren war und heute annähernd 60:40 ist,
dann sollte gesagt werden können: Der Wettbewerbsgrad zwischen „Arbeitern und Kapitalisten“ ist zu Lasten der „Arbeiter“ in
diesem Wirtschaftsraum verschärft worden. So einfach ist ein
Urteil über die tatsächliche Verteilung des Sozialproduktes aber
nicht zu haben. Das hat PIKETTI mit seinem etwas vorschnell allgemein gelobten Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ auch erfahren müssen. Zahlreiche Akte der Sekundärverteilung machen
den Vorgang unübersichtlich.
36
Der Freihandel Amerikas
Mit ähnlicher Unschärfe kann auch der zwischen den Wirtschaftsräumen existierende Wettbewerbsgrad und seine Veränderung zum Beispiel nur aus Kennziffern der Kapitalbilanz ermittelt werden. Die externen Verbindlichkeiten und die komplementären externen Forderungen liefern hier relevante aber auch
nicht immer widerspruchsfreie Daten. Freilich wird ohnehin die
Erwartung, diese Werte absolut oder in ihrer prozentualen jährlichen Veränderung bis in die dritte Stelle hinter dem Komma erfassen und ablesen zu können, weder erfüllt werden, noch notwendig sein. Es wird aber hoffentlich ein Urteil darüber möglich,
ob Anstrengungen der Banken im New Yorker Finanzzentrum
der Vereinigten Staaten von Amerika dabei sind, den Wirtschaftsraum Planet Erde im Namen des Freihandels mit institutionell abgesicherter Gewalt zu dominieren. Hier wird behauptet,
es könne genügend sicher nachgewiesen werden, dass dies seit
dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart zutreffend ist. Es ist
Aufgabe des Lesers zu prüfen, ob das auch von ihm nachvollzogen werden kann.
Das Ausmaß, in dem das Finanzzentrum der Vereinigten
Staaten von Amerika sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem
Wettbewerb des Auslandes mit der Gründung von dem Freihandel angeblich dienenden Institutionen geschützt hat und weiter
schützt, ist auf jeden Fall beeindruckend. Dies umso mehr, weil
es nahezu unbeachtet blieb. Es wurden die für die Wirtschaft der
Vereinigten Staaten von Amerika bedeutenden fremden Märkte
für die eigene Wirtschaft erschlossen, ohne selbst von Konkurrenz bedrängt zu werden. Die 70-jährige Geschichte liefert überzeugende Beispiele dafür, dass was die Wirtschaft der Vereinigten Staaten von Amerika lenkenden Akteure in den Großbanken
des New Yorker Finanzzentrums unter Freihandel verstehen, in
Stetig ist nur die Veränderung
37
Wahrheit ein Finanzkrieg mit mehreren Feldzügen und Schlachten gegen das westliche Europa gewesen ist.
Es gehört zu den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, dass
er den Wirtschaftsraum des Finanzzentrums der Vereinigten
Staaten von Amerika explosionsartig gerade so vergrößerte, wie
er den der europäischen Staaten kleiner und unbedeutender
werden ließ. Die dazu passende Infrastruktur zu schaffen, war
naturgemäß die Aufgabe des einzigen wirklichen Siegers unter
den westlichen Alliierten. Damals wie heute propagierte die USPolitik, der Neubeginn erfordere die Abkehr von der Politik staatlicher Interventionen in die Wirtschaft und Freihandel zwischen
den Nationen. Der erste Schritt hierzu sollte ein „Freihandelsabkommen“ sein. Das „Abkommen über Zölle und [grenzüberschreitenden] Handel“ (GATT) wurde 1946 in Genf ausgehandelt.
Nach dem Krieg war der Widerstand gegen die Forderungen
nach Freihandel in Europa und gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika sehr gering. Die bedeutendsten europäischen
Nationen, Frankreich und Großbritannien, waren an Importen
mehr interessiert als am Export ihrer knappen Güter. Dass Importüberschüsse Verschuldung und Abhängigkeit vom Gläubigerland mit sich bringen würden, fand kaum Beachtung. Zu groß
war der Konsumverzicht der letzten Jahre des Krieges gewesen.
Das sollte so schnell wie möglich kompensiert werden.
Wahrscheinlich machte dies unvorsichtig. Jedenfalls ist das
GATT-Abkommen offenbar übereilt eingeführt worden. Es
wurde nur mit dem die Mitgliedsländer zur Durchführung von
periodischen „Zollrunden“ verpflichtenden Teil, und zwar ehe
die Mitgliedsländer das Abkommen ratifiziert hatten, „provisorisch“ exekutiert. In einer jeden dieser Zollrunden sollten jeweils
alle Zölle um einen einheitlichen Prozentsatz von jedem GATT-
38
Der Freihandel Amerikas
Mitgliedsland gesenkt werden. Zur allgemeinen Überraschung
wurde das Abkommen von den Vereinigten Staaten von Amerika
aber nicht ratifiziert. Es ist somit in der Nachfolge das Abkommen, ohne die führende Nation zu den gemachten Zugeständnissen zu verpflichten, dauerhaft provisorisch angewendet worden.
Dessen ungeachtet konnten in den „Zollrunden“ periodisch das
ablenkende Freihandelstheater aufgeführt werden. Manch einer
mag den Ausdruck als unpassend erscheinen. Deswegen muss er
vielleicht begründet werden.
Auf gewaltigen Tagungen wird in diesen Zollrunden um
Bruchteile von Prozenten über Zölle auf Güter überwiegend des
gehobenen Bedarfs verhandelt. Fest wie Felsen im Meer stehen
aber die Zollmauern und anderen Einfuhrbeschränkungen für
Agrarprodukte. Nur mit diesen aber haben die Länder, deren
Verschuldung von aller Welt beklagt wird, eine realistische
Chance ihre Defizite abzubauen. Nämlich, weil sie in der erforderlichen Qualität fraglos produziert werden können und in der
Produktion auch ausreichende Einkommen für die Produzenten
entstehen. Die Agrarproduktion schlüge zwei Fliegen mit einer
Klappe: sie steigert die inländische Wohlfahrt und erlaubt den
langfristigen Ausgleich der Leistungsbilanz.
Das aber müssen die Wall-Street-Banken fürchten, wieder
Teufel das Weihwasser. Entschuldung der Schuldner wäre sozusagen der größte anzunehmende Unfall in Kreditgeschäft. Sie
würde die wirtschaftliche Unabhängigkeit der von den Kolonialmächten in die politische Selbständigkeit entlassenen Länder bedeuten. Damit sollte niemand rechnen, der im Kopf die c. p.-Klausel behalten will. Die Erfahrung mit der Geldwirtschaft spricht
einfach dagegen.
Stetig ist nur die Veränderung
39
Was lässt sich aus diesen Beispielen für die Gegenwart lernen? Die TTIP-Verhandlungen werden fast nach dem gleichen
Muster wie die zum GATT geführt. Geheimhaltungsversuche verhindern, ihren Charakter der breiten Öffentlichkeit erkennbar zu
machen. Wesentliche Determinierungen der Zollgrenzen überschreitenden Wirtschaftsaktivitäten werden in der Europäische
Union der Hoheit der Nationalstaaten entzogen und der Union
zugewiesen. Dort gibt es überwiegend Nationen, die gewöhnlich
Leistungsbilanzdefizite haben. Bei der bestehenden Abstimmungsregel (ein Land, eine Stimme) werden von der Europäischen Union regelmäßig die Interessen der Defizitländer eine
Mehrheit im Europäischen Rat haben. Die Überschussländer haben Erfahrung genug mit dem Eurosystem und der Europäischen
Zentralbank sammeln können. Übermut tut selten gut.
Die Europäer müssen sich auch darauf einstellen, dass sich
die Zugeständnisse, die ihnen ihr atlantischer Partner machen
wird, um das bisher Erreichte provisorisch in Kraft zu setzen,
nicht real werden, weil die Vereinigten Staaten von Amerika
eventuell auch diesmal das Abkommen nicht ratifizieren werden.
Der Wechsel im Präsidentenamt bietet auch die passende Gelegenheit hierzu. Beide Kandidaten haben sich bereits kritisch zum
bisherigen Verhandlungsergebnis geäußert. Statt sich aber in
umständliche Neuverhandlungen zu begeben, wäre die Nichtratifizierung erneut attraktiv für die Vereinigten Staaten von
Amerika. Wieder bekämen sie alles „provisorisch“ und gäben
nichts dafür.
5. Die Verfälschung des Wettbewerbs
mit Institutionen
Die nach dem Kriege bedeutenden neu eingeführten Institutionen, sind nicht die im GATT ausgehandelten Zollsenkungen, sondern vor allem Hilfe suggerierenden wie Care und das oben
schon erwähnte sogenannte Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP). Sie wurden mit Ausnahme der Regierung der
Union der sozialistischen Sowjetrepubliken vom Publikum in allen daran teilnehmenden Nationen überwiegend als Geschenke
angesehen. Das ERP-Programm wurde mindestens wie andere
US-Programme − vor allem in dem noch besetzten und daran
nicht beteiligten Deutschland − als Wende in der Besatzungspolitik zum Besseren bewertet und somit positiv beurteilt.
Als abweichend hiervon fiel jedoch eine Äußerung von Hans
SCHLANGE-SCHÖNINGEN auf. Er war Mitbegründer der CDU. Von
1946 bis 47 war er in Holstein Mitglied des Zonenbeirats der britischen Besatzungszone. Von 1947 bis 1949, hatte er das Amt eines Direktors für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in den
beiden zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet zusammengeschlossenen amerikanischen und britischen Besatzungszonen. In dieser
Funktion behauptete er, die Amerikaner hätten Hühnerfutter als
Lebensmittelspenden geschickt und es sich teuer bezahlen lassen. Das war zum Teil eine Unkenntnis transatlantischer Unterschiede. Man hatte Korn erbeten und dabei an Roggen gedacht.
In den Vereinigten Staaten von Amerika ist Korn aber Mais, den
man hierzulande bis dahin nur in der als Futtermittel dienenden
Variante mit sehr harten, zum Genuss des Menschen ungeeigne-
42
Der Freihandel Amerikas
ten Körnern kannte. Die Behauptung, dass die Spende teuer gewesen sei, hat den Direktor aber 1949 das Amt gekostet. Der
erste Bundeskanzler, Konrad ADENAUER, schickte ihn 1950 „in die
Wüste“ als er ihn als Generalkonsul nach London sandte.
