PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 15.01.16 09:12 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR Was bringt Psychotherapie? DIE ZEIT im Taschenformat. Jetzt für Ihr Smartphone! www.zeit.de/apps 3. NOVEMBER 2016 No 46 15.01.16 09:11 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 American Angst Wann professionelle Hilfe sinnvoll ist. Welche Verfahren wirklich wirken. Und warum eine längere Behandlung nicht unbedingt besser ist. Im neuen Magazin ZEIT Doctor Die Demokratie in den USA ist auf den Hund gekommen. Was bedeutet das für Europa und Deutschland? Und wie reagieren die Visionäre im Silicon Valley? Titelfoto: Alina Emrich für DIE ZEIT Politik, Seite 2–4 SEEHOFERS CHANCE REPRESSION IN DER TÜRKEI Rechts, aber richtig Sie holen uns Wenn es eine Partei gibt, die die AfD wirksam bekämpfen könnte, dann ist es die CSU. Warum tut sie es nicht? VON MATTHIAS GEIS O ft hat sich die CSU in der Ver‑ gangenheit so aufgeführt, als gäbe es unter den deutschen Parteien keine wichtigere. An der Schwelle zum Wahljahr 2017 könnte das sogar stim‑ men. Der Aufschwung des Rechtspopulismus hat die CSU in die Schlüsselrolle katapultiert, die sie immer schon für sich beanspruchte. Ob sich rechts von der Union eine Partei auf Dauer etabliert, vor allem aber, wie weit eine solche Partei in die gesell‑ schaftliche Mitte vordringt, das hängt nun wirklich maßgeblich von der CSU ab. Nicht die von Angela Merkel geprägte CDU und schon gar nicht eine rot-rot-grüne Alternati‑ ve können die wachsende Zahl frustrierter, ver‑ unsicherter, wütender Bürger binden, die sich heute nach rechts wenden. Das war seit je Auf‑ gabe der Christsozialen. Mit derber, rechtskon‑ servativer Rhetorik und effizientem Pragmatis‑ mus ist ihnen das lange Zeit gelungen. Doch ausgerechnet jetzt, wo die Überzeu‑ gungskraft des politischen Systems schwindet, ist auch die CSU nicht sonderlich gut aufgestellt. Unbeschadet ihrer Dominanz in Bayern, hat die Partei in der Ära Merkel viel von ihrer nationalen Ausstrahlung eingebüßt. Schon lange bevor die populistischen Aufsteiger ihr die Hoheit im rechten Sektor streitig gemacht haben, begann die CSU zu schwächeln. Seehofers wilde Vor‑ stöße in der Flüchtlingskrise markierten nicht nur den Dissens zur Kanzlerin, sie spiegelten auch die Verunsicherung seiner Partei. Die einen wollen Probleme lösen, die anderen schlachten sie aus Will die CSU den Aufstieg der AfD bremsen, muss sie zuerst damit aufhören, die CDU zu ih‑ rem Hauptgegner zu machen. Dass Seehofer, wie er sagt, die »Rattenfänger« und »Dumpfbacken« am rechten Rand bekämpfen will, blieb dem breiten Publikum lange verborgen, weil die spek‑ takulärsten Invektiven der eigenen Kanzlerin galten. Künftig sollte die legitime Kritik an der Flüchtlingspolitik, die Forderung nach Kontrolle, Begrenzung, Reduktion nicht mehr klingen, als konkurrierte die CSU mit der AfD um die schärfsten Parolen. Stattdessen muss die CSU, wo immer sie Missstände anprangert, die auch AfD-Sympathi‑ santen umtreiben, die Differenz zu den Populis‑ ten umso deutlicher machen. Probleme aufzu‑ greifen, um sie zu lösen, statt sie auszuschlachten – das unterscheidet seriöse Rechtskonservative von verschlagenen Populisten. In der Tat kann die CSU für sich beanspruchen, dass sie Krisen nicht beschwören, sondern bewältigen will. In keinem anderen Bundesland war vor einem Jahr der Ansturm der Flüchtlinge so groß wie in Bayern. Doch während die CSU landauf, landab den staatlichen Kontrollverlust beklagte, organi‑ sierte sie still und leise eine logistische