Auf Augenhöhe – Mitbestimmen im industriellen Mittelstand BETRIEBSRÄTE GRÜNDEN — MITBESTIMMUNG VERANKERN Dokumentation WEITERDENKEN. MITGESTALTEN. MITBESTIMMUNG. Die Kampagne zum Mitbestimmungsjahr 2016 www.zukunftmitbestimmung.de Betriebsräte sind Teil einer lebendigen Demokratie in Deutschland. In allen Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten sind sie zu wählen. Der Gesetzgeber wollte mit dem Betriebsverfassungsgesetz ’76 sicherstellen, dass Mitbestimmung als Ausdruck des Demokratieprinzips der sozialen Marktwirtschaft nicht nur den Großbetrieben vorbehalten bleibt. Hier gab es immer schon starke Interessenvertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mitsprache und Beteiligung der Beschäftigten statt autoritäre Führung und paternalistische Gönnerhaftigkeit sollten auch in kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) einziehen. Aber nur einer von zehn betriebsratsfähigen Betrieben in Deutschland hat einen Betriebsrat. Sowohl die Gründung von Betriebsratsgremien als auch die Tarifbindung sind rückläufig. Im Gegenzug breiten sich „weiße Flecken“ der Mitbestimmung sowohl in West- als auch in Ostdeutschland aus. Die Mitbestimmung zählt zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren des „Modells Deutschland“, das nicht nur europa-, sondern auch weltweit große Anerkennung erfährt. Wird sie geschwächt, gefährdet das die Leistungsfähigkeit des deutschen Systems der industriellen Beziehungen. Es ist daher bedrohlich, wenn immer öfter darüber berichtet wird, INHALT Vorwort: Reiner Hoffmann Den mitbestimmungspolitischen Stillstand überwinden5 Das Kunsstoffprojekt der IG BCE Offensiv auf Augenhöhe4 WSI-Studie: Arbeitgeberverhalten bei Betriebsratswahlen Mitbestimmung oft nicht erwünscht10 HBS-Studie: Betriebsratsgründungen – typische Phasen, Varianten und Probleme Auf die Vertretungswirksamkeit kommt es an12 Betriebe ohne Betriebsrat erschließen – ein Schwerpunkt der IG Metall „Weiße Flecken“ der Mitbestimmung beseitigen13 Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern Gestaltungsmacht gewinnen16 dass Arbeitgeber die Gründung und die Arbeit von Betriebsräten vorsätzlich behindern. Das ist heute bereits bei jeder sechsten Betriebsratsgründung der Fall. Dabei liegt es auch in der Verantwortung der Arbeitgeberseite, das Betriebsverfassungsgesetz in der Praxis anzuwenden. Dies nicht zu tun, sollte wie andere Gesetzesverstöße strafrechtlich geahndet werden. Überdies ist es einer modernen, auf Dialog und Kompromiss ausgerichteten Arbeitsgesellschaft unwürdig, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre gesetzlichen Mitbestimmungsrechte nicht voll umfänglich wahrnehmen können. Das gilt ganz besonders auch für die Beschäftigten im industriellen Mittelstand. So zeigen doch die jährlichen Auszeichnungen für vorbildliche Mitbestimmungspraxis beim Deutschen Betriebsrätetag, wie innovativ und wertvoll die Impulse von Betriebsräten gerade aus KMU häufig sind. Die Leitideen des Betriebsverfassungsgesetzes sind vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung, gegenseitiger Respekt und Verhandeln auf Augenhöhe. Aber gerade im industriellen Mittelstand fallen gesetzlicher Anspruch und betriebliche Wirklichkeit – auch nach vierzig Jahren Mitbestimmung – noch immer weit auseinander. Es ist daher Ziel gewerkschaftlicher Anstrengungen in jüngster Zeit, gerade in diesem Segment der Wirtschaft, mitbestimmungsfreie Zonen zurückzudrängen. Sie sind hier am Beispiel des Kunststoffprojekts der IG BCE sowie ähnlicher Initiativen der IG Metall etwa in der Windindustrie dokumentiert. Erschreckend ist auch das Ausmaß und die neue Qualität eines Arbeitgeberverhaltens, das weder vor Missbrauch noch Strafe zurückschreckt, um insbesondere die Erstwahl von Betriebsräten zu be- oder gar zu verhindern. Dies belegen die Studien des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) und an der Universität Nürnberg-Erlangen. Hierbei handelt es sich nicht mehr um Bagatelldelikte, wie manche Gerichte darüber urteilen. Hier geht es um tätliche Angriffe auf die Demokratie, die einer wachsenden Entsolidarisierung innerhalb der Gesellschaft Vorschub leisten. Sie führen nicht nur zu einer verstärkten Ungleichheit bei den Arbeits- und Lebensbedingungen von Beschäftigten in Großbetrieben und KMU. Sie tragen mit dazu bei, dass grundlegende demokratische Rechte immer mehr Beschäftigten in einem durch den Strukturwandel zunehmend bedeutsamen Bereich vorenthalten werden. IMPRESSUM Herausgeber Hans-Böckler-Stiftung Hans-Böckler-Straße 39 40476 Düsseldorf Telefon +49 211 7778-0 www.boeckler.de Seite 2 · Dokumentation Koordination: Norbert Kluge, Petra Adolph Text, Satz und Layout: Agentur WAHLE COM, 56479 Elsoff Design: A&B One Kommunikationsagentur, Berlin Fotos: Matthias Jung, Jürgen Seidel Kurzfilme: WAHLE COM/Central Vision, Berlin Stand: Düsseldorf, November 2016 Vorwort VORWORT DEN MITBESTIMMUNGSPOLITISCHEN STILLSTAND ÜBERWINDEN Betriebsräte sind Garanten für mehr Demokratie im Betrieb und für die sozialpartnerschaftliche Gestaltung von Guter Arbeit. Joachim Gauck nannte die Mitbestimmung ein „Kernelement der Kooperationskultur“ und erinnerte auf dem Festakt „40 Jahre Mitbestimmungsgesetz ‘76“ des DGB und der HansBöckler-Stiftung daran, dass „Mitbestimmung (…) beständiges Ringen um Balance, Kontrolle und Teilhabe“ war und ist. Ein besonders zähes Ringen finden wir viel zu oft in den Klein- und Mittelbetrieben. Hier gibt es noch deutlich zu wenige Betriebsräte. Zudem häufen sich die Fälle von „Betriebsrats-Bashing“, also der Be- oder Verhinderung von Betriebsratswahlen oder der Arbeit der Betriebsräte. Fortschreitende Digitalisierung und Globalisierung sorgen für einen fundamentalen Wandel der Arbeitswelt und sparen den industriellen Mittelstand nicht aus. Das Recht auf demokratische Teilhabe und gute Arbeitsbedingungen ist nicht auf Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten beschränkt. Aus diesem Grund brauchen wir mehr Betriebsräte in den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), die selbstbewusst und auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber um die Gestaltung der Arbeit der Zukunft ringen. Um dieses zu gewährleisten, haben der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen der „Offensive Mitbestimmung“ sehr konkrete Vorschläge dafür gemacht, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Mitbestimmung 4.0 aussehen könnten (siehe im Internet: www.dgb.de/extra/ offensive-mitbestimmung sowie www.mitbestimmung.de*). nisierten und verbesserten Kündigungsschutz für die Initiatoren von Erstwahlen an und hört bei einer effizienteren Sanktionierung von Verstößen gegen die Neutralitätspflicht bei Betriebsratswahlen noch lange nicht auf. Die vorliegende Broschüre soll Wege aufzeigen, um auch unter erschwerten Bedingungen Betriebsräte zu gründen und damit die Mitbestimmung in den Betrieben zu verankern. Reiner Hoffmann, Vorsitzender des DGB und Vorsitzender des Vorstands der Hans-BöcklerStiftung Ohne selbstbewusste Betriebsräte vor Ort, die mit dem Arbeitgeber auch ringen möchten, ist dieses Ziel einer guten Arbeit der Zukunft nicht zu erreichen. Denn Ihr seid es, die die Mitbestimmung mit Leben füllen. Wir müssen auch mit Eurer Hilfe endlich den mitbestimmungspolitischen Stillstand überwinden. Eine Kernforderung, um mehr Betriebsräte zu bekommen, ist der bessere Schutz der (Erst-)Wahl und der Arbeit der Gremien. Die um sich greifende Praxis des „Betriebsrats-Bashing“ muss nachhaltig verhindert werden. Das fängt bei einem harmo- * Mitbestimmungsportal – Böckler-Infoservice für die Mitbestimmungspraxis: Das Portal bietet Mitbestimmungsakteuren eine Vielzahl an Infos, Materialien und Tools. Hierzu gehören u. a. Branchenmonitore, ein Themenradar für aktuelle Entwicklungen, anschaulich und komprimiert aufbereitete „Themen-Kartenstapel“ (EU-Abschlussprüfungsreform, Private Equity. Arbeiten 4.0….), ein Monitor EU-Wirtschaftsrecht sowie das Szenarien-Tool Mitbestimmung 2035. Jetzt kostenlos anmelden auf www.mitbestimmung.de Dokumentation · Seite 3 DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE OFFENSIV AUF AUGENHÖHE Gewerkschaften sind Promotoren der Mitbestimmung. Nicht erst warten, bis die Kolleginnen und Kollegen den Weg zur IG BCE gefunden haben, um einen Betriebsrat zu gründen, sondern selbst auf die Betriebe zugehen: Dies ist der Ansatz eines zweijährigen Projekts der IG BCE, um im vorwiegend mittelständischen Bereich der Kunststoffindustrie neue Betriebsräte zu gründen. Er verlangt allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompetenz, Sensibilität und Konfliktfähigkeit ab. DIE AUSGANGSSITUATION Das Betriebsverfassungsgesetz sieht vor, dass in Betrieben mit mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Betriebsrat gewählt wird. Faktisch aber existiert nur in knapp zehn Prozent der betriebsratsfähigen Betrieben in Deutschland eine Arbeitnehmervertretung. Es gibt immer weniger Beschäftigte, die von einem Betriebsrat vertreten werden. Seit 1996 bis heute ist der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit gesetzlicher Arbeitnehmervertretung – laut IABBetriebsrätepanel 2015 – um rund zehn Prozent gesunken: in Westdeutschland von 51 auf heute 42 Prozent, in Ostdeutschland von 43 auf 33 Prozent. Für diese Tatsachen werden in wissenschaftlichen Studien viele Ursachen benannt: unter anderem – der strukturelle Wandel, der damit einhergeht, dass traditionell gewerkschaftlich gut organisierte Branchen abnehmen und neue Branchen entstehen, in denen die Gewerkschaften bisher weniger stark verankert sind; – das starke Anwachsen von kleinen und mittelständischen Betrieben (KMU) mit oft schwachen Mitbestimmungsstrukturen infolge von Ausgründungen und Verselbstständigungen von Betriebseinheiten und Tätigkeitsbereichen aus großen Unternehmen; – ein kultureller Wandel in den Betrieben als Folge von neuen betrieblichen Arbeits- und Steuerungsprozessen, die individuelle und gruppenbezogene Konfliktlösungsmuster begünstigen; – die in einigen Branchen und Regionen zu beobachtende tendenziell rückläufige Tarifbindung von Unternehmen, die oft mit einer Schwächung von Mitbestimmungsstrukturen in den Betrieben einhergeht. Einer wachsenden Anzahl von Beschäftigten werden auf diese Weise wichtige Arbeitnehmerund Mitspracherechte vorenthalten. Auch bei den Arbeitsbedingungen sind Beschäftigte in Betrieben ohne Betriebsrat häufig deutlich im Nachteil. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Betriebsräte für ein vertrauensvolles Verhältnis von Belegschaft und Management sorgen und dadurch nicht nur für Seite 4 · Dokumentation die Beschäftigten, sondern auch für die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen viel erreichen können. Betriebsräte als Ansprechpartner und Interessenvertreter der Beschäftigten verfügen nicht nur über gesetzliche Informations-, Mitbestimmungs- und Initiativrechte, um die Anliegen der Belegschaft zu puschen. Als zumeist gewerkschaftlich organisierte und von ihrer Gewerkschaft unterstützte Arbeitnehmervertreter verfügen sie oft auch über weitergehende Kompetenzen und Handlungsinstrumente, um den gesetzlich gebotenen Rahmen im Interesse der Beschäftigten ausschöpfen zu können. Angesichts dieser Entwicklung, die auch sozialpolitisch die Gefahr eines zunehmenden Auseinanderdriftens bei den Arbeitsbedingungen mit sich bringt, verstärken Gewerkschaften ihre Präsens in der Fläche, um systematisch gerade in KMU Mitbestimmungsstrukturen zu unterstützen und Betriebsräte institutionell zu verankern. Warum Kunststoffindustrie? Die kunststofferzeugende und -verarbeitende Industrie ist nach der Chemieindustrie die größte Branche im Organisationsbereich der IG BCE. Sie ist eine noch relativ junge Branche, die Beschäftigung aufbaut – mit vorwiegend mittelständischen Produktionsbetrieben und kleineren bis mittleren Entwicklungsbereichen. Die Kunststoffindustrie ist eine Schlüsselindustrie in der industriellen Wertschöpfungskette Deutschlands. Ihre Unternehmen liefern innovative Produkte und Lösungen für wichtige Industriezweige wie den Fahrzeug- und Maschinenbau, die Verpackungsindustrie, die Elektrotechnik und die Bauindustrie. 2012 gab es in Deutschland rund 3 270 Unternehmen der Kunststoffindustrie mit rund 363 000 Beschäftigten. Ein hoher Anteil der Betriebe umfasst bis zu 50 Beschäftigte. In der Größenklasse bis zu 250 Beschäftigten finden sich 92 Prozent aller Kunststoffbetriebe und rund 63 Prozent der Beschäftigten. 2012 gab es nur 66 Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten (2,3 Prozent der Betriebe). In ihnen waren 18,6 Prozent der Beschäftigten dieses Industriezweigs tätig. DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE AUFGABE UND ZIEL DES PROJEKTS Dabei hatte sich das Projekt zum Ziel gesetzt, zu möglichst vielen Kunststoffunternehmen Kontakt aufzunehmen sowie mindestens 80 Betriebe zu erschließen und dort einen Betriebsrat zu gründen. VORGEHEN UND PROJEKTORGANISATION Stellvertretende Vorsitzende IG Bergbau, Chemie, Energie Ausgestattet wurde das Kunststoffprojekt mit je zwei Projektsekretärinnen und -sekretären in den vier Clusterregionen über die gesamte Laufzeit hinweg. Diese wurden in einem einmonatigen Lehrgang für die Projekttätigkeit qualifiziert. Hierbei wurden ihnen vor allem Grundkenntnisse vermittelt. Dabei lernten sie unter anderem unterschiedliche Marketing- und Ansprachekonzepte kennen, befassten sich mit Zugangsmöglichkeiten zu Betrieben und darauf bezogenen betriebsverfassungsrechtlichen Fragen sowie den rechtlichen Grundlagen zur Vorbereitung und Durchführung von Betriebsratswahlen. Sie erhielten Brancheninformationen und Grundkenntnisse zu den Themen „Tarifpolitik“, „Arbeits- und Sozialrecht“, „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Konfliktmanagement“. Überdies gab es spezielle Qualifizierungen in einzelnen regionalen Clustern und bei den quartalsweise stattfindenden Jour-fixe-Treffen. Die Bildung der Cluster erfolgte anhand der Erschließungs-Potenziale, die sich durch die Auswertung der „Hoppenstedt-Liste“ ergab. Diese Auflistung der Firmendatenbank Hoppenstedt umfasst bundesweit mehr als 3 000 Kunststoffbetriebe, die sich regional unterschiedlich konzentrieren. Die Aufgabe der Cluster- und Projektverantwortlichen war es nun, diese Betriebe für das gewerk- Volker Weber IG BCE Landesbezirksleiter Hessen/Thüringen ▲ Im September 2012 beschloss der Hauptvorstand der IG BCE, zusätzliche finanzielle Mittel aus dem Investitionsfonds bereitzustellen, um die Präsenz der Gewerkschaft in der Fläche zu stärken und speziell in KMU nachhaltig wirksame Mitbestimmungsstrukturen zu entwickeln. Es wurden unter anderem regionale Cluster gebildet (Westfalen, Thüringen/Sachsen/Nordostbayern, Baden-Württemberg, Bayern), um Ressourcen zu bündeln und Schwerpunkte zu setzen. Die beteiligten IG BCE-Landesbezirke übernahmen dabei die operative Steuerung der Cluster. Sie waren beispielsweise zuständig für die Betriebsauswahl und die Einsatzplanung. Edeltraud Glänzer ▲ Mit ihrem Kunststoffprojekt hat es sich die IG BCE zur Aufgabe gemacht, neue Ansätze zu erproben, um in dieser vorwiegend KMU-geprägten Branche mehr Betriebsräte zu gründen. Das Projekt lief über den Zeitraum 1. November 2013 bis 31. Oktober 2015 und wurde bis Ende April 2016 verlängert. Die hierbei gewonnenen Erfahrungen wurden in Berichten und Workshops zusammengefasst und ausgewertet. Die Ergebnisse dienen der IG BCE als Grundlage, um den Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen über den Kunststoffbereich hinaus zu einer gewerkschaftlichen Daueraufgabe zu machen und hierfür langfristig die entsprechenden organisatorischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die starke Wachstumsdynamik in der Branche und ihre klein- bis mittelständische Struktur sind die Hauptgründe dafür, dass es in dieser Branche erhebliche „weiße Flecken“ der Mitbestimmung gibt. Das Projekt sollte daher vor allem zweierlei leisten. Es ging darum, – einen besseren Überblick über die Branche in der Fläche zu gewinnen und geeignete branchenspezifische Ansprachekonzepte zu erarbeiten sowie – die „weißen Flecken“ der Mitbestimmung zurückzudrängen und betriebsverfassungsrechtliche (Betriebsräte, Jugendvertretung) sowie betriebliche und gewerkschaftliche Mitbestimmungsstrukturen aufzubauen. Dokumentation · Seite 5 DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE ERFAHRUNGEN UND ERGEBNISSE ▲ Catharina Clay ▲ Kurt Hay IG BCE Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg IG BCE Landesbezirksleiter Westfalen schaftliche Anliegen, dort Mitbestimmungsstrukturen zu etablieren bezeihungsweise zu stärken, aufzuschließen. Nach Auswertung der Liste folgte daraus – für den Cluster 1 (Westfalen): 80 Betriebe mit insgesamt 7 550 Beschäftigten – für den Cluster 2 (Thüringen/Sachsen/Nordostbayern): 90 Betriebe mit insgesamt 12 865 Beschäftigten – für den Cluster 3 (Baden-Württemberg): 88 Betriebe mit insgesamt 8 637 Beschäftigten – für den Cluster 4 (Bayern): 67 Betriebe mit insgesamt 7 500 Beschäftigten. In einzelnen Clustern spielte auch die Betriebsgröße bei der Auswahl eine Rolle. Im Cluster 4 beispielsweise wurde diese auf mindestens 80 Beschäftigte festgelegt. Monatliche Fortschrittsberichte der Projektsekretärinnen und -sekretäre, die Jour-fixe-Treffen zusammen mit der Projektleitung, regelmäßige Telefonkonferenzen mit den regionalen Clusterverantwortlichen, der Projektleitung und dem zuständigen Vorstandsmitglied der IG BCE sowie mehrere Workshops mit allen Beteiligten des Kunststoffprojekts halfen dabei, die angestrebten Ziele im Blick zu behalten und Probleme beziehungsweise Hindernisse anzusprechen. Seite 6 · Dokumentation „Gemessen an den quantitativen Zielen, war das Ergebnis des Projekts eher mau“, lautet das Fazit von Volker Weber, IG BCE-Landesbezirksleiter Hessen/Thüringen. Faktisch wurden über den gesamten Projektzeitraum von zweieinhalb Jahren 47 Betriebe (Projektziel: 80 Betriebe) erschlossen. Hier wurden dann auch Betriebsratswahlen durchgeführt. Dennoch betrachtet der Clusterverantwortliche im Cluster 2 (siehe Video-Statement, Seite 5) das Kunststoffprojekt nicht als gescheitert. Vielmehr habe es wertvolle Erkenntnisse zutage gefördert, die es für den Aufbau nachhaltiger Mitbestimmungsstrukturen in KMU zu nutzen gelte. Für Edeltraud Glänzer, stellvertretende Vorsitzende der IG BCE und für das Projekt verantwortliches Vorstandsmitglied, war das Kunststoffprojekt eine wichtige Erfahrung, um die Neugründung von Betriebsräten zu systematisieren (siehe Video-Statement, Seite 5). Unter den gegebenen Bedingungen und im Vergleich zu ähnlichen Projekten anderer Gewerkschaften ist sie sehr zufrieden mit den Ergebnissen. „Das Projekt war für uns ein absoluter Gewinn. Wir haben viele Erkenntnisse gewonnen, die wir in die Ausbildung und Qualifizierung unserer Sekretärinnen und Sekretäre einbringen werden. Dazu zählt beispielsweise, dass die Betreuungsarbeit gerade in KMU am Anfang enorm intensiv ist. Um in einem so schwierigen Handlungsfeld erfolgreich zu sein, bedarf es nicht nur fachlicher Kompetenzen, sondern auch einer enormen Durchsetzungsfähigkeit. Unsere Sekretärinnen und Sekretäre müssen Konflikte aushalten können, kreativ und flexibel sein, um die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben ansprechen, motivieren und dafür gewinnen zu können, einen Betriebsrat zu gründen. Ich habe große Hochachtung vor allen, die sich an diesem Projekt beteiligt haben!“ Einen Erfolg des Projekts sieht Catharina Clay, IG BCE-Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg und Clusterverantwortliche im Cluster 3, auch darin, dass sich die Initiative der IG BCE zur Gründung neuer Betriebsräte herumgesprochen hat (siehe Video-Statement). „Wir bekommen wieder verstärkt Anfragen von Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben, die einen Betriebsrat gründen wollen und wissen möchten, was man da machen muss. Es ist bei vielen inzwischen angekommen, dass es einen Betrieb ohne Betriebsrat eigentlich nicht geben kann.“ Dass es für die IG BCE nicht leicht sein würde, in den vorwiegend kleinen und mittelständischen Betrieben Fuß zu fassen, war allen Projektbeteiligten von Anbeginn des Projekts klar. „Der gewerkschaftliche Gedanke ist hier längst nicht so verankert wie in der Großindustrie“, sagt Kurt Hay, IG BCE-Landesbezirksleiter Westfalen und Clusterverantwortlicher DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE im Cluster 1 (siehe Video-Statement). „Insofern war das schon ein schwieriges Handlungsfeld, in das wir uns begeben haben.