Betriebsräte gründen im Mittelstand - Hans-Böckler

Auf Augenhöhe –
Mitbestimmen
im industriellen
Mittelstand
BETRIEBSRÄTE GRÜNDEN —
MITBESTIMMUNG VERANKERN
Dokumentation
WEITERDENKEN.
MITGESTALTEN.
MITBESTIMMUNG.
Die Kampagne zum Mitbestimmungsjahr 2016
www.zukunftmitbestimmung.de
Betriebsräte sind Teil einer lebendigen Demokratie in Deutschland. In allen Betrieben mit mehr
als fünf Beschäftigten sind sie zu wählen. Der
Gesetzgeber wollte mit dem Betriebsverfassungsgesetz ’76 sicherstellen, dass Mitbestimmung als
Ausdruck des Demokratieprinzips der sozialen
Marktwirtschaft nicht nur den Großbetrieben vorbehalten bleibt. Hier gab es immer schon starke
Interessenvertretungen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Mitsprache und Beteiligung
der Beschäftigten statt autoritäre Führung und
paternalistische Gönnerhaftigkeit sollten auch in
kleine und mittelständische Unternehmen (KMU)
einziehen.
Aber nur einer von zehn betriebsratsfähigen Betrieben in Deutschland hat einen Betriebsrat. Sowohl
die Gründung von Betriebsratsgremien als auch die
Tarifbindung sind rückläufig. Im Gegenzug breiten
sich „weiße Flecken“ der Mitbestimmung sowohl
in West- als auch in Ostdeutschland aus.
Die Mitbestimmung zählt zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren des „Modells Deutschland“, das nicht
nur europa-, sondern auch weltweit große Anerkennung erfährt. Wird sie geschwächt, gefährdet
das die Leistungsfähigkeit des deutschen Systems
der industriellen Beziehungen. Es ist daher bedrohlich, wenn immer öfter darüber berichtet wird,

INHALT
Vorwort: Reiner Hoffmann
Den mitbestimmungspolitischen Stillstand überwinden5
Das Kunsstoffprojekt der IG BCE
Offensiv auf Augenhöhe4
WSI-Studie: Arbeitgeberverhalten bei Betriebsratswahlen
Mitbestimmung oft nicht erwünscht10
HBS-Studie: Betriebsratsgründungen – typische Phasen, Varianten und Probleme
Auf die Vertretungswirksamkeit kommt es an12
Betriebe ohne Betriebsrat erschließen – ein Schwerpunkt der IG Metall
„Weiße Flecken“ der Mitbestimmung beseitigen13
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
Gestaltungsmacht gewinnen16
dass Arbeitgeber die Gründung und die Arbeit von
Betriebsräten vorsätzlich behindern. Das ist heute
bereits bei jeder sechsten Betriebsratsgründung der
Fall. Dabei liegt es auch in der Verantwortung der
Arbeitgeberseite, das Betriebsverfassungsgesetz in
der Praxis anzuwenden. Dies nicht zu tun, sollte wie
andere Gesetzesverstöße strafrechtlich geahndet
werden. Überdies ist es einer modernen, auf Dialog
und Kompromiss ausgerichteten Arbeitsgesellschaft
unwürdig, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre gesetzlichen Mitbestimmungsrechte nicht
voll umfänglich wahrnehmen können.
Das gilt ganz besonders auch für die Beschäftigten im industriellen Mittelstand. So zeigen doch
die jährlichen Auszeichnungen für vorbildliche
Mitbestimmungspraxis beim Deutschen Betriebsrätetag, wie innovativ und wertvoll die Impulse
von Betriebsräten gerade aus KMU häufig sind.
Die Leitideen des Betriebsverfassungsgesetzes
sind vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung, gegenseitiger Respekt und Verhandeln auf Augenhöhe.
Aber gerade im industriellen Mittelstand fallen
gesetzlicher Anspruch und betriebliche Wirklichkeit – auch nach vierzig Jahren Mitbestimmung –
noch immer weit auseinander. Es ist daher Ziel
gewerkschaftlicher Anstrengungen in jüngster
Zeit, gerade in diesem Segment der Wirtschaft,
mitbestimmungsfreie Zonen zurückzudrängen. Sie
sind hier am Beispiel des Kunststoffprojekts der
IG BCE sowie ähnlicher Initiativen der IG Metall
etwa in der Windindustrie dokumentiert.
Erschreckend ist auch das Ausmaß und die neue
Qualität eines Arbeitgeberverhaltens, das weder vor
Missbrauch noch Strafe zurückschreckt, um insbesondere die Erstwahl von Betriebsräten zu be- oder
gar zu verhindern. Dies belegen die Studien des
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) und an
der Universität Nürnberg-Erlangen. Hierbei handelt
es sich nicht mehr um Bagatelldelikte, wie manche
Gerichte darüber urteilen. Hier geht es um tätliche
Angriffe auf die Demokratie, die einer wachsenden
Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft Vorschub leisten. Sie führen nicht nur zu einer verstärkten Ungleichheit bei den Arbeits- und Lebensbedingungen von Beschäftigten in Großbetrieben und
KMU. Sie tragen mit dazu bei, dass grundlegende
demokratische Rechte immer mehr Beschäftigten
in einem durch den Strukturwandel zunehmend
bedeutsamen Bereich vorenthalten werden.
IMPRESSUM
Herausgeber
Hans-Böckler-Stiftung
Hans-Böckler-Straße 39
40476 Düsseldorf
Telefon +49 211 7778-0
www.boeckler.de
Seite 2 · Dokumentation
Koordination: Norbert Kluge, Petra Adolph
Text, Satz und Layout: Agentur WAHLE COM, 56479 Elsoff
Design: A&B One Kommunikationsagentur, Berlin
Fotos: Matthias Jung, Jürgen Seidel
Kurzfilme: WAHLE COM/Central Vision, Berlin
Stand: Düsseldorf, November 2016
Vorwort
VORWORT
DEN MITBESTIMMUNGSPOLITISCHEN
STILLSTAND ÜBERWINDEN
Betriebsräte sind Garanten für mehr Demokratie
im Betrieb und für die sozialpartnerschaftliche
Gestaltung von Guter Arbeit. Joachim Gauck nannte
die Mitbestimmung ein „Kernelement der Kooperationskultur“ und erinnerte auf dem Festakt „40 Jahre
Mitbestimmungsgesetz ‘76“ des DGB und der HansBöckler-Stiftung daran, dass „Mitbestimmung (…)
beständiges Ringen um Balance, Kontrolle und Teilhabe“ war und ist.
Ein besonders zähes Ringen finden wir viel zu
oft in den Klein- und Mittelbetrieben. Hier gibt es
noch deutlich zu wenige Betriebsräte. Zudem häufen sich die Fälle von „Betriebsrats-Bashing“, also
der Be- oder Verhinderung von Betriebsratswahlen
oder der Arbeit der Betriebsräte.
Fortschreitende Digitalisierung und Globalisierung sorgen für einen fundamentalen Wandel der
Arbeitswelt und sparen den industriellen Mittelstand nicht aus. Das Recht auf demokratische
Teilhabe und gute Arbeitsbedingungen ist nicht
auf Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten beschränkt. Aus diesem Grund brauchen wir mehr
Betriebsräte in den kleinen und mittelständischen
Unternehmen (KMU), die selbstbewusst und auf
Augenhöhe mit dem Arbeitgeber um die Gestaltung der Arbeit der Zukunft ringen.
Um dieses zu gewährleisten, haben der DGB
und seine Mitgliedsgewerkschaften in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen
der „Offensive Mitbestimmung“ sehr konkrete
Vorschläge dafür gemacht, wie die rechtlichen
Rahmenbedingungen einer Mitbestimmung 4.0
aussehen könnten (siehe im Internet: www.dgb.de/extra/
offensive-mitbestimmung sowie www.mitbestimmung.de*).
nisierten und verbesserten Kündigungsschutz für
die Initiatoren von Erstwahlen an und hört bei einer
effizienteren Sanktionierung von Verstößen gegen
die Neutralitätspflicht bei Betriebsratswahlen noch
lange nicht auf.
Die vorliegende Broschüre soll Wege aufzeigen, um auch unter erschwerten Bedingungen
Betriebsräte zu gründen und damit die Mitbestimmung in den Betrieben zu verankern.
Reiner Hoffmann,
Vorsitzender
des DGB und
Vorsitzender
des Vorstands
der Hans-BöcklerStiftung
Ohne selbstbewusste Betriebsräte vor Ort, die
mit dem Arbeitgeber auch ringen möchten, ist dieses Ziel einer guten Arbeit der Zukunft nicht zu erreichen. Denn Ihr seid es, die die Mitbestimmung
mit Leben füllen. Wir müssen auch mit Eurer Hilfe
endlich den mitbestimmungspolitischen Stillstand
überwinden.
Eine Kernforderung, um mehr Betriebsräte zu
bekommen, ist der bessere Schutz der (Erst-)Wahl
und der Arbeit der Gremien. Die um sich greifende
Praxis des „Betriebsrats-Bashing“ muss nachhaltig verhindert werden. Das fängt bei einem harmo-
* Mitbestimmungsportal – Böckler-Infoservice für die Mitbestimmungspraxis: Das Portal bietet Mitbestimmungsakteuren eine Vielzahl an Infos, Materialien und Tools. Hierzu gehören u. a. Branchenmonitore, ein
Themenradar für aktuelle Entwicklungen, anschaulich und komprimiert aufbereitete „Themen-Kartenstapel“
(EU-Abschlussprüfungsreform, Private Equity. Arbeiten 4.0….), ein Monitor EU-Wirtschaftsrecht sowie das
Szenarien-Tool Mitbestimmung 2035. Jetzt kostenlos anmelden auf www.mitbestimmung.de
Dokumentation · Seite 3
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
OFFENSIV AUF AUGENHÖHE
Gewerkschaften sind Promotoren der Mitbestimmung. Nicht erst warten, bis die Kolleginnen
und Kollegen den Weg zur IG BCE gefunden haben, um einen Betriebsrat zu gründen, sondern
selbst auf die Betriebe zugehen: Dies ist der Ansatz eines zweijährigen Projekts der IG BCE, um
im vorwiegend mittelständischen Bereich der Kunststoffindustrie neue Betriebsräte zu gründen.
Er verlangt allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompetenz, Sensibilität und Konfliktfähigkeit ab.
DIE AUSGANGSSITUATION
Das Betriebsverfassungsgesetz sieht vor, dass in
Betrieben mit mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
ein Betriebsrat gewählt wird. Faktisch aber existiert
nur in knapp zehn Prozent der betriebsratsfähigen
Betrieben in Deutschland eine Arbeitnehmervertretung. Es gibt immer weniger Beschäftigte, die von
einem Betriebsrat vertreten werden. Seit 1996 bis
heute ist der Anteil der Beschäftigten in Betrieben
mit gesetzlicher Arbeitnehmervertretung – laut IABBetriebsrätepanel 2015 – um rund zehn Prozent gesunken: in Westdeutschland von 51 auf heute 42 Prozent, in Ostdeutschland von 43 auf 33 Prozent.
Für diese Tatsachen werden in wissenschaftlichen
Studien viele Ursachen benannt: unter anderem
– der strukturelle Wandel, der damit einhergeht,
dass traditionell gewerkschaftlich gut organisierte Branchen abnehmen und neue Branchen
entstehen, in denen die Gewerkschaften bisher
weniger stark verankert sind;
– das starke Anwachsen von kleinen und mittelständischen Betrieben (KMU) mit oft schwachen Mitbestimmungsstrukturen infolge von
Ausgründungen und Verselbstständigungen
von Betriebseinheiten und Tätigkeitsbereichen
aus großen Unternehmen;
– ein kultureller Wandel in den Betrieben als Folge von neuen betrieblichen Arbeits- und Steuerungsprozessen, die individuelle und gruppenbezogene Konfliktlösungsmuster begünstigen;
– die in einigen Branchen und Regionen zu beobachtende tendenziell rückläufige Tarifbindung
von Unternehmen, die oft mit einer Schwächung von Mitbestimmungsstrukturen in den
Betrieben einhergeht.