Meister‑ leistung und brachte zugleich das umfangreichs‑ te Integrationsprogramm aller Bundesländer auf den Weg. Wenn der Slogan »Wir schaffen das« nicht schon vergeben gewesen wäre, die CSU hätte damit werben können. Doch selbst eindrucksvolle bayerische Erfolge werden kaum reichen, der AfD Paroli zu bieten. Vor allem im Bund muss sich die CSU neu orientieren. Sie hat Berlin zu lange wie eine Neben bühne bespielt, hat Schlüsselressorts aufgegeben oder sich bei Randthemen verkämpft. Wenn sie wieder Autorität bis ins rechte Spektrum hinein entwickeln will, muss sie ihren nationalen Ein‑ fluss ausweiten. Seehofers Vorstoß, den nächsten CSU-Vorsitzenden nicht mehr in der Münchner Staatskanzlei, sondern am Berliner Kabinetts‑ tisch anzusiedeln, verweist bereits auf die Neu‑ justierung des künftigen Engagements. Auch weiterhin bleibt Bayern der Garant für die übergreifenden Ambitionen der CSU. Den‑ noch sollte sich die Partei von ihrer Fixierung auf die absolute Mehrheit lösen. Sie wird auf Dauer nicht zu halten sein. Gerade weil die CSU im Kampf mit den neuen Rechten ihre humanen, rechtsstaatlichen und demokratischen Grund sätze nicht zur Disposition stellen kann, wird sie den verhetzten Teil des rechten Reservoirs nicht erreichen. So geht es heute in Bayern wie im Bund kaum mehr darum, die AfD zu verhindern. Realistischer wäre ein Containment gegen rechts, das die Mitte gegen die populistische Versuchung immunisiert. Die CSU wird nicht länger jeden ihrer Züge danach ausrichten können, ob er ihrer Allein‑ herrschaft in Bayern zuträglich ist. Als Regional‑ partei mit nationalem Nebenengagement ging das vielleicht. Doch im Kampf um die politische Hegemonie im Land spielt die CSU plötzlich eine Hauptrolle. Die muss sie nun ausfüllen. www.zeit.de/audio Erdoğan will, dass meine Zeitung und ich verstummen. Ein Aufschrei gegen das Schweigen VON CAN DÜNDAR S ie kennen sicher Churchills Beschrei‑ bung von Demokratie: »Wenn es morgens früh an meiner Tür läutet, und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.« Dieser Definition nach ist die Türkei zwei‑ felsfrei keine Demokratie. Denn die Menschen in der Türkei wissen mittlerweile, dass es nicht der Milchmann ist, der in der Morgendämme‑ rung an ihrer Tür läutet. Am vergangenen Montag läutete es an den Türen von 18 Mitarbeitern der Zeitung Cumhuriyet. Morgens um fünf Uhr. Zuerst nahm die Polizei Murat Sabuncu fest, meinen Nachfolger als Chefredakteur. Anschließend durchsuchte sie die Häuser sämtlicher Vorstände der Stiftung, unter deren Leitung die Zeitung ohne Inhaber steht, und nahm alle fest. Zu den zur Fahndung Ausgeschriebenen ge‑ höre auch ich. Da ich mich in Deutschland auf‑ halte, läutete es bei mir in aller Frühe nicht an der Tür, dafür klingelte mein Telefon. Ich erfuhr, dass die Polizei eine Operation gegen die Zeitung durchführte und auch mein Haus in Istanbul durchsuchen würde. Zwei Stunden lang stellte die Polizei unter den Augen meiner Frau unser Haus auf den Kopf, um schließlich mein altes Handy mitzunehmen. Kurz bevor die Nachricht mich erreichte, war ich von einem Interview mit dem 88-jährigen Edzard Reuter in Stuttgart zurückgekehrt. Sein Vater, der ehemalige Berliner Bürgermeister Ernst Reuter, hatte sein Land verlassen, als Hitler an die Macht gekommen war, und war als Akademiker in die Türkei gegangen. Edzard hatte zwischen 1935 und 1946 einen Teil seiner Kindheit in der Türkei verbracht. Als er zum Interview kam, war er frisch aus der Türkei zurück, die er seine »zwei‑ te Heimat« nennt. Er war zutiefst besorgt. Einer seiner Sätze schockierte mich: »Was derzeit in der Türkei geschieht, erinnert mich an die Anfänge der NS-Zeit in Deutschland.