Das ERP-Programm war jedoch keinesfalls als Hilfe zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrien intendiert. In erster Linie war es ein Instrument, ohne das die New
Yorker Großbanken sich den Kreditmarkt für Unternehmen auf
dem westeuropäischen Kontinent nicht hätten erschließen können. Die nationalen Kreditmärkte Europas unterschieden sich
dort anfangs und mussten, um von der Wall Street Hochfinanz
erobert werden zu können, an die amerikanischen Rahmenbedingungen im Namen der Handelsfreiheit angepasst werden.
Das geschah wohl am intensivsten und insbesondere schon
im von den Westalliierten noch besetzten Deutschland. Ungefähr
ein Jahr bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet war,
wurde in der von der britischen und der amerikanischen Besatzungszonen gebildeten Bizone − wie soeben schon erwähnt − die
Deutsche Mark als ein an den Dollar mit einem festen Wechselkurs gekettetes gesetzliches Zahlungsmittel ausgegeben. Der
Geltungsbereich des Zahlungsmittels war durch den des Kontrollratsgesetzes bestimmt. Es wurde mit dem Besatzungsrecht
gesetzliches Zahlungsmittel in der Bizone. Diese wurde mit der
nachträglichen Zuweisung einer eigenen Besatzungszone an das
nach dem Völkerecht, wegen des 1942 mit dem Nazireich geschlossenen Waffenstillstandsabkommens nicht zu den Siegern
des Zweiten Weltkrieges zählenden Frankreich im bis dahin
amerikanisch besetzten Südwesten Deutschlands zur Trizone
deklariert. Das Zahlungsmittel trug zwar den Namen Deutsche
Mark, war aber ohne jeden Bezug zu den Gesetzen des besiegten
Die Verfälschung des Wettbewerbs
43
Reichs und der darin kursierenden Reichsmark. Ebenso wenig
bestand eine Beziehung der neuen Währung zu der ReichsmarkEmittentin, der Reichsbank. Insoweit führt die in Deutschland
übliche Benennung dieses Vorgangs mit dem Namen Währungsreform in die Irre. Es wurde keine bestehende Währung reformiert. Es war eine von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgehende Repudiation der Reichsbankwährung und die Implementierung eines von der Reichsmark unbeeinflussten anderen
gesetzlichen Zahlungsmittels auf anderer Rechtsgrundlage.
Die Deutsche Mark kam durch Landeszentralbanken in die
Zirkulation. Diese funktionierten wie ein Currency Board. In den
nach Besatzungsrecht gegründeten öffentlichen Haushalten der
durch Dezentralisierung neu zugeschnittenen Länder der
Trizone erwirtschafteten Einnahmen in Militär-Dollar und Militär-Pfund für die, den alliierten Streitkräften erbrachten Leistungen. Über die Landeszentralbanken gelangten diese Devisen zu
der aus der Devisenabrechnungsstelle der britischen und amerikanischen Streitkräfte heraus in Frankfurt am Main als Tochter
der Landeszentralbanken gebildeten „Bank deutscher Länder“.
Diese Bank hatte die Deutsche Mark in Form von Noten zugewiesen erhalten und konnte damit bei ihr gehaltene Guthaben des
Militärgelds und die dieser Zirkulation entzogenen Bargeldströme den Landeszentralbanken in DM-Guthaben oder DM-Noten konvertieren.
Die Noten dieser Bank waren, wie die Deutsche Bundesbank
1967 in einem Bildband (Die Noten der Deutschen Bundesbank)
berichtet, in den Vereinigten Staaten von Amerika hergestellt
worden. Der ersten Ausgabe fehlten daher sämtliche, die Herkunft ausweisenden Angaben, wie der Name des Emittenten, der
44
Der Freihandel Amerikas
Ort und das Datum der Ausgabe. Die Noten trugen auch keine Unterschrift der Bankleiter. Allein die Seriennummer (siehe S. 9)
verlieh den Scheinen das typische Merkmal eines Zahlungsmittels. Banknoten waren es aber nicht, wenngleich es darauf stand.
Unter die Bevölkerung kam es nicht wie Zentralbankgeld, son-
dern so wie es für die Mitspieler des Brettspiels Monopoly geschieht: durch Verteilung nach einer Spielregel. Es gab nur Zuteilungen des neuen Zahlungsmittels pro Kopf der Bevölkerung, je
Arbeitskraft in den Unternehmen, je Kreditinstitut und je öffentlichen Haushalt. Die meisten Menschen in Deutschland hatten
1948 noch nie einen US-Dollar gesehen. Ihnen wäre sonst aufgefallen, dass das Format und das Design des gesetzlichen Zahlungsmittels den US-Dollarnoten sehr ähnlich waren.
Offiziell außer Kraft gesetzt wurde die Reichsmark nicht. Allein nach der Logik beurteilt ist damit die Reichsmark heute als
Währung des Deutschen Reichs immer noch so präsent, wie es
die Aktien der Eisenbahnlinien von Deutsch Ostafrika und der
Oberschlesischen Bergwerke sind. Jeder, der Spaß daran hat,
Die Verfälschung des Wettbewerbs
45
kann auf ihre Wiederkehr so hoffen, wie auf das Auftauchen von
Kaiser FRIEDRICH II (Barbarossa)aus dem Kyffhäuser. Zumindest
bis dahin gilt: Alle in Reichswährung bestehenden Nominalschulden wurden 1948 nach der Sachlage in dem Sinne annulliert,
dass sie in dem neuen gesetzlichen Zahlungsmittel uneinlösbar
wurden, da kein allgemeiner Wechselkurs zur Reichsbankwährung bestand. Weiter zirkulierende Noten der Reichsbank wurden nur in der auf 500 RM begrenzten Menge, in der in Reichsmark bestehende Bankguthaben und Bargeld personal offiziell
im Verhältnis 1/10 umgetauscht wurden, eingezogen. Es wurde
ihren Haltern überlassen, sie nach Belieben für private Umsätze
als Substitut der neuen Währung zu benutzen, wenn jemand bereit war, sie für Zahlungen zu akzeptieren. In diesen Transaktionen bildete sich das Verhältnis 1 DM/10 RM in der Übergangsphase heraus, in der noch eine unzureichende Menge der neuen
Zahlungsmittel in der Zirkulation war. Der Notenmangel hat auch
die Besonderheit der von Otto STEIGER im New Palgrave beschriebenen „Zigarettenwährung“ ausgelöst.
Öffentliche Haushalte und Unternehmen, die Zahlungen nur
in der neuen Währung akzeptierten, waren damit von allen Geldschulden frei. Ihre Forderungen waren aber auch untergegangen.
Deswegen brauchten Unternehmen und öffentliche Haushalte
unmittelbar Kredit. Den Unternehmen fehlten hierzu die Sicherheiten, ohne die sie keinen Bankkredit erhalten konnten. Das
ERP konnte dem abhelfen. Es verwandelte sozusagen private in
öffentliche Schulden.
46
Der Freihandel Amerikas
Transformation privater Schulden in
Staatsschulden (ERP) und zurück
Privat
US-Bank
$
$
US-Secretary
of Finance
Staat
KfW
Privat
DM
DM
DM
DM
$
BMF
$
USZentralbank
$
$
Bank
deutscher
Länder
DM
Unternehmen
Die Unternehmen verschuldeten sich in dem neuen deutschen Geld bei der frisch gegründeten Kreditanstalt für den Wiederaufbau (KfW). Sie mussten dort einen Antrag für ein Projekt
genehmigen lassen. Ausleihen konnte die KfW, was sie von ihrem
Eigentümer, dem Finanzminister (BMF), für die Dollarbeträge erhielt, die dieser von dem Secretary of Finance der Regierung der
Vereinigten Staaten von Amerika geliehen und der Bank deutscher Länder als Bestandteil der Währungsreserve eingeliefert
hatte. Der amerikanische Finanzminister hatte sich diese Dollar
am Ende von den Großbanken geliehen. Indirekt waren diese die
Gläubiger der deutschen Unternehmer und deren fehlende Sicherheiten wurden durch die Haftpflicht des Staates ersetzt.
ERP gewährte also 1948 Kredit nach einem Verfahren, das
dem der Weltbank heute ähnelt. Es ist ein zentraler öffentlicher
Die Verfälschung des Wettbewerbs
47
Haushalt im Grunde der Bürge des Kreditnehmers mit unzureichenden Sicherheiten.
Einzelne Bankinstitute hatten diese Überwälzung des Kreditrisikos auf sich nicht entziehen könnende Dritte, wie es die
Steuerzahler eines Landes sind, schon in der Zwischenkriegszeit
in Deutschlands erster Republik erprobt. Nach der Weltwirtschaftskrise wurde der untersicherte Kredit als wesentlich zur
Instabilität der Wirtschaft beitragendes Instrument eingeschätzt
und verboten.
Der Unterschied zu in der Gegenwart vorkommenden Krediten, die direkt an den Kreditnehmer ungeachtet seiner nur unterwertigen Sicherheiten (subprime securities) gewährt werden,
besteht in der vorab geleisteten bürgschaftsähnlichen Haftungszusage. Kredite mit unterwertigen Sicherheiten brauchen keine
vorab zu gebende Versicherung. Sie werden vergeben, wenn der
Kreditgeber „sicher“ ist, dem Kreditnachfrager dann, wenn ihm
Zahlungsunfähigkeit droht, Dritte nachträglich zu Beistand gezwungen werden können. Einer der ersten spektakulären Fälle,
war die Abwendung des Konkurses der beiden großen Bausparkassen Freddie Mac und Fannie Mae in den Vereinigten Staaten
von Amerika im Jahre 2008. Zwei Großbanken waren bedeutende Aktionäre dieser Institute. Lehman Bros. ist daran gescheitert. Goldman Sachs hat sie unbeschadet überstanden. Beide Banken unterschieden sich darin, dass die Lehman Bros. keine wesentlichen Bestände an Zero Bonds in ihrem Portfolio hatten,
während Goldman Sachs als Marktmacher dieser Papiere Einfluss auf deren Kurs nehmen konnte. Unmittelbar nach dem
Lehman Bros die Türen für immer schloss erklärte der Finanzminister seine Absicht, dass der Zusammenbruch der beiden Baus-
48
Der Freihandel Amerikas
parkassen abgewendet werde. Acht Milliarden Dollar Steuergelder sind dafür aufgewendet worden. „Gerettet“ wurden die Institute nicht wegen der vielen Arbeitsplätze, die bei einem Zusammenbruch verloren gegangen wären oder wegen der sonst vom
Untergang bedrohten Ersparnisse von Haushalten. Gerettet
wurde viel eher, weil der Marktmacher die Refinanzierung der
Haushaltsdefizite der Regierung erheblich erschweren konnte.