Einer wachsenden Anzahl von Beschäftigten
werden auf diese Weise wichtige Arbeitnehmerund Mitspracherechte vorenthalten. Auch bei den
Arbeitsbedingungen sind Beschäftigte in Betrieben
ohne Betriebsrat häufig deutlich im Nachteil. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Betriebsräte
für ein vertrauensvolles Verhältnis von Belegschaft
und Management sorgen und dadurch nicht nur für
Seite 4 · Dokumentation
die Beschäftigten, sondern auch für die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen viel erreichen können.
Betriebsräte als Ansprechpartner und Interessenvertreter der Beschäftigten verfügen nicht nur über
gesetzliche Informations-, Mitbestimmungs- und
Initiativrechte, um die Anliegen der Belegschaft zu
puschen. Als zumeist gewerkschaftlich organisierte
und von ihrer Gewerkschaft unterstützte Arbeitnehmervertreter verfügen sie oft auch über weitergehende Kompetenzen und Handlungsinstrumente,
um den gesetzlich gebotenen Rahmen im Interesse
der Beschäftigten ausschöpfen zu können.
Angesichts dieser Entwicklung, die auch sozialpolitisch die Gefahr eines zunehmenden Auseinanderdriftens bei den Arbeitsbedingungen mit sich
bringt, verstärken Gewerkschaften ihre Präsens in
der Fläche, um systematisch gerade in KMU Mitbestimmungsstrukturen zu unterstützen und Betriebsräte institutionell zu verankern.
Warum Kunststoffindustrie?
Die kunststofferzeugende und -verarbeitende Industrie ist nach der Chemieindustrie die größte
Branche im Organisationsbereich der IG BCE. Sie
ist eine noch relativ junge Branche, die Beschäftigung aufbaut – mit vorwiegend mittelständischen
Produktionsbetrieben und kleineren bis mittleren
Entwicklungsbereichen.
Die Kunststoffindustrie ist eine Schlüsselindustrie in der industriellen Wertschöpfungskette
Deutschlands. Ihre Unternehmen liefern innovative Produkte und Lösungen für wichtige Industriezweige wie den Fahrzeug- und Maschinenbau,
die Verpackungsindustrie, die Elektrotechnik und
die Bauindustrie.
2012 gab es in Deutschland rund 3 270 Unternehmen der Kunststoffindustrie mit rund 363 000
Beschäftigten. Ein hoher Anteil der Betriebe umfasst bis zu 50 Beschäftigte. In der Größenklasse
bis zu 250 Beschäftigten finden sich 92 Prozent
aller Kunststoffbetriebe und rund 63 Prozent der
Beschäftigten. 2012 gab es nur 66 Betriebe mit
mehr als 500 Beschäftigten (2,3 Prozent der Betriebe). In ihnen waren 18,6 Prozent der Beschäftigten dieses Industriezweigs tätig.
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
AUFGABE UND ZIEL
DES PROJEKTS
Dabei hatte sich das Projekt zum Ziel gesetzt,
zu möglichst vielen Kunststoffunternehmen Kontakt aufzunehmen sowie mindestens 80 Betriebe
zu erschließen und dort einen Betriebsrat zu gründen.
VORGEHEN UND PROJEKTORGANISATION
Stellvertretende Vorsitzende IG Bergbau, Chemie, Energie
Ausgestattet wurde das Kunststoffprojekt mit
je zwei Projektsekretärinnen und -sekretären in
den vier Clusterregionen über die gesamte Laufzeit hinweg. Diese wurden in einem einmonatigen
Lehrgang für die Projekttätigkeit qualifiziert. Hierbei wurden ihnen vor allem Grundkenntnisse vermittelt. Dabei lernten sie unter anderem unterschiedliche Marketing- und Ansprachekonzepte
kennen, befassten sich mit Zugangsmöglichkeiten
zu Betrieben und darauf bezogenen betriebsverfassungsrechtlichen Fragen sowie den rechtlichen
Grundlagen zur Vorbereitung und Durchführung
von Betriebsratswahlen. Sie erhielten Brancheninformationen und Grundkenntnisse zu den Themen
„Tarifpolitik“, „Arbeits- und Sozialrecht“, „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Konfliktmanagement“. Überdies gab es spezielle Qualifizierungen in einzelnen
regionalen Clustern und bei den quartalsweise
stattfindenden Jour-fixe-Treffen.
Die Bildung der Cluster erfolgte anhand der
Erschließungs-Potenziale, die sich durch die Auswertung der „Hoppenstedt-Liste“ ergab. Diese
Auflistung der Firmendatenbank Hoppenstedt umfasst bundesweit mehr als 3 000 Kunststoffbetriebe,
die sich regional unterschiedlich konzentrieren.
Die Aufgabe der Cluster- und Projektverantwortlichen war es nun, diese Betriebe für das gewerk-
Volker Weber
IG BCE Landesbezirksleiter Hessen/Thüringen
▲
Im September 2012 beschloss der Hauptvorstand
der IG BCE, zusätzliche finanzielle Mittel aus dem
Investitionsfonds bereitzustellen, um die Präsenz
der Gewerkschaft in der Fläche zu stärken und speziell in KMU nachhaltig wirksame Mitbestimmungsstrukturen zu entwickeln.
Es wurden unter anderem regionale Cluster gebildet (Westfalen, Thüringen/Sachsen/Nordostbayern, Baden-Württemberg, Bayern), um Ressourcen
zu bündeln und Schwerpunkte zu setzen. Die beteiligten IG BCE-Landesbezirke übernahmen dabei
die operative Steuerung der Cluster. Sie waren beispielsweise zuständig für die Betriebsauswahl und
die Einsatzplanung.
Edeltraud Glänzer
▲
Mit ihrem Kunststoffprojekt hat es sich die IG BCE
zur Aufgabe gemacht, neue Ansätze zu erproben,
um in dieser vorwiegend KMU-geprägten Branche mehr Betriebsräte zu gründen. Das Projekt lief
über den Zeitraum 1. November 2013 bis 31. Oktober 2015 und wurde bis Ende April 2016 verlängert. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen wurden in Berichten und Workshops zusammengefasst und ausgewertet. Die Ergebnisse dienen
der IG BCE als Grundlage, um den Aufbau von
Mitbestimmungsstrukturen über den Kunststoffbereich hinaus zu einer gewerkschaftlichen Daueraufgabe zu machen und hierfür langfristig die entsprechenden organisatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die starke Wachstumsdynamik in der Branche
und ihre klein- bis mittelständische Struktur sind
die Hauptgründe dafür, dass es in dieser Branche
erhebliche „weiße Flecken“ der Mitbestimmung
gibt. Das Projekt sollte daher vor allem zweierlei
leisten. Es ging darum,
– einen besseren Überblick über die Branche in
der Fläche zu gewinnen und geeignete branchenspezifische Ansprachekonzepte zu erarbeiten sowie
– die „weißen Flecken“ der Mitbestimmung zurückzudrängen und betriebsverfassungsrechtliche (Betriebsräte, Jugendvertretung) sowie
betriebliche und gewerkschaftliche Mitbestimmungsstrukturen aufzubauen.
Dokumentation · Seite 5
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
ERFAHRUNGEN
UND ERGEBNISSE
▲
Catharina Clay
▲
Kurt Hay
IG BCE Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg
IG BCE Landesbezirksleiter Westfalen
schaftliche Anliegen, dort Mitbestimmungsstrukturen zu etablieren bezeihungsweise zu stärken, aufzuschließen. Nach Auswertung der Liste folgte daraus
– für den Cluster 1 (Westfalen): 80 Betriebe mit
insgesamt 7 550 Beschäftigten
– für den Cluster 2 (Thüringen/Sachsen/Nordostbayern): 90 Betriebe mit insgesamt 12 865 Beschäftigten
– für den Cluster 3 (Baden-Württemberg): 88 Betriebe mit insgesamt 8 637 Beschäftigten
– für den Cluster 4 (Bayern): 67 Betriebe mit insgesamt 7 500 Beschäftigten.
In einzelnen Clustern spielte auch die Betriebsgröße bei der Auswahl eine Rolle. Im Cluster 4 beispielsweise wurde diese auf mindestens 80 Beschäftigte festgelegt.
Monatliche Fortschrittsberichte der Projektsekretärinnen und -sekretäre, die Jour-fixe-Treffen
zusammen mit der Projektleitung, regelmäßige
Telefonkonferenzen mit den regionalen Clusterverantwortlichen, der Projektleitung und dem
zuständigen Vorstandsmitglied der IG BCE sowie mehrere Workshops mit allen Beteiligten
des Kunststoffprojekts halfen dabei, die angestrebten Ziele im Blick zu behalten und Probleme beziehungsweise Hindernisse anzusprechen.
Seite 6 · Dokumentation
„Gemessen an den quantitativen Zielen, war das
Ergebnis des Projekts eher mau“, lautet das Fazit
von Volker Weber, IG BCE-Landesbezirksleiter
Hessen/Thüringen. Faktisch wurden über den gesamten Projektzeitraum von zweieinhalb Jahren
47 Betriebe (Projektziel: 80 Betriebe) erschlossen.
Hier wurden dann auch Betriebsratswahlen durchgeführt. Dennoch betrachtet der Clusterverantwortliche im Cluster 2 (siehe Video-Statement,
Seite 5) das Kunststoffprojekt nicht als gescheitert.
Vielmehr habe es wertvolle Erkenntnisse zutage
gefördert, die es für den Aufbau nachhaltiger Mitbestimmungsstrukturen in KMU zu nutzen gelte.
Für Edeltraud Glänzer, stellvertretende Vorsitzende der IG BCE und für das Projekt verantwortliches Vorstandsmitglied, war das Kunststoffprojekt eine wichtige Erfahrung, um die Neugründung von Betriebsräten zu systematisieren (siehe
Video-Statement, Seite 5). Unter den gegebenen
Bedingungen und im Vergleich zu ähnlichen Projekten anderer Gewerkschaften ist sie sehr zufrieden mit den Ergebnissen. „Das Projekt war für uns
ein absoluter Gewinn. Wir haben viele Erkenntnisse
gewonnen, die wir in die Ausbildung und Qualifizierung unserer Sekretärinnen und Sekretäre einbringen werden. Dazu zählt beispielsweise, dass die Betreuungsarbeit gerade in KMU am Anfang enorm
intensiv ist. Um in einem so schwierigen Handlungsfeld erfolgreich zu sein, bedarf es nicht nur
fachlicher Kompetenzen, sondern auch einer enormen Durchsetzungsfähigkeit. Unsere Sekretärinnen
und Sekretäre müssen Konflikte aushalten können,
kreativ und flexibel sein, um die Kolleginnen und
Kollegen in den Betrieben ansprechen, motivieren
und dafür gewinnen zu können, einen Betriebsrat zu
gründen. Ich habe große Hochachtung vor allen, die
sich an diesem Projekt beteiligt haben!“
Einen Erfolg des Projekts sieht Catharina Clay,
IG BCE-Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg
und Clusterverantwortliche im Cluster 3, auch darin, dass sich die Initiative der IG BCE zur Gründung
neuer Betriebsräte herumgesprochen hat (siehe
Video-Statement). „Wir bekommen wieder verstärkt Anfragen von Kolleginnen und Kollegen aus
den Betrieben, die einen Betriebsrat gründen wollen und wissen möchten, was man da machen
muss. Es ist bei vielen inzwischen angekommen,
dass es einen Betrieb ohne Betriebsrat eigentlich
nicht geben kann.“
Dass es für die IG BCE nicht leicht sein würde, in
den vorwiegend kleinen und mittelständischen Betrieben Fuß zu fassen, war allen Projektbeteiligten
von Anbeginn des Projekts klar. „Der gewerkschaftliche Gedanke ist hier längst nicht so verankert wie
in der Großindustrie“, sagt Kurt Hay, IG BCE-Landesbezirksleiter Westfalen und Clusterverantwortlicher
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
im Cluster 1 (siehe Video-Statement). „Insofern war
das schon ein schwieriges Handlungsfeld, in das
wir uns begeben haben.“ Die Massivität aber, mit
der nicht nur die Projektsekretärinnen und -sekretäre in ihrer Arbeit behindert, sondern auch betriebliche Kolleginnen und Kollegen unter Druck gesetzt
wurden, die sich bereit erklärt hatten, eine Betriebsratswahl vorzubereiten oder selbst dafür zu kandidieren, hat alle überrascht. „Dabei geht es doch nur
darum, demokratischen Rechten nachzugehen und
als Betriebsrat zu fungieren“, stellt Hay fest.