“ Die Massivität aber, mit der nicht nur die Projektsekretärinnen und -sekretäre in ihrer Arbeit behindert, sondern auch betriebliche Kolleginnen und Kollegen unter Druck gesetzt wurden, die sich bereit erklärt hatten, eine Betriebsratswahl vorzubereiten oder selbst dafür zu kandidieren, hat alle überrascht. „Dabei geht es doch nur darum, demokratischen Rechten nachzugehen und als Betriebsrat zu fungieren“, stellt Hay fest. Auf die Beschäftigten zugehen Eine wesentliche Erkenntnis von Catharina Clay bei diesem Projekt war auch, dass es notwendig ist, verstärkt auf Betriebe zuzugehen, um Mitbestimmungsstrukturen zu verankern und nicht darauf zu warten, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben von sich aus den Kontakt zur Gewerkschaft aufnehmen. „Die Leute, die zu uns kommen, um sich beraten zu lassen, werden weniger. Denn die Informationen darüber, was Betriebsräte sind, was sie tun können und was es für die Beschäftigten und das Unternehmen bedeutet, wenn es einen Betriebsrat gibt, sind gar nicht so weit verbreitet, wie wir häufig annehmen. Gleichzeitig ist das, was man über die Bedingungen erfährt, unter denen Menschen heute in Industriebetrieben arbeiten, vielfach schon sehr erschreckend.“ Michael Nußbaum IG BCE Projektsekretär Kunststoff IG BCE Projektsekretär Kunststoff ▲ Daniel Heisch ▲ Es gibt keinen Königsweg Die schwierigste Hürde bei dem IG BCE-Kunststoffprojekt war, überhaupt einen Zugang zu einem Betrieb zu bekommen. „Wir haben nicht einen einzigen Betrieb gehabt, den wir vorher kannten“, berichtet Michael Nußbaum, Projektsekretär im Cluster 1 (siehe Video-Statement). „Wir haben also in jedem Betrieb von Grund auf neu angefangen Kontakte zu knüpfen – sei es durch öffentlichkeitswirksame Aktionen, gezielte Ansprache auf dem Parkplatz oder über ein Anschreiben an die Geschäftsleitung.“ In den seltensten Fällen wurden die Projektsekretäre jedoch Willkommen geheißen. „Was wir festgestellt haben: Die Leute trauten sich oft nicht, mit uns in Kontakt zu kommen. Sie hatten Angst um ihre Arbeitsplätze und Angst vor dem Arbeitgeber, mit uns zusammen gesehen zu werden“, sagt Michael Nußbaum. In den meisten Fällen nahmen sich die Projektbetreuer zu zweit einen Betrieb vor, erkundeten vorher die Lage, ob es öffentlich zugängliche Parkplätze gab, zu welcher Zeit Schichtwechsel anstanden usw. Sie versuchten, mit den Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen, um ein wenig mehr über den Betrieb zu erfahren und Interessierte für weitere Treffen zu gewinnen. Bei den nachfolgenden Zusammenkünften ging es dann häufig konspirativ zu: Man traf sich im Café, im Hinterzimmer der nahegelegenen Kneipe, mittags, nach Dienstschluss und oft auch abends. In anderen Fällen wurde erst einmal der Arbeitgeber angeschrieben, um die Gewerkschaft und das Projekt vorzustellen, über Mitbestimmungsstrukturen zu informieren und darauf hinzuweisen, dass man beabsichtige, einen Betriebsrat zu gründen. „Einen Königsweg gibt es nicht“, stellt Michael Nußbaum fest. „Man muss sich jedes Unternehmen genau anschauen und danach fragen, welche Themen und Probleme es dort gerade aktuell gibt. Daraus muss man sich dann ein Konzept erarbeiten, um den Betrieb erschließen zu können“, berichtet Daniel Heisch, Projektsekretär im Cluster 2 (siehe Video-Statement). „Wir hatten es bei den von uns ausgewählten Betrieben häufig mit sogenannten verlängerten Werkbänken zu tun – und wir waren jedes Mal erstaunt darüber, unter welchem Druck die Kolleginnen und Kollegen standen. Auch wir gerieten fast überall in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. In einigen Fällen wurden wir sogar durch einstweilige Verfügungen in unserer Arbeit behindert und mussten uns unser Zugangsrecht gerichtlich erstreiten.“ „Man kommt nur dann in einen Betrieb hinein, wenn sich jemand bereitfindet, mit der Gewerkschaft zusammenzuarbeiten“, sagt Seppel Kraus, IG BCE-Landesbezirksleiter Bayern und Clusterverantwortlicher im Cluster 4 (siehe Video-Statement, Seite 8). „Das kann man nicht technisch organisie- Dokumentation · Seite 7 DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE ren. Es ist zwar richtig: Man muss vor ganz viele Betriebe gehen, und man muss präsent sein. Aber letztlich kann man nur darauf hoffen, dass sich ein Mensch findet, der sagt: Es reicht mir hier im Betrieb, jetzt gehe ich zur Gewerkschaft!“ Erfolgreiche Erschließungsarbeit, sagt Volker Weber, „geht nur mit Dialog, Dialog, Dialog. Es ist nicht damit getan, dass wir eine juristische Auseinandersetzung suchen. Dann bekommen wir vielleicht Recht. Meine lange Praxis sagt aber: Ich brauche die Menschen im Betrieb, die mitmachen.“ „Wir brauchen Ansprechpartner im Betrieb“, betont auch Catharina Clay, „und nach einer gewissen Zeit mindestens so viele wie für den Wahlvorstand nötig sind, möglichst sogar in doppelter Anzahl.“ So lautete die Faustregel, wenn es darum ging, eine Betriebsratswahl einzuleiten. Strapaziöse Anfangsphase Unabhängig von dem eingeschlagenen Weg – direkt über die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb oder über den Arbeitgeber – bleibt festzuhalten: Für alle Projektsekretärinnen und -sekretäre war diese erste Phase äußerst strapaziös. So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass der Wechsel zur Nachtschicht ein besonders günstiger Zeitpunkt ist, um mit Beschäftigten ins Gespräch zu kommen. „Da haben die Leute eine ganz andere ▲ ▲ Seite 8 · Dokumentation Seppel Kraus IG BCE Landesbezirksleiter Westfalen Iris Schopper IG BCE Projektsekretärin Kunststoff Offenheit, weil die Vorgesetzten nicht da sind und somit nicht mitbekommen, wer mit wem redet“, sagt Iris Schopper, Projektsekretärin im Cluster 4 (siehe Video-Statement). „Meine Empfehlung daher: in den sauren Apfel beißen und über den Schichtwechsel von Spät- und Nachtschicht Kontakte knüpfen.“ Fast jeden Tag unterwegs zu einem anderen Betrieb, Intensivbetreuung der betrieblichen Akteurinnen und Akteure teilweise rund um die Uhr, in Crash-Kursen die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen über die Grundlagen des Betriebsverfassungsgesetzes und des Arbeitsrechts informieren, ihnen persönlichen Beistand anbieten, um die Wahlvorbereitungen durchzustehen: Das verlangte den Projektsekretärinnen und -sekretären nicht nur vollen Einsatz, sondern auch fachliche und kommunikative Kompetenzen sowie ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, Empathie und Konfliktfähigkeit ab. Aber alle betrachten diese Phase im Nachhinein als in hohem Maße befriedigend und konstruktiv. Zu zweit geht´s besser Kompetenzen bündeln, sich persönlich ergänzen: Alle Projektsekretärinnen und -sekretäre beschreiben, wie wichtig es für sie war, nicht allein vor ein Werkstor zu treten, sondern zu zweit. Man fühlt sich – gerade in schwierigen Situationen – nicht nur stärker, sondern kann den betrieblichen Kolleginnen und Kollegen unterschiedliche Ansprechpartner bieten. Das kommt bei vielen gut an. „Mein Kollege kannte sich in der Jugendarbeit gut aus“, berichtet Daniela Lange, Projektsekretärin im Cluster 3 (siehe Video-Statement, Seite 9). „Und ich selbst bin jahrelang Betriebsratsvorsitzende gewesen. Jeder von uns konnte seine Erfahrungen einbringen. Zusammen waren wir in der Lage, viele Themen abzudecken. Für die Beschäftigten war das von Vorteil: Sie haben einen männlichen jungen Mann gehabt und eine erfahrene Frau. Da konnten sie sich aussuchen, mit wem sie Kontakt haben wollten.“ Auch Udo Weißwange, Projektsekretär im Cluster 4, betont: „Für mich war es enorm wichtig, dass man sich als Team präsentiert und sich ergänzen kann. Jeder hat Stärken und Erfahrungen aus dem beruflichen Alltag, die er in das Projekt mit einbringen kann. Außerdem kann man sich gegenseitig aufbauen, wenn es mal schwierig wird“ (siehe Video-Statement, Seite 9). Ehrlich sein gegenüber den Beschäftigten Eine Betriebsratswahl ist kein Kinderspiel. Darauf weist Iris Schopper ebenfalls hin. „Es kann viel passieren und viel schiefgehen. Daher müssen wir ehrlich sein gegenüber den Beschäftigten. Nur dann fühlen sie sich mitgenommen und nicht so, als würde ihnen etwas verkauft.“ Auch Daniel Heisch betont, wie wichtig es ist, keine überzogenen Erwartungen bei den Kolleginnen und Kolle- DAS KUNSTSTOFFPROJEKT DER IG BCE gen im Betrieb zu wecken. „Wir haben die Beschäftigten von Anfang an darüber informiert, was ein Betriebsrat ist und welche Schwierigkeiten auftauchen können, wenn ein Betriebsrat gewählt wird. Wir haben aber auch stets deutlich gemacht, was dieser für die Zukunft des Betriebes und die Beschäftigten bedeutet.“ Vertrauen aufbauen, Verlässlichkeit zeigen, schnell und auch zu ungewohnten Zeiten erreichbar und auf Konflikte vorbereitet sein: Darin sehen alle Projektbeteiligten wesentliche Erfolgsfaktoren. Daniela Lange IG BCE Projektsekretärin Kunststoff IG BCE Projektsekretär Kunststoff ▲ Udo Weißwange ▲ Widerstände seitens der Arbeitgeber Alle Projektbeteiligten berichten über teilweise massive Behinderungen ihrer Arbeit durch Arbeitgeber. Es gab nur wenige Ausnahmen. Sobald sich die Projektsekretärinnen und -sekretäre einem Betrieb näherten, wurden sie fotografiert, direkt aufgefordert, den Weg freizumachen oder sogar beleidigt. Einige Arbeitgeber ließen sich dazu hinreißen, sie telefonisch zu bedrohen und ihnen persönlich nachzustellen. „Körperliche Angriffe gab es zwar nicht“, berichtet Udo Weißwange, „aber verbale.“ Auch die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen, die sich für eine Betriebsratswahl aussprachen, wurden häufig eingeschüchtert, in Einzelfällen erhielten sie sogar die Kündigung. Die Angst vor derartigen Repressalien sowie reale Übergriffe von Arbeitgebern und Vorgesetzten machten es vielfach notwendig, konspirativ vorzugehen, um die betroffenen Beschäftigten so lange wie möglich zu schützen. Auch mit rechtlichen Mitteln – beispielsweise einstweiligen Verfügungen – gingen manche Arbeitgeber vor, um zu verhindern, dass ein Betriebsrat gewählt wurde. Unterstützt wurden sie dabei meistens von den Anwaltskanzleien, die auch sonst für sie arbeiteten. Im Gegenzug mussten sich die Projektsekretärinnen und -sekretäre in manchen Fällen ebenfalls auf juristischem Wege den Zugang zum Betrieb verschaffen oder einen Wahlvorstand bestellen. gezeigt, dass nicht nur die Anfangsphase, wenn es darum geht, betriebliche Ansprechpartner zu finden, die bereit sind, eine Betriebsratswahl durchzuführen, enorm betreuungsintensiv ist. Das gleiche gilt für die erste Zeit nach erfolgreicher Wahl. „Ein Unternehmen mit einem Betriebsrat hat eine andere Kultur“, fasst Seppel Kraus seine Erfahrungen aus dem Projekt zusammen. „Daran muss sich auch eine Betriebsleitung gewöhnen. Sie ist nicht mehr allein in ihren Entscheidungen. Und dieser Umstellungsprozess geht sehr unterschiedlich. Manche Arbeitgeber reagieren sehr heftig und erfüllen daLangfristige Betreuungsarbeit mit bereits den Straftatbestand des § 119 BetriebsEine Betriebsratswahl durchführen – und sich verfassungsgesetz. In anderen Betrieben ist das ein dann zurückziehen: Das geht aus der Sicht von sehr zäher Eingewöhnungsprozess – insbesondere Daniela Lange gar nicht. Zwar endete mit der Beauch für die Betriebsräte.