Denn zum untersicherten Kreditgeschäft gehören immer drei
Parteien: ein Gläubiger, ein Schuldner und einer der in Schwierigkeiten kommt, wenn er nicht dem Gläubiger die Aktiva rettet.
Das ERP schuf Sicherheit auch nur für die Wall-Street-Banken in New York und für sonst niemand. Keine Bank konnte das
für sie unauflösbare Problem der fehlenden Sicherheiten auf vergleichbare Weise lösen. Sie hätten nur zuschauen können, wie die
amerikanischen Banken sich als erste Kreditgeber ein gewaltiges
Tortenstück aus dem Kreditmarkt herausschnitten. Das Risiko
dieser Mittelstandskredite war für die Banken tatsächlich 0,00%.
Wurden die Kredite nicht wie vorgesehen getilgt, erwirtschaftete
die KfW einen Verlust. Verlor sie ihr Eigenkapital, musste der
deutsche Finanzminister es ersetzen. Selbst die Zahlungsunfähigkeit der deutschen Regierung, störte den ruhigen Schlaf der
Wall-Street-Banker nicht. Abschreiben mussten im Fall der Fälle
nicht die Bank, die den Kredit gewährt hatte. Das hätte im Finanzministerium geschehen müssen. Der Expansion des New Yorker
Finanzzentrums nach Europa hätten die europäischen und gegebenenfalls auch andere Banken nur zuschauen können, hieß es
hier eben. In der Tat hätten sie das nur, den das Geschäft blieb
unentdeckt. In den Augen der Europäer war das ERP eine reine
Staatstätigkeit. Faktisch war damit ein großer Bereich des westeuropäischen Marktes für Unternehmenskredite dem Wettbewerb auf den Finanzmärkten vollständig entzogen. Weiter unten
Die Verfälschung des Wettbewerbs
49
wird der Punkt nochmals aufgegriffen. Dies weil die US-Banken
faktisch Aktiva tauschen. Sie halten statt der dem Risiko ausgesetzten Forderungen gegen Unternehmen in Europa, Forderungen gegen zentrale öffentliche Stellen in den Vereinigten Staaten
von Amerika. Diese gelten als nicht ausfallgefährdet. Das bedeutet: Sie müssen in der Bilanz der Bank nicht als Risikoaktiva eingestellt werden und erfordern keine Deckung mit Eigenkapital,
sei es − wie früher − nach Regeln, die sich die Bank selbst gegeben
hatte oder − wie heute − wo global einheitliche Bestimmungen
durch die Bankgesetzgebung im jeweiligen Wirtschaftsraum vorgeschrieben sind.
Die Gründung der Weltbank ging ohne große Diskussionen
im Schatten der IWF-Verhandlungen über die Bühne. Wen wundert es, wenn der Sinn der Institution kein anderer ist, als der,
öffentliche Haushalte und Unternehmen, die wegen der ihnen
fehlenden Sicherheiten für Banken nicht kreditfähig sind, mit institutionell erzeugten Haftungspflichten Dritter direkt oder indirekt über den IWF oder das Finanzministerium in Washington zu
sicheren Schuldnern für Wall-Street-Banken zu machen und
keine Konkurrenz für das Finanzzentrum in New York vergleichbar zu begünstigen. Die Weltbank ist wie der IWF eine UN-Organisation. Sie besteht als Weltbankgruppe aus fünf selbständigen
Organisationen. Der Einfachheit halber beschränkt sich der Text
auf die Tätigkeit der eigentlichen Entwicklungsbank. Ihr Name
ist „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“.
(IBRD) Das erinnert daran, dass sie ursprünglich dem Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg dienen sollte.
Die Aufgabe, die sie erfüllt, ist die der KfW im ERP des Nachkriegsdeutschlands ähnlich. Die Mitgliedsländer, aber auch private Projekte planende Einzelpersonen aus diesen Ländern stellen bei der IBRD Anträge auf Fördermittel für konkrete Projekte.
50
Der Freihandel Amerikas
Sie tun es, weil die öffentlichen Stellen der Schuldnerländer nicht
fördern können. Sie verfügen über keinen Staatsschatz, auch
nicht in der Form von liquidierbaren Beteiligungen an öffentlichen Vermögenswerten. verfügen Sie haben auch keinen Kredit
bei Banken, weil Kreditbanken ohne Sicherheiten keine Kredite
gewähren.
Wie der IWF die in staatliche Verbindlichkeiten konvertierten Schulden privater Unternehmen indirekt mit dem ERP für
den Kredit der Wall-Street-Banken tauglich gemacht hat, erschloss die Weltbankgruppe die Verschuldungsneigung eigentlich nicht kreditwürdiger zentraler öffentlicher Haushalte wirtschaftlich weniger entwickelter Länder ebenso als alleiniges Geschäftsfeld für die Wall Street. Das Procedere ähnelt − wie schon
bemerkt wurde − dem ERP. Insofern stellt sich die Frage, warum
es mit ERP einen für Deutschland einen erfolgreichen Wiederaufbau gab und dies nicht überzeugend in den heutigen „aufstrebenden Märkten“ erreicht wird. Denn offensichtlich muss dort lange
suchen, wer eine Verbesserung im Sinne einer aufholenden Entwicklung entdecken will. Deren Merkmal wäre eine bessere Beschäftigung der im Lande verfügbaren Ressourcen.
Der markanteste Unterschied besteht im Umgang mit der
Fremdwährung, die durch Fördermittel in das Land gekommen
ist. Es ist die landestypische Geld- und Devisenpolitik der Empfängerländer, die über Erfolg und Scheitern entscheidet. Die
durch Kredit der Zentralbank zufließenden Devisen in der Devisenreserve können in Form von liquiden und auf Dollar lautende
Staatspapiere der Vereinigten Staaten von Amerika gehalten oder Inländern für Investitionen ausgeliehen und für Konsumvorgänge ausgegeben werden.
Die Verfälschung des Wettbewerbs
51
Solange Kredite zurückgezahlt werden müssen, können sie
durch den Verkauf der Dollar-Wertpapieren gehalten Währungsreserve beglichen werden. Für den Konsum von Importgütern
ausgegebene Fremdwährung kann nicht ein zweites Mal der Zahlung dienen. Wo sie konsumiert wurde, können die Auslandsschulden nicht mehr problemlos gelöscht werden. Für den Fall
einer Investition mit Importgütern trifft das auch immer dann zu,
wenn sie nicht den Verbindlichkeiten aus dem Kapitaldienst genügenden Überschuss entstehen ließ und entsprechend Devisen
durch Exporte rückgewonnen wurden.
Nicht erst die Bundesbank, sondern bereits die Bank deutscher Länder emittierte neues Geld nur im Gleichschritt mit erhöhten Exportüberschüssen, die von den Besatzungsmächten oder aus dem Ausland gewonnen wurden. Obwohl für die DM anfangs noch keine freie Konvertierbarkeit bestand, hätte die Bank
deutscher Länder jeden zur Einlösung in Dollar anzufordernden
Betrag ohne Probleme bedienen können. Insbesondere konnte
sie jede Rückzahlung von ERP-Krediten in Dollar erfüllen. In
heut.igen Schuldnerländern, ist das nicht zu sehen. Sie müssen
fällige Verbindlichkeiten durch expandierende Verschuldung bedienen. Das setzt eine Institution wie den IWF als Kreditgeber voraus, eine Bank könnte so nicht überleben.
Anfangs schien das für die Schuldner angenehm. Es führte
aber dazu, dass niemand mehr Sicherheiten einzusetzen bereit
war. Es ist wahrscheinlich die mit Projekten ohne Sicherheiten
mögliche Geschäftstätigkeit ein Grund, weswegen es diesen Ländern weniger tatsächliche Investoren und Unternehmer gibt, als
ie anderenorts findet. Fehlende Sicherheiten müssen dort durch
genauere Information ersetzt werden. Ernst zu nehmende Be-
52
Der Freihandel Amerikas
richte behaupten, ein Unternehmer müsse in Brasilen 80% seiner Arbeitszeit auf das Sammeln von Informationen verwenden.
Da bleibt nicht viel für seine Unternehmertätigkeit übrig.
Statt den Dollarzustrom aus Krediten in der Reserve zu halten und ihre Kreditgewährungen nur in inländischem Geld zu gewähren, gaben auch die Zentralbanken Frankreichs und Großbritanniens nach dem Kriege diese für Importe heraus und haben
sie nicht durch autonome Kapitalexporte der Zentralbank wieder
aufgefüllt. Sie hatten damit regelmäßig − so, wie es heute die
Schuldnerländer auch tun − der herrschenden Oberschicht Devisen verschafft, die für den Import von Luxusgütern verwendet
wurden. Zins und Tilgung passivierten die Leistungsbilanz und
führten zu Ziehungen auf den IWF, wenn ein Leistungsbilanzdefizit entstand. Die stark unterschiedliche Wirtschaftsentwicklung
dieser Länder findet darin eine Erklärung. Das Verhalten der Briten und Franzosen hat den Banken in der Wall Street gut gefallen.
… und wenn sie noch nicht pleite sind, gefällt es ihnen heute noch.
