RIRA 2017 - Richterratschlag

Kritische Berufspraxis:
Alte Erfahrungen – neue Wege
Der gesellschaftliche Aufbruch Ende der 60er Jahre kam
etwas verspätet in den 80er Jahren auch in der Justiz
an. So wurde der Richterratschlag als Alternative zur
immer noch vorherrschenden konservativ-obrigkeitsstaatlichen Justizkultur der späten 1 970er Jahre gegründet. Dort fanden sich andere Menschen und andere Themen. Und es ging dort auch darum, Distanz zum
Tagesgeschäft zu gewinnen, so dass ein kritischer Abgleich mit den eigenen politischen und moralischen
Überzeugungen möglich wurde. Im besten Falle mündete das in eine andere Berufspraxis, in der Menschen
wie Paragrafen gleichermaßen bedeutend waren.
Inzwischen sind einige der Forderungen von damals
umgesetzt, andere in Vergessenheit geraten. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, sich wieder neu mit der
Frage zu befassen, was dieser kritische Abgleich unserer
Berufspraxis heute ergibt. Braucht man im Jahre 201 7
eine kritische Berufspraxis überhaupt noch? Wenn ja:
Wie könnte sie aussehen? Wie genau unterscheidet sie
sich eigentlich von dem, was wir heute im Berufsalltag
als Normalität erleben?
Ihre politischen und moralischen Überzeugungen sind
der Antrieb all derjenigen streitbaren Juristinnen und
Juristen gewesen, die die Andere Tradition im Recht in
den letzten 200 Jahren geprägt haben. Aber eine kritische Tradition kann nur bestehen, wenn stets neu bestimmt wird, was zur Tradierung notwendig gehört,
was ausgeschieden werden kann, was hinzukommen
soll. Wir wollen deshalb den Blick wandern lassen. Historisch: Was hat sich im Berufsalltag verändert in den
letzten 40 Jahren seit dem Deutschen Herbst 1 977?
Und praktisch: Welche Fragen stellen sich ewig, was
spielt heute keine Rolle mehr? Wo brauchen wir neue
Antworten und wo können wir kaum das Problem benennen? Von dem „Treffen der Generationen" erhoffen wir uns Austausch, Anregung und Ermutigung. Wir
möchten daher insbesondere junge Kolleg*innen ansprechen, die noch nie auf einem Richterratschlag waren.
Bildnachweise:
Cover: Spc. Stephanie Ramirez via flickr
Old Bailey: Ben Sutherland via flickr
Kritische Berufspraxis:
Alte Erfahrungen – neue Wege
Programm
Der Vortrag am Freitag:
„Die Andere Tradition" , Prof. Dr. Jörg Requate,
Uni Kassel, Autor von „Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz"
43.
Richterratschlag
3. ­ 5. November 2017 in Rastatt
Die AGs am Samstag:
1 . Kritische Geschichte(n): Justiz und Gesellschaft
seit 1 879
2. Kritisch leben I: Politische Richter*innen und
Staatsanwält*innen?
3. Kritisch leben II: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt? – Konflikt und Anpassung in der Justiz
4. Kritisch (ver)handeln I: Wie viel Wirklichkeit
verträgt das Verfahren?
5. Kritisch (ver)handeln II: Wie viel Recht verträgt
das Verfahren?
6. Blackbox
Der Abschluss am Sonntag:
• Berichte aus den Arbeitsgemeinschaften
• Couchgespräch: Lebenswege in der Justiz
Und sonst?
• Sonderführung Erinnerungsstätte Freiheitsbewegungen
• Party
• Überraschungen
Praktische Infos:
• 3. bis 5. November 201 7 in Rastatt/BadenWürttemberg
• Kontakt: Frank Bleckmann,
orgateam201 [email protected]
• Demnächst mehr auf richterratschlag.de
Kritische Berufspraxis:
Alte Erfahrungen – neue
Wege
Die Arbeisgemeinschaften am Samstag
3. Kritisch leben II: Wer sich nicht wehrt, lebt ver­
kehrt? – Konflikt und Anpassung in der Justiz
1. Kritische Geschichte(n): Justiz und Gesellschaft
seit 1879
Das deutsche Justizsystem ist von zwei gegenläufigen
Prinzipien geprägt: Einerseits von der verfassungsrechtlich
garantierten und im Einzelfall weitgehend respektierten
richterlichen Unabhängigkeit, andererseits von einer
strukturellen Hierarchie durch das Weisungsrecht innerhalb und gegenüber der Staatsanwaltschaft, durch die
Dominanz der Exekutive in Richterauswahl und -beförderung sowie durch das Beurteilungswesen.
Wie positioniere ich mich in diesem Spannungsfeld? Wie
verändert sich meine Position im Laufe meiner beruflichen Entwicklung? Welchen Konflikten – auch im Alltag –
stelle ich mich, welchen nicht? Und welche Rolle spielen
dabei die Berufsverbände?
