Rechts, aber richtig Sie holen uns

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3. NOVEMBER 2016 No 46
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American
Angst
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Titelfoto: Alina Emrich für DIE ZEIT
Politik, Seite 2–4
SEEHOFERS CHANCE
REPRESSION IN DER TÜRKEI
Rechts, aber richtig
Sie holen uns
Wenn es eine Partei gibt, die die AfD wirksam bekämpfen könnte,
dann ist es die CSU. Warum tut sie es nicht? VON MATTHIAS GEIS
O
ft hat sich die CSU in der Ver‑
gangenheit so aufgeführt, als
gäbe es unter den deutschen
Parteien keine wichtigere. An
der Schwelle zum Wahljahr
2017 könnte das sogar stim‑
men. Der Aufschwung des Rechtspopulismus hat
die CSU in die Schlüsselrolle katapultiert, die sie
immer schon für sich beanspruchte. Ob sich rechts
von der Union eine Partei auf Dauer etabliert, vor
allem aber, wie weit eine solche Partei in die gesell‑
schaftliche Mitte vordringt, das hängt nun wirklich
maßgeblich von der CSU ab.
Nicht die von Angela Merkel geprägte CDU
und schon gar nicht eine rot-rot-grüne Alternati‑
ve können die wachsende Zahl frustrierter, ver‑
unsicherter, wütender Bürger binden, die sich
heute nach rechts wenden. Das war seit je Auf‑
gabe der Christsozialen. Mit derber, rechtskon‑
servativer Rhetorik und effizientem Pragmatis‑
mus ist ihnen das lange Zeit gelungen.
Doch ausgerechnet jetzt, wo die Überzeu‑
gungskraft des politischen Systems schwindet, ist
auch die CSU nicht sonderlich gut aufgestellt.
Unbeschadet ihrer Dominanz in Bayern, hat die
Partei in der Ära Merkel viel von ihrer nationalen
Ausstrahlung eingebüßt. Schon lange bevor die
populistischen Aufsteiger ihr die Hoheit im
rechten Sektor streitig gemacht haben, begann
die CSU zu schwächeln. Seehofers wilde Vor‑
stöße in der Flüchtlingskrise markierten nicht
nur den Dissens zur Kanzlerin, sie spiegelten
auch die Verunsicherung seiner Partei.
Die einen wollen Probleme lösen,
die anderen schlachten sie aus
Will die CSU den Aufstieg der AfD bremsen,
muss sie zuerst damit aufhören, die CDU zu ih‑
rem Hauptgegner zu machen. Dass Seehofer, wie
er sagt, die »Rattenfänger« und »Dumpfbacken«
am rechten Rand bekämpfen will, blieb dem
breiten Publikum lange verborgen, weil die spek‑
takulärsten Invektiven der eigenen Kanzlerin
galten. Künftig sollte die legitime Kritik an der
Flüchtlingspolitik, die Forderung nach Kontrolle,
Begrenzung, Reduktion nicht mehr klingen, als
konkurrierte die CSU mit der AfD um die
schärfsten Parolen.
Stattdessen muss die CSU, wo immer sie
Missstände anprangert, die auch AfD-Sympathi‑
santen umtreiben, die Differenz zu den Populis‑
ten umso deutlicher machen. Probleme aufzu‑
greifen, um sie zu lösen, statt sie auszuschlachten
– das unterscheidet seriöse Rechtskonservative
von verschlagenen Populisten. In der Tat kann
die CSU für sich beanspruchen, dass sie Krisen
nicht beschwören, sondern bewältigen will. In
keinem anderen Bundesland war vor einem Jahr
der Ansturm der Flüchtlinge so groß wie in­
Bayern. Doch während die CSU landauf, landab
den staatlichen Kontrollverlust beklagte, organi‑
sierte sie still und leise eine logistische Meister‑
leistung und brachte zugleich das umfangreichs‑
te Integrationsprogramm aller Bundesländer auf
den Weg. Wenn der Slogan »Wir schaffen das«
nicht schon vergeben gewesen wäre, die CSU
hätte damit werben können.