Die Bank für Internalen Zahlungsausgleich (BIZ) bestand am
Ende des Zweiten Weltkriegs bereits. Sie war in neutralen
Schweiz, in Basel zur Abwicklung deutscher Kriegsschulden in
der Zwischenkriegszeit gegründet worden. Heute erwecken Ökonomen zuweilen den Anschein, sie sei Zentralbank der Zentralbanken. Ein Mandat hat sie dafür nicht. Auch an den Zentralbankgeschäften mangelt es ihr. Sie ist also keineswegs der Ausleiher
letzter Instanz für Zentralbanken. Sie verwaltet allerdings (20%)
der in Gold oder Devisen bestehenden Währungsreserven von 60
Zentralbanken. Die Zentralbanken dokumentieren durch die
Hinterlegung, Haftungsmittel für im Ausland eventuell entstehende Verbindlichkeiten mindestens in dieser Höhe zu haben.
Die Verfälschung des Wettbewerbs
53
Das ist für die Beurteilung der Kreditfähigkeit der Zentralbanken
ein zuverlässiger Nachweis.
Es gibt knapp 200 Länder auf der Erde. Fast alle haben eine
Banknoten emittierende Zentralbank oder Staatsnoten zur Finanzierung öffentlicher Stellen ausgebende Staatsbank. An dem
Verhältnis lässt sich ablesen, dass auf dem Globus etwa 140 Länder keine haftungsfähigen Reserven besitzen. Sie können in einem strengen Sinne nicht als Geldwirtschaften angesehen werden. Typisch ist für sie die Zweiteilung ihrer Wirtschaft in einen
mit US-Dollar gesteuerten und einen durch staatliche Planung
mehr oder weniger konsequent gelenkten Sektor.
Annäherungsweise kann 60:140 als das Verhältnis von Gläubigerländern zu Schuldnerländern angenommen werden.
Schuldnerländer könnten für den Fall, dass im Ausland Noten aus
ihrer Währung zirkulierten, diese keineswegs fraglos einlösen,
wenn es von Ihnen verlangt wird. Diese Währungen werden daher auf Devisenmärkten nicht gehandelt. Zu einer Verschuldung
gegenüber dem Ausland fehlt ihnen die Kreditfähigkeit. Selbst
Außenhandelstransaktionen könnten diese Länder nur „Zug um
Zug“ realisieren, indem ihre Importe prompt durch Exporte ausgeglichen werden. Dabei stets auftretende technische Salden in
der Leistungsbilanz können freilich durch die Operation von Arbitrageuren einen Ausgleich finden. Wenn man so sagen will, war
diese Ländergruppe auf diese Weise vor Verschuldung und damit
auch vor einer Bewirtschaftung durch Fremde geschützt. Es
mussten erst Institutionen der „Entwicklungshilfe“ wie die Weltbank und der IWF gegründet werden, um sie durch Defizite in der
Leistungsbilanz zur Quelle für abzuleitende Überschusseinkommen umzuwandeln.
54
Der Freihandel Amerikas
Von fairem Wettbewerb konnte bei dieser Transformation
zum Schuldnerland nicht die Rede sein. Nur Banken, die auf den
Finanzminister der Vereinigten Staaten von Amerika Einfluss
durch Denkfabriken oder zum Beispiel durch den Leerverkauf
von US-Staatspapieren Chaos im öffentlichen Haushalt zentraler
Stellen erzeugen könnten, konnten es wagen, unterwertige Sicherheiten zur Grundlage einer Kreditexpansion in diese Länder
einzusetzen.
Über Jahrzehnte bestand die bedeutendste Aufgabe der BIZ
darin, die Unterstützungszahlungen zwischen den zum Beistand
verpflichteten und berechtigten Zentralbanken der verschiedenen Währungskooperationen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch Umschichtung von deren bei ihr gehaltenen Währungsreserven zu exekutieren. Nach dieser wechselvollen Geschichte ist es nun wieder ruhig geworden in dem BIZTurm vor dem Deutschen Bahnhof. Von der ihr verbliebenen Verwaltung der Währungsreserven geht wenig Hektik aus.
Das bot die Möglichkeit, dem umfangreich gewordenen Bestand an Fachkräften einen neuen Schwerpunkt zu bieten. die
ökonomische Abteilung, der Basler Ausschuss, konnte expandieren. Er ist seinem Wesen nach ein Kartell von Zentralbanken,
Großbanken und Bankenaufsichtsbehörden aus den Vereinigten
Staaten von Amerika, Europa und der über den Globus verstreuten Gruppe sonstiger Gläubigerländer. Das so zusammengestellte Gremium dient nicht zuletzt der Hochfinanz als Denkfabrik. Nach dem Selbstverständnis der BIZ sorgt sie sich um die Sicherheit des Finanzsystems. Konkret hat sie Bankensicherheit im
Focus. Der Basler Ausschuss muss bestehende Vorschriften, wie
die zur Abdeckung von Risikoaktiva an sich ändernde Anforde-
Die Verfälschung des Wettbewerbs
55
rungen anzupassen oder bei Bedarf neue Regeln für neue Probleme so entwickeln, dass einerseits die dominanten Interessen
der Großbanken in New York nicht verletzt werden. Andererseits
müssen die Regeln auch von nationalen Parlamenten mehrheitlich als erforderlich eingeschätzt werden können.
Der Ausschuss sucht insbesondere für Großbanken das übliche interne Verfahren der Bewertung von Sicherheiten so zu bestimmen, dass die Interessen der Hochfinanz respektiert werden
und dennoch den Aufsichtsbehörden der Länder mit wenig Dominanz „verdeutlicht“ werden kann: Was den amerikanischen
Großbanken guttut, kann auch für die Kreissparkassen in Mecklenburg-Vorpommern nicht schlecht sein. Erst wenn sich darauf
alle verständigen können, haben die Neuerungen eine Chance,
von den nationalen Gesetzgebern auch akzeptiert und in die nationale Bankgesetzgebung umgesetzt zu werden.
Wen wundert es, wenn es viele Jahre braucht, damit allen Beteiligten das Grundgesetz der Sicherheit im Finanzmarkt einleuchtet. Es besteht in unabänderlichen Wahrheit: Auch im Kartell gibt es Zentralbanken und Großbanken, die mehr oder weniger Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben können. Aber es gibt
heute nur noch eine planetarisch bedeutende Zentralbank, der
Banken mit „systemischer“ Bedeutung zwangsweise als Mitglieder angehören. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist noch
eine Ergänzung nötig. Nicht das Federal Reserve System (FED)
wird gezwungen, Geschäftsbanken als Mitglieder aufzunehmen.
Banken von einer bestimmten Größe an sind es. Diese Zwangsmitglieder befinden sich im New Yorker Finanzzentrum.
Es bedarf keiner besonderen Mühe, um zu verstehen, dass
der Sicherheit der Banken im Finanzzentrum des Erdballs vor ei-
56
Der Freihandel Amerikas
nem Wettbewerb unter diesen Umständen vordringliche Aufmerksamkeit genießt. Dass es die Sorge, den Freihandel zu stärken ist, kann mit gute Grund bezweifelt werden. Basel I bis Basel
IV sind das Produkt der Absprache, das jedes Institut, das eine
Bank sein will, daran hindert, die „risikofreudigen“ US-Banken
mit solide bewerteten und ausschließlich mit erstklassigen Vermögenswerten gesicherten Kreditgeschäften einem Wettbewerb
aus einem kleineren Eigenkapital heraus auszusetzen, als es den
US-Großbanken für ihre Transaktionen auch deswegen als unverzichtbar erscheint, weil die wirklich risikoreichen Geschäfte
in Hedge-Fonds ausgelagert werden, die keine Banken sind und
deswegen weder mit Eigenkapital der Bank hinterlegt werden
müssen, noch der Aufsicht unterliegen.
Die relative Größe des Eigenkapitals zu den Risikoaktiva beschränkt die Aktivitäten selbst der allergrößten US-Banken überhaupt nicht, wenn sie im Bankgeschäft wie ein Marktmacher für
die Schulddokumente des Finanzministers im großen Stil dessen
Verbindlichkeiten als Aktiva halten. Diese gelten ungeachtet der
prekären Lage der zentralen öffentlichen Haushalte der Vereinigten Staaten von Amerika nicht als Risikoaktiva und erfordern daher keine Deckung. Die diese Werte haltenden US-Banken können sie bei Bedarf im Zentralbanksystem als Sicherheit einliefern
und so fast jederzeit zu Kasse machen. Wie zuverlässig sie dies
können, hängt nicht zuletzt davon ab, welchen Einfluss sie erforderlichenfalls auf das Finanzministerium ausüben könnten. Nur
um eine Vorstellung zu gewinnen: In den beiden Amtszeiten Barak Obamas ist die Bundesschuld der Vereinigten Staaten von
Amerika um 60% gestiegen, nämlich von 60% des BIP auf fast
100%. Finanzielle Unabhängigkeit sieht anders aus.
Die Verfälschung des Wettbewerbs
57
Die gefährlicheren Aktiva können dann aus der Bilanz verschwinden. Sie wurden in der jüngsten Finanzkrise fein zergliedert zu Päckchen mit Risikoaktiva unterschiedlicher Provenienz
geschnürt und über die von den Banken finanzierten HedgeFonds dem renditebewussten Publikum ins Portfolio „beraten“.
Die Größe des Eigenkapitals wird so zur Beschränkung des
Marktzutritts für potentielle Konkurrenten und der Expansion
bereits im Markt konkurrierender Banken.
Durch den Kauf der ähnlich wie in den „aufstrebenden Märkten“ vermehrten Schulden zentraler öffentlicher Haushalte können die Banken im New Yorker Finanzzentrum indirekt den Kredit mit subprime securities auf die große Schar der Schuldner
ausweiten, die alle anderen Banken meiden müssen. Werden
dem FED SZR zugewiesen, weil ein Schuldnerland Probleme mit
der „Rettung“ der Aktiva seiner US-Gläubiger durch rechtzeitigen
Kapitaldienst hat, wird es am Geld nicht scheitern. Das Reserve
System kann keinen Dollarmangel haben. Kompensiert es das
dadurch emittierte Geldangebot mit seiner sonstigen Geldpolitik,
wird das dem Finanzminister keine Sorgen bereiten, weil die die
New Yorker Großbanken mit Zero Bonds gut versorgt sind. Sie
dienen dann als Sicherheit bei FED, tragen ihren Eigentümern
marktübliche Zinsen und füllen die Kasse. Aus dieser können
auch neue Zero Bonds erworben werden, falls ein Bedarf im Finanzministerium dadurch entsteht, dass die Transaktion zu einer nachlassenden Wirtschaftsaktivität und zu ungenügend steigenden Steuereinnahmen der Zentralregierung führt.
