Predigt zum Hochfest Allerheiligen 2016

Predigt zum Hochfest Allerheiligen 2016
Offb 7,2-4.9-14; Mt 5,1-12a
Liebe Gemeinde, hier in der Kirche und an den Radios,
hier vorne in der Kirche steht heute, am Fest Allerheiligen ein leerer Sessel. Es ist der
Sessel meiner Mutter. Seit ihrem Tod vor 3 Monaten ist er leer.
Heute Nachmittag gehen viele Christen auf die Friedhöfe an die Gräber ihrer
Verstorbenen, die einen leeren Platz im Leben hinterlassen haben.
Und heute Morgen sitzen in unserem Gottesdienst auch Angehörige derjenigen, die im
vergangenen Jahr in unserer Gemeinde verstorben sind. Eine Tafel hier vorne zeigt die
Namen dieser Verstorbenen.
Der leere Sessel soll auch für sie eine Art Platzhalter sein. Manchmal weisen mich
Angehörige ausdrücklich hin auf solch einen Sessel, einen Stuhl, ein Sofa: „Hier hat mein
Mann, meine Frau, meine Mutter, mein Vater gesessen, als er, als sie noch lebte!“ höre ich
dann. Bei manchen wird der Platz zu einem kleinen Heiligtum, unberührt – sogar die Kissen
liegen noch so, wie er, wie sie es gerne hatte. Andere Angehörige lassen das leere Möbelstück
schnell verschwinden – in den Keller, auf den Dachboden, auf den Sperrmüll –, weil die
Erinnerung zu schmerzhaft ist, weil der offensichtliche Verlust nicht nur traurig macht,
sondern vielleicht auch zornig und wütend. Und natürlich gibt es zwischen diesen Extremen
von Schmerz, Zorn und Wut viele Schattierungen.
Aber wie auch immer: Dieser Platz war wichtig, fester Teil des Tagesablaufs, an diesem
Punkt verdichtetes Leben. Es ist deshalb oft ein Ort, der die Hinterbliebenen weiterhin mit
diesen Verstorbenen verbindet in Liebe und Freundschaft.
Manche hinterlassen auch hier in der Kirche erkennbar einen leeren Platz, wo sie früher
gesessen haben. Auch der Platz bleibt jetzt leer.
„Kraniche“ heißt ein Lied des niederländischen Sängers Herman van Veen – passt ja
auch gut zur Jahreszeit. Da singt er:
„Die Dämmerung beginnt sich auszubreiten
am Himmel ziehen Vögel einen Strich,
ich seh‘ den leeren Platz
in ihren Reihen
ist dieser Fleck da reserviert für mich?“1
1
(M: Trad., T: T. Wilmink/T. Woitkewitsch; aus: Solange der Vorrat reicht, DG 1982)
Nun, ich glaube nicht, dass van Veen wirklich erwartet, er würde nach dem Tod in einen
Kranich verwandelt, reinkarniert oder so. Trotzdem bleibe ich hängen an dieser Frage,
poetisch, melancholisch in den blauen Himmel gestellt: Gibt es da, nach dem Tod, einen
reservierten Platz für mich, irgendeinen Ort, irgendein Ziel?
Als Christ habe ich die Hoffnung, dass diese Frage nicht unbeantwortet bleibt. Dennoch mag
sie manchem bange Fragen wecken: Ist da denn wirklich ein Platz für mich reserviert – etwa,
wie es die Bibel ankündigt, bei einem himmlischen Hochzeitsmahl? Oder muss ich mich
womöglich doch selbst darum kümmern? Könnte ich gar abgewiesen werden von einem
grimmigen Himmelspförtner? Gerade in der älteren Generation finden sich solche ängstlichen
Bedenken und Fragen, vielleicht genährt durch die biblischen Texte am heutigen
Allerheiligentag.
Johannes sieht in seiner Vision „die, die aus der großen Bedrängnis kommen.“ – Heißt
das etwa, dass der Eintritt in den göttlichen Thronsaal zum Festbankett nur für Helden
gedacht ist, die mit dem eigenen Leben für ihren Glauben eingestanden sind? Dann hätte ich
keine Chance, diesen Platz zu bekommen. Was ich heute evtl. für den Glauben zu erleiden
habe, sind eher Lappalien: ein spöttischer Zeitungsartikel, der Glauben rückständig nennt,
eine abschätzige Bemerkung in einem Gespräch, eine Beschimpfung, die der Kirche im
Allgemeinen gilt. Das reicht dann wohl kaum. Auch wenn manche den Untergang des
christlichen Abendlandes beschwören: Dass ich wirklich Bedrängnis, Verfolgung oder gar
den Tod fürchten muss, weil ich Christ bin, ist hier bei uns ziemlich unwahrscheinlich.
Also doch kein Platz für mich im Himmel? Nein, das denke ich nicht. Jesus selbst
zählt andere Möglichkeiten auf, die den Platz bei ihm verheißen: Nächstenliebe, Werke der
Barmherzigkeit, die zehn Gebote, die Bereitschaft zum Verzeihen… Vor allem aber: Ich lese
zum Beispiel auch die Seligpreisungen der Bergpredigt, die wir vorhin gehört haben, nicht als
abgeschlossene Liste: Es sind Trostworte, die gerne auch ergänzt werden könnten mit
weiteren Beispielen menschlichen Tuns und Erleidens, mit Beispielen, die Gottes Sympathie
haben und ein Weg zur Seligkeit sein können. Wäre nicht auch: „Selig, die lieber lachen als
schimpfen“ hinreichend oder: „Selig, die Humor haben und Gelassenheit“?
Ja, ich glaube, dass unser Leben Gewicht hat, dass unsere Entscheidungen von Gott
ernstgenommen werden, dass unser Tun vor ihm zählt. Und davon hängt es ab, ob der
bereitete Platz bei Gott von mir eingenommen wird. Fest steht aber: Der Platz ist schon da,
von Gott bereitet und für mich freigehalten. Anfang und Ende, die sind – Gott sei Dank – in
seiner Hand.
So gesehen berührt das auch diesen leeren Sessel hier in der Kirche. Er ist nicht nur
Zeichen eines Verlusts, davon bin ich überzeugt. Ich kann in ihm ein Zeichen der Hoffnung
erkennen. Dann steht er für den Platz, den Gott uns seit der Taufe eingeräumt hat. Er ist damit
schließlich auch symbolisches Verbindungsstück mit dem Platz, den Gott für mich bereitet
hat, den er für alle bereitet hat! Und so verstehe ich ihn auch als Zeichen der Verbundenheit
mit all denen, die uns vorausgegangen sind!
Dieser leere Platz und all die anderen vordergründig leeren Plätze: Sie sind wie ein
Platz an der Sonne, an dem schon jetzt die Vollendung des Lebens durchscheint – für Sie und
mich, unsere Verstorbenen und alle Menschen. Wer in der festen Hoffnung darauf lebt, dass
Gott uns den Platz bei ihm ja schon bereithält, kann der anderes als selig sein?
(© Dr. Ludger Kaulig – Es gilt das gesprochene Wort.)