Doch selbst eindrucksvolle bayerische Erfolge
werden kaum reichen, der AfD Paroli zu bieten.
Vor allem im Bund muss sich die CSU neu
orien­tieren. Sie hat Berlin zu lange wie eine Neben­
bühne bespielt, hat Schlüsselressorts aufgegeben
oder sich bei Randthemen verkämpft. Wenn sie
wieder Autorität bis ins rechte Spektrum hinein
entwickeln will, muss sie ihren nationalen Ein‑
fluss ausweiten. Seehofers Vorstoß, den nächsten
CSU-Vorsitzenden nicht mehr in der Münchner
Staatskanzlei, sondern am Berliner Kabinetts‑
tisch anzusiedeln, verweist bereits auf die Neu‑
justierung des künftigen Engagements.
Auch weiterhin bleibt Bayern der Garant für
die übergreifenden Ambitionen der CSU. Den‑
noch sollte sich die Partei von ihrer Fixierung auf
die absolute Mehrheit lösen. Sie wird auf Dauer
nicht zu halten sein. Gerade weil die CSU im
Kampf mit den neuen Rechten ihre humanen,
rechtsstaatlichen und demokratischen Grund­
sätze nicht zur Disposition stellen kann, wird sie
den verhetzten Teil des rechten Reservoirs nicht
erreichen. So geht es heute in Bayern wie im
Bund kaum mehr darum, die AfD zu verhindern.
Realistischer wäre ein Containment gegen rechts,
das die Mitte gegen die populistische Versuchung
immunisiert.
Die CSU wird nicht länger jeden ihrer Züge
danach ausrichten können, ob er ihrer Allein‑
herrschaft in Bayern zuträglich ist. Als Regional‑
partei mit nationalem Nebenengagement ging
das vielleicht. Doch im Kampf um die politische
Hegemonie im Land spielt die CSU plötzlich
eine Hauptrolle. Die muss sie nun ausfüllen.
www.zeit.de/audio
Erdoğan will, dass meine Zeitung und ich verstummen.
Ein Aufschrei gegen das Schweigen VON CAN DÜNDAR
S
ie kennen sicher Churchills Beschrei‑
bung von Demokratie: »Wenn es
morgens früh an meiner Tür läutet,
und ich kann sicher sein, dass es der
Milchmann ist, dann weiß ich, dass
ich in einer Demokratie lebe.«
Dieser Definition nach ist die Türkei zwei‑
felsfrei keine Demokratie. Denn die Menschen
in der Türkei wissen mittlerweile, dass es nicht
der Milchmann ist, der in der Morgendämme‑
rung an ihrer Tür läutet.
Am vergangenen Montag läutete es an den
Türen von 18 Mitarbeitern der Zeitung Cumhuriyet. Morgens um fünf Uhr. Zuerst nahm die
Polizei Murat Sabuncu fest, meinen Nachfolger
als Chefredakteur. Anschließend durchsuchte sie
die Häuser sämtlicher Vorstände der Stiftung,
unter deren Leitung die Zeitung ohne Inhaber
steht, und nahm alle fest.
Zu den zur Fahndung Ausgeschriebenen ge‑
höre auch ich. Da ich mich in Deutschland auf‑
halte, läutete es bei mir in aller Frühe nicht an der
Tür, dafür klingelte mein Telefon. Ich erfuhr, dass
die Polizei eine Operation gegen die Zeitung
durchführte und auch mein Haus in Istanbul
durchsuchen würde. Zwei Stunden lang stellte
die Polizei unter den Augen meiner Frau unser
Haus auf den Kopf, um schließlich mein altes
Handy mitzunehmen.