Vor diesem Hintergrund kann der Markt für sonst nicht kreditfähige Schuldner für die Hochfinanz in abenteuerliche Höhen
geschraubt werden. Es sind regelmäßig die öffentlichen Haus-
58
Der Freihandel Amerikas
halte von Ländern, denen eine nachholende Entwicklungsmöglichkeit nachgesagt wird, die sich im Focus der der Wall StreetBanken befinden. Bis jetzt ist aber noch kein Fall bekannt, in dem
sich ein Land ohne eigene Ersparnisse erfolgreich Investitionen
und damit ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum finanziert hat.
Tatsache ist dagegen, dass sich das aus Kapitalimport erwartete
Wachstum immer wieder als unerreichbar erweist. Brasilien ist
ein trauriges Beispiel für den Regelfall im Zwanzigsten Jahrhundert. In Meyers Lexikon von 1900 wird unter dem Stichwort die
Meinung vertreten, das Land würde schon bald den wirtschaftlichen Rang der alten europäischen Industrienationen erreichen
und diese überholen. Mindestens drei Mal gab es bisher Anläufe
dazu. Ein „take off“ ist jedes Mal unterblieben. Ähnliches kann
über Argentinien berichtet werden. Kaum zu glauben ist, dass es
das viertreichste Land auf Erden zwischen den Weltkriegen war.
Die periodische Wiederkehr der großen Finanzkrisen lässt
vermuten: Das, was Einkommen und Vermögen der betroffenen
Volkswirtschaften zerstört, muss für einen Teil der Akteure auch
Vorteile bringen. Das muss jedenfalls für die Finanzinvestoren
und den Fondsmanagern angenommen werden. Anderenfalls
sollte man annehmen, sie seien unfähig aus Schaden klug zu werden. Zwar gilt nicht grundlos die Weisheit, Dummheit schützt vor
Reichtum nicht, als empirisch abgesichert. Die Kette der periodischen Krisen braucht aber eine systematische, weniger vom Zufall abhängige Erklärung. Schadensunempfindliche und dabei außerordentlich hohe Einkommen für Finanzinvestoren der Hochfinanz sind durchaus typisch selbst für die größten Finanzkrisen.
Dieser Anreiz zur Inszenierung eines für die meisten Beteiligten
verhängnisvollen Geschehens besteht permanent. Er wird nur
gelegentlich durch Gesetzgebung im Gefolge der Krisen unter-
Die Verfälschung des Wettbewerbs
59
drückt. Früher oder später werden derartige Verbote, zum Beispiel im Namen des Freihandels, immer wieder außer Kraft gesetzt. Es geschieht mit neoklassischen und damit falschen Begründungen. Der zyklischen Regulierung der nach den Krisen
stets eingeführten gesetzlichen Hemmnisse, fehlte es ganz und
gar an einer theoretischen Begründung. Mehr oder weniger war
es ein Aktionismus, der die Handlungsfähigkeit der jeweiligen
Regierung beweisen sollte. Der Gesetzgeber beabsichtigte dann
vorgeblich, an dem Geschäft der Finanzinvestoren überhaupt
nicht beteiligte Bevölkerungsteile davor zu schützen, ohne ihr eigenes Zutun und ohne Unheil abwenden zu können, wirtschaftlich ruiniert zu werden. Die Dummheit bliebe aber der Motor der
Entwicklung. Es überzeugt die Variante die zum dummen Investor alternative Dummheit des Interventionsstaates die neoklassischen Befürworter der „freien“ Wirtschaft. Für weniger mit
Vorurteilen zufriedenzustellenden Beobachter wird die Annahme, der Gesetzgeber sei dumm, nicht mehr Überzeugungskraft haben, als die alternative Unterstellung. Beide Unterstellungen nehmen ohne guten Grund einen Zyklus‘ der Dummheit als
Konstante an. Das ist in Anlehnung an Immanuel KANT als Verharren in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu verurteilen.
Die in der europäischen Wirtschaftsgeschichte protokollierte Vielzahl dieser Krisen und der immer dabei deutliche Zusammenhang mit Aktivitäten der Hochfinanz legt eine Beurteilung dieses Krisentyps mit den Instrumenten der nominalen Theorie der Geldwirtschaft nahe. Die den Ablauf des Wirtschaftsgeschehens konterkarierenden Aktivitäten der Finanzinvestoren
stellen sich damit nicht weiter als Annäherungen an die optimale
Ressourcenallokation dar. Es wird deutlich, dass man sie auch als
Raubzüge in einem Finanzkrieg verstehen kann.
60
Der Freihandel Amerikas
Zu den beiden Südamerika-Krisen ließe sich noch die ganz
ähnlich abgelaufene Finanzkrise Ägyptens am Ende des 19. Jahrhunderts hinzufügen. Um den Sitz der Hochfinanz konkurrierten
in der Nachfolge erst Venedigs und dann Amsterdams zu der Zeit
noch Paris und London. Die endgültige Führung übernahm London als Erbe der Vorrangstellung Amsterdams vor Paris wahrscheinlich durch die Zahlungsunfähigkeit Ägyptens. Das formal
zum Osmanischen Reich gehörende, aber von − sich zuerst sogar
gegenseitig bekämpfenden − französischen und britischen Truppen besetzte Land wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts britisches Mandatsgebiet. Ägypten war bei alledem in untersicherten
Auslandsschulden so versunken, wie es die Pyramiden im Sand
der Wüste waren, ehe die Europäer sie ausgegraben hatten. Die
ägyptische Krise konnte noch nicht mit einer Institution wie dem
IWF dadurch „gelöst“ werden, dass fällige Schulden bei den Banken durch das deren Hinzutreten in noch nicht fällige Verbindlichkeiten transformiert wurden. Deswegen wurden sie als Eigentum den Banken durch eine vom britischen und französischen Staat ausgeübte Zwangsverwaltung der Finanzen Ägyptens „gerettet“ (wie es heute heißen würde). Auch in der Gegenwart fehlt es nicht an Ländern, die von einer vergleichbar schweren Krise bedroht werden. Vieles deutet darauf hin, dass die Türkei als Kandidat infrage kommt.
Der Auslöser ist, dass anfangs nicht nur für Unternehmen
plündernde Finanzinvestoren abenteuerliche Umverteilungen
des Sozialprodukts zu ihrem Vorteil auslösen, sondern auch beeindruckende Einkommenserhöhungen von im Staatsauftrag
und unmittelbar im Staatsdiensten tätigen Projektemachern und
den davon profitierenden Unternehmern über längere Zeiträume erzielt werden. Mit Bezug auf das zuerst genannte Beispiel
Brasilien lässt sich das gut beobachten. Ein Phänomen fällt bei
Die Verfälschung des Wettbewerbs
61
Besichtigung besonders auf: Viele Projekte haben eine nur kurze
Lebensdauer. Die durch Fördermittel aus Washington angeregten wirtschaftlichen Aktivitäten dauern so lange an, wie die Weltbank Dollarströme für die von ihr geförderten Projekte bis zu deren Fertigstellung in das Land lenkt. Ein steigendes Volumen von
Projekten wirkt dann wie ein Schneeballsystem belebend auf die
Wirtschaft. Es entsteht ein erfreulich erscheinender Anstieg der
Wirtschaftstätigkeit. Ist ein Projekt aber abgeschlossen und
nimmt zum Beispiel die ihm bestimmte Produktion öffentlicher
oder privater Güter auf, dann strömt, wenn dabei überhaupt Erlöse anfallen, ausschließlich inländische Währung in die Kasse.
An der heimischen Währung besteht für die in leitender Position wirkenden „Staatsdiener“ in diesen Ländern kein Mangel.
Es gilt als normal, wenn sie sich für ihre Aktivitäten bei der
Staatsbank Mittel beschaffen. Mit der inländischen Währung
kann niemand direkt Luxusgüter importieren oder auch nur auf
dem Inlandsmarkt beschaffen. Es ist auch sehr selten möglich,
auf dem regulierten Devisenmarkt Dollar zum offiziell verordneten Wechselkurs zu erhalten. Ein Schwarzmarkt deckt dort den
Bedarf nach fremden Geld. Das lässt das Interesse der Projektemacher an fertiggestellten Projekten absterben. Sie suchen mit
ihrer ganzen Energie neue Projekte, die wieder Dollar fließen lassen. So findet man zum Beispiel in Brasilien immer wieder Institutionen, die öffentliche Güter produzieren sollten und kaum,
dass ihre Bauwerke errichtet waren, aufgegeben wurden. Ihr
Schicksal war besiegelt, als die Verfügung über Devisen schaffenden Fördermaßnahmen abgeschlossen war. Sie existieren nur
noch auf dem Kunstdruckpapier der Entwicklungsberichte. Bauten, die errichtet wurden, holt sich die Natur zurück, indem sie
diese überwuchert, sofern sie nicht als Wohngelegenheiten für
Unbehauste genutzt werden können.
62
Der Freihandel Amerikas
Die Weltbank erscheint bei alle dem als sehr erfolgreiche Institution der Entwicklungshilfe. Sie kämpft seit ihrer Gründung
gegen die Armut in den wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern. Zumindest die Existenz der Weltbank ist damit gesichert.
Denn bisher geschah es ohne die Armut vermindernden Erfolg,
wie es scheint, denn soeben ist sie dabei, ein neues Programm,
das die Zahl der Menschen, die weniger als 2 Dollar pro Tag zu
ihrer Verfügung haben, nunmehr bis 2030 wesentlich zu reduzieren, geeignet sein soll. An Projekten besteht anscheinend kein
Mangel. Von deutschen Entwicklungshilfe-Organisationen hört
man Anderes: Es ist danach unmöglich das Geld, das für diesen
Zweck in Deutschland bereitsteht, vollständig auszugeben, weil
es an Erfolg versprechenden Projekten fehlt.