“ triebsratswahl der offizielle Auftrag der ProjektEine langfristig angelegte Betreuungsarbeit hat sekretärinnen und -sekretäre zur Betriebserschlieaus Sicht der Projektbeteiligten einen hohen Stellenßung. Aber immer gab es Überleitungsfristen von wert. Netzwerke für neugewählte Betriebsräte insder Projekt- zur Regelbetreuung. Denn es hat sich besondere in KMU, um untereinander Erfahrungen auszutauschen, aber auch feste gewerkschaftliche Ansprechpartner in den verschieEINE BETRIEBSRATSWAHL DURCHdenen Regionen, um die örtlichen FÜHREN – UND SICH DANN ZURÜCKBezirke dauerhaft dabei zu unterstützen, die Betriebsräte in den neu ZIEHEN: DAS GEHT NICHT! erschlossenen Betriebe zu unterstützen, sind Anforderungen, die sie an die IG BCE stellen. Daniela Lange, IG BCE Projektsekretärin Kunststoff Dokumentation · Seite 9 STUDIE DES WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN INSTITUTS (WSI) IN DER HBS WSI-STUDIE: ARBEITGEBERVERHALTEN BEI BETRIEBSRATSWAHLEN MITBESTIMMUNG OFT NICHT ERWÜNSCHT Auch wenn sie sich strafbar machen: Gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen versuchen Arbeitgeber immer wieder, Betriebsratswahlen zu verhindern. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung belegt zudem, dass Unternehmer dies teilweise mit professioneller Hilfe tun und dabei oft ausgeklügelte Methoden anwenden. Mit den Erfahrungen, die die Projektsekretärinnen und -sekretäre der IG BCE im Rahmen des Kunststoffprojekts mit teilweise strafbarem Arbeitgeberverhalten gewonnen haben, stehen sie nicht allein. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle. Derartige Managementaktivitäten sind auch nicht auf die Branche beschränkt. Aber sie sind typisch für kleine und mittelständische, insbesondere inhabergeführte Unternehmen. Dies geht aus einer Studie von Martin Behrens und Heiner Dribbusch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung* über Arbeitgebermaßnahmen gegen Betriebsräte insbesondere im Vorfeld von Betriebsratswahlen hervor. Danach finden rund 55 Prozent aller bekannten Fälle der Behinderung von Betriebsratswahlen in Betrieben mit 51 bis 200 Beschäftigten statt. SOBALD BESCHÄFTIGTE UND IHRE GEWERKSCHAFT AM STATUS QUO DER BETRIEBSRATSLOSIGKEIT RÜTTELN, STEIGT DIE WAHRSCHEINLICHKEIT, DASS ES ZU PROBLEMEN KOMMT. Dr. Martin Behrens, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung 2015 befragten die beiden WSI-Wissenschaftler 159 hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus verschiedenen Bezirken, Regionen und Geschäftsstellen über das Ausmaß und die Art der ihnen bekannt gewordenen Versuche von Arbeitgebern, Betriebsratswahlen zu hinter- *Martin Behrens, Heiner Dribbusch: Arbeitgebermaßnahmen gegen Betriebsräte: Angriffe auf die betriebliche Mitbestimmung, in: WSI-Mitteilungen 2/2014, Seiten 140-148 Seite 10 · Dokumentation treiben beziehungsweise die Arbeit von Betriebsräten zu behindern. Dabei gaben 54 Prozent der Befragten an, dass ihnen derartige Obstruktionsmaßnahmen bekannt sind. In knapp einem Drittel dieser Fälle (32 Prozent) kam es am Ende nicht zu einer Wahl. Wahlbehinderung ist Straftatbestand Dabei ist die Bildung von Betriebsräten in Deutschland durch das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) klar geregelt. Unter anderem heißt es im § 20 BetrVG: „Niemand darf die Wahl des Betriebsrats behindern“. Ferner gilt – ebenfalls nach § 20 BetrVG: „Niemand darf die Wahl des Betriebsrats durch Zufügung oder Androhung von Nachteilen oder durch Gewährung oder Versprechen von Vorteilen beeinflussen.“ Wird dagegen verstoßen, stellt dies nach § 119 BetrVG einen Straftatbestand dar. Auch wenn im § 1 BetrVG festgelegt ist „In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt“, ist dies längst nicht die Regel. Nach einer von Behrens und Dribbusch zitierten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus 2015 verfügten 2014 lediglich zehn Prozent der Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten über einen Betriebsrat. Einen wesentlichen Grund für dieses Manko sehen die Wissenschaftler darin, dass in zahlreichen Unternehmen weder die Gewerkschaft noch die Beschäftigten einen Versuch unternommen haben, einen Betriebsrat zu installieren. Sobald aber von der Belegschaft die Initiative zur Gründung eines Betriebsrats ausging, kam es in 16,3 Prozent der Betriebe in den Organisationsbereichen der IG BCE und IG Metall zu mehr oder weniger massiven Behinderungen seitens der Arbeitgeber. Was veranlasst die Unternehmer, sich so vehement gegen gesetzliche Vorgaben zu stemmen und sich dabei womöglich sogar strafbar zu machen? Auch auf diese Frage haben die Wissenschaftler Antworten gefunden. Sie verweisen dabei auf eine Studie von Böhm und Lücking (2006) über Manager in Betrieben ohne Betriebsrat. Diese skizziert drei Grundhaltungen, die dazu führen, dass Arbeitgeber Betriebs- ARBEITGEBERVERHALTEN räte als unproduktive Institutionen abwerten oder gar als Bedrohung wahrnehmen: 1. Das Management versteht sich als besserer Problemlöser und bezweifelt, dass ein Betriebsrat in der Lage ist, auftretende betriebliche Probleme zu lösen. Betriebsräte sind aus dieser Sicht überflüssig. 2. Der Arbeitgeber sieht in dem Betriebsrat eine Gefahr für den Betriebsfrieden, weil er ihm unterstellt, egoistische und ideologisch motivierte Ziele zu verfolgen. 3. Der Unternehmer betrachtet einen Betriebsrat als Kostenfaktor, den er nicht akzeptiert. In der Praxis kaum Verurteilungen Diese Grundhaltungen verfangen offenbar auch bei den Gerichten. So kommt es in der Praxis – wie mehrere Studien anhand von Beispielen belegen – äußerst selten vor, dass ein Arbeitgeber, der nachweislich gegen den § 119 BetrVG verstoßen hat, verurteilt wird. Werden personenbezogene Repressalien angewandt, ist dies oft nicht nachweisbar. Meistens werden Verstöße gegen den § 119 BetrVG aber wegen Geringfügigkeit oder mangelnden öffentlichen Interesses nicht weiterverfolgt. Am häufigsten hintertreiben Arbeitgeber die Gründung einer Betriebsratswahl durch mehr oder weniger starkes Einschüchtern von Kandidatinnen und Kandidaten (siehe Tabelle). Das beginnt zumeist schon in der Anfangsphase, wenn die Wahl vorbereitet und ein Wahlvorstand gewählt beziehungsweise gerichtlich bestellt wird. Dabei schreckt das Management häufig nicht davor zurück, Kandidatinnen und Kandidaten für den Betriebsrat oder einzelne Mitglieder des Wahlvorstands zu versetzen oder gar zu kündigen. Auf besonders geringe Akzeptanz stoßen Betriebsräte in inhabergeführten Betrieben. „In diesem Teil der deutschen Wirtschaft“, so Behrens und Dribbusch, „scheinen der ‚Herr-im-Haus‘Standpunkt und eine geringe Bereitschaft, die betriebliche Entscheidungsgewalt zu teilen, besonders weit verbreitet zu sein.“ Neue Qualität von Behinderungen Bei der der Be- und Verhinderung von Betriebsratswahlen haben Behrens und Dribbusch eine neue Qualität ausgemacht. So greift ein erheblicher Teil von Arbeitgebern bei derlei Schikanen inzwischen auf professionelle Hilfe zurück. Nach Angaben der von den Wissenschaftlern befragten Gewerkschaftssekretäre ließen sich Unternehmer in 47 Prozent der 2015 bekannt gewordenen Fälle, in denen sich Arbeitgeber gegen die Wahl eines Betriebsrats wehrten, durch Anwaltskanzleien und Unternehmensberatungen unterstützen. In der Praxis könnten dies durchaus mehr sein, da in 38 Prozent der Fälle die Hilfe von Profis nicht zuverlässig nachgewiesen werden konnte. Größtenteils bedienen sich die Arbeitgeber ihrer örtlichen Hausanwälte. Allerdings können sie in diesem Handlungsfeld mittlerweile auch auf etliche, eigens auf die Bekämpfung betrieblicher Interessenvertretungen spezialisierte Anwaltskanzleien zurückgreifen. Damit – so die Wissenschaftler – steige die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeitgeber unterschiedliche Maßnahmen gleichzeitig einsetzt, um eine Betriebsratswahl zu behindern. Maßnahmen gegen die Wahl eines Betriebsrats Wo Unternehmen die Wahl eines Betriebsrats behinderten, taten sie das durch ... Einschüchterung möglicher Kandidaten/innen für den Betriebsrat 71% Verhindern der Bestellung eines Wahlvorstandes 66 % Kündigung von Kandidaten/innen für den Betriebsrat 20 % Zuständiger Gewerkschaft wird Zugang zum Betrieb verwehrt 20 % „Herauskaufen“ von Kandidaten/innen 19 % Kündigung von Mitgliedern des Wahlvorstandes 13 % Weigerung, Personallisten herauszugeben 10 % Gezielte Reorganisation oder Aufspaltung des Unternehmens 9% Quelle: 2. WSI-Befragung hauptamtlicher Gewerkschafter (2015) Auf den Status quo bedacht Besonders massiv richtet sich der Widerstand der Arbeitgeber gegen systematische und nachhaltige Initiativen der Gewerkschaften, Betriebsräte in bestimmten Regionen oder aufstrebenden Branchen neu zu gründen. „Letztlich gibt es eine Reihe von Indizien dafür, dass gerade Arbeitgeber im Bereich der neu gegründeten Betriebe sowie in Branchen ohne traditionelle Verankerung der Schlüsselinstitutionen der Arbeitsbeziehungen Betriebsräten eher distanziert gegenüberstehen“, berichten Behrens und Dribbusch. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf gewerkschaftliche Erfahrungen beim Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen in der Solar- und Windenergie. Generell stellen sie fest: Ist erst einmal ein Betriebsrat installiert, verringert sich der Widerstand der Arbeitgeber oft zugunsten einer pragmatischen Haltung. Die „weißen Flecken“ der Mitbestimmung sind daher die eigentlichen Problemzonen, so das Fazit der Studie. „Immer dann, wenn Beschäftigte und ihre Gewerkschaft am Status quo der Betriebsratslosigkeit rütteln, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Problemen kommt.