Das Manuskript zum Beitrag

Manuskript
Beitrag: Das Geschäft mit der Borreliose –
Zecken und andere Blutsauger
Sendung vom 1. November 2016
von Jan Fritsche und Herbert Klar
Anmoderation:
Ein kleiner Zeckenbiss kann schlimme Folgen haben: Nerven-,
Hirn- oder Herzschädigungen. Die kommen zwar selten vor, aber
schon die Möglichkeit versetzt verunsicherte Patienten in Angst
und Schrecken. Rund um die Borreliose ranken sich Rätsel.
Manche Ärzte vermuten, dass Krankheiten noch Jahre nach dem
Biss ausbrechen können. Wieder andere sagen, eine "chronische
Borreliose" gebe es gar nicht. Fakt ist: Was die Blutsauger nun
wirklich anrichten können, ist viel zu wenig erforscht, und viel zu
viele Ärzte sind ratlos. Diese Wissenslücke ist für
Geschäftemacher lukrativ. Jan Fritsche und Herbert Klar über die
ansteckende Angst vor Zecken.
Text:
Der Tiergarten in Berlin. Zeckenexperte Volker Fingerle auf
Zeckensuche. Selbst in einem Park mitten in der Großstadt lauern
die winzigen Blutsauger am Wegesrand.
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Also, hier haben wir jetzt einige Exemplare vom sogenannten
gemeinen Holzbock. Das ist die Zecke, die bei uns die LymeBorreliose, also die Borrelien, überträgt.
Das Tückische an der Borreliose: Im Gegensatz zur
Hirnhautentzündung, die auch von Zecken übertragen wird, gibt
es keinen Impfstoff. Auch deshalb gelten Zecken als gefährlich.
Volker Fingerle leitet das Nationale Referenzzentrum für
Borrelien. Die Angst vor der Borreliose hält er für übertrieben.
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Im Schnitt ist das häufigste, was nach so einem Zeckenstich
passiert, gar nichts. Und dann in ein bis fünf Prozent der
Fälle entsteht eine Erkrankung.
Bricht die Krankheit tatsächlich aus, ist sie in den meisten Fällen
gut erkennbar an der sogenannten Wanderröte. Mit zwei Wochen
Antibiotika lässt sich die Borreliose im Frühstadium in aller Regel
besiegen.
Doch das ist nicht immer so. Wiebke Friedrich aus dem
sächsischen Grimma wurde bei einem Schwarzwaldurlaub Ende
der 90er von einer Zecke gestochen. Die typische Hautrötung
bemerkt sie nicht - dafür immer mehr Beschwerden.
O-Ton Wiebke Friedrich, Patientin:
Es ging um die 2000 los, dass da immer - mit
Gelenkbeschwerden hatte ich da wirklich Probleme,
Kopfschmerzen war auch eine ganze Zeit. Das ist so ein
schleichender Prozess gewesen, bis 2008, da habe ich dann
extreme Kniebeschwerden, die da wirklich nicht mehr zum
Aushalten waren.
Tatsächlich kann eine nicht rechtzeitig erkannte Borreliose
schwerwiegende Folgen haben. So können Borrelien die Gelenke
angreifen – zum Beispiel das Knie, mit schmerzhaften
Entzündungen.
Neben den Gelenken können die Borrelien auch Nerven befallen.
Wird ein Nerv so geschädigt, kann es sogar zu Lähmungen
kommen, eine sogenannte Neuroborreliose. Auch wichtige
Organe wie das Hirn oder das Herz können geschädigt werden.
Ärzte können Wiebke Friedrich damals kaum helfen. Der
Hausarzt überweist sie zum Rheumatologen, der schickt sie zu
einem Infektionszentrum. 2008 dann der Bescheid vom
Gesundheitsamt: Verdacht auf Borreliose.
O-Ton Wiebke Friedrich, Patientin:
Die Krankheit hat in dem Sinne mein Leben verändert, dass
ich nicht mehr arbeitsfähig bin. Der Bekanntenkreis ist
ziemlich eingeschrumpft, dadurch dass ich eben auch gar
nicht mehr alles machen kann, mitmachen kann und
momentan lebe ich von Arbeitslosengeld II.
Borreliose sei im Spätstadium äußerst schwierig zu
diagnostizieren, räumt Walter Berghoff von der Deutschen
Borreliose-Gesellschaft ein. Er kennt viele Patienten, die
jahrelang vergeblich auf Hilfe hoffen.
O-Ton Dr. Walter Berghoff, Deutsche BorrelioseGesellschaft:
Bei der Lyme-Borreliose im Spätstadium haben wir
überhaupt keine evidenzbasierten Studien, wir haben keine
Basis, wie wir behandeln sollen, wie lang wir behandeln
sollen. Wir stehen also in einem informationsfreien oder
mangelhaften Raum und müssen uns trotzdem entscheiden,
was wir machen sollen.