Ohne oder ohne gute Sicherheiten leihen zu können, ist dessen ungeachtet eine starke Versuchung für die Regierungen der
Länder mit „aufstrebenden Märkten“. Die Projektemacher sind
sich ihrer Lage dabei sehr wohl bewusst: Sie sind auch sicher,
dass nicht sie, sondern andere durch institutionelle Gewalt gezwungen werden können, für ihre vergeudeten Verbindlichkeiten aufzukommen. Von der Last betroffen ist vor allen Dingen die
Bevölkerung dieser Schuldnerländer. Sie müssen über Steuern
und Abgaben für das aufkommen, was das Leben in der Oberschicht der Gesellschaft angenehm macht.
So hart dies für die betroffene Bevölkerung auch sein mag,
wird dadurch keine Entschuldung erreicht. Erstaunlich ist, wie
selten das Interesse an der Aufdeckung des Grundes besteht,
weswegen, statt einer Entschuldung eine permanente Steigerung
der Schulden dieser „aufstrebenden Märkte“ registriert wird.
Was bedeutet es, wenn der IWF und die Weltbank darauf hinweisen, dass sie in den sieben Jahrzehnten ihres Bestehens keine
Die Verfälschung des Wettbewerbs
63
Forderungen abschreiben mussten. Infolgedessen haben auch
die Wall-Street-Banken den Kapitaldienst vollständig geleistet
bekommen. Es heißt jedoch nicht, dass die Verträge von ihren
Schuldnern ordnungsgemäß durch Tilgung erfüllt worden sind.
Weit eher muss es so verstanden werden, dass die Nettoeinzahler des IWF durch Zuweisung von Sonderziehungsrechten ihre
Währungsreserven mehr und mehr in SZR transformiert haben,
um dem IWF die Möglichkeit zu schaffen, die Zuteilung von SZR
zum Ausgleich der Leistungsbilanzdefizite der Schuldnerländer
realisieren zu können. Es müssen in den Bilanzen der Zentralbanken der Gläubigerländer entsprechend die SZR-Bestände
mindestens so schnell wie die Schulden dieser Länder wachsen.
Jede fällig werdende Forderung gegen die Schuldnerländer muss
in eine noch nicht fällige reibungslos durch weiter expandierende Verschuldung überführt werden. Irgendwann endet dies
aber. Jede Umschuldung erhöht die zu zahlenden Zinsen. Die
Zinseinnahmen der New Yorker Großbanken aus Überbrückungskrediten oder aus den Kreditierungen des Finanzministeriums steigen mit. Spätestens aber, wenn die Zinsen den gesamten Exporterlös verschlingen, wird es selbst der Weltbank
schwerfallen, weiteren Kredit als eine Lösung anbieten zu können.
SZR gelten heute noch als besonders sichere Vermögenswerte. Schuldner ist − wie weiter oben zu lesen war − nicht ein
den Kredit erhaltendes Schuldnerland. Schuldner ist der IWF.
Über die Qualität einer Bank entscheiden in letzter Instanz aber
ihre Aktiva. Keine Bank ist sicherer, als es ihre Forderungen sind.
SZR sind aber nur so lange sicher, wie die Gläubigernationen im
IWF immer mehr Devisen für zugewiesene SZR einzahlen können. Devisen lassen sich jedoch − anders als das elastische SZRAngebot − nur durch Exportüberschüsse vermehren.
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Der Freihandel Amerikas
Rein buchhalterisch entsteht daraus ein Dilemma. Die Voraussetzung, dafür, dass den Überschussländern weitere SZR zugeteilt werden können, ist − weil Kapitalexport in der Zahlungsbilanz dem Exportüberschuss gleicht − ein weiterhin bestehender Exportüberschuss. Unter den Mitgliedern des IWF können
aber nicht alle einen Exportüberschuss haben. Die Überschüsse
der Einen sind, wenn eins und eins zwei bleibt, die Defizite der
Anderen. Die Schuldnerländer müssen Schuldner bleiben, um in
der Gegenwart weiter ihre Schulden expandieren zu können. Genau das ist es auch, was geschieht und dem Finanzzentrum in
New York Freude bereitet. Die Entschuldung aller Schuldner ist
für Banken ganz allgemein ein Horrorszenarium. Die Entschuldung der mit untersicherten Krediten ausschließlich von den
Wall-Street-Banken einer lohnenden und nahezu risikofreien Bewirtschaftung zu unterwerfenden „aufstrebenden Märkte“ wäre
für dieses Finanzzentrum eine Katastrophe. Die dort sitzenden
Banken müssten sich dem Wettbewerb stellen, weil sie den nur
ihnen zugänglichen Markt für untersicherte Kredite verlören.
Gute Menschen hoffen das, aber auch sie müssen es wohl kaum
befürchten. Vieles wird sich in der Zukunft ändern, aber so lange
Geldwirtschaft besteht, wird es Gläubiger und Schuldner geben.
So wie die planetarische Wirtschaft durch die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg geordnet wurde,
gibt es nur wenig Anzeichen dafür, dass die Schuldner von heute
nicht auch die von morgen sein werden. Vorerst gibt es keinen
Grund, die Hindernisse eines reibungslosen Ablaufs der so geordneten Wirtschaft nicht weiter zu beleuchten.
Ein unüberbrückbarer Mangel an Dollar wird so schnell
nicht eintreten. Die SZR akkumulierenden Zentralbanken der
Überschussländer neben den gestiegenen SZR noch andere Devisen in der Währungsreserve. Zumindest vorläufig muss in dem
Die Verfälschung des Wettbewerbs
65
Fall, dass die Schuldnerländer weiter ihre Defizite expandieren,
nicht mehr als ein Beschluss im IWF herbeigeführt werden, der
die Ziehungsrechte der Mitglieder erhöht. An Antragstellern und
an der für diesen Beschluss nötigen Stimmen wird es im Gouverneursrat nicht fehlen. Dem Wunsch, durch Beschluss neue SZR zu
schaffen und nach dem Schlüssel der Kapitalanteile auf die Mitglieder des IWF zu verteilen, findet stets die 85% Mehrheit.
Es ist auch möglich, dass die Gläubigerländer zur Kenntnis
nehmen, dass der derzeitige Stand der Zahlungsbilanzen längst
Güter von den Gläubigern zu den Schuldnern umverteilt. Damit
würden sie wahrnehmen, dass sich selbst dann nichts für sie verschlechterte, wenn sie ihre nicht ausgenutzten Ziehungsrechte
unter die Schuldnerländer verteilten.
Um das weiter und weiter fortsetzen zu können, ist erforderlich, dass die Nettogläubiger des IWF die Devisenbestände in ihrer Währungsreserve, die nicht in SZR bestehen, immer wieder
durch Kapitalexport ergänzen müssen. Sie fragen dazu gewöhnlich auf Dollar lautende Zero-Bonds des Finanzministeriums der
Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Rentenmarkt nach. Angeboten werden diese unter Umständen im Zuge einer Versteigerung vom Finanzministerium oder von den Banken im Finanzzentrum der Vereinigten Staaten von Amerika. Den Anbietern
strömt dabei Dollar-Liquidität zu, die Hand in Hand zu der entsprechend steigenden Verbindlichkeit der Schuldnerländer pari
passu wachsende Exporte aus den Gläubigernationen in die
Schuldnernationen lenkt. In den Gläubigerländern stellt sich das
als eine Verminderung der Konsummöglichkeiten der Inlandsbevölkerung durch in der Währungsreserve gehortete Zwangsersparnisse dar. Wahrgenommen wird das spätestens, wenn verantwortungsvoll handeln wollende Zentralbanken die Erhöhung
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Der Freihandel Amerikas
ihrer Geldmenge zum Ankauf von Devisen durch kompensierende Einschränkungen bei ihren Geldmarktgeschäften ausgleichen.
Nur scheinbar besser ist es für die Großbanken in New York,
wenn die Gläubigerländer anfangen, die Mittel zum Erwerben
der zugeteilten SZR zu leihen. Sie ersetzen dann Exportüberschüsse durch Kapitalimporte, das heißt: durch den Verkauf von
Vermögenswerten an Fremde, wie man nicht aufhören sollte,
statt „Kapitalimport“ zu sagen. Im New Yorker Finanzzentrum
würde der Vermögensbestand zunehmen, aber die konsumierbare und investierbare Gütermenge abnehmen. Die Wall-StreetBanken würden damit Ersparnisse in den Vereinigten Staaten
von Amerika durch Konsumverzicht erzwingen und entsprechend bewirken, dass ein in Gütermengen ausdrückbares Leistungsbilanzdefizit sich in Richtung auf das Gleichgewicht vermindert. Das hätten die Amerikaner auch ohne IWF und Weltbank gekonnt. Es ist mutig anzunehmen, dass daran ein Interesse
in dem führenden Wirtschaftsraum des Planeten Erde besteht.
Realistisch ist es nicht. Die Institutionen zur Ordnung der planetarischen Wirtschaft sind auf Umverteilung ausgerichtet nicht
auf einen Zahlungsbilanzausgleich, wie er sich aus funktionstüchtigem Wettbewerb ergäbe.
Wo der SZR-Zufluss in den Schuldnerländern temporär unzureichend ist, können diese auf der Grundlage von beim IWF
zwar beschlossenen, aber noch nicht ausgezahlten SZR, überbrückende Kredite erhalten. SZR-Ansprüche wirken bei Wall-StreetBanken, die Einfluss auf das Finanzministerium haben, aber auch
nur bei diesen, so als hätten die Schuldnerländer erstklassige Sicherheiten in den Händen. Dies aber nur so lange, wie eine weitere Akkumulation von SZR in den Währungsreserven möglich
Die Verfälschung des Wettbewerbs
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ist. Nach ernst zu nehmenden Schätzungen ist dieser Direktkredit gewöhnlich um ein Vielfaches höher als ihre noch nicht ausgenutzten Ziehungsrechte bei dem IWF. Das langwierige Verfahren der Leistungsbilanzdefizitfinanzierung hat dadurch sicher
keine Beschleunigung erfahren. Es ist zum Geschäftsfeld der Wall
Street geworden. Damit gilt: Je länger. Je lieber. Selbstverständlich treffen die dort aktiven US-Banken auf keinen Wettbewerb
von Kreditinstituten aus anderen Ländern.