“ Dokumentation · Seite 11 STUDIE DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG HBS-STUDIE: BETRIEBSRATSGRÜNDUNGEN – TYPISCHE PHASEN, VARIANTEN UND PROBLEME AUF DIE VERTRETUNGSWIRKSAMKEIT KOMMT ES AN Fünf Phasen einer Betriebsratsgründung unterscheidet die Studie von Ingrid Artus, Clemens Kraetsch und Silke Röbenack von der Universität Erlangen-Nürnberg, die von der Hans-BöcklerStiftung gefördert wurde*. In allen Phasen spielen Gewerkschaften eine wichtige Rolle, um einen vertretungswirksamen Betriebsrat zu etablieren. Anhand von 54 Fallstudien haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler typische Verläufe und Muster von Betriebsratsgründungen ausgemacht. Die erste Phase ist gekennzeichnet durch ein Stadium ohne formelle Interessenrepräsentation und damit durch die Situation eines „Betriebs ohne Betriebsrat“. Diese geht über in eine „Latenzphase“, in der einige Beschäftigte die Idee entwickeln, eine formalisierte Interessenvertretung – einen Betriebsrat – zu gründen und in der sie sich kundig machen, wie dies bewerkstelligt werden kann. In den meisten Fällen nehmen sie dabei Kontakt zur Gewerkschaft auf. Ihr folgt eine „Formierungsphase“, in der bereits erste rechtlich verbindliche Schritte eingeleitet werden. Typisch hierfür ist, dass ein offizielles Wahlausschreiben erstellt und ein Wahlvorstand eingesetzt wird. Diese Phase ist besonders sensibel, weil hier erstmals das Vorhaben in die betriebliche Öffentlichkeit gebracht und damit zum innerbetrieblichen Politikum wird. Mit der erfolgten Betriebsratswahl schließt sich die „Konstituierungsphase“ an, in der sich der neue NACHGEFRAGT ... ... BEI INGRID ARTUS, PROFESSORIN FÜR SOZIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT ERLANGEN-NÜRNBERG Was sind die Motive von Beschäftigten aus KMU, einen Betriebsrat zu gründen? Artus: Man kann nicht sagen, dass es immer um Lohn oder Arbeitszeit geht. Bei einem Teil der Betriebe gibt es viele Gründe, weshalb die Beschäftigten einen Betriebsrat wollen. In anderen Fällen sind es einschneidende Vorfälle im Betrieb, die Anlass geben, einen Betriebsrat zu gründen. Das kann der geplante Verkauf eines Unternehmens oder eine Betriebsschließung sein, der Tod eines Geschäftsführers oder ein neuer Nachfolger. Hier ist es zumeist ein Ereignis, das das bisherige Sozialgefüge oder gar die Existenz des Betriebs in Frage stellt. In solchen Situationen sind sich viele Beschäftigte häufig schnell einig, dass es einen Betriebsrat geben muss. Denn nur dieser kann einen Sozialplan einfordern und aushandeln. In der Regel geht es um Sicherheit und darum, eine formale und mit Rechten ausgestattete Vertretung zu haben. Seite 12 · Dokumentation In der Praxis tun sich aber die Gewerkschaften gerade in KMU sehr schwer, Betriebsräte zu gründen. Woran liegt das? Artus: Zwischen dem Wunsch nach einer vertretungswirksamen Interessenvertretung und dessen Realisierung gibt es oft eine große Kluft. In den meisten Fällen ist die Betriebsratsgründung ein zäher und langwieriger Prozess. Manchmal fehlen einfach die Protagonisten. Unter drei Aktiven geht aus unserer Sicht gar nichts! Oft finden diese aber nicht zusammen, oder die Belegschaft ist zerstritten. Viele fühlen sich auch zu sehr auf sich allein gestellt. In dieser „Latenzphase“ brauchen sie dringend Unterstützung von außen, insbesondere von einer Gewerkschaft. Schwierig ist jedoch, wenn diese nur gerufen wird, um einen Betriebsrat formal zu installieren. Gibt es ein Erfolgsrezept? Artus: Eine gute Strategie, um einen Betriebsrat zu gründen, muss nachhaltig und beteiligungsorientiert angelegt sein. Sie braucht viele Aktive im Betrieb. Der Betriebsrat als Organ für mehr Beteiligung der Beschäftigten: Das wär´s! PHASEN DER BETRIEBSRATSGRÜNDUNG Betriebsrat zu einem handlungsfähigen Kollektiv entwickeln sollte. Auch diese Phase ist oft kritisch, weil sich das Gremium – zumeist mit Hilfe von außen (Gewerkschaften und erfahrene Betriebsräte) – formieren muss. Zugleich muss es in dieser Zeit viele Erwartungen der Akteure und der Belegschaft erfüllen. Der Prozess der Betriebsratsgründung endet nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erst mit der „Phase der Vertretungswirksamkeit“ – das heißt dann, wenn der Betriebsrat in der Lage ist, „ein aktives Repräsentationsverhältnis zwischen Beschäftigten und Betriebsrat sowie eine hinreichend funktionierende Aushandlungs- und Anerkennungsbeziehung mit der Geschäftsleitung“ herzustellen. Als typische Muster von Betriebsratsgründungen haben sich herauskristallisiert: 1. Betriebsrat als Schutz der gemeinschaftlichen Sozialordnung – vorwiegend in industriell geprägten, ländlichen westdeutschen Mittel- und Kleinbetrieben mit qualifizierter Belegschaft; 2. Betriebsrat als Erweiterung der individuellen Interessenvertretung – vorwiegend in sogenannten Wissensbetrieben mit hochqualifizierten, selbstbewussten Beschäftigten; 3. Betriebsrat als Mittel der kollektiven Emanzipation – vorwiegend in Dienstleistungsbetrieben mit prekären Arbeitsbedingungen; 4. Betriebsrat als Vertretung von Partialinteressen – vorwiegend als Reaktion von Teilen der Belegschaft – oft des mittleren Managements – auf betriebliche Einzelereignisse; 5. Blockierte Partizipation – bei der ein Betriebsrat oft nur mit erheblichen Schwierigkeiten gewählt wird, die Betriebsräte aber kaum Professionalität und Vertretungswirksamkeit entfalten kön- nen. Dies liegt oft daran, dass es an entschlossenen und repräsentativen Akteuren mangelt, die Belegschaft in sich gespalten und die Geschäftsleitung dauerhaft kooperationsunwillig ist. Häufig fehlt auch die Unterstützung von Gewerkschaften. Mobilisierungsprozesse herstellen Die Studie kommt zu dem Ergebnis: Für den nachhaltigen Erfolg einer Betriebsratsgründung kommt es entscheidend darauf an, dass der neugewählte Betriebsrat vertretungswirksam ist. Er muss in der Lage sein, am Ende eines wechselvollen betrieblichen Mobilisierungsprozesses zwischen den Beschäftigten und dem Betriebsrat eine aktive Beziehung herzustellen und diese durch erfolgreiches und legitimes Vertretungshandeln permanent zu erneuern. Überdies benötigt er eine hinreichende Anerkennung der Geschäftsleitung, um unterschiedliche Interessen, Themen und Konflikte mit ihr aushandeln zu können. In der Praxis gelingt dies – nach den Erkenntnissen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – in etwa zwei Dritteln der beobachteten Betriebsräte. Damit ein Betriebsrat vertretungswirksam sein kann, müssen aber noch weitere Voraussetzungen gegeben sein: die Existenz eines überzeugten und überzeugenden Aktivistenkreises, eine kohärente und solidarische Belegschaft, die kollektive Überzeugung, dass es nötig und möglich ist, die gegebenen betrieblichen Verhältnisse positiv zu verändern sowie Hilfe von außen, speziell durch Gewerkschaften und andere Betriebsräte. *Ingrid Artus, Clemens Kraetsch, Silke Röbenack: Betriebsratsgründungen. Typische Phasen, Strategien und Probleme – eine Bestandsaufnahme, Berlin 2015 BETRIEBE OHNE BETRIEBSRAT ERSCHLIESSEN – EIN SCHWERPUNKT DER IG METALL „WEISSE FLECKEN“ DER MITBESTIMMUNG BESEITIGEN Der Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen in noch nicht organisierten Betrieben hat auch bei der IG Metall einen hohen Stellenwert. Das langfristige Ziel lautet: Kein Metallbetrieb ohne Betriebsrat! Mit Hilfe sogenannter strategischer Erschließungsprojekte in allen Bezirken ist die IG Metall seit 2007 dabei, gezielt und systematisch „weiße Flecken“ der Mitbestimmung in ihrem Organisationsbereich zu beseitigen. Ein thematischer Schwerpunkt sind Betriebe ohne Betriebsrat (BoB). Seit jeher gibt es in vielen Handwerksbetrieben sowie in kleineren und mittelständischen Unternehmen (KMU) im Organisationsbereich der IG Metall keinen Betriebsrat. Zunehmend Sorge bereitet der Gewerkschaft allerdings der Strukturwandel in der Elektro- und Metallindustrie. Branchen mit traditionell starken Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsstrukturen verändern sich, andere Bereiche (wie erneuerbare Energien, Luft- und Raumfahrt sowie industrielle Dienstleistungen), in denen Arbeitnehmervertretungen oft nur schwach entwickelt sind, rücken in das Blickfeld. In 2014 wurden in 1 045 BeDokumentation · Seite 13 ��������������������������������������������������������������������� trieben der Metall- und Elektroindustrie erstmals Betriebsräte neu gegründet. Dennoch: Rund 300 Betriebsratsgremien pro Jahr verschwinden – zumeist durch Insolvenz oder Verlagerung. Auch die Wertschöpfungsketten verändern sich. Treiber sind vor allen die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung. Insbesondere die Großunternehmen sind dabei, sich neu aufzustellen. Es geht darum, das Produktportfolio stärker auf die Wachstumsmärkte der Zukunft auszurichten und die Unternehmensstruktur sowie die Arbeitsprozesse entsprechend anzupassen. Mit wachsender Beschleunigung werden weniger profitable Bereiche abgestoßen oder ganze Tätigkeitsfelder – wie Forschung und Entwicklung, IT-Dienstleistungen, Logistik, Finanzservices usw. – in mehr oder weniger selbstständige Betriebseinheiten ausgegründet, in die Cloud verschickt oder gleich ins Ausland verlagert. Andere, neue – teilweise sogar unternehmensfremde – Innovationsbetriebe und Start-ups werden hinzugekauft, um sich Zukunftsknow-how zu sichern oder Kostenvorteile zu verschaffen. DIE IG METALL WILL SICH VON EINER GUTEN BETREUUNGS- AUCH ZU EINER ERFOLGREICHEN ERSCHLIESSUNGSGEWERKSCHAFT ENTWICKELN. DAFÜR INVESTIEREN WIR IN DIE ZUKUNFT. Susanne Kim, Leiterin des Ressorts Erschließung beim Vorstand der IG Metall Die Folge davon ist: Die Mitbestimmungsstrukturen bleiben oft nur noch auf das Kernunternehmen beziehungsweise auf dessen Kernbereiche beschränkt. Demgegenüber baut sich an der Peripherie von großen Unternehmen – so etwa im Automobilcluster Leipzig rund um BMW und Porsche – ein breiter Gürtel von oft kleineren, weitgehend mitbestimmungs- und gewerkschaftsfreien Betrieben auf. Auch das hohe Ausmaß von Leihund Werkvertragsarbeit sowie eine allgemeine Schwächung der Tarifbindung sind bereits sichtbare Resultate dieser Entwicklung. Mehr gewerkschaftliche Präsenz Die IG Metall will hier mit neuen Ansätzen deutlich gegensteuern. Sie will künftig mehr Präsenz in der Fläche zeigen, um mitbestimmungs- und gewerkschaftsferne Zonen zurückzudrängen. Dabei sollen die Bezirke und Geschäftsstellen stärker in die Verantwortung genommen werden. Auf ihrem letzten Gewerkschaftstag 