Seit den Reichsjustizgesetzen 1 879 hat sich an der Organisationsstruktur und den grundsätzlichen Arbeitsabläufen in den Gerichten nicht viel verändert. Textverarbeitungssysteme, Diktiergeräte, Kopierer und – in den
letzten 20 Jahren – auch Datenbanken haben insoweit
keinen großen Unterschied gemacht. Gleichzeitig hat sich
die Gesellschaft deutlich gewandelt, es sind neue Rechtsbereiche wie das Verbraucherschutzrecht oder das Wirtschaftsstrafrecht entstanden und der Anwaltsmarkt zeigt
sich heute radikal anders als noch vor 1 00 Jahren. Laufen
Ombudsmänner, Mediation, Schlichtung und die Presse
mit ihrer Prangerwirkung der Justiz gesellschaftlich den
Rang ab? Welche Konflikte landen heute überhaupt noch
vor Gericht – und welche nicht?
Ist das Gerichtsverfahren noch die angemessene Konfliktbearbeitung bei geringen Streitwerten? Bei hochspezialisierten Fachfragen? Welche Rolle werden justizielle
Verfahren in Zeiten der eJustice und welche die beteiligten Richter*innen und Staatsanwält*innen spielen?
2. Kritisch leben I: Politische Richter*innen und
Staatsanwält*innen?
„Politische Richter!“ – so fassten in den 80er Jahren des
20. Jhs. konservative Richter*innen ihre Kritik an den
Kolleginnen und Kollegen zusammen, die z. B. Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen veranstalteten.
Heute ist das Konzept des „Politischen Richters“ – oder
der politischen Staatsanwältin – weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei sind die damit verbundenen Fragen weiterhin aktuell, nicht nur wegen des gewachsenen
Selbstbewusstseins rechtsextremer Meinungsträger*innen
auch in der Justiz. Glaubten die Denker der französischen
Revolution noch, Richter seien der „Mund des Gesetzes“,
ist inzwischen anerkannt, dass Rechtsanwendung immer
auch Wertung bedeutet. Die Ergebnisse unserer Entscheidungsvorgänge haben in ihrer Gesamtheit politische
und gesellschaftliche Relevanz. Kann daher Rechtsanwendung überhaupt unpolitisch sein? Sollte sie es sein?
4. Kritisch (ver)handeln I: Wie viel Wirklichkeit
verträgt das Verfahren?
Im beruflichen Alltag müssen wir regelmäßig auf vielen
Ebenen entscheiden, wie viel Wirklichkeit und damit
Komplexität wir zulassen wollen und können.
Schon beim Aktenstudium entscheiden wir, wie tief wir in
den Fall einsteigen wollen. Gehen wir danach noch offen
in die Verhandlung? Wie problematisch und voraussetzungsvoll etwa der Zeugenbeweis ist, wird kaum reflektiert. Statt diffiziler Beweiswürdigung ziehen wir uns auf
Beweislastentscheidungen zurück oder übernehmen unkritisch bestimmte Zeugenaussagen. Überlassen wir die
Entscheidung des Falles faktisch der Sachverständigen
oder ermöglicht sie uns eine eigene sachkundige Entscheidung?
Auch werden wir regelmäßig mit Lebenswelten und Situationen konfrontiert, die uns fremd sind. Wir hören von
Motiven, Deutungen oder Gepflogenheiten, die wir als
bausparende AkademikerInnen kaum nachvollziehen
können. Wie kommen wir unter diesen Umständen zu
einer Entscheidung?
5. Kritisch (ver)handeln II: Wie viel Recht ver­
trägt das Verfahren?
Jeder Fall verweist auf die gesamte Rechsordnung. Er
wäre daher grundsätzlich unter Heranziehung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung am Gesetz, an der
Verfassung und am zwischen- und überstaatlichen
Recht zu messen.
In der Praxis ist der Ausgangspunkt für die genauere
Prüfung häufig der Widerspruch zwischen der an der
bisherigen Rechtsprechung orientierten Lösung und
dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden. Dann muss ei-
ne eigene methodisch saubere Lösung entwickelt werden. Entsprechende Spielräume eröffnen zum Beispiel
die verfassungs- oder europarechtskonforme Auslegung und ggf. die Vorlage an das BVerfG oder den
EuGH. Die UN-Konvention über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte vom 1 9.1 2.1 966 gilt im Range
eines einfachen Bundesgesetzes und bietet ebenfalls
Argumentationshilfen.
Was sind Beispiele für gelungene, aber auch fehlgeschlagene Versuche, Rechtsprechungsänderungen herbeizuführen? Wie laufen Vorlageverfahren praktisch
ab? Und in welchen Feldern bieten sich europa- oder
verfassungsrechtliche Prüfungen aktuell an?
6. Blackbox
Ein offenes Format für aktuelle Themen. Bitte schickt
Eure Vorschläge an orgateam201 [email protected]