Banken, die nicht einen ausreichenden Einfluss auf den, die
Geschäfte der Weltbank und des IWF in letzter Instanz mit seinem privilegierten Stimmrecht bestimmenden Finanzminister
der Vereinigten Staaten von Amerika haben, die Expansion ihres
Kreditgeschäftes auf Ausleiher ohne gute Sicherheiten unmöglich. Wer annimmt, die Banken im New Yorker Finanzzentrum
wollten unter diesen Umständen ihre Dienstleistungen im Wettbewerb, also des Freihandels im naiven Sinne aussetzen, hat sich
sicher geirrt.
Die Bevölkerung der Länder, aus denen die Güter kommen,
die nominal in den Salden der akkumulierten Schulden ausgedrückt werden, könnte insgeheim in die Umverteilung einwilligen, weil sie diese als eine ausgleichende Gerechtigkeit für das,
den heutigen Schuldnerländern in der Kolonialzeit zugefügte
Leid auffassen. Überzeugend wäre dies nicht. Es gibt keine erkennbaren Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß erlittener
Leiden und der Verteilung der vom Defizit gesteuerten Gütermengen. Vor allem ist das bedeutendste Defizit das der Vereinigten Staaten von Amerika, das die Zinseinnahmen der Eigentümer
New Yorker Großbanken darstellt, die kaum die richtige Adresse
für Spenden sind.
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Gleichgültig könnten die Menschen in den Exportüberschussländern vielleicht sein, wenn irgendwann eine Rückzahlung, vielleicht gar mit Zinsen ihnen die entführten Güter zurückbrächte. Das ist aber nicht zu erwarten. Nur der ununterbrochene Zustrom eines ausreichenden Nettokredits verschleiert
die vielfach bereits aus einer Überschuldung entstandene Zahlungsunfähigkeit. Ohne beim IWF den für die Wall-Street-Hochfinanz fraglos in Szene zu setzenden Beistand, spräche jeder aufmerksame Beobachter von Konkursverschleppung, wie es der
für Finanzen zuständige Redakteur der FAZ Gerald Braunberger
bereits mit Bezug auf Griechenland getan hat.
Zum Abschluss sei noch darauf hingewiesen: Die Möglichkeit
Schuldner mit schlechten Sicherheiten einzusetzen, um ihnen zu
Beistand verpflichten erstklassige Schuldner zu bewirtschaften,
ist nicht auf Entwicklungsländer beschränkt. Die Chance dazu besteht überall, wo wirtschaftlich unterschiedlich leistungsstarke
Länder sich auf eine Weise verbinden, die ihnen Beistandspflichten entstehen lassen. IWF und Weltbank sind die herausragenden und permanent geeigneten Institutionen für die fremde Kassen leerenden Feldzüge im Finanzkrieg der Hochfinanz New
Yorks gegen die amerikanische Gesellschaft und den Rest der
Welt. Streng betrachtet können das nur Insider wissen. Was aber
jeder, der es will, sehen kann, sind die Organisationsstrukturen
der Weltbankgruppe, des IWF, des Finanzministeriums und des
Zentralbanksystems. Daraus lassen sich die Personen bestimmen, die Entscheidungen vorbereiten und Informationen brauchen, die „Denkfabriken“ des Finanzzentrums liefern und damit
den Bemühungen in den öffentlichen Haushalten von Anfang an
eine Richtung geben können, die externen Interessen folgt. Sogar
die Themen sind möglicherweise nicht aus dem Parlament oder
der Regierung in die Ministerien gelangt. PR-Kampagnen liefern
Die Verfälschung des Wettbewerbs
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sie oft diesen ins Haus. Ob sich die öffentlichen Haushalte mehr
oder weniger verschulden sollen, gehört ganz sicher zu diesen
extern oft zyklisch loszutretenden Themen. Was ein Ministerium
tun muss, kann oder sollte, wissen die Akteure im Finanzzentrum
New Yorks auf diese Weise naturgemäß früher als der Minister.
Er wird sich gerne den richtigen Weg mit „neutralen Gutachten“
zeigen lassen. Am Ende wird er sogar glauben. Es wären seine
Ideen, die das Ministerium bewegen.
Sehr wahrscheinlich werden öffentliche Stellen heute viel
mehr durch extern erarbeitete Informationen als durch die traditionelle Weise, finanziellen Druck zu erzeugen, gelenkt.
Daneben schafft sich aber das Finanzzentrum in der Wall
Street auch vorübergehende Chancen und erweitert sich, analog
zu dem hier beispielhaft skizzierten Vorgehen, mit dem Wettbewerb nicht ausgesetzten Expansionen sein Kreditgeschäft dauerhaft auf Kosten Dritter. Hierzu muss untersucht werden, wo Haftungsmöglichkeiten von Gläubigern kreiert werden können.
Niemand hätte Griechenland Kredit in dem Maß gewährt,
wie es eine offenbar ihre Einflussmöglichkeiten richtig einschätzende New Yorker Bank getan hat. Sie war sich sogar sicher, dass
das Land Mitglied im Eurosystem werden würde, als der deutsche Finanzminister das noch vollkommen ausschloss. Was
konnte diese Bank wissen, was der Hüter der deutschen Steuerkasse nicht wusste?
Feststellen kann jeder Beobachter auch, dass das Problem
Griechenlands in der Wahrnehmung vom Syrienkrieg und dem
Flüchtlingsstrom verdrängt aber sonst nicht vermindert wurde.
Etwas hat sich jedoch verändert. Der Gläubiger der meisten nach
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Der Freihandel Amerikas
wie vor hochgefährdeten und mit keinen erstrangigen Sicherheiten vom Schuldnerland gedeckten Schulden sind nicht mehr eine
Bank und von ihr finanzierte Hedge-Fonds. Eigentümer sind öffentlichen Haushalte der Überschussländer in der Euro-Zone.
Zu hoffen ist, der Leser kann nach diesen wenigen Seiten bereits verstehen, wie die hier behandelten Institutionen als eine
Gesamtheit zusammenwirken. Er sähe dann, wie es dem Finanzzentrum in den Vereinigten Staaten von Amerika gelingen kann,
mit dieser vor Wettbewerb schützenden Infrastruktur, die Naturressourcen und die Arbeitsleistungen grenzenlos auf dem
Erdball einer Bewirtschaftung zu unterwerfen, die immer mehr
und immer größere Anteile des Sozialprodukts ableiten könnte.
Unterstellt, die Banken in New York sähen dies auch und verhielten sich so. Dann werden sich viele freuen, dass ausgerechnet in
Deutschland, wo der Finanzminister eine Schlacht um die griechischen Schulden verloren hat, hohe Beschäftigtenzahlen festgestellt werden können. Es wird auch stolz darauf verwiesen,
dass das Einkommen nach einer längeren Phase der Verminderung wieder steigt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Zu Freude gibt beides aber keinen Anlass. Nie zuvor haben,
worauf Dr. Ulf HEINSOHN mich schon vor Jahren in einem Gespräch aufmerksam gemacht hat, in Deutschland so viel Selbständige und unselbständig Beschäftigte, arbeiten müssen, um ihren
bereits erreichten Lebensstandard weiter aufrecht erhalten zu
können. Es steigt in der Tat das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Bei
dem Jubel darüber wird aber übersehen, wessen Einkommen
steigt. Als Folge der Bewirtschaftung durch Fremde fließen immer größere Anteile des Inlandsproduktes über öffentliche Ausgaben an Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt nicht im Inland
Die Verfälschung des Wettbewerbs
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haben. Es steigt das Inlandseinkommen BIP aber nicht das Inländereinkommen. Die Eigentümer der Wall-Street-Banken sind es,
die den mit Steuern und Gebühren in Europa abgeschöpften Zuwachs des „Volkseinkommens“ als Bewirtschaftungsüberschuss
realisieren. Sie erhalten ihn in der Form von außerordentlich hohen Zinsen aus risikoreich nur erscheinenden Bankgeschäften.
Aus Zinsen also, die nur aus Übertragungen aus zum Beistand
zwingbaren Ländern gezahlt werden können. Gespeist werden
diese Transfereinkommen und der dazu nötige Liquiditätszustrom durch Übertragungen an die Weltbank und den IWF. Diese
bekämpfen nach ihrer Behauptung die Armut auf dem Erdball. Es
ist schwer zu glauben, dass bei Kenntnis der Sachverhalte aus
erster Hand jemand entgehen kann, was dort geschieht. Wenn jemand der sich professionell mit den Vorgängen in diesen Institutionen befasst, nicht sieht, dass eine Gruppe von Banken sich
diese allseits als wohltätig angesehenen Institutionen mit einem
komplexen Netz von durch Verschuldung geschaffenen Abhängigkeiten und Einflussmöglichkeiten unterwerfen kann, dann
muss die Theorie, die diese Einsichten nicht zur Erfahrung werden lässt, die Neoklassik sein.
Nur ein Neoklassiker kann die Gutachten, die in von der
Hochfinanz finanzierten „Denkfabriken“ entstehen, als ein Ringen um Aufklärung ansehen. Sie bezeichnen damit als optimale
Ressourcenallokation, was in den Augen eines die Gleichgewichtsbedingungen des Modells anders bestimmender Beobachters mit gleichem Recht auch als Raub bezeichnet werden kann.