2015 beschloss die IG Metall einen neuen Rahmen für entsprechende Initiativen. Dieser misst der „Erschließungsarbeit“ einen höheren Stellenwert innerhalb der Organisation bei und stellt hierfür deutlich mehr Ressourcen aus der Zentrale zur Verfügung. Seite 14 · Dokumentation Unter „Erschließungsarbeit“ versteht die Gewerkschaft nicht nur, Betriebsräte zu gründen und starke gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen – dies vor allem in Zukunftsbranchen wie der Windindustrie, bei Entwicklungsdiensteistern, Kontraktlogistikern und Werkvertragsunternehmen. Viele vom Vorstand der IG Metall geförderte „Erschließungsprojekte“ der vergangenen Jahre hatten auch zum Ziel, in Betrieben, in denen die IG Metall bereits vertreten ist, verstärkt einzelne Berufs- oder Personengruppen – Angestellte, Frauen, Leiharbeitnehmer usw. – für ein betriebliches und gewerkschaftliches Engagement zu gewinnen und dort Tarifverträge abzuschließen. Bestehende Mitbestimmungsstrukturen nutzen In beiden Fällen – Erschließung von mitbestimmungs- und gewerkschaftsfernen Betrieben sowie Zielgruppenarbeit – greift die IG Metall auf bereits bestehende regionale oder konzernspezifische Mitbestimmungs- und Beteiligungsstrukturen zurück. Beim Projekt „Automobilcluster in Leipzig“ beispielsweise waren von Anfang an Betriebsräte und Vertrauensleute von Porsche und BMW beteiligt. Schon lange vor Projektbeginn gab es ein überbetriebliches Automobilnetzwerk der IG Metall, das für den Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den Betriebsräten und Vertrauensleuten aus den Herstellerbetrieben einerseits und denen aus den – oft klein-gliedrigen – Dienstleistungsunternehmen andererseits sorgte. Das erleichterte es, in zahlreichen Unternehmen Aktivenkreise aufzubauen und Betriebsratswahlen durchzuführen. Erfolgreiches Ergebnis dieses IG Metall-Projekts ist ein tariflicher Ordnungsrahmen, der BMW und Porsche daran bindet, Aufträge künftig vorrangig an Dienstleister zu vergeben, die sowohl über einen Betriebsrat als auch über einen Tarifvertrag verfügen. Investition in die Zukunft „Die IG Metall will sich von einer guten Betreuungs- auch zu einer guten Erschließungsgewerkschaft entwickeln. Dafür investieren wir in die Zukunft“, sagt Susanne Kim, Leiterin des Ressorts Erschließung beim Vorstand der IG Metall. In den Bezirken sind bereits 140 Projektstellen für „Erschließungssekretäre“ geschaffen worden. Überdies unterstützt die IG Metall die haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vor Ort mit einem umfassenden Angebot an Beratung, Schulungen und Arbeitshilfen. Ein Werkzeugkoffer enthält eine umfangreiche Sammlung von Informationen und Instrumenten für eine systematische Arbeit. „Damit wollen wir Erschließungskompetenz in der gesamten Organisation ��������������������������������������������������������������������� verankern und ausbauen“, betont Susanne Kim. „Ziel ist es, Erschließungsarbeit zu einer Standardaufgabe jeder IG Metall-Geschäftsstelle zu machen.“ Mitbestimmung und Tarifbindung auch in KMU In KMU und kleingliedrigen Betriebseinheiten – wie etwa im Handwerk – liegt die besondere Herausforderung darin, eine Tarifbindung zu erlangen. Hierzu gibt es ein Bündel von unterstützenden Maßnahmen im Rahmen eines gesonderten Projekts. In diesem Bereich nachhaltige Mitbestimmungsstrukturen und Betriebsräte zu etablieren sowie Tarifstandards zu erreichen, ist die (Dauer-)Aufgabe der regionalen Geschäftsstellen. In welchem Maße sie sich im industriellen Mittelstand engagieren entscheiden allein die Bezirke und Geschäftsstellen je nach organisationspolitischer Bedeutung. So etwa erschließt die IG Metall-Geschäftsstelle Freiburg pro Jahr über 15 neue Betriebe. Auch in anderen strukturschwachen Regionen wie beispielsweise Stralsund, wo es nur wenige Betriebe mit mehr als 150 Beschäftigten gibt, nehmen die Erschließung und Betreuung von KMU einen hohen Stellenwert in der Alltagsarbeit der Geschäftsstellen ein. Betriebe ohne Betriebsrat (BoB) Mit ihrer „Erschließungsarbeit“ will die IG Metall nachhaltige betriebliche und gewerkschaftliche Mitbestimmungs- und Beteiligungsstrukturen schaffen. Damit verbindet sie eine Abkehr von einer in vielen Betrieben noch anzutreffenden Stellvertreterpolitik. Kolleginnen und Kollegen aus Betrieben ohne Betriebsrat, die sich an ihre zuständige Geschäftsstelle wenden, um eine Betriebsratswahl durchzuführen, werden dann unterstützt, wenn es in ihrem Betrieb bereits eine Gruppe von Aktiven gibt. Dahinter steckt der Gedanke, dass die „Institution Betriebsrat“ nur dann erfolgreich handeln kann, wenn sie von vielen Beschäftigten mitgetragen wird und weitere Beteiligungsprozesse im Betrieb fördert. In einigen Geschäftsstellen der IG Metall wurden BoB-Teams gebildet, die den Hauptamtlichen dabei helfen, neue Betriebsräte zu gründen. Diese Teams bestehen vorwiegend aus ehrenamtlichen IG Metallern, Betriebsräten aus der Region und sonstigen Unterstützern. Sie sollen den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben Mut machen und stehen ihnen als Ansprechpartner oder Paten zur Verfügung, wenn es zu ernsten Konflikten mit dem Arbeitgeber kommt. Überdies sollen sie mithelfen, Aktivenkreise in den Betrieben aufzubauen. Bei den Aktivenkreisen geht es der IG Metall vor allem darum, die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen mental, aber auch mit Informationen rund um die Wahl und die Aufgaben eines Betriebsrats zu unterstützen. „Diese Aktiventreffen sollen lebendige Orte sein, in denen man sich persönlich kennenlernt und erfährt, was andere bedrückt und wie man dies durch gemeinsames Handeln verändern kann“, sagt Susanne Kim. „Idealerweise sollten sie so ablaufen, dass dort konkrete Aktivitäten geplant werden und andere Kol- leginnen und Kollegen ebenfalls Lust bekommen, daran teilzunehmen und Aufgaben zu übernehmen. Hier sollen sie beispielsweise auch erfolgreiche Betriebsräte aus anderen Betrieben kennenlernen können, die sie ermutigen und unterstützen.“ Gerade in zugespitzten Konflikten im Kontext von Betriebsratswahlen gehe es darum, den betroffenen Kolleginnen und Kollegen eine Art Schutzraum zu bieten, so die Metallerin. „Oft werden ja auch deren Partner, Freunde und sogar die ganze Familie in den Konflikt mit hineingezogen. Für diese Fälle engagieren wir dann Mentaltrainer oder stel- Organizing-Handbuch: Der digitale Werkzeugkasten für die Praxis. Werkzeugkoffer, um die verschiedenen Phasen des Erschließungsprozesses (Phase 1: Vorbereitung und Planung, Phase 2: Zugang, Phase 3: Basisaufbau, Phase 4: Themenkonflikt, Phase 5: Eskalation, Phase 6: Erfolg und Nachhaltigkeit) erfolgreich durchlaufen zu können. Kontakt: [email protected] Organizing-Han dbuch Der digitale Werk zeugkasten für die Praxis len den Betroffenen Paten zur Seite, die sie in der Öffentlichkeit begleiten. Das können prominente Politiker, Pfarrer, bekannte Betriebsräte, Künstler oder Medienleute sein.“ Auch hier setzt das neue Rahmenkonzept der IG Metall neue Akzente: Es bietet umfassende Qualifizierungs- und Beratungsangebote nicht nur fachlicher Art, sondern auch, um die Persönlichkeit zu stärken – sowohl für Hauptamtliche als auch für Ehrenamtliche. Dazu kommen kollegiale Fachberatung und professionelle rechtliche Unterstützung. „Gerade in mitbestimmungsfeindlichen Unternehmen haben wir in vielen Geschäftsstellen bereits deutlich an Land gewonnen, weil wir sie bei der Gründung eines Betriebsrats proaktiv unterstützt und die Belegschaft aktiviert haben“, berichtet Susanne Kim. „Die Arbeitgeber beauftragen inzwischen professionelle Kanzleien und Agenturen, um die Mitbestimmung in ihren Betrieben systematisch zu verhindern beziehungsweise zurückzudrängen. Sie führen fast unbehelligt eine Art Krieg vor Ort. Dadurch stehen die Kolleginnen und Kollegen unter einem massiven persönlichen Druck.“ Um dem entgegenzuwirken – so die Metallerin – brauche es eine vorausschauende Planung, mehr Ressourcen und eine bessere Kommunikation auf allen Ebenen der Organisation – aber ganz besonders auch gesellschaftlichen Druck. „Wir müssen konsequent öffentlich machen, wenn Arbeitgeber sich durch skandalöses Verhalten hervortun. Union Bashing ist für uns nicht akzeptabel.“ Dokumentation · Seite 15 Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern NEUE BETRIEBSRÄTE GRÜNDEN: TRANSFER UND NACHHALTIGKEIT SICHERN GESTALTUNGSMACHT GEWINNEN Die Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben ist Ausdruck der demokratischen Verfassung der Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland. Betriebsräte sind ihre wesentlichen Stützpfeiler. Dies ist auch vom Gesetzgeber so gedacht. Doch die Arbeitgeber kümmern sich zu wenig darum. Dabei gilt das Betriebsverfassungsgesetz auch für sie. Einzig die Gewerkschaften sehen sich vor die Aufgabe gestellt, in allen Betrieben mit mehr als fünf wahlberechtigten Beschäftigten Betriebsratswahlen stattfinden zu lassen. Welche Konsequenzen lassen sich aus den hier präsentierten gewerkschaftlichen Erfahrungen und den Erkenntnissen wissenschaftlicher Studien für eine systematische und nachhaltige (Erst-)Gründung von Betriebsräten und den Aufbau wirkungsmächtiger Mitbestimmungsstrukturen im industriellen Mittelstand ziehen? Mitbestimmung macht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Bürgerinnen und Bürgern im Betrieb. Mehr Demokratie und Mitbestimmung in die Unternehmen hineinzutragen ist für die Gewerkschaften daher ein strategisch wichtiges Thema. Besonders Seite 16 · Dokumentation der Gründung neuer Betriebsräte kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Für Beschäftigte gelten umfassende Rechte. Ob und wie die bestehenden Gesetze im Betrieb umgesetzt werden, darüber zu wachen ist Aufgabe des Betriebsrats. Nur wo es Betriebsräte gibt, kann das Betriebsverfassungsgesetz umgesetzt und sichergestellt werden, dass Arbeitnehmer(schutz-)rechte angewandt und eingehalten werden. Betriebsräte tragen wesentlich dazu bei, dass die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen nicht weit auseinanderklaffen. Ihnen stehen dafür Informations-, Beteiligungs- und Mitspracherechte zur Verfügung. Sie können proaktiv im Interesse der Beschäftigten – und gemeinsam mit ihnen – betriebliche Themen voranbringen, denn sie verfügen außerdem über Initiativrechte. Nicht zuletzt gibt es Rechte zugunsten der Beschäftigten, die ausschließlich an das Bestehen eines Betriebsrats gebunden sind. Dazu gehört, im Falle einer Unternehmenskrise, einen Sozialplan für die von betrieblichen Veränderungsprozessen bis hin zu Stellenabbau betroffenen Beschäftigten auszuhandeln. Betriebsräte sind damit eine institutionelle Macht und wesentliche Stützpfeiler für Demokratie und soziale Gerechtigkeit im Wirtschaftsleben. Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern Aber das ist nicht der einzige Grund für die Gewerkschaften, insbesondere im Rahmen der „Offensive Mitbestimmung“, Interessenvertretungen und Mitbestimmungsstrukturen systematisch auszubauen. Denn erst das Zusammenspiel von engagierter betrieblicher und aktiver gewerkschaftlicher Interessenvertretung gewährleistet eine lebendige und wirkungsmächtige Mitbestimmungskultur im Betrieb. Dort, wo es starke gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte gibt, verfügen die Gewerkschaften in der Regel über eine starke Mitgliederbasis und damit über eine hohe Durchsetzungskraft. Und diese wiederum ist Voraussetzung, um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten weiter verbessern und Tarifverträge abschließen zu können. Es ist daher für die Gewerkschaften als Promotoren der Mitbestimmung nicht damit getan, sich „nur“ darauf zu konzentrieren, Betriebsräte als „institutionelle Macht“ zu etablieren. Sie müssen auch dafür Sorge tragen, eine demokratie- und mitbestimmungsförderliche Kultur in den Betrieben zum Leben zu erwecken und langfristig zu sichern. Dazu bedarf es Gestaltungsmacht. Zusammenarbeit unterschiedlicher Gliederungen Eine weitere Erkenntnis ist, dass es für nachhaltige Strategien für mehr Demokratie und Mitbestimmung im Betrieb erforderlich ist, dass alle Ebenen der Organisation zusammenarbeiten. Das Kunststoffprojekt der IG BCE wurde entsprechend eines Beschlusses des geschäftsführenden Hauptvorstands im August 2012 aus Mitteln eines zentralen Investitionsfonds finanziert. Die Projektleitung war im Vorstandsbereich 2 (Mitbestimmung und Sozialpolitik) angesiedelt, die Planung übernahm eine organisationsinterne Fachgruppe der Hauptverwaltung über verschiedene Ressorts hinweg (Mitbestimmung, Marketing, Tarifpolitik, Betriebsverfassung und Justitiariat). Die operative Steuerung erfolgte durch die beteiligten Landesbezirke, denen die insgesamt acht Projektsekretärinnen und -sekretäre zugeordnet waren. Durch monatliche Fortschrittsberichte an die Projektleitung (Anzahl der Neuaufnahmen, Anzahl der erschlossenen Betriebe, Betriebskontakte, Gespräche in Aussicht, Anfragen nach Tarifvertrag) und das Erstellen monatlicher Gesamtübersichten konnte der Projektfortgang auf allen Ebenen (Vorstand, Cluster/Bezirke, Sekretärinnen und Sekretäre vor Ort) zeitnah nachverfolgt werden. Regelmäßige Treffen (quartalsweise „Jourfixe“) und Telefonkonferenzen sowie jährliche Projektworkshops (November 2014, Oktober 2015, Juni 2016) halfen dabei, die Zusammenarbeit mit den Bezirken zu optimieren, die Projektsteuerung an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und Qualifizierungsangebote sowohl auf die Bedürfnisse der Projektsekretärinnen und -sekretäre vor Ort als auch auf die betrieblichen Akteure zuzuschneiden. Auch bei der IG Metall erfolgt die „Erschließungsarbeit“ in enger Kooperation unterschiedlicher Gliederungen der Organisation. Hierzu zählt das Zusammenwirken des zentralen Organizing-Teams beim IG Metall-Vorstand mit den Bezirken und den Geschäftsstellen. Bei der bezirks- und geschäftsstellenübergreifenden Erschließung von strategischen Konzernen in neuen Branchen wie der Windindustrie oder bei den Entwicklungsdienstleistern übernimmt das Organizing-Team die strategische Planung der Projekte, entwickelt passgenaue Ansätze und Methoden und stellt auch die personellen Ressourcen (Organizer) zur Verfügung. Auch bei der IG Metall gibt es einen strategischen Investitionsfonds, aus dem heraus „Erschließungsprojekte“ finanziert werden. Bei der Kampagne zum Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen in der Windbranche beispielsweise wurde ein dreizehnköpfiges Organizing-Team zusammengestellt. Hierbei übernahmen erfahrene Organizer, die vom zentralen Organizing-Team beim IG Metall-Vorstand entsendet wurden, die Projekt- und Teamleitung. Die ebenfalls an dem Projekt beteiligten Sekretärinnen und Sekretäre aus den Geschäftsstellen erhielten zu Beginn eine mehrwöchige Grundlagenqualifizierung mit Schwerpunkt auf die Themen „Erschließungsmethoden“ und „Gesprächstechniken“. Betriebsräte gründen ist aufwändig Wie aufwändig es in Wirklichkeit ist, in der Fläche betriebliche und gewerkschaftliche Mitsprache zu organisieren, wird häufig von den beteiligten Akteurinnen und Akteuren unterschätzt. Bereits die Planung eines Projekts beansprucht viel Zeit, insbesondere wenn es darum geht, KMU zu erschließen – und erst recht, wenn sie sich in strukturschwachen großflächigen Regionen befinden. Die strategische Recherche nimmt dabei einen großen Platz ein. Beim Kunststoffprojekt der IG BCE erfolgte die Auswahl der Betriebe, die sich die Clusterverantwortlichen in den beteiligten IG BCE-Bezirken vornahmen, auf der Basis der „Hoppenstedt-Liste“. Diese diente zunächst nur dazu, sich einen Überblick zu verschaffen und um erste Entscheidungsfilter anzuwenden (Feststellen der Branchenzugehörigkeit, Auswahl nach Unternehmensgröße usw.). Dies erleichterte die Recherche. Komplizierter Dokumentation · Seite 17 Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern wurde es, in Erfahrung zu bringen, welche Realität sich hinter diesen Daten verbarg. Wie kommt man an detaillierte wirtschaftliche Informationen über ein bestimmtes Unternehmen? Hat es verschiedene Standorte in der Region? Wie hoch ist die Anzahl der Beschäftigten? Wie agiert das Unternehmen im politischen und sozialen Umfeld, welche Unternehmenskultur herrscht dort? Was sind die besten Zugangsmöglichkeiten (öffentlich erreichbare Parkplätze, Schichtwechsel usw.)? Selbst wenn diese Fragen beantwortet werden konnten – meistens mussten die Betriebe mehrfach und zu unterschiedlichen Zeiten hierfür angefahren werden –, gab es immer noch die Unsicherheit: Finden sich durch direkte Ansprache genug Menschen, die einen Betriebsrat gründen möchten? Oder ist es besser, sich über den Arbeitgeber Zugang zum Betrieb zu verschaffen? Wodurch könnte man Druck auf das Unternehmen ausüben, wenn sich der Arbeitgeber gegen die Wahl eines Betriebsrats wehrt? Besonders intensiv wurde die Arbeit, sobald erste Kontakte zu betrieblichen Kolleginnen und Kollegen geknüpft worden waren. Hierbei verlangte die Situation häufig, rund um die Uhr erreichbar zu sein, kurzfristig Basis-Qualifizierungen zu organisieren oder auch persönliche Betreuungsarbeit zu leisten. Die hier abgeforderte zeitliche Intensität muss daher in der Ressourcenplanung von vornherein angemessen berücksichtigt werden. OHNE AKTIVE FUNKTIONIERT KEINE NACHHALTIGE MITBESTIMMUNGSUND BETEILIGUNGSKULTUR, DIE IMMER AUCH ZIEL VON BETRIEBSRATSGRÜNDUNGEN SEIN SOLLTE. Beim Zugang gibt es keinen Königsweg Ob durch direkte Ansprache von Kolleginnen und Kollegen vor dem Tor, das großflächige Verteilen von Infomaterial auf Werkparkplätzen oder durch ein Anschreiben an den Arbeitgeber: Es gibt keinen Königsweg, sich Zugang zu einem Betrieb zu verschaffen. Beim Kunststoffprojekt der IG BCE entschieden die Clusterverantwortlichen zusammen mit den ebenfalls am Projekt beteiligten Bezirksleiterinnen und -leitern über den jeweiligen Einsatz der Methoden. Das Wichtigste allerdings ist: zahlreiche Gespräche führen, persönliche Kontakte knüpfen und Schlüsselpersonen ausfindig machen, die Problemdruck haben und sich gegenüber der Gewerkschaft offen zeigen. So erhält man erste Eindrücke von dem Betriebsklima und Hinweise auf relevante Themen. Seite 18 · Dokumentation Ohne Aktive in den Betrieben geht es nicht Trotz intensiver Recherche und mehrfacher Kontaktaufnahme kommt es immer wieder vor, dass sich nicht genügend Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben finden, die bereit sind, eine Betriebsratswahl „durchzuziehen“. Die Angst vor Repressalien seitens des Arbeitgebers spielt hier oft eine wesentliche Rolle, aber auch mangelndes Selbstbewusstsein von Einzelnen sowie fehlende Teambindung oder Führungsfähigkeit, wie die Studie von Ingrid Artus betont. In solchen Fällen – so die Erkenntnis aus dem Kunststoffprojekt und der Studie von Ingrid Artus – macht es wenig Sinn, den entsprechenden Betrieb weiterhin regelmäßig anzusteuern oder einen Betriebsrat gar von außen zu installieren, der dann von der Belegschaft nicht getragen wird. Die Faustregel der IG BCE hat sich bewährt: Es muss in einem Betrieb ein Team von Aktiven von mindestens doppelter Größe geben, die notwendig ist, um einen Wahlvorstand zu benennen. Ohne sie funktioniert keine nachhaltige Mitbestimmungs- und Beteiligungskultur, die immer auch Ziel von Betriebsratsgründungen sein sollte. Die IG Metall fährt bei ihren „Erschließungsprojekten“ einen klaren Kurs: Sie will weg von einer Stellvertreterpolitik, bei der sich Betriebsräte hinter ihrer institutionellen Macht verschanzen. Starthilfe bieten, Aktivenkreise einrichten Erfolg ist, wenn sich ausreichend betriebliche Akteure finden, die überzeugt sind: Wir brauchen einen Betriebsrat – koste es, was es wolle! Dann geht es darum, ihnen eine gute Starthilfe zu bieten. Aktivenkreise zu bilden, ist ein wichtiger Ansatz, um regelmäßig mit den betrieblichen Akteuren ins Gespräch zu kommen. Hierbei geht es zunächst darum, einen Schutzraum einzurichten, in den sich die Kolleginnen und Kollegen auch mit ihren persönlichen Belangen einbringen können. Hier sollen sie Empathie erfahren, sich gegenseitig ermutigen können und erste Informationen erhalten, was ein Betriebsrat für sie bedeutet und was bei einer Wahl zu beachten ist. Hilfreich ist, wenn es überbetriebliche Unterstützerkreise gibt – wie etwa die BoB-Teams in einzelnen Geschäftsstellen der IG Metall. Das erleichtert es, den Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen aus anderen Betrieben herzustellen, die mit ihrem Vorgehen bereits Erfolg hatten. Im Falle massiver Be- und Verhinderungsaktivitäten des Arbeitgebers kann über das Team auch öffentlicher Druck aufgebaut beziehungsweise solidarische Unterstützung der Betroffenen organisiert werden. Für den Fall, dass jemand persönlich vom Arbeitgeber massiv