Auf die Beschäftigten zugehen
Eine wesentliche Erkenntnis von Catharina Clay
bei diesem Projekt war auch, dass es notwendig
ist, verstärkt auf Betriebe zuzugehen, um Mitbestimmungsstrukturen zu verankern und nicht darauf zu warten, dass die Kolleginnen und Kollegen
aus den Betrieben von sich aus den Kontakt zur
Gewerkschaft aufnehmen. „Die Leute, die zu uns
kommen, um sich beraten zu lassen, werden weniger. Denn die Informationen darüber, was Betriebsräte sind, was sie tun können und was es
für die Beschäftigten und das Unternehmen bedeutet, wenn es einen Betriebsrat gibt, sind gar
nicht so weit verbreitet, wie wir häufig annehmen.
Gleichzeitig ist das, was man über die Bedingungen erfährt, unter denen Menschen heute in Industriebetrieben arbeiten, vielfach schon sehr erschreckend.“
Michael Nußbaum
IG BCE Projektsekretär Kunststoff
IG BCE Projektsekretär Kunststoff
▲
Daniel Heisch
▲
Es gibt keinen Königsweg
Die schwierigste Hürde bei dem IG BCE-Kunststoffprojekt war, überhaupt einen Zugang zu einem Betrieb zu bekommen. „Wir haben nicht einen
einzigen Betrieb gehabt, den wir vorher kannten“,
berichtet Michael Nußbaum, Projektsekretär im
Cluster 1 (siehe Video-Statement). „Wir haben
also in jedem Betrieb von Grund auf neu angefangen Kontakte zu knüpfen – sei es durch öffentlichkeitswirksame Aktionen, gezielte Ansprache auf
dem Parkplatz oder über ein Anschreiben an die
Geschäftsleitung.“ In den seltensten Fällen wurden die Projektsekretäre jedoch Willkommen geheißen. „Was wir festgestellt haben: Die Leute
trauten sich oft nicht, mit uns in Kontakt zu kommen. Sie hatten Angst um ihre Arbeitsplätze und
Angst vor dem Arbeitgeber, mit uns zusammen
gesehen zu werden“, sagt Michael Nußbaum.
In den meisten Fällen nahmen sich die Projektbetreuer zu zweit einen Betrieb vor, erkundeten
vorher die Lage, ob es öffentlich zugängliche Parkplätze gab, zu welcher Zeit Schichtwechsel anstanden usw. Sie versuchten, mit den Kolleginnen
und Kollegen ins Gespräch zu kommen, um ein
wenig mehr über den Betrieb zu erfahren und Interessierte für weitere Treffen zu gewinnen. Bei
den nachfolgenden Zusammenkünften ging es
dann häufig konspirativ zu: Man traf sich im Café,
im Hinterzimmer der nahegelegenen Kneipe, mittags, nach Dienstschluss und oft auch abends. In
anderen Fällen wurde erst einmal der Arbeitgeber
angeschrieben, um die Gewerkschaft und das Projekt vorzustellen, über Mitbestimmungsstrukturen
zu informieren und darauf hinzuweisen, dass man
beabsichtige, einen Betriebsrat zu gründen. „Einen
Königsweg gibt es nicht“, stellt Michael Nußbaum
fest.
„Man muss sich jedes Unternehmen genau anschauen und danach fragen, welche Themen und
Probleme es dort gerade aktuell gibt. Daraus muss
man sich dann ein Konzept erarbeiten, um den Betrieb erschließen zu können“, berichtet Daniel Heisch,
Projektsekretär im Cluster 2 (siehe Video-Statement).
„Wir hatten es bei den von uns ausgewählten Betrieben häufig mit sogenannten verlängerten Werkbänken zu tun – und wir waren jedes Mal erstaunt
darüber, unter welchem Druck die Kolleginnen und
Kollegen standen. Auch wir gerieten fast überall
in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. In einigen
Fällen wurden wir sogar durch einstweilige Verfügungen in unserer Arbeit behindert und mussten
uns unser Zugangsrecht gerichtlich erstreiten.“
„Man kommt nur dann in einen Betrieb hinein,
wenn sich jemand bereitfindet, mit der Gewerkschaft zusammenzuarbeiten“, sagt Seppel Kraus,
IG BCE-Landesbezirksleiter Bayern und Clusterverantwortlicher im Cluster 4 (siehe Video-Statement,
Seite 8). „Das kann man nicht technisch organisie-
Dokumentation · Seite 7
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
ren. Es ist zwar richtig: Man muss vor ganz viele
Betriebe gehen, und man muss präsent sein. Aber
letztlich kann man nur darauf hoffen, dass sich ein
Mensch findet, der sagt: Es reicht mir hier im Betrieb, jetzt gehe ich zur Gewerkschaft!“
Erfolgreiche Erschließungsarbeit, sagt Volker
Weber, „geht nur mit Dialog, Dialog, Dialog. Es ist
nicht damit getan, dass wir eine juristische Auseinandersetzung suchen. Dann bekommen wir vielleicht Recht. Meine lange Praxis sagt aber: Ich brauche die Menschen im Betrieb, die mitmachen.“
„Wir brauchen Ansprechpartner im Betrieb“, betont auch Catharina Clay, „und nach einer gewissen Zeit mindestens so viele wie für den Wahlvorstand nötig sind, möglichst sogar in doppelter Anzahl.“ So lautete die Faustregel, wenn es darum
ging, eine Betriebsratswahl einzuleiten.
Strapaziöse Anfangsphase
Unabhängig von dem eingeschlagenen Weg – direkt über die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb
oder über den Arbeitgeber – bleibt festzuhalten:
Für alle Projektsekretärinnen und -sekretäre war
diese erste Phase äußerst strapaziös. So hat sich
beispielsweise herausgestellt, dass der Wechsel
zur Nachtschicht ein besonders günstiger Zeitpunkt ist, um mit Beschäftigten ins Gespräch zu
kommen. „Da haben die Leute eine ganz andere
▲
▲
Seite 8 · Dokumentation
Seppel Kraus
IG BCE Landesbezirksleiter Westfalen
Iris Schopper
IG BCE Projektsekretärin Kunststoff
Offenheit, weil die Vorgesetzten nicht da sind und
somit nicht mitbekommen, wer mit wem redet“,
sagt Iris Schopper, Projektsekretärin im Cluster 4
(siehe Video-Statement). „Meine Empfehlung
daher: in den sauren Apfel beißen und über den
Schichtwechsel von Spät- und Nachtschicht Kontakte knüpfen.“
Fast jeden Tag unterwegs zu einem anderen
Betrieb, Intensivbetreuung der betrieblichen Akteurinnen und Akteure teilweise rund um die Uhr,
in Crash-Kursen die betrieblichen Kolleginnen und
Kollegen über die Grundlagen des Betriebsverfassungsgesetzes und des Arbeitsrechts informieren,
ihnen persönlichen Beistand anbieten, um die
Wahlvorbereitungen durchzustehen: Das verlangte
den Projektsekretärinnen und -sekretären nicht
nur vollen Einsatz, sondern auch fachliche und
kommunikative Kompetenzen sowie ein Höchstmaß
an Einfühlungsvermögen, Empathie und Konfliktfähigkeit ab. Aber alle betrachten diese Phase im
Nachhinein als in hohem Maße befriedigend und
konstruktiv.
Zu zweit geht´s besser
Kompetenzen bündeln, sich persönlich ergänzen:
Alle Projektsekretärinnen und -sekretäre beschreiben, wie wichtig es für sie war, nicht allein vor ein
Werkstor zu treten, sondern zu zweit. Man fühlt
sich – gerade in schwierigen Situationen – nicht
nur stärker, sondern kann den betrieblichen Kolleginnen und Kollegen unterschiedliche Ansprechpartner bieten. Das kommt bei vielen gut an.
„Mein Kollege kannte sich in der Jugendarbeit
gut aus“, berichtet Daniela Lange, Projektsekretärin im Cluster 3 (siehe Video-Statement, Seite 9).
„Und ich selbst bin jahrelang Betriebsratsvorsitzende gewesen. Jeder von uns konnte seine Erfahrungen einbringen. Zusammen waren wir in
der Lage, viele Themen abzudecken. Für die Beschäftigten war das von Vorteil: Sie haben einen
männlichen jungen Mann gehabt und eine erfahrene Frau. Da konnten sie sich aussuchen, mit
wem sie Kontakt haben wollten.“
Auch Udo Weißwange, Projektsekretär im Cluster 4, betont: „Für mich war es enorm wichtig, dass
man sich als Team präsentiert und sich ergänzen
kann. Jeder hat Stärken und Erfahrungen aus dem
beruflichen Alltag, die er in das Projekt mit einbringen kann. Außerdem kann man sich gegenseitig
aufbauen, wenn es mal schwierig wird“ (siehe Video-Statement, Seite 9).
Ehrlich sein gegenüber den Beschäftigten
Eine Betriebsratswahl ist kein Kinderspiel. Darauf
weist Iris Schopper ebenfalls hin. „Es kann viel
passieren und viel schiefgehen. Daher müssen
wir ehrlich sein gegenüber den Beschäftigten. Nur
dann fühlen sie sich mitgenommen und nicht so,
als würde ihnen etwas verkauft.“ Auch Daniel
Heisch betont, wie wichtig es ist, keine überzogenen Erwartungen bei den Kolleginnen und Kolle-
DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE
gen im Betrieb zu wecken. „Wir haben die Beschäftigten von Anfang an darüber informiert, was ein
Betriebsrat ist und welche Schwierigkeiten auftauchen können, wenn ein Betriebsrat gewählt wird.
Wir haben aber auch stets deutlich gemacht, was
dieser für die Zukunft des Betriebes und die Beschäftigten bedeutet.“ Vertrauen aufbauen, Verlässlichkeit zeigen, schnell und auch zu ungewohnten Zeiten erreichbar und auf Konflikte vorbereitet
sein: Darin sehen alle Projektbeteiligten wesentliche Erfolgsfaktoren.
Daniela Lange
IG BCE Projektsekretärin Kunststoff
IG BCE Projektsekretär Kunststoff
▲
Udo Weißwange
▲
Widerstände seitens der Arbeitgeber
Alle Projektbeteiligten berichten über teilweise massive Behinderungen ihrer Arbeit durch Arbeitgeber.
Es gab nur wenige Ausnahmen. Sobald sich die Projektsekretärinnen und -sekretäre einem Betrieb
näherten, wurden sie fotografiert, direkt aufgefordert, den Weg freizumachen oder sogar beleidigt.
Einige Arbeitgeber ließen sich dazu hinreißen, sie
telefonisch zu bedrohen und ihnen persönlich nachzustellen. „Körperliche Angriffe gab es zwar nicht“,
berichtet Udo Weißwange, „aber verbale.“
Auch die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen, die sich für eine Betriebsratswahl aussprachen, wurden häufig eingeschüchtert, in Einzelfällen erhielten sie sogar die Kündigung. Die Angst
vor derartigen Repressalien sowie reale Übergriffe
von Arbeitgebern und Vorgesetzten machten es
vielfach notwendig, konspirativ vorzugehen, um
die betroffenen Beschäftigten so lange wie möglich zu schützen.
Auch mit rechtlichen Mitteln – beispielsweise
einstweiligen Verfügungen – gingen manche Arbeitgeber vor, um zu verhindern, dass ein Betriebsrat gewählt wurde. Unterstützt wurden sie dabei
meistens von den Anwaltskanzleien, die auch sonst
für sie arbeiteten. Im Gegenzug mussten sich die
Projektsekretärinnen und -sekretäre in manchen
Fällen ebenfalls auf juristischem Wege den Zugang zum Betrieb verschaffen oder einen Wahlvorstand bestellen.
gezeigt, dass nicht nur die Anfangsphase, wenn es
darum geht, betriebliche Ansprechpartner zu finden, die bereit sind, eine Betriebsratswahl durchzuführen, enorm betreuungsintensiv ist. Das gleiche
gilt für die erste Zeit nach erfolgreicher Wahl.