Sie munitionieren nichts investierende Finanzinvestoren mit
Propagandalehren von der angeblich marktgesteuerten „freien
Wirtschaft“, während sich diese hinter den Wettbewerb verfälschenden Institutionen verschanzen und sich jedem Wettbewerb
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Der Freihandel Amerikas
entziehen. Der Markt, dessen Walten sie nur zu exekutieren behaupten, trifft gar keine Entscheidungen. Entschieden wird von
den Akteuren auf Märkten, und zwar mit einer als Naturgesetz
maskierten, durch verfälschten Wettbewerb institutionalisierten
Gewalt. Sie erlaubt ihnen, sich in dem Gefühl des Gerechten zu
sonnen und dabei die Wirtschaft rund um den Globus zu ruinieren. Sie tun es mit Ausschüttungen von Scheingewinnen aus Disinvestitionen des in Jahrzehnten gewachsenen Eigenkapitals der
in ihrer Obhut befindlichen Unternehmen. Sie wandeln vor den
von der Neoklassik getrübten Augen der Schulökonomen öffentliche Vermögen in privaten Reichtum. Es geschieht, indem sie
Szenarien im Rahmen bestehender institutioneller Strukturen
nutzen, um Verpflichtungen zu Beistand oder Mithaftung gegenüber andernfalls unmittelbar zahlungsunfähig werdenden
Schuldnern konstruieren. Dies geschieht zur Überraschung der
damit konfrontierten Gläubigerländer, die sich durch die Verträge vor solchen Forderungen geschützt glauben. Plötzlich liest
man die Verträge anders und findet in der Tat, das in ihnen derartige Pflichten für den Ausnahmefall durchaus von einer die
Weisheit des Marktes exekutierenden Macht vorsorglich in den
Text eingefügt wurde. Während die öffentlich Meinung sich über
angebliche Vertragsbrüche aufplustert, verhandeln die Banken
mit den Gläubigerländern längst über die Höhe der herauszupressenden Haftungsmittel für die Überwindung einer von ihnen
selbst herbeigeführten Zahlungsunfähigkeit eines Schuldnerlandes. In der Öffentlichkeit predigen sie weiter „Freihandel“, transferieren aber die geretteten Aktiva in öffentliche Haushalte, damit ein Klingeln der Kasse im Schuldnerland den verbliebenen
privaten Gläubigern Erlösung für den nächsten Fälligkeitstermin
signalisiert.
Die Verfälschung des Wettbewerbs
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Der Triumpf des Unanständigen wird vielleicht erneut unentdeckt bleiben. Die Regierungen der abkassierten Länder gießen Baldrian in alle Nachrichtenkanäle. Sie besänftigen die Empörten, indem sie ihnen eine gerade moderne Datenbrille auf die
Nase setzen. Dann kann die weitsichtige Regierung in Bund, Ländern und Gemeinden ihr Handeln − vielleicht mit einer in Wolfsburg erprobten Software − besser verdeutlichen. Jeder, der nicht
Wutbürger, also ein Dummkopf, den man in die rechte Ecke stellen muss, bleiben will, wird bei diesen Aussichten schon bald
wieder blind sein für die unüberwindliche und daher unfaire
Wettbewerbsverfälschung, die die komplementären Aktivitäten
zur Rückgewinnung von Wettbewerb auf einem höheren Niveau
dauerhaft unterbindet. Eine Wahrnehmung davon kommt nicht
mehr auf. Behinderungen des Außenwirtschaftsverkehrs ergeben sich endlich wieder nur aus Zöllen und eventuell aus nationalen Vorschriften, die die bei der Herstellung der Produkte verwendeten Ressourcen und deren Verarbeitung zu Gütern und
Dienstleistungen betreffen. Wer ein Verbot, das Wachstum von
Rindern mit Hormonen zu beschleunigen, fordert, ist ein Handelsbeschränkungen befürwortender Merkantilist und gibt sich
damit als rückständiger Anhänger überlieferter Irrtümer zu erkennen.
Wer „Chlorhähnchen“ und „Hormonrinder“ nicht essen will,
kann ja auf genetisch veränderten Mais und Soja zurückgreifen.
Ausweichen kann diesen dann bald überall enthaltenen Grundnahrungsmitteln ohnehin niemand. Noch finden diese Lebensmittel in der sogenannten öffentlichen Meinung große Beachtung. Diese Posten sind tatsächlich nicht unbedeutend in den
Handelsbilanzen der Länder der Europäischen Union mit den
Vereinigten Staaten von Amerika. Sie werden aber von den
Transaktionen in den Dienstleistungsbilanzen, vor allem durch
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Der Freihandel Amerikas
Aktivitäten von Banken und Versicherungen bei weitem übertroffen. Sie sind im Namen des amerikanischen Freihandels eine
Konstante. Die Schulökonomik konnte und kann sie aber nicht
sehen. Beim Publikum fanden sie deswegen nie eine angemessene Beachtung. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika Freihandel für Dienstleistungen einfordern, denken viele Zeitgenossen an Friseure, Zimmermädchen und Kellner in Hotels, die sie in
den Urlaubswochen genießen. Was tatsächlich von den Vereinigten Staaten von Amerika gefordert wird, ist nichts weniger als
das. Nicht stattfinden sollen staatliche Eingriffsakte in den Bankensektor. Verhindert werden soll in diesen Ländern auch die Direktfinanzierung öffentlicher Stellen durch die Zentralbank. Das
ist eigentlich auch richtig. Nur profitieren ohne funktionstüchtigen Wettbewerb die diese Grundsätze respektierenden Länder
nicht davon. Sie wenden sich nur vom Inflationsteufel ab, um vom
Verschuldungsbeelzebub bewirtschaftet zu werden. Die „gute“
Politik macht die Schuldnerländer noch abhängiger vom IWF und
damit von Wall-Street-Banken.
Beachtet werden sollte auch, dass die Gläubigerländer neues
Geld in die Zirkulation bringen, wenn sie SZR zugeteilt bekommen. Auch, wenn die quantitätstheoretischen Zusammenhänge
zurzeit nicht hoch im Kurs stehen, sollten sie als Möglichkeit
nicht ganz übersehen werden. Bliebe die externe Neuemission
unkompensiert durch interne Minderemission, erfüllte sich auch
ein Ziel der Zentralbankpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Währung des SZR in seiner Währungsreserve akkumulierenden Landes, würde abgewertet und erlaubte die Dollarwährung weiter zu verwässern, ohne ihre Dominanz als Leitwährung zu gefährden. Die SZR Zuweisung leistet dann einen „Stabilitätsgewinn“ für die durch die öffentliche Verschuldung permanent in Abwertungsgefahr befindliche US-Währung.
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Wachsender Wohlstand ergibt sich nur aus den Chancen eines steigenden Vermögens einer sich entwickelnden Wirtschaft.
Wer Schulden macht, verkauft − anders als es das Wort Kapitalimport suggeriert − Vermögenswerte an Fremde. Häufig geschieht es in Gestalt noch nicht fälliger Staatspapiere. Im günstigsten der denkbaren Fälle führt das auf ein +/- Nullergebnis.
Dann nämlich, wenn die Verschuldung vollkommen der Import
substituierenden oder Export steigernden Investition diente. Das
Nullprodukt ist auch das Ergebnis einer Nullproduktion. Da, wer
nichts tut, auch keine Fehler macht, wäre bei funktionstüchtigem
Wettbewerb der Produktion eines Nullproduktes mit Schulden
das Nichtstun gewiss vorzuziehen.
Dennoch kann genau das Gegenteil in den Schuldnerländern
beobachtet werden. Das ist so, weil die Kosten der Verschuldung
unter den bestehenden Bedingungen des „real existierenden“
Wettbewerbs nicht von denen getragen werden müssen, die den
Ertrag aus der Realisierung erhalten. Während die Devisen aus
den Projekten der Oberschicht das süße Leben ermöglicht, ist es
die Masse der Steuern und Gebühren entrichtenden Bevölkerung, auf die die Lasten bis zur Grenze ihrer Schulden-Tragfähigkeit überwälzt werden. Der Anteil, der ihnen nicht auferlegt werden kann, weil Lastenerhöhungen über eine zwar nicht im Voraus zu erkennende, aber existierende Grenze hinaus die Gesellschaft destabilisierte. Die „gute Regierungstätigkeit“ liefert der
Politik des Schuldnerlandes die moralische Aufrüstung, dicht an
diesen Grenzwert heranzukommen.
Überzeugender wäre freilich die Einforderung „guter Regierungstätigkeit“ bei Kreditexpansionen in den Schuldnerländern,
wenn auch das US-Zentralbanksystem keine als Refinanzierungen von Vermögenswerten verkleidete Direktfinanzierung des
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Der Freihandel Amerikas
amerikanischen Finanzhaushalts ausführte. Es könnte so der
Geldschwemme ein Ende gesetzt werden, die die Fortführung
des „westlichen“ Wirtschaftssystems als Geldwirtschaft inzwischen ernsthaft bedroht. So aber verstärkt sich der erwähnte Eindruck, mit TTIP solle die Abhängigkeit von den amerikanischen
„Freihandelsinstitutionen“ und somit von den Wall-Street-Banken gesteigert werden.
Der Anspruch, den IWF und Weltbank erheben, nämlich die
Wohlfahrt ihrer Mitgliedsländer durch Schulden steigern zu können, kann nicht erfüllt werden. Tatsächlich aber führen sie die
Wirtschaft der von ihnen betreuten Länder, die mit gutem Grund
keinen Kredit haben, in eine Abhängigkeit zu US-Banken durch
Verschuldung. Die inländische Ersparnis wird durch den Kapitaldienst an Fremde aufgezehrt und damit muss das inländische
Wachstum der Wirtschaft früher oder später gegen Null sinken.
Alles, was wächst, gehört Fremden. Alle Überschüsse gehen an
die Wall-Street-Banken. Ohne die institutionelle Verfälschung
des Wettbewerbs durch IWF und Weltbank wäre das nicht möglich geworden. Die beiden Institutionen sind nichts anderes als
die Instrumente des New Yorker Finanzzentrums.
Man möchte in Anlehnung an Umberto ECO zum Stichwort
TTIP sagen: Der Name des Freihandels ist nicht der Freihandel.
6. Literatur
U. ECO, Der Name der Rose, München: Hanser, 1962 (letzter Satz).
T. FRANK, Listen Liberal, Or What Ever Happened to the Party of the People, Henry Holt & Co., McMillan, 2015
D. RICARDO, On the Principles of Political Economy and Taxation (1817,
18213), The Works and Correspondence of David Ricardo, Vol. I, P.
Sraffa (ed.), Cambridge: University Press, 1951. Ch. 7.
J. B. SAY, Traité d’ économie politique, (1803), H. Say, ed., Paris : Guillaumin, 1841.
A. SMITH, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, London: George Routledge & Sons, 1908.
H-J. STADERMANN, Der stabile Euro und seine Feinde, Marburg: Metropolis, 2014.
A. R. J. TURGOT, Réflexions sur la formation & la distribution des richesses,
Paris: Lacomdi, 1769.
L. WALRAS, Éléments d'économie politique pure ou théorie de la richesse
sociale. Lausanne: Corbaz et al. 1874
78
100 Deutsche Mark, Serie I, 1948,
Quelle BBk, Foto HJS