« Entsetzt über diesen Satz war ich eingeschla‑ fen, am nächsten Morgen weckte mich dann in aller Frühe der Anruf. Da schien nicht das Tele‑ fon zu klingeln, sondern gleichsam die Alarm‑ glocke des Faschismus zu läuten. Nach dem Putschversuch, der in meinem Land viele von uns an den Reichstagsbrand er‑ innert hatte, war das Parlament ausgeschaltet worden, eine landesweite Hexenjagd hatte ein‑ gesetzt, alle Regierungskritiker – sogar meine Zeitung, eine erklärte Gegnerin der Gülen- Bewegung – wurden des Gülenismus bezichtigt, nach offiziellen Zahlen wurde gegen 70 000 Per‑ sonen vorgegangen, 32 000 Menschen waren verhaftet, 60 000 Staatsbedienstete entlassen und rund 150 Medienhäuser geschlossen worden. Furchterregender noch ist die über dem Land dräuende Wolke der Angst. Zuerst holten sie die Kurden, da schwiegen die meisten, sie waren ja keine Kurden, dann holten sie die Linken, wieder schwiegen die meisten, sie waren ja keine Lin‑ ken. Als sie an allen Türen auf einmal läuteten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte. Furchterregender ist die über dem Land dräuende Wolke der Angst Die Cumhuriyet gehörte zu denen, die aufschrien gegen das Schweigen. Sie ist die älteste und re‑ nommierteste Zeitung der Türkei. Sie ist die Zei‑ tung, die den illegalen Waffentransport Erdoğans nach Syrien enthüllte, gegen seine kriegstreiberi‑ sche Politik protestierte, sich seine Korruptions‑ akte vornahm, ausländische Offshore-Konten von ihn unterstützenden Geschäftsleuten aufdeckte und gegen seine Politik der Islamisierung der Bildung den Laizismus hochhält. Nun wollte Erdoğan auch die Cumhuriyet, die letzte widerständige Bastion in der Presseland‑ schaft, zum Verstummen bringen, um ohne jede kritische Stimme in die Abstimmung zum Präsidi‑ alsystem gehen zu können, die er für das Frühjahr plant. Doch diesmal verfehlte er sein Ziel. Ab geordnete aller Parteien, Linke, Laizisten, Kurden, Gewerkschafter und ihrer Arbeit beraubte Journa‑ listen stellten sich hinter ihre Kollegen, kamen in Strömen zur Zeitung und traten einen ständigen »Cumhuriyet-Wachdienst« an. Schlafen kommt für uns nicht mehr infrage. Bis zu dem Tag, an dem wir sicher sein kön‑ nen, dass es der Milchmann ist, wenn es morgens an unserer Tür läutet. Der Autor war Chefredakteur der »Cumhuriyet«. Im November 2015 wurde er inhaftiert, im Mai 2016 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Vor dem Berufungsverfahren verließ er die Türkei. Auf Seite 8 dokumentieren wir die Fälle einiger der über hundert inhaftierten türkischen Journalisten www.zeit.de/audio Die Reifeprüfung Über die Kunst, den teuersten Weißwein der Welt anzubauen: Ein Jahr bei Winzer Müller an der Saar ZEITmagazin, Seite 20 PROMINENT IGNORIERT Langsame Post Ein Rentner in Hamburg hat die Post verklagt, weil sich die Zustel‑ lung in den südlichen Stadtteilen oft um Wochen verzögere. Die Post bleibe einen Dienst schuldig, für den bereits bezahlt worden sei. Dem Mann ist Erfolg zu wün‑ schen, aber er sollte zweierlei be‑ denken: dass es keine Eilsache gibt, die durch Verspätung nicht noch eiliger würde; und dass schlechte Nachrichten immer zu früh kom‑ men und gute früh genug. GRN. Kleine Fotos (v. o.): J. Squire/Getty Images; plainpicture; A. Pein/laif (l.); F1online Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N 46 7 0. J A H RG A N G C 7451 C 46 4 190745 104906
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