„Ein Unternehmen mit einem Betriebsrat hat eine
andere Kultur“, fasst Seppel Kraus seine Erfahrungen aus dem Projekt zusammen. „Daran muss sich
auch eine Betriebsleitung gewöhnen. Sie ist nicht
mehr allein in ihren Entscheidungen. Und dieser Umstellungsprozess geht sehr unterschiedlich. Manche
Arbeitgeber reagieren sehr heftig und erfüllen daLangfristige Betreuungsarbeit
mit bereits den Straftatbestand des § 119 BetriebsEine Betriebsratswahl durchführen – und sich
verfassungsgesetz. In anderen Betrieben ist das ein
dann zurückziehen: Das geht aus der Sicht von
sehr zäher Eingewöhnungsprozess – insbesondere
Daniela Lange gar nicht. Zwar endete mit der Beauch für die Betriebsräte.“
triebsratswahl der offizielle Auftrag der ProjektEine langfristig angelegte Betreuungsarbeit hat
sekretärinnen und -sekretäre zur Betriebserschlieaus Sicht der Projektbeteiligten einen hohen Stellenßung. Aber immer gab es Überleitungsfristen von
wert. Netzwerke für neugewählte Betriebsräte insder Projekt- zur Regelbetreuung. Denn es hat sich
besondere in KMU, um untereinander Erfahrungen auszutauschen,
aber auch feste gewerkschaftliche
Ansprechpartner in den verschieEINE BETRIEBSRATSWAHL DURCHdenen Regionen, um die örtlichen
FÜHREN – UND SICH DANN ZURÜCKBezirke dauerhaft dabei zu unterstützen, die Betriebsräte in den neu
ZIEHEN: DAS GEHT NICHT!
erschlossenen Betriebe zu unterstützen, sind Anforderungen, die
sie an die IG BCE stellen.
Daniela Lange, IG BCE Projektsekretärin Kunststoff
Dokumentation · Seite 9
STUDIE DES WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN INSTITUTS (WSI) IN DER HBS
WSI-STUDIE: ARBEITGEBERVERHALTEN BEI BETRIEBSRATSWAHLEN
MITBESTIMMUNG OFT NICHT ERWÜNSCHT
Auch wenn sie sich strafbar machen: Gerade in
kleinen und mittelständischen Unternehmen
versuchen Arbeitgeber immer wieder, Betriebsratswahlen zu verhindern. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung belegt zudem, dass Unternehmer dies teilweise mit professioneller Hilfe tun und dabei oft ausgeklügelte Methoden anwenden.
Mit den Erfahrungen, die die Projektsekretärinnen
und -sekretäre der IG BCE im Rahmen des Kunststoffprojekts mit teilweise strafbarem Arbeitgeberverhalten gewonnen haben, stehen sie nicht
allein. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle.
Derartige Managementaktivitäten sind auch nicht
auf die Branche beschränkt. Aber sie sind typisch
für kleine und mittelständische, insbesondere inhabergeführte Unternehmen. Dies geht aus einer
Studie von Martin Behrens und Heiner Dribbusch
vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung* über
Arbeitgebermaßnahmen gegen Betriebsräte insbesondere im Vorfeld von Betriebsratswahlen hervor. Danach finden rund 55 Prozent aller bekannten Fälle der Behinderung von Betriebsratswahlen
in Betrieben mit 51 bis 200 Beschäftigten statt.
SOBALD BESCHÄFTIGTE UND IHRE GEWERKSCHAFT
AM STATUS QUO DER BETRIEBSRATSLOSIGKEIT
RÜTTELN, STEIGT DIE WAHRSCHEINLICHKEIT,
DASS ES ZU PROBLEMEN KOMMT.
Dr. Martin Behrens,
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut
(WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung
2015 befragten die beiden WSI-Wissenschaftler
159 hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus verschiedenen Bezirken, Regionen und Geschäftsstellen über das Ausmaß und
die Art der ihnen bekannt gewordenen Versuche
von Arbeitgebern, Betriebsratswahlen zu hinter-
*Martin Behrens, Heiner Dribbusch: Arbeitgebermaßnahmen
gegen Betriebsräte: Angriffe auf die betriebliche Mitbestimmung, in: WSI-Mitteilungen 2/2014, Seiten 140-148
Seite 10 · Dokumentation
treiben beziehungsweise die Arbeit von Betriebsräten zu behindern. Dabei gaben 54 Prozent der
Befragten an, dass ihnen derartige Obstruktionsmaßnahmen bekannt sind. In knapp einem Drittel
dieser Fälle (32 Prozent) kam es am Ende nicht zu
einer Wahl.
Wahlbehinderung ist Straftatbestand
Dabei ist die Bildung von Betriebsräten in Deutschland durch das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG)
klar geregelt. Unter anderem heißt es im § 20 BetrVG:
„Niemand darf die Wahl des Betriebsrats behindern“. Ferner gilt – ebenfalls nach § 20 BetrVG:
„Niemand darf die Wahl des Betriebsrats durch
Zufügung oder Androhung von Nachteilen oder
durch Gewährung oder Versprechen von Vorteilen
beeinflussen.“ Wird dagegen verstoßen, stellt dies
nach § 119 BetrVG einen Straftatbestand dar.
Auch wenn im § 1 BetrVG festgelegt ist „In
Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen
drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt“,
ist dies längst nicht die Regel. Nach einer von
Behrens und Dribbusch zitierten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
aus 2015 verfügten 2014 lediglich zehn Prozent
der Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten über
einen Betriebsrat.
Einen wesentlichen Grund
für dieses Manko sehen die
Wissenschaftler darin, dass
in zahlreichen Unternehmen
weder die Gewerkschaft noch
die Beschäftigten einen Versuch unternommen haben, einen Betriebsrat zu installieren.
Sobald aber von der Belegschaft die Initiative zur Gründung eines Betriebsrats ausging, kam es in 16,3 Prozent
der Betriebe in den Organisationsbereichen der IG BCE und
IG Metall zu mehr oder weniger
massiven Behinderungen seitens der Arbeitgeber.
Was veranlasst die Unternehmer, sich so vehement gegen gesetzliche Vorgaben zu stemmen
und sich dabei womöglich sogar strafbar zu machen? Auch auf diese Frage haben die Wissenschaftler Antworten gefunden.
Sie verweisen dabei auf eine Studie von Böhm
und Lücking (2006) über Manager in Betrieben
ohne Betriebsrat. Diese skizziert drei Grundhaltungen, die dazu führen, dass Arbeitgeber Betriebs-
ARBEITGEBERVERHALTEN
räte als unproduktive Institutionen abwerten oder
gar als Bedrohung wahrnehmen:
1. Das Management versteht sich als besserer Problemlöser und bezweifelt, dass ein Betriebsrat in
der Lage ist, auftretende betriebliche Probleme
zu lösen. Betriebsräte sind aus dieser Sicht überflüssig.
2. Der Arbeitgeber sieht in dem Betriebsrat eine
Gefahr für den Betriebsfrieden, weil er ihm unterstellt, egoistische und ideologisch motivierte
Ziele zu verfolgen.
3. Der Unternehmer betrachtet einen Betriebsrat
als Kostenfaktor, den er nicht akzeptiert.
In der Praxis kaum Verurteilungen
Diese Grundhaltungen verfangen offenbar auch bei
den Gerichten. So kommt es in der Praxis – wie
mehrere Studien anhand von Beispielen belegen –
äußerst selten vor, dass ein Arbeitgeber, der nachweislich gegen den § 119 BetrVG verstoßen hat, verurteilt wird. Werden personenbezogene Repressalien angewandt, ist dies oft nicht nachweisbar. Meistens werden Verstöße gegen den § 119 BetrVG aber
wegen Geringfügigkeit oder mangelnden öffentlichen Interesses nicht weiterverfolgt.
Am häufigsten hintertreiben Arbeitgeber die
Gründung einer Betriebsratswahl durch mehr oder
weniger starkes Einschüchtern von Kandidatinnen und Kandidaten (siehe Tabelle). Das beginnt
zumeist schon in der Anfangsphase, wenn die
Wahl vorbereitet und ein Wahlvorstand gewählt
beziehungsweise gerichtlich bestellt wird. Dabei
schreckt das Management häufig nicht davor zurück, Kandidatinnen und Kandidaten für den Betriebsrat oder einzelne Mitglieder des Wahlvorstands zu versetzen oder gar zu kündigen.
Auf besonders geringe Akzeptanz stoßen Betriebsräte in inhabergeführten Betrieben. „In diesem Teil der deutschen Wirtschaft“, so Behrens
und Dribbusch, „scheinen der ‚Herr-im-Haus‘Standpunkt und eine geringe Bereitschaft, die
betriebliche Entscheidungsgewalt zu teilen, besonders weit verbreitet zu sein.“
Neue Qualität von Behinderungen
Bei der der Be- und Verhinderung von Betriebsratswahlen haben Behrens und Dribbusch eine neue
Qualität ausgemacht. So greift ein erheblicher Teil
von Arbeitgebern bei derlei Schikanen inzwischen
auf professionelle Hilfe zurück.
Nach Angaben der von den Wissenschaftlern
befragten Gewerkschaftssekretäre ließen sich Unternehmer in 47 Prozent der 2015 bekannt gewordenen Fälle, in denen sich Arbeitgeber gegen die
Wahl eines Betriebsrats wehrten, durch Anwaltskanzleien und Unternehmensberatungen unterstützen. In der Praxis könnten dies durchaus mehr
sein, da in 38 Prozent der Fälle die Hilfe von Profis
nicht zuverlässig nachgewiesen werden konnte.
Größtenteils bedienen sich die Arbeitgeber
ihrer örtlichen Hausanwälte. Allerdings können
sie in diesem Handlungsfeld mittlerweile auch
auf etliche, eigens auf die Bekämpfung betrieblicher Interessenvertretungen spezialisierte Anwaltskanzleien zurückgreifen. Damit – so die
Wissenschaftler – steige die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Arbeitgeber unterschiedliche Maßnahmen gleichzeitig einsetzt, um eine Betriebsratswahl zu behindern.
Maßnahmen gegen die Wahl eines Betriebsrats
Wo Unternehmen die Wahl eines Betriebsrats behinderten,
taten sie das durch ...
Einschüchterung möglicher Kandidaten/innen für den Betriebsrat
71%
Verhindern der Bestellung eines Wahlvorstandes
66 %
Kündigung von Kandidaten/innen für den Betriebsrat
20 %
Zuständiger Gewerkschaft wird Zugang zum Betrieb verwehrt
20 %
„Herauskaufen“ von Kandidaten/innen
19 %
Kündigung von Mitgliedern des Wahlvorstandes
13 %
Weigerung, Personallisten herauszugeben
10 %
Gezielte Reorganisation oder Aufspaltung des Unternehmens
9%
Quelle: 2. WSI-Befragung hauptamtlicher Gewerkschafter (2015)
Auf den Status quo bedacht
Besonders massiv richtet sich der Widerstand der
Arbeitgeber gegen systematische und nachhaltige
Initiativen der Gewerkschaften, Betriebsräte in bestimmten Regionen oder aufstrebenden Branchen
neu zu gründen. „Letztlich gibt es eine Reihe von Indizien dafür, dass gerade Arbeitgeber im Bereich der
neu gegründeten Betriebe sowie in Branchen ohne
traditionelle Verankerung der Schlüsselinstitutionen
der Arbeitsbeziehungen Betriebsräten eher distanziert gegenüberstehen“, berichten Behrens und
Dribbusch. Sie verweisen in diesem Zusammenhang
auf gewerkschaftliche Erfahrungen beim Aufbau
von Mitbestimmungsstrukturen in der Solar- und
Windenergie.