Viele Patienten suchen in ihrer Unsicherheit Hilfe im Internet. Hier
werben Privatkliniken, sie könnten Borreliose zuverlässig
erkennen und erfolgreich behandeln. So heißt es auf der Website
der Klinik St. Georg in Bad Aibling:
„Sie sind auf der Suche nach einer Borreliose-Klinik? Dann
sind sie bei uns genau richtig.“
Eine Klinik in Hannover preist sich als „eine der besten Klinken
weltweit in der Behandlung Zecken-übertragener
Erkrankungen“. Dem Borreliose-Centrum Augsburg zufolge
„berichten die Patienten in überwiegender Zahl über eine
deutliche Verbesserung ihrer Symptome bis hin zur
Beschwerdefreiheit“.
Das Borreliose Centrum Augsburg – eine der größten privaten
Borreliose-Kliniken Europas. In einem Werbefilm werden unter
anderem Hochtontherapie, Photonentherapie und Fußbäder
angepriesen.
Auch Wiebke Friedrich wandte sich in an das Borreliose-Centrum
Augsburg.
O-Ton Wiebke Friedrich, Patientin:
Ich sag mal, dann ist man wahrscheinlich schnell mal 1.000
Euro erst mal bloß für diese Untersuchung los und die
Behandlung kostet ja dann auch noch mal dementsprechend.
Und da waren Preise, dass man eben auch noch mal in der
Woche oder im Monat 1.000 Euro da lässt.
1.800 Euro für die Kompakttherapie - pro Woche. Eine lange und
teure Behandlung – auch mit Antibiotika. Die gesetzlichen
Krankenkassen zahlen das meist nicht.
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Ich kann das sehr gut nachvollziehen, dass schwerkranke
Menschen letztendlich nach einer Lösung ihres Problems
suchen und da jede Möglichkeit in Betracht zieht. Und da hat
man auch nicht eine wissenschaftlich genaue Fähigkeit zum
Einschätzen, sondern da hofft man.
Doch ist die Hoffnung berechtigt? Dänischen Journalisten fiel auf,
viele Patienten mit sonst unerklärlichen Beschwerden suchen
Hilfe in deutschen Borreliose-Zentren. Um herauszufinden, wie
seriös die Privatkliniken arbeiten, machten die Journalisten eine
Stichprobe. Sie ließen ihr Blut abnehmen und von einem
staatlichen Gesundheitsinstitut in Kopenhagen untersuchen.
Ergebnis: kein Hinweis auf Borrelien. Ganz anders der Befund der
deutschen Labore:
O-Ton Michael Bech, Reporter TV 2:
Fünf Blutproben haben wir an deutsche Borreliose-Kliniken
geschickt, drei davon an die BCA-Klinik in Augsburg. All
diese Proben kamen zurück, mit Hinweis auf Borrelien.
Die BCA-Klinik entdeckt in ihrem Befund in allen drei Proben eine
Zellaktivität gegen Borrelien – der vermeintliche Hinweis auf eine
Borreliose-Erkrankung. Dabei ist die Verlässlichkeit des
verwendeten sogenannten Elispot-Tests nicht erwiesen.
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Ich kann den aus wissenschaftlicher Sicht nicht einschätzen,
weil es gibt keine validen Daten dazu.
O-Ton Frontal 21:
Würden sie sich auf die Ergebnisse verlassen?
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Nein.
Die dänischen Journalisten wollen wissen, ob sie trotz des
umstrittenen Tests für krank erklärt werden und eine teure
Therapie bezahlen sollen. Ein Reporter fährt nach Augsburg.
O-Ton Michael Bech, Reporter TV 2:
Gleich im ersten Gespräch mit dem Arzt hat er gesagt: Ja,
Sie leiden an Borreliose, Sie leiden sogar an chronischer
Borreliose, Sie brauchen eine Langzeittherapie mit
Antibiotika.
Mehrere Monate Antibiotika ohne wirklich krank zu sein?
Experten halten das für unseriös und sogar gefährlich.
O-Ton Dr. Volker Fingerle, Nationales Referenzzentrum für
Borrelien:
Grundsätzlich kann man die Langzeitgabe als bedenklich
einstufen. Also, zum einen gibt es keine Studien, die zeigen,
das bringt was, und zum anderen kann es natürlich zum Teil
schwerste Nebenwirkungen hervorrufen, bis hin zum Tod.
Wir fragen nach bei BCA. Kein Interview. Die Klinik verweist auf
positive Erfahrungen mit Antibiotika und ihren Labortests.
Schriftlich heißt es:
„Die Testverfahren, die die BCA anbietet, haben sich seit
vielen Jahren … bewährt.“
Die dänischen Journalisten bezweifeln das. Sie sollten nach
einem umstrittenen Test eine fragwürdige Antibiotika-Behandlung
über sich ergehen lassen und dafür rund 5.000 Euro zahlen.
Wiebke Friedrich konnte sich eine teure Privatbehandlung nicht
leisten. Und ob die überhaupt geholfen hätte, ist fraglich.
Patienten wie sie werden mit ihrem Leiden von der Medizin bisher
allein gelassen.
O-Ton Dr. Walter Berghoff, Deutsche BorrelioseGesellschaft:
Insgesamt ist das Wissen auf dem Gebiet der LymeBorreliose bei den deutschen Ärzten unzureichend, auch in
den Kliniken völlig unzureichend. Und das ist eine
organisatorisch-politische Frage, die aber dringend gelöst
werden müsste.
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