bedrängt wird, empfiehlt es sich, ihm oder ihr Paten zur Seite zu stellen, die ihn oder sie unterstützen. Beim Kunststoffprojekt der IG BCE wurde der Qualifizierung der betrieblichen Akteure und der Vermittlung von Grundkenntnissen des Betriebs- Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern verfassungs- und Arbeitsrechts gleich zu Beginn der gemeinsamen Arbeit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Teilweise in Crash-Kursen sollten sie vor überzogenen Erwartungen geschützt und mit den realen Problemen im Vorfeld einer Betriebsratswahl bekannt gemacht werden. Dies führte jedoch in einigen Fällen dazu, dass sich betriebliche Kolleginnen und Kollegen eher ernüchtert zurückzogen. Es ist daher manchmal ein schwieriger Spagat, bei den ersten Zusammentreffen einerseits für eine schützende Wohlfühlatmosphäre zu sorgen und andererseits die Kolleginnen und Kollegen für betriebliches Engagement oder konkrete Aufgaben zu motivieren und ihnen dabei eine realistische Sicht auf die gegebenen Kräfteverhältnisse zu vermitteln. Gestaltungskompetenz aufbauen Betriebe, insbesondere im industriellen Mittelstand, aufzusuchen, um einen Betriebsrat zu gründen, verlangt von den beteiligten Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären ein hohes Maß an fachlicher und organisatorischer Kompetenz, aber auch persönliche Standfestigkeit, kommunikative Fähigkeiten und Konfliktbereitschaft. Die in das Kunststoffprojekt der IG BCE eingebundenen Projektkolleginnen und -kollegen wurden noch vor dem eigentlichen Projektstart in einem einmonatigen Intensivkurs geschult. Die Vermittlung der einzelnen Bausteine übernahmen hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen aus der Hauptverwaltung der IG BCE. Dies hatte den Vorteil, dass die Projektsekretärinnen und -sekretäre hierbei gleich ihre Ansprechpartner zu den einzelnen Themen kennenlernten. Die gemeinsame Schulung trug auch dazu bei, dass sie sich besser untereinander verständigen und Erfahrungen austauschen konnten. Ergänzt wurde diese Qualifizierung durch spezielle fachliche Schulungen in den einzelnen Clustern sowie im Anschluss an die Jour-fixe-Treffen. Bei den Qualifizierungen im Rahmen der „Erschließungsarbeit“ der IG Metall stehen die organisatorische und kommunikative Kompetenzentwicklung im Zentrum. Insbesondere werden die Projektsekretärinnen und -sekretäre dabei intensiv auf schwierige Ansprache- und Anfangssituationen vorbereitet, um diese erfolgreich bewältigen zu können. Gestaltungskompetenz aufbauen bedeutet jedoch auch, die in entsprechenden Projekten gewonnenen Erfahrungen und das hierbei erarbeitete Wissen breitflächig in die Organisation hineinzutragen. Dazu müssen die Erkenntnisse stärker in die Aus- und Weiterbildung der hauptamtlichen Sekretärinnen und Sekretäre sowie in geeignete Arbeitshilfen einfließen. Überdies bedarf es einer intensiveren Öffentlichkeitsarbeit auf diesem Gebiet, um den Diskurs über Erfolge und Misserfolge sowie Chancen und Risiken der Projekte zu führen. Dieser ist notwendig, um nicht nur die Strategien, sondern auch die organisatorischen Voraus- Vertreten auf Branchen- und Betriebsebene Von den Beschäftigten in privatwirtschaftlichen Betrieben ab 5 Beschäftigten arbeiteten in 2015 in… Quelle: IAB-Betriebspanel setzungen für nachhaltig erfolgreiche Betriebsratsgründungen ständig zu optimieren. Nachhaltige Betreuung sichern Waren die ersten Schritte zur Gründung eines Betriebsrats erfolgreich, ergeben sich daraus Anforderungen an eine nachhaltige und moderne gewerkschaftliche Unterstützung. Ansonsten erstirbt das zarte Pflänzchen demokratischer Mitgestaltung der Arbeit im Betrieb schnell wieder. Beim Kunststoffprojekt der IG BCE hat es sich als hilfreich erwiesen, dass von dem Zeitpunkt an, zu dem die Betriebsratswahl in einem Betrieb eingeleitet wird (Wahl beziehungsweise Bestellung des Wahlvorstands) der für den Bereich zuständige Bezirkssekretär hinzugezogen wurde. In besonders schwierigen Fällen und Situationen sind die Bezirke ohnehin bereits zum Zeitpunkt der Wahlversammlung beteiligt worden. Nach der Konstituierung eines Betriebsrats schieden die Projektsekretärinnen und -sekretäre allmählich aus. Oft waren sie aber noch bei den ersten Grundqualifizierungen mit dabei. Dieser Übergabewechsel ist häufig ein heikler Prozess für alle Beteiligten. Wichtig ist, dass er schonend erfolgt und in eine nachhaltige Betreuung mündet. Diese sollte sich nicht nur darauf konzentrieren, den neugewählten Betriebsrat zu beraten und zu unterstützen, sondern auch die weiteren betrieblichen Akteure, die an dem gesamten Geschehen rund um die Betriebsratswahl teilgenommen haben (Aktivenkreis), mit im Blick haben. Gemeinsam mit ihnen geht es darum, ergänzende Mitsprache- und Beteiligungsstrukturen (Jugendvertretung, Vertrauensleute, Arbeits-/Fachgruppen des Betriebsrats) im Betrieb aufzubauen, um so die Durchsetzungskraft des Betriebsrats zusammen mit der Belegschaft und der Gewerkschaft vor Ort zu stärken. Dokumentation · Seite 19 Neue Betriebsräte gründen: Transfer und Nachhaltigkeit sichern Die neugewählten Betriebsräte sollten über geeignete Schulungsmaßnahmen informiert und motiviert werden, sich regelmäßig weiterzubilden. Es empfiehlt sich zudem, insbesondere für Betriebsräte aus KMU, auf regionaler Ebene ein Netzwerk neu gewählter Betriebsräte aufzubauen, in dem sie ihre Erfahrungen untereinander austauschen können. Schikanen abwehren Für das Auseinanderfallen von gesetzlichem Anspruch und betrieblicher Realität gibt es Verantwortliche: unkooperative und mitbestimmungsfeindliche Arbeitgeber. Auch dies ist eine Erkenntnis, die aus den gewerkschaftlichen Erfahrungen mit den Projekten zum Aufbau von Mitbestimmungsstrukturen im industriellen Mittelstand und den präsentierten wissenschaftlichen Studien resultiert. DAS MISSBRAUCHSVERHALTEN DER ARBEITGEBER HAT EINE NEUE QUALITÄT Das Ausmaß der Aggression und die Massivität der Abwehr, mit welcher sich zahlreiche Arbeitgeber – insbesondere aus kleinen und mittelständischen Betrieben – gegen die Wahl von Betriebsräten stemmten, hat alle Beteiligten des Kunststoffprojekts der IG BCE überrascht. In so gut wie keinem Betrieb haben sich die Projektsekretärinnen und -sekretäre anfangs willkommen gefühlt. Mit teilweise rüden Methoden wurden sie von den Werktoren oder von den öffentlichen Parkplätzen vor dem Betriebsgelände vertrieben. Gelegentlich wurden sie übel beschimpft, in Einzelfällen kam es sogar zu Handgreiflichkeiten. Auch die betrieblichen Kolleginnen und Kollegen, die sich für einen Betriebsrat stark machten, wurden nicht verschont. Vielen wurden Nachteile angedroht, einige waren Repressalien ausgesetzt worden: übler Nachruf, Versetzen auf eine andere Stelle mit teilweise erheblichen Mängeln (schlechte Witterungsverhältnisse und Umgebungsfaktoren), Kündigung. Manche Arbeitgeber ließen sich bei ihren Abwehr- und Abschreckungsmaßnahmen von Anwaltskanzleien beraten. Die Befragung der beiden Wissenschaftler Martin Behrens und Heiner Dribbusch bestätigen das hohe Ausmaß von Abwehr und die Aggressivität, mit der viele Arbeitgeber – besonders aus KMU und inhabergeführten Betrieben – vor allem gegen die Erstgründung von Betriebsräten zu Felde ziehen. Sie beobachten eine neue Qualität von Betriebsratswahlbe- und verhinderung durch die professionelle Unterstützung von Anwälten. Mit ihrem Verhalten zielen die Arbeitgeber darauf, gerade in jungen und mitbestimmungsfernen Branchen sowohl die Gewerkschaften als auch die Seite 20 · Dokumentation Beschäftigten einzuschüchtern. Die damit einhergehenden Ängste und persönlichen Schwierigkeiten werden heute in der Aus- und Weiterbildung von Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretären sowie in den Betriebsratsschulungen bereits thematisiert. Noch zu wenig wird allerdings in den Gewerkschaften problematisiert, was es bedeutet, wenn dieses Vorgehen der Arbeitgeber zunehmend dazu führt, dass der Einsatz eines Wahlvorstands über eine gerichtliche Bestellung erfolgen muss. So ist anzunehmen, dass Betriebsratsgründungen künftig in steigendem Maße davon abhängig sind, wie zügig oder langwierig die zuständigen Gerichte darüber entscheiden. Die Fälle, in denen ein Wahlvorstand eingeklagt wurde, haben beim Kunststoffprojekt der IG BCE dazu geführt, dass einige Projektsekretärinnen und -sekretäre sowie betriebliche Akteure durch dieses verschleppte Verfahren demotiviert wurden. Sie waren nicht mehr Herr des Geschehens, was sie nach dem Gesetz eigentlich hätten sein sollen. Manche betriebliche Kollegin und mancher Kollege zog sich deshalb zurück. Es kam nicht zur Betriebsratswahl. Damit hatten die Arbeitgeber ihr Ziel erreicht. Gegenöffentlichkeit aufbauen Aber nicht nur, dass die Gerichte zunehmend bestimmen, ob und in welchem Betrieb ein Betriebsrat zustande kommt, ist äußerst problematisch. Nicht weniger gefährlich ist der Imageschaden, den die demokratische Institution „Betriebsrat“ und ihre Protagonisten, insbesondere Betriebsräte, erleiden. Hier sind nicht nur die Gewerkschaften in hohem Maße und kurzfristig gefordert, geeignete Gegenstrategien und eine stärkere Gegenöffentlichkeit zu entwickeln, die die Risiken eines solchen Arbeitgeberverhaltens für die bestehende demokratische Verfassung von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und den Erhalt des sozialen Friedens in den Mittelpunkt stellt. Im Kunststoffprojekt der IG BCE wurde immer wieder die Spannung zwischen einer angemessenen Skandalisierung und dem Schutz der betroffenen Kolleginnen und Kollegen ausgelotet. Dabei ist in einzelnen Fällen entschieden worden, darauf zu verzichten, unfaires bis strafrechtlich relevantes Arbeitgeberverhalten zu ahnden und öffentlich zu machen, um die ohnehin angespannte Situation im Betrieb nicht weiter eskalieren zu lassen. Rechtsbruch und skandalöses Arbeitgeberverhalten, um Betriebsratswahlen zu be- oder verhindern, sind keine Kavaliersdelikte. Die Chance darauf, diese Verstöße künftig in die Öffentlichkeit tragen zu können ohne die betroffenen Betriebsräte und betrieblichen Akteure zu gefährden, bietet die „Offensive Mitbestimmung“ des DGB. Sie will auf allen gewerkschaftlichen Handlungsebenen – in den Gewerkschaften sowie in Unternehmen und Politik – die Debatte um den Erhalt und Ausbau einer zukunftsfähigen Mitbestimmung voranbringen.
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