Generell stellen sie fest: Ist erst einmal ein Betriebsrat installiert, verringert sich der Widerstand
der Arbeitgeber oft zugunsten einer pragmatischen
Haltung. Die „weißen Flecken“ der Mitbestimmung sind daher die eigentlichen Problemzonen,
so das Fazit der Studie. „Immer dann, wenn Beschäftigte und ihre Gewerkschaft am Status quo
der Betriebsratslosigkeit rütteln, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Problemen kommt.“
Dokumentation · Seite 11
STUDIE DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG
HBS-STUDIE: BETRIEBSRATSGRÜNDUNGEN – TYPISCHE PHASEN, VARIANTEN UND PROBLEME
AUF DIE VERTRETUNGSWIRKSAMKEIT
KOMMT ES AN
Fünf Phasen einer Betriebsratsgründung unterscheidet die Studie von Ingrid Artus, Clemens
Kraetsch und Silke Röbenack von der Universität
Erlangen-Nürnberg, die von der Hans-BöcklerStiftung gefördert wurde*. In allen Phasen spielen Gewerkschaften eine wichtige Rolle, um einen vertretungswirksamen Betriebsrat zu etablieren.
Anhand von 54 Fallstudien haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler typische Verläufe und
Muster von Betriebsratsgründungen ausgemacht.
Die erste Phase ist gekennzeichnet durch ein
Stadium ohne formelle Interessenrepräsentation
und damit durch die Situation eines „Betriebs ohne
Betriebsrat“. Diese geht über in eine „Latenzphase“,
in der einige Beschäftigte die Idee entwickeln, eine
formalisierte Interessenvertretung – einen Betriebsrat – zu gründen und in der sie sich kundig machen,
wie dies bewerkstelligt werden kann. In den meisten Fällen nehmen sie dabei Kontakt zur Gewerkschaft auf.
Ihr folgt eine „Formierungsphase“, in der bereits erste rechtlich verbindliche Schritte eingeleitet werden. Typisch hierfür ist, dass ein offizielles
Wahlausschreiben erstellt und ein Wahlvorstand
eingesetzt wird. Diese Phase ist besonders sensibel, weil hier erstmals das Vorhaben in die betriebliche Öffentlichkeit gebracht und damit zum innerbetrieblichen Politikum wird.
Mit der erfolgten Betriebsratswahl schließt sich
die „Konstituierungsphase“ an, in der sich der neue
NACHGEFRAGT ...
... BEI INGRID ARTUS, PROFESSORIN FÜR SOZIOLOGIE
AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN-NÜRNBERG
Was sind die Motive von Beschäftigten aus KMU, einen
Betriebsrat zu gründen?
Artus: Man kann nicht sagen, dass es immer um Lohn
oder Arbeitszeit geht. Bei einem Teil der Betriebe gibt es
viele Gründe, weshalb die Beschäftigten einen Betriebsrat
wollen. In anderen Fällen sind
es einschneidende Vorfälle
im Betrieb, die Anlass geben, einen Betriebsrat zu
gründen. Das kann der geplante Verkauf eines Unternehmens oder eine Betriebsschließung sein, der
Tod eines Geschäftsführers oder ein neuer Nachfolger. Hier ist es zumeist ein Ereignis, das das bisherige Sozialgefüge oder gar die Existenz des Betriebs
in Frage stellt. In solchen Situationen sind sich viele
Beschäftigte häufig schnell einig, dass es einen Betriebsrat geben muss. Denn nur dieser kann einen
Sozialplan einfordern und aushandeln. In der Regel
geht es um Sicherheit und darum, eine formale und
mit Rechten ausgestattete Vertretung zu haben.
Seite 12 · Dokumentation
In der Praxis tun sich aber die Gewerkschaften
gerade in KMU sehr schwer, Betriebsräte zu
gründen. Woran liegt das?
Artus: Zwischen dem Wunsch nach einer vertretungswirksamen Interessenvertretung und dessen
Realisierung gibt es oft eine große Kluft. In den
meisten Fällen ist die Betriebsratsgründung ein zäher und langwieriger Prozess. Manchmal fehlen einfach die Protagonisten. Unter drei Aktiven geht aus
unserer Sicht gar nichts! Oft finden diese aber nicht
zusammen, oder die Belegschaft ist zerstritten. Viele fühlen sich auch zu sehr auf sich allein gestellt. In
dieser „Latenzphase“ brauchen sie dringend Unterstützung von außen, insbesondere von einer Gewerkschaft. Schwierig ist jedoch, wenn diese nur
gerufen wird, um einen Betriebsrat formal zu installieren.
Gibt es ein Erfolgsrezept?
Artus: Eine gute Strategie, um einen Betriebsrat
zu gründen, muss nachhaltig und beteiligungsorientiert angelegt sein. Sie braucht viele Aktive im
Betrieb. Der Betriebsrat als Organ für mehr Beteiligung der Beschäftigten: Das wär´s!
PHASEN DER BETRIEBSRATSGRÜNDUNG
Betriebsrat zu einem handlungsfähigen Kollektiv entwickeln sollte. Auch diese Phase ist oft kritisch, weil
sich das Gremium – zumeist mit Hilfe von außen
(Gewerkschaften und erfahrene Betriebsräte) – formieren muss. Zugleich muss es in dieser Zeit viele Erwartungen der Akteure und der Belegschaft erfüllen.
Der Prozess der Betriebsratsgründung endet
nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erst mit der „Phase der Vertretungswirksamkeit“ – das heißt dann, wenn der Betriebsrat in der Lage ist, „ein aktives Repräsentationsverhältnis zwischen Beschäftigten und Betriebsrat
sowie eine hinreichend funktionierende Aushandlungs- und Anerkennungsbeziehung mit der Geschäftsleitung“ herzustellen.
Als typische Muster von Betriebsratsgründungen
haben sich herauskristallisiert:
1. Betriebsrat als Schutz der gemeinschaftlichen
Sozialordnung – vorwiegend in industriell geprägten, ländlichen westdeutschen Mittel- und
Kleinbetrieben mit qualifizierter Belegschaft;
2. Betriebsrat als Erweiterung der individuellen Interessenvertretung – vorwiegend in sogenannten Wissensbetrieben mit hochqualifizierten,
selbstbewussten Beschäftigten;
3. Betriebsrat als Mittel der kollektiven Emanzipation – vorwiegend in Dienstleistungsbetrieben
mit prekären Arbeitsbedingungen;
4. Betriebsrat als Vertretung von Partialinteressen
– vorwiegend als Reaktion von Teilen der Belegschaft – oft des mittleren Managements –
auf betriebliche Einzelereignisse;
5. Blockierte Partizipation – bei der ein Betriebsrat
oft nur mit erheblichen Schwierigkeiten gewählt
wird, die Betriebsräte aber kaum Professionalität und Vertretungswirksamkeit entfalten kön-
nen. Dies liegt oft daran, dass es an entschlossenen und repräsentativen Akteuren mangelt,
die Belegschaft in sich gespalten und die Geschäftsleitung dauerhaft kooperationsunwillig
ist. Häufig fehlt auch die Unterstützung von Gewerkschaften.
Mobilisierungsprozesse herstellen
Die Studie kommt zu dem Ergebnis: Für den nachhaltigen Erfolg einer Betriebsratsgründung kommt
es entscheidend darauf an, dass der neugewählte
Betriebsrat vertretungswirksam ist. Er muss in der
Lage sein, am Ende eines wechselvollen betrieblichen Mobilisierungsprozesses zwischen den Beschäftigten und dem Betriebsrat eine aktive Beziehung herzustellen und diese durch erfolgreiches
und legitimes Vertretungshandeln permanent zu
erneuern. Überdies benötigt er eine hinreichende
Anerkennung der Geschäftsleitung, um unterschiedliche Interessen, Themen und Konflikte mit
ihr aushandeln zu können. In der Praxis gelingt
dies – nach den Erkenntnissen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – in etwa zwei Dritteln der beobachteten Betriebsräte.
Damit ein Betriebsrat vertretungswirksam sein
kann, müssen aber noch weitere Voraussetzungen
gegeben sein: die Existenz eines überzeugten und
überzeugenden Aktivistenkreises, eine kohärente
und solidarische Belegschaft, die kollektive Überzeugung, dass es nötig und möglich ist, die gegebenen betrieblichen Verhältnisse positiv zu verändern sowie Hilfe von außen, speziell durch Gewerkschaften und andere Betriebsräte.
*Ingrid Artus, Clemens Kraetsch, Silke Röbenack: Betriebsratsgründungen. Typische Phasen, Strategien und Probleme – eine
Bestandsaufnahme, Berlin 2015
BETRIEBE OHNE BETRIEBSRAT ERSCHLIESSEN – EIN SCHWERPUNKT DER IG METALL
„WEISSE FLECKEN“ DER
MITBESTIMMUNG BESEITIGEN
Der Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen
in noch nicht organisierten Betrieben hat auch
bei der IG Metall einen hohen Stellenwert.
Das langfristige Ziel lautet: Kein Metallbetrieb
ohne Betriebsrat!
Mit Hilfe sogenannter strategischer Erschließungsprojekte in allen Bezirken ist die IG Metall seit 2007
dabei, gezielt und systematisch „weiße Flecken“
der Mitbestimmung in ihrem Organisationsbereich
zu beseitigen. Ein thematischer Schwerpunkt sind
Betriebe ohne Betriebsrat (BoB).
Seit jeher gibt es in vielen Handwerksbetrieben
sowie in kleineren und mittelständischen Unternehmen (KMU) im Organisationsbereich der IG Metall
keinen Betriebsrat. Zunehmend Sorge bereitet der
Gewerkschaft allerdings der Strukturwandel in der
Elektro- und Metallindustrie. Branchen mit traditionell starken Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsstrukturen verändern sich, andere Bereiche (wie
erneuerbare Energien, Luft- und Raumfahrt sowie
industrielle Dienstleistungen), in denen Arbeitnehmervertretungen oft nur schwach entwickelt sind,
rücken in das Blickfeld. In 2014 wurden in 1 045 BeDokumentation · Seite 13
���������������������������������������������������������������������
trieben der Metall- und Elektroindustrie erstmals Betriebsräte neu gegründet. Dennoch: Rund 300 Betriebsratsgremien pro Jahr verschwinden – zumeist
durch Insolvenz oder Verlagerung.
Auch die Wertschöpfungsketten verändern sich.
Treiber sind vor allen die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung. Insbesondere die Großunternehmen sind dabei, sich neu aufzustellen. Es
geht darum, das Produktportfolio stärker auf die
Wachstumsmärkte der Zukunft auszurichten und
die Unternehmensstruktur sowie die Arbeitsprozesse entsprechend anzupassen. Mit wachsender
Beschleunigung werden weniger profitable Bereiche abgestoßen oder ganze Tätigkeitsfelder – wie
Forschung und Entwicklung, IT-Dienstleistungen,
Logistik, Finanzservices usw. – in mehr oder weniger selbstständige Betriebseinheiten ausgegründet,
in die Cloud verschickt oder gleich ins Ausland verlagert. Andere, neue – teilweise sogar unternehmensfremde – Innovationsbetriebe und Start-ups werden hinzugekauft, um sich Zukunftsknow-how zu
sichern oder Kostenvorteile zu verschaffen.
DIE IG METALL WILL SICH VON EINER GUTEN
BETREUUNGS- AUCH ZU EINER ERFOLGREICHEN
ERSCHLIESSUNGSGEWERKSCHAFT ENTWICKELN.
DAFÜR INVESTIEREN WIR IN DIE ZUKUNFT.
Susanne Kim, Leiterin des Ressorts Erschließung
beim Vorstand der IG Metall
Die Folge davon ist: Die Mitbestimmungsstrukturen bleiben oft nur noch auf das Kernunternehmen beziehungsweise auf dessen Kernbereiche
beschränkt. Demgegenüber baut sich an der Peripherie von großen Unternehmen – so etwa im Automobilcluster Leipzig rund um BMW und Porsche – ein breiter Gürtel von oft kleineren, weitgehend mitbestimmungs- und gewerkschaftsfreien
Betrieben auf. Auch das hohe Ausmaß von Leihund Werkvertragsarbeit sowie eine allgemeine
Schwächung der Tarifbindung sind bereits sichtbare Resultate dieser Entwicklung.
Mehr gewerkschaftliche Präsenz
Die IG Metall will hier mit neuen Ansätzen deutlich
gegensteuern. Sie will künftig mehr Präsenz in der
Fläche zeigen, um mitbestimmungs- und gewerkschaftsferne Zonen zurückzudrängen. Dabei sollen
die Bezirke und Geschäftsstellen stärker in die Verantwortung genommen werden.
Auf ihrem letzten Gewerkschaftstag 2015 beschloss die IG Metall einen neuen Rahmen für entsprechende Initiativen. Dieser misst der „Erschließungsarbeit“ einen höheren Stellenwert innerhalb
der Organisation bei und stellt hierfür deutlich mehr
Ressourcen aus der Zentrale zur Verfügung.
Seite 14 · Dokumentation
Unter „Erschließungsarbeit“ versteht die Gewerkschaft nicht nur, Betriebsräte zu gründen und
starke gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen –
dies vor allem in Zukunftsbranchen wie der Windindustrie, bei Entwicklungsdiensteistern, Kontraktlogistikern und Werkvertragsunternehmen. Viele
vom Vorstand der IG Metall geförderte „Erschließungsprojekte“ der vergangenen Jahre hatten auch
zum Ziel, in Betrieben, in denen die IG Metall bereits vertreten ist, verstärkt einzelne Berufs- oder
Personengruppen – Angestellte, Frauen, Leiharbeitnehmer usw. – für ein betriebliches und gewerkschaftliches Engagement zu gewinnen und
dort Tarifverträge abzuschließen.
Bestehende Mitbestimmungsstrukturen nutzen
In beiden Fällen – Erschließung von mitbestimmungs- und gewerkschaftsfernen Betrieben sowie
Zielgruppenarbeit – greift die IG Metall auf bereits
bestehende regionale oder konzernspezifische Mitbestimmungs- und Beteiligungsstrukturen zurück.
Beim Projekt „Automobilcluster in Leipzig“ beispielsweise waren von Anfang
an Betriebsräte und Vertrauensleute von Porsche und
BMW beteiligt. Schon lange
vor Projektbeginn gab es ein
überbetriebliches Automobilnetzwerk der IG Metall, das für
den Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den
Betriebsräten und Vertrauensleuten aus den Herstellerbetrieben einerseits und denen
aus den – oft klein-gliedrigen –
Dienstleistungsunternehmen andererseits sorgte.
Das erleichterte es, in zahlreichen Unternehmen
Aktivenkreise aufzubauen und Betriebsratswahlen durchzuführen. Erfolgreiches Ergebnis dieses
IG Metall-Projekts ist ein tariflicher Ordnungsrahmen, der BMW und Porsche daran bindet, Aufträge künftig vorrangig an Dienstleister zu vergeben,
die sowohl über einen Betriebsrat als auch über
einen Tarifvertrag verfügen.
Investition in die Zukunft
„Die IG Metall will sich von einer guten Betreuungs- auch zu einer guten Erschließungsgewerkschaft entwickeln. Dafür investieren wir in die Zukunft“, sagt Susanne Kim, Leiterin des Ressorts
Erschließung beim Vorstand der IG Metall. In den
Bezirken sind bereits 140 Projektstellen für „Erschließungssekretäre“ geschaffen worden. Überdies unterstützt die IG Metall die haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vor Ort mit einem umfassenden Angebot
an Beratung, Schulungen und Arbeitshilfen. Ein
Werkzeugkoffer enthält eine umfangreiche Sammlung von Informationen und Instrumenten für eine
systematische Arbeit. „Damit wollen wir Erschließungskompetenz in der gesamten Organisation
���������������������������������������������������������������������
verankern und ausbauen“, betont Susanne Kim. „Ziel
ist es, Erschließungsarbeit zu einer Standardaufgabe
jeder IG Metall-Geschäftsstelle zu machen.“
Mitbestimmung und Tarifbindung auch in KMU
In KMU und kleingliedrigen Betriebseinheiten – wie
etwa im Handwerk – liegt die besondere Herausforderung darin, eine Tarifbindung zu erlangen. Hierzu
gibt es ein Bündel von unterstützenden Maßnahmen im Rahmen eines gesonderten Projekts. In
diesem Bereich nachhaltige Mitbestimmungsstrukturen und Betriebsräte zu etablieren sowie Tarifstandards zu erreichen, ist die (Dauer-)Aufgabe der
regionalen Geschäftsstellen. In welchem Maße sie
sich im industriellen Mittelstand engagieren entscheiden allein die Bezirke und Geschäftsstellen je
nach organisationspolitischer Bedeutung. So etwa
erschließt die IG Metall-Geschäftsstelle Freiburg
pro Jahr über 15 neue Betriebe. Auch in anderen
strukturschwachen Regionen wie beispielsweise
Stralsund, wo es nur wenige Betriebe mit mehr als
150 Beschäftigten gibt, nehmen die Erschließung
und Betreuung von KMU einen hohen Stellenwert
in der Alltagsarbeit der Geschäftsstellen ein.
Betriebe ohne Betriebsrat (BoB)
Mit ihrer „Erschließungsarbeit“ will die IG Metall
nachhaltige betriebliche und gewerkschaftliche Mitbestimmungs- und Beteiligungsstrukturen schaffen.
Damit verbindet sie eine Abkehr von einer in vielen
Betrieben noch anzutreffenden Stellvertreterpolitik.
Kolleginnen und Kollegen aus Betrieben ohne Betriebsrat, die sich an ihre zuständige Geschäftsstelle wenden, um eine Betriebsratswahl durchzuführen, werden dann unterstützt, wenn es in ihrem Betrieb bereits eine Gruppe von Aktiven gibt. Dahinter
steckt der Gedanke, dass die „Institution Betriebsrat“ nur dann erfolgreich handeln kann, wenn sie
von vielen Beschäftigten mitgetragen wird und weitere Beteiligungsprozesse im Betrieb fördert.
In einigen Geschäftsstellen der IG Metall wurden BoB-Teams gebildet, die den Hauptamtlichen
dabei helfen, neue Betriebsräte zu gründen. Diese
Teams bestehen vorwiegend aus ehrenamtlichen
IG Metallern, Betriebsräten aus der Region und
sonstigen Unterstützern. Sie sollen den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben Mut machen
und stehen ihnen als Ansprechpartner oder Paten
zur Verfügung, wenn es zu ernsten Konflikten mit
dem Arbeitgeber kommt. Überdies sollen sie mithelfen, Aktivenkreise in den Betrieben aufzubauen.
Bei den Aktivenkreisen geht es der IG Metall vor
allem darum, die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen mental, aber auch mit Informationen rund um die
Wahl und die Aufgaben eines Betriebsrats zu unterstützen. „Diese Aktiventreffen sollen lebendige Orte
sein, in denen man sich persönlich kennenlernt und
erfährt, was andere bedrückt und wie man dies durch
gemeinsames Handeln verändern kann“, sagt Susanne
Kim. „Idealerweise sollten sie so ablaufen, dass dort
konkrete Aktivitäten geplant werden und andere Kol-
leginnen und Kollegen ebenfalls Lust bekommen, daran teilzunehmen und Aufgaben zu übernehmen. Hier
sollen sie beispielsweise auch erfolgreiche Betriebsräte aus anderen Betrieben kennenlernen können, die
sie ermutigen und unterstützen.“
Gerade in zugespitzten Konflikten im Kontext von
Betriebsratswahlen gehe es darum, den betroffenen Kolleginnen und Kollegen eine Art Schutzraum
zu bieten, so die Metallerin. „Oft werden ja auch
deren Partner, Freunde und sogar die ganze Familie in den Konflikt mit hineingezogen. Für diese
Fälle engagieren wir dann Mentaltrainer oder stel-
Organizing-Handbuch:
Der digitale Werkzeugkasten für die Praxis.
Werkzeugkoffer, um die verschiedenen Phasen des Erschließungsprozesses (Phase 1: Vorbereitung und Planung, Phase 2:
Zugang, Phase 3: Basisaufbau,
Phase 4: Themenkonflikt, Phase 5: Eskalation, Phase 6: Erfolg
und Nachhaltigkeit) erfolgreich
durchlaufen zu können.
Kontakt: [email protected]

Organizing-Han
dbuch
Der digitale Werk
zeugkasten
für die Praxis
len den Betroffenen Paten zur Seite, die sie in der
Öffentlichkeit begleiten. Das können prominente
Politiker, Pfarrer, bekannte Betriebsräte, Künstler
oder Medienleute sein.“
Auch hier setzt das neue Rahmenkonzept der
IG Metall neue Akzente: Es bietet umfassende Qualifizierungs- und Beratungsangebote nicht nur fachlicher Art, sondern auch, um die Persönlichkeit zu
stärken – sowohl für Hauptamtliche als auch für Ehrenamtliche. Dazu kommen kollegiale Fachberatung
und professionelle rechtliche Unterstützung.
„Gerade in mitbestimmungsfeindlichen Unternehmen haben wir in vielen Geschäftsstellen bereits deutlich an Land gewonnen, weil wir sie bei
der Gründung eines Betriebsrats proaktiv unterstützt und die Belegschaft aktiviert haben“, berichtet Susanne Kim. „Die Arbeitgeber beauftragen inzwischen professionelle Kanzleien und Agenturen,
um die Mitbestimmung in ihren Betrieben systematisch zu verhindern beziehungsweise zurückzudrängen. Sie führen fast unbehelligt eine Art Krieg vor
Ort. Dadurch stehen die Kolleginnen und Kollegen
unter einem massiven persönlichen Druck.“ Um
dem entgegenzuwirken – so die Metallerin – brauche es eine vorausschauende Planung, mehr Ressourcen und eine bessere Kommunikation auf allen
Ebenen der Organisation – aber ganz besonders auch
gesellschaftlichen Druck. „Wir müssen konsequent
öffentlich machen, wenn Arbeitgeber sich durch
skandalöses Verhalten hervortun. Union Bashing
ist für uns nicht akzeptabel.“
Dokumentation · Seite 15
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
NEUE BETRIEBSRÄTE GRÜNDEN: TRANSFER UND NACHHALTIGKEIT SICHERN
GESTALTUNGSMACHT GEWINNEN
Die Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben ist Ausdruck der demokratischen Verfassung der Wirtschaft und Gesellschaft in
Deutschland. Betriebsräte sind ihre wesentlichen Stützpfeiler. Dies ist auch vom Gesetzgeber so gedacht. Doch die Arbeitgeber kümmern sich zu wenig darum. Dabei gilt das Betriebsverfassungsgesetz auch für sie. Einzig
die Gewerkschaften sehen sich vor die Aufgabe gestellt, in allen Betrieben mit mehr als
fünf wahlberechtigten Beschäftigten Betriebsratswahlen stattfinden zu lassen. Welche
Konsequenzen lassen sich aus den hier präsentierten gewerkschaftlichen Erfahrungen
und den Erkenntnissen wissenschaftlicher
Studien für eine systematische und nachhaltige (Erst-)Gründung von Betriebsräten und
den Aufbau wirkungsmächtiger Mitbestimmungsstrukturen im industriellen Mittelstand ziehen?
Mitbestimmung macht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Bürgerinnen und Bürgern im Betrieb.
Mehr Demokratie und Mitbestimmung in die Unternehmen hineinzutragen ist für die Gewerkschaften
daher ein strategisch wichtiges Thema. Besonders
Seite 16 · Dokumentation
der Gründung neuer Betriebsräte kommt dabei
zentrale Bedeutung zu.
Für Beschäftigte gelten umfassende Rechte. Ob
und wie die bestehenden Gesetze im Betrieb umgesetzt werden, darüber zu wachen ist Aufgabe des
Betriebsrats. Nur wo es Betriebsräte gibt, kann das
Betriebsverfassungsgesetz umgesetzt und sichergestellt werden, dass Arbeitnehmer(schutz-)rechte
angewandt und eingehalten werden.
Betriebsräte tragen wesentlich dazu bei, dass
die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen
nicht weit auseinanderklaffen. Ihnen stehen dafür
Informations-, Beteiligungs- und Mitspracherechte
zur Verfügung. Sie können proaktiv im Interesse
der Beschäftigten – und gemeinsam mit ihnen –
betriebliche Themen voranbringen, denn sie verfügen außerdem über Initiativrechte. Nicht zuletzt
gibt es Rechte zugunsten der Beschäftigten, die
ausschließlich an das Bestehen eines Betriebsrats gebunden sind. Dazu gehört, im Falle einer
Unternehmenskrise, einen Sozialplan für die von
betrieblichen Veränderungsprozessen bis hin zu
Stellenabbau betroffenen Beschäftigten auszuhandeln. Betriebsräte sind damit eine institutionelle
Macht und wesentliche Stützpfeiler für Demokratie und soziale Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben.
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
Aber das ist nicht der einzige Grund für die
Gewerkschaften, insbesondere im Rahmen der
„Offensive Mitbestimmung“, Interessenvertretungen und Mitbestimmungsstrukturen systematisch
auszubauen. Denn erst das Zusammenspiel von
engagierter betrieblicher und aktiver gewerkschaftlicher Interessenvertretung gewährleistet
eine lebendige und wirkungsmächtige Mitbestimmungskultur im Betrieb. Dort, wo es starke gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte gibt, verfügen die Gewerkschaften in der Regel über eine
starke Mitgliederbasis und damit über eine hohe
Durchsetzungskraft. Und diese wiederum ist Voraussetzung, um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten weiter verbessern und Tarifverträge
abschließen zu können.
Es ist daher für die Gewerkschaften als Promotoren der Mitbestimmung nicht damit getan, sich
„nur“ darauf zu konzentrieren, Betriebsräte als
„institutionelle Macht“ zu etablieren. Sie müssen
auch dafür Sorge tragen, eine demokratie- und
mitbestimmungsförderliche Kultur in den Betrieben zum Leben zu erwecken und langfristig zu sichern. Dazu bedarf es Gestaltungsmacht.
Zusammenarbeit unterschiedlicher Gliederungen
Eine weitere Erkenntnis ist, dass es für nachhaltige Strategien für mehr Demokratie und Mitbestimmung im Betrieb erforderlich ist, dass alle
Ebenen der Organisation zusammenarbeiten.
Das Kunststoffprojekt der IG BCE wurde entsprechend eines Beschlusses des geschäftsführenden Hauptvorstands im August 2012 aus Mitteln eines zentralen Investitionsfonds finanziert.
Die Projektleitung war im Vorstandsbereich 2
(Mitbestimmung und Sozialpolitik) angesiedelt,
die Planung übernahm eine organisationsinterne
Fachgruppe der Hauptverwaltung über verschiedene Ressorts hinweg (Mitbestimmung, Marketing, Tarifpolitik, Betriebsverfassung und Justitiariat). Die operative Steuerung erfolgte durch die
beteiligten Landesbezirke, denen die insgesamt
acht Projektsekretärinnen und -sekretäre zugeordnet waren. Durch monatliche Fortschrittsberichte
an die Projektleitung (Anzahl der Neuaufnahmen,
Anzahl der erschlossenen Betriebe, Betriebskontakte, Gespräche in Aussicht, Anfragen nach Tarifvertrag) und das Erstellen monatlicher Gesamtübersichten konnte der Projektfortgang auf allen
Ebenen (Vorstand, Cluster/Bezirke, Sekretärinnen
und Sekretäre vor Ort) zeitnah nachverfolgt werden. Regelmäßige Treffen (quartalsweise „Jourfixe“) und Telefonkonferenzen sowie jährliche Projektworkshops (November 2014, Oktober 2015,
Juni 2016) halfen dabei, die Zusammenarbeit mit
den Bezirken zu optimieren, die Projektsteuerung
an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen
und Qualifizierungsangebote sowohl auf die Bedürfnisse der Projektsekretärinnen und -sekretäre
vor Ort als auch auf die betrieblichen Akteure zuzuschneiden.
Auch bei der IG Metall erfolgt die „Erschließungsarbeit“ in enger Kooperation unterschiedlicher
Gliederungen der Organisation. Hierzu zählt das
Zusammenwirken des zentralen Organizing-Teams
beim IG Metall-Vorstand mit den Bezirken und den
Geschäftsstellen. Bei der bezirks- und geschäftsstellenübergreifenden Erschließung von strategischen Konzernen in neuen Branchen wie der Windindustrie oder bei den Entwicklungsdienstleistern
übernimmt das Organizing-Team die strategische
Planung der Projekte, entwickelt passgenaue Ansätze und Methoden und stellt auch die personellen Ressourcen (Organizer) zur Verfügung. Auch
bei der IG Metall gibt es einen strategischen Investitionsfonds, aus dem heraus „Erschließungsprojekte“ finanziert werden. Bei der Kampagne zum
Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen in der
Windbranche beispielsweise wurde ein dreizehnköpfiges Organizing-Team zusammengestellt. Hierbei übernahmen erfahrene Organizer, die vom zentralen Organizing-Team beim IG Metall-Vorstand entsendet wurden, die Projekt- und Teamleitung. Die
ebenfalls an dem Projekt beteiligten Sekretärinnen
und Sekretäre aus den Geschäftsstellen erhielten
zu Beginn eine mehrwöchige Grundlagenqualifizierung mit Schwerpunkt auf die Themen „Erschließungsmethoden“ und „Gesprächstechniken“.
Betriebsräte gründen ist aufwändig
Wie aufwändig es in Wirklichkeit ist, in der Fläche
betriebliche und gewerkschaftliche Mitsprache zu
organisieren, wird häufig von den beteiligten Akteurinnen und Akteuren unterschätzt. Bereits die Planung eines Projekts beansprucht viel Zeit, insbesondere wenn es darum geht, KMU zu erschließen
– und erst recht, wenn sie sich in strukturschwachen
großflächigen Regionen befinden. Die strategische
Recherche nimmt dabei einen großen Platz ein.
Beim Kunststoffprojekt der IG BCE erfolgte die
Auswahl der Betriebe, die sich die Clusterverantwortlichen in den beteiligten IG BCE-Bezirken vornahmen, auf der Basis der „Hoppenstedt-Liste“.
Diese diente zunächst nur dazu, sich einen Überblick zu verschaffen und um erste Entscheidungsfilter anzuwenden (Feststellen der Branchenzugehörigkeit, Auswahl nach Unternehmensgröße usw.).
Dies erleichterte die Recherche. Komplizierter
Dokumentation · Seite 17
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
wurde es, in Erfahrung zu bringen, welche Realität
sich hinter diesen Daten verbarg. Wie kommt man
an detaillierte wirtschaftliche Informationen über
ein bestimmtes Unternehmen? Hat es verschiedene Standorte in der Region? Wie hoch ist die Anzahl der Beschäftigten? Wie agiert das Unternehmen im politischen und sozialen Umfeld, welche
Unternehmenskultur herrscht dort? Was sind die
besten Zugangsmöglichkeiten (öffentlich erreichbare Parkplätze, Schichtwechsel usw.)?
Selbst wenn diese Fragen beantwortet werden
konnten – meistens mussten die Betriebe mehrfach und zu unterschiedlichen Zeiten hierfür angefahren werden –, gab es immer noch die Unsicherheit: Finden sich durch direkte Ansprache genug
Menschen, die einen Betriebsrat gründen möchten? Oder ist es besser, sich über den Arbeitgeber
Zugang zum Betrieb zu verschaffen? Wodurch
könnte man Druck auf das Unternehmen ausüben,
wenn sich der Arbeitgeber gegen die Wahl eines
Betriebsrats wehrt?
Besonders intensiv wurde die Arbeit, sobald
erste Kontakte zu betrieblichen Kolleginnen und
Kollegen geknüpft worden waren. Hierbei verlangte die Situation häufig, rund um die Uhr erreichbar
zu sein, kurzfristig Basis-Qualifizierungen zu organisieren oder auch persönliche Betreuungsarbeit
zu leisten. Die hier abgeforderte zeitliche Intensität
muss daher in der Ressourcenplanung von vornherein angemessen berücksichtigt werden.
OHNE AKTIVE FUNKTIONIERT KEINE
NACHHALTIGE MITBESTIMMUNGSUND BETEILIGUNGSKULTUR, DIE IMMER AUCH ZIEL VON BETRIEBSRATSGRÜNDUNGEN SEIN SOLLTE.
Beim Zugang gibt es keinen Königsweg
Ob durch direkte Ansprache von Kolleginnen und
Kollegen vor dem Tor, das großflächige Verteilen
von Infomaterial auf Werkparkplätzen oder durch
ein Anschreiben an den Arbeitgeber: Es gibt keinen Königsweg, sich Zugang zu einem Betrieb zu
verschaffen. Beim Kunststoffprojekt der IG BCE
entschieden die Clusterverantwortlichen zusammen mit den ebenfalls am Projekt beteiligten Bezirksleiterinnen und -leitern über den jeweiligen
Einsatz der Methoden.
Das Wichtigste allerdings ist: zahlreiche Gespräche führen, persönliche Kontakte knüpfen und
Schlüsselpersonen ausfindig machen, die Problemdruck haben und sich gegenüber der Gewerkschaft offen zeigen. So erhält man erste Eindrücke
von dem Betriebsklima und Hinweise auf relevante
Themen.
Seite 18 · Dokumentation
Ohne Aktive in den Betrieben geht es nicht
Trotz intensiver Recherche und mehrfacher Kontaktaufnahme kommt es immer wieder vor, dass
sich nicht genügend Kolleginnen und Kollegen in
den Betrieben finden, die bereit sind, eine Betriebsratswahl „durchzuziehen“. Die Angst vor Repressalien seitens des Arbeitgebers spielt hier oft eine
wesentliche Rolle, aber auch mangelndes Selbstbewusstsein von Einzelnen sowie fehlende Teambindung oder Führungsfähigkeit, wie die Studie
von Ingrid Artus betont.
In solchen Fällen – so die Erkenntnis aus dem
Kunststoffprojekt und der Studie von Ingrid Artus –
macht es wenig Sinn, den entsprechenden Betrieb
weiterhin regelmäßig anzusteuern oder einen Betriebsrat gar von außen zu installieren, der dann
von der Belegschaft nicht getragen wird. Die Faustregel der IG BCE hat sich bewährt: Es muss in einem
Betrieb ein Team von Aktiven von mindestens
doppelter Größe geben, die notwendig ist, um
einen Wahlvorstand zu benennen. Ohne sie funktioniert keine nachhaltige Mitbestimmungs- und
Beteiligungskultur, die immer auch Ziel von Betriebsratsgründungen sein sollte.
Die IG Metall fährt bei ihren „Erschließungsprojekten“ einen klaren Kurs: Sie will weg von einer
Stellvertreterpolitik, bei der sich Betriebsräte hinter ihrer institutionellen Macht verschanzen.
Starthilfe bieten, Aktivenkreise einrichten
Erfolg ist, wenn sich ausreichend betriebliche Akteure finden, die überzeugt sind: Wir brauchen einen Betriebsrat – koste es, was es wolle! Dann geht
es darum, ihnen eine gute Starthilfe zu bieten.
Aktivenkreise zu bilden, ist ein wichtiger Ansatz,
um regelmäßig mit den betrieblichen Akteuren ins
Gespräch zu kommen. Hierbei geht es zunächst
darum, einen Schutzraum einzurichten, in den sich
die Kolleginnen und Kollegen auch mit ihren persönlichen Belangen einbringen können. Hier sollen
sie Empathie erfahren, sich gegenseitig ermutigen
können und erste Informationen erhalten, was ein
Betriebsrat für sie bedeutet und was bei einer Wahl
zu beachten ist.
Hilfreich ist, wenn es überbetriebliche Unterstützerkreise gibt – wie etwa die BoB-Teams in
einzelnen Geschäftsstellen der IG Metall. Das erleichtert es, den Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen aus anderen Betrieben herzustellen, die mit
ihrem Vorgehen bereits Erfolg hatten. Im Falle
massiver Be- und Verhinderungsaktivitäten des
Arbeitgebers kann über das Team auch öffentlicher Druck aufgebaut beziehungsweise solidarische Unterstützung der Betroffenen organisiert
werden. Für den Fall, dass jemand persönlich vom
Arbeitgeber massiv bedrängt wird, empfiehlt es
sich, ihm oder ihr Paten zur Seite zu stellen, die ihn
oder sie unterstützen.
Beim Kunststoffprojekt der IG BCE wurde der
Qualifizierung der betrieblichen Akteure und der
Vermittlung von Grundkenntnissen des Betriebs-
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
verfassungs- und Arbeitsrechts gleich zu Beginn
der gemeinsamen Arbeit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Teilweise in Crash-Kursen sollten sie vor
überzogenen Erwartungen geschützt und mit den
realen Problemen im Vorfeld einer Betriebsratswahl
bekannt gemacht werden. Dies führte jedoch in einigen Fällen dazu, dass sich betriebliche Kolleginnen und Kollegen eher ernüchtert zurückzogen. Es
ist daher manchmal ein schwieriger Spagat, bei
den ersten Zusammentreffen einerseits für eine
schützende Wohlfühlatmosphäre zu sorgen und andererseits die Kolleginnen und Kollegen für betriebliches Engagement oder konkrete Aufgaben zu motivieren und ihnen dabei eine realistische Sicht auf
die gegebenen Kräfteverhältnisse zu vermitteln.
Gestaltungskompetenz aufbauen
Betriebe, insbesondere im industriellen Mittelstand,
aufzusuchen, um einen Betriebsrat zu gründen,
verlangt von den beteiligten Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären ein hohes Maß an fachlicher und organisatorischer Kompetenz, aber auch
persönliche Standfestigkeit, kommunikative Fähigkeiten und Konfliktbereitschaft.
Die in das Kunststoffprojekt der IG BCE eingebundenen Projektkolleginnen und -kollegen wurden
noch vor dem eigentlichen Projektstart in einem
einmonatigen Intensivkurs geschult. Die Vermittlung der einzelnen Bausteine übernahmen hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen aus der Hauptverwaltung der IG BCE. Dies hatte den Vorteil,
dass die Projektsekretärinnen und -sekretäre hierbei gleich ihre Ansprechpartner zu den einzelnen
Themen kennenlernten. Die gemeinsame Schulung trug auch dazu bei, dass sie sich besser untereinander verständigen und Erfahrungen austauschen konnten. Ergänzt wurde diese Qualifizierung durch spezielle fachliche Schulungen in den
einzelnen Clustern sowie im Anschluss an die
Jour-fixe-Treffen.
Bei den Qualifizierungen im Rahmen der „Erschließungsarbeit“ der IG Metall stehen die organisatorische und kommunikative Kompetenzentwicklung im Zentrum. Insbesondere werden die
Projektsekretärinnen und -sekretäre dabei intensiv
auf schwierige Ansprache- und Anfangssituationen vorbereitet, um diese erfolgreich bewältigen
zu können.
Gestaltungskompetenz aufbauen bedeutet jedoch auch, die in entsprechenden Projekten gewonnenen Erfahrungen und das hierbei erarbeitete Wissen breitflächig in die Organisation hineinzutragen. Dazu müssen die Erkenntnisse stärker in
die Aus- und Weiterbildung der hauptamtlichen
Sekretärinnen und Sekretäre sowie in geeignete
Arbeitshilfen einfließen. Überdies bedarf es einer
intensiveren Öffentlichkeitsarbeit auf diesem Gebiet, um den Diskurs über Erfolge und Misserfolge
sowie Chancen und Risiken der Projekte zu führen. Dieser ist notwendig, um nicht nur die Strategien, sondern auch die organisatorischen Voraus-
Vertreten auf Branchen- und Betriebsebene
Von den Beschäftigten in privatwirtschaftlichen Betrieben
ab 5 Beschäftigten arbeiteten in 2015 in…
Quelle: IAB-Betriebspanel
setzungen für nachhaltig erfolgreiche Betriebsratsgründungen ständig zu optimieren.
Nachhaltige Betreuung sichern
Waren die ersten Schritte zur Gründung eines Betriebsrats erfolgreich, ergeben sich daraus Anforderungen an eine nachhaltige und moderne gewerkschaftliche Unterstützung. Ansonsten erstirbt
das zarte Pflänzchen demokratischer Mitgestaltung der Arbeit im Betrieb schnell wieder.
Beim Kunststoffprojekt der IG BCE hat es sich
als hilfreich erwiesen, dass von dem Zeitpunkt an,
zu dem die Betriebsratswahl in einem Betrieb eingeleitet wird (Wahl beziehungsweise Bestellung
des Wahlvorstands) der für den Bereich zuständige
Bezirkssekretär hinzugezogen wurde. In besonders
schwierigen Fällen und Situationen sind die Bezirke
ohnehin bereits zum Zeitpunkt der Wahlversammlung beteiligt worden. Nach der Konstituierung eines
Betriebsrats schieden die Projektsekretärinnen und
-sekretäre allmählich aus. Oft waren sie aber noch
bei den ersten Grundqualifizierungen mit dabei.
Dieser Übergabewechsel ist häufig ein heikler
Prozess für alle Beteiligten. Wichtig ist, dass er
schonend erfolgt und in eine nachhaltige Betreuung mündet. Diese sollte sich nicht nur darauf konzentrieren, den neugewählten Betriebsrat zu beraten und zu unterstützen, sondern auch die weiteren
betrieblichen Akteure, die an dem gesamten Geschehen rund um die Betriebsratswahl teilgenommen haben (Aktivenkreis), mit im Blick haben. Gemeinsam mit ihnen geht es darum, ergänzende
Mitsprache- und Beteiligungsstrukturen (Jugendvertretung, Vertrauensleute, Arbeits-/Fachgruppen
des Betriebsrats) im Betrieb aufzubauen, um so
die Durchsetzungskraft des Betriebsrats zusammen mit der Belegschaft und der Gewerkschaft
vor Ort zu stärken.
Dokumentation · Seite 19
Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern
Die neugewählten Betriebsräte sollten über geeignete Schulungsmaßnahmen informiert und motiviert werden, sich regelmäßig weiterzubilden. Es
empfiehlt sich zudem, insbesondere für Betriebsräte
aus KMU, auf regionaler Ebene ein Netzwerk neu
gewählter Betriebsräte aufzubauen, in dem sie ihre
Erfahrungen untereinander austauschen können.
Schikanen abwehren
Für das Auseinanderfallen von gesetzlichem Anspruch und betrieblicher Realität gibt es Verantwortliche: unkooperative und mitbestimmungsfeindliche
Arbeitgeber. Auch dies ist eine Erkenntnis, die aus
den gewerkschaftlichen Erfahrungen mit den Projekten zum Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen
im industriellen Mittelstand und den präsentierten
wissenschaftlichen Studien resultiert.
DAS MISSBRAUCHSVERHALTEN DER ARBEITGEBER HAT EINE NEUE QUALITÄT
Das Ausmaß der Aggression und die Massivität
der Abwehr, mit welcher sich zahlreiche Arbeitgeber – insbesondere aus kleinen und mittelständischen Betrieben – gegen die Wahl von Betriebsräten stemmten, hat alle Beteiligten des Kunststoffprojekts der IG BCE überrascht. In so gut wie keinem
Betrieb haben sich die Projektsekretärinnen und
-sekretäre anfangs willkommen gefühlt. Mit teilweise rüden Methoden wurden sie von den Werktoren oder von den öffentlichen Parkplätzen vor dem
Betriebsgelände vertrieben. Gelegentlich wurden
sie übel beschimpft, in Einzelfällen kam es sogar
zu Handgreiflichkeiten.
Auch die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen, die sich für einen Betriebsrat stark machten,
wurden nicht verschont. Vielen wurden Nachteile
angedroht, einige waren Repressalien ausgesetzt
worden: übler Nachruf, Versetzen auf eine andere
Stelle mit teilweise erheblichen Mängeln (schlechte Witterungsverhältnisse und Umgebungsfaktoren), Kündigung. Manche Arbeitgeber ließen sich
bei ihren Abwehr- und Abschreckungsmaßnahmen
von Anwaltskanzleien beraten.
Die Befragung der beiden Wissenschaftler Martin
Behrens und Heiner Dribbusch bestätigen das hohe
Ausmaß von Abwehr und die Aggressivität, mit
der viele Arbeitgeber – besonders aus KMU und
inhabergeführten Betrieben – vor allem gegen die
Erstgründung von Betriebsräten zu Felde ziehen.
Sie beobachten eine neue Qualität von Betriebsratswahlbe- und verhinderung durch die professionelle Unterstützung von Anwälten.
Mit ihrem Verhalten zielen die Arbeitgeber darauf, gerade in jungen und mitbestimmungsfernen
Branchen sowohl die Gewerkschaften als auch die
Seite 20 · Dokumentation
Beschäftigten einzuschüchtern. Die damit einhergehenden Ängste und persönlichen Schwierigkeiten werden heute in der Aus- und Weiterbildung von
Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären sowie
in den Betriebsratsschulungen bereits thematisiert.
Noch zu wenig wird allerdings in den Gewerkschaften problematisiert, was es bedeutet, wenn
dieses Vorgehen der Arbeitgeber zunehmend dazu
führt, dass der Einsatz eines Wahlvorstands über
eine gerichtliche Bestellung erfolgen muss. So ist
anzunehmen, dass Betriebsratsgründungen künftig in steigendem Maße davon abhängig sind, wie
zügig oder langwierig die zuständigen Gerichte darüber entscheiden.
Die Fälle, in denen ein Wahlvorstand eingeklagt
wurde, haben beim Kunststoffprojekt der IG BCE
dazu geführt, dass einige Projektsekretärinnen und
-sekretäre sowie betriebliche Akteure durch dieses
verschleppte Verfahren demotiviert wurden. Sie waren nicht mehr Herr des Geschehens, was sie nach
dem Gesetz eigentlich hätten sein sollen. Manche
betriebliche Kollegin und mancher Kollege zog sich
deshalb zurück. Es kam nicht zur Betriebsratswahl.
Damit hatten die Arbeitgeber ihr Ziel erreicht.
Gegenöffentlichkeit aufbauen
Aber nicht nur, dass die Gerichte zunehmend bestimmen, ob und in welchem Betrieb ein Betriebsrat zustande kommt, ist äußerst problematisch.
Nicht weniger gefährlich ist der Imageschaden,
den die demokratische Institution „Betriebsrat“
und ihre Protagonisten, insbesondere Betriebsräte, erleiden.
Hier sind nicht nur die Gewerkschaften in hohem Maße und kurzfristig gefordert, geeignete
Gegenstrategien und eine stärkere Gegenöffentlichkeit zu entwickeln, die die Risiken eines solchen Arbeitgeberverhaltens für die bestehende
demokratische Verfassung von Wirtschaft und
Gesellschaft in Deutschland und den Erhalt des
sozialen Friedens in den Mittelpunkt stellt.
Im Kunststoffprojekt der IG BCE wurde immer
wieder die Spannung zwischen einer angemessenen Skandalisierung und dem Schutz der betroffenen Kolleginnen und Kollegen ausgelotet. Dabei
ist in einzelnen Fällen entschieden worden, darauf
zu verzichten, unfaires bis strafrechtlich relevantes
Arbeitgeberverhalten zu ahnden und öffentlich zu
machen, um die ohnehin angespannte Situation
im Betrieb nicht weiter eskalieren zu lassen.
Rechtsbruch und skandalöses Arbeitgeberverhalten, um Betriebsratswahlen zu be- oder verhindern, sind keine Kavaliersdelikte. Die Chance darauf,
diese Verstöße künftig in die Öffentlichkeit tragen zu
können ohne die betroffenen Betriebsräte und betrieblichen Akteure zu gefährden, bietet die „Offensive Mitbestimmung“ des DGB. Sie will auf allen
gewerkschaftlichen Handlungsebenen – in den Gewerkschaften sowie in Unternehmen und Politik –
die Debatte um den Erhalt und Ausbau einer zukunftsfähigen Mitbestimmung voranbringen.