Kurz bevor die Nachricht mich erreichte, war
ich von einem Interview mit dem 88-jährigen
Edzard Reuter in Stuttgart zurückgekehrt. Sein
Vater, der ehemalige Berliner Bürgermeister Ernst
Reuter, hatte sein Land verlassen, als Hitler an die
Macht gekommen war, und war als Akademiker
in die Türkei gegangen. Edzard hatte zwischen
1935 und 1946 einen Teil seiner Kindheit in der
Türkei verbracht. Als er zum Interview kam, war
er frisch aus der Türkei zurück, die er seine »zwei‑
te Heimat« nennt. Er war zutiefst besorgt. Einer
seiner Sätze schockierte mich: »Was derzeit in der
Türkei geschieht, erinnert mich an die Anfänge
der NS-Zeit in Deutschland.«
Entsetzt über diesen Satz war ich eingeschla‑
fen, am nächsten Morgen weckte mich dann in
aller Frühe der Anruf. Da schien nicht das Tele‑
fon zu klingeln, sondern gleichsam die Alarm‑
glocke des Faschismus zu läuten.
Nach dem Putschversuch, der in meinem
Land viele von uns an den Reichstagsbrand er‑
innert hatte, war das Parlament ausgeschaltet
worden, eine landesweite Hexenjagd hatte ein‑
gesetzt, alle Regierungskritiker – sogar meine
Zeitung, eine erklärte Gegnerin der Gülen-­
Bewegung – wurden des Gülenismus bezichtigt,
nach offiziellen Zahlen wurde gegen 70 000 Per‑
sonen vorgegangen, 32 000 Menschen waren
verhaftet, 60 000 Staatsbedienstete entlassen und
rund 150 Medienhäuser geschlossen worden.
Furchterregender noch ist die über dem Land
dräuende Wolke der Angst. Zuerst holten sie die
Kurden, da schwiegen die meisten, sie waren ja
keine Kurden, dann holten sie die Linken, ­wieder
schwiegen die meisten, sie waren ja keine Lin‑
ken. Als sie an allen Türen auf einmal läuteten,
gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Furchterregender ist die über dem Land
dräuende Wolke der Angst
Die Cumhuriyet gehörte zu denen, die aufschrien
gegen das Schweigen. Sie ist die älteste und re‑
nommierteste Zeitung der Türkei. Sie ist die Zei‑
tung, die den illegalen Waffentransport Erdoğans
nach Syrien enthüllte, gegen seine kriegstreiberi‑
sche Politik protestierte, sich seine Korruptions‑
akte vornahm, ausländische Offshore-Konten von
ihn unterstützenden Geschäftsleuten aufdeckte
und gegen seine Politik der Islamisierung der­
Bildung den Laizismus hochhält.
Nun wollte Erdoğan auch die Cumhuriyet, die
letzte widerständige Bastion in der Presseland‑
schaft, zum Verstummen bringen, um ohne jede
kritische Stimme in die Abstimmung zum Präsidi‑
alsystem gehen zu können, die er für das Frühjahr
plant. Doch diesmal verfehlte er sein Ziel. Ab­
geordnete aller Parteien, Linke, Laizisten, Kurden,
Gewerkschafter und ihrer Arbeit beraubte Journa‑
listen stellten sich hinter ihre Kollegen, kamen in
Strömen zur Zeitung und traten einen ständigen
»Cumhuriyet-Wachdienst« an.
Schlafen kommt für uns nicht mehr infrage.
Bis zu dem Tag, an dem wir sicher sein kön‑
nen, dass es der Milchmann ist, wenn es morgens
an unserer Tür läutet.
Der Autor war Chefredakteur der »Cumhuriyet«.
Im November 2015 wurde er inhaftiert, im
Mai 2016 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Vor dem
Berufungsverfahren verließ er die Türkei.
Auf Seite 8 dokumentieren wir die Fälle einiger der
über hundert inhaftierten türkischen Journalisten
www.zeit.de/audio
Die Reifeprüfung
Über die Kunst, den
teuersten Weißwein
der Welt anzubauen:
Ein Jahr bei Winzer
Müller an der Saar
ZEITmagazin, Seite 20
PROMINENT IGNORIERT
Langsame Post
Ein Rentner in Hamburg hat die
Post verklagt, weil sich die Zustel‑
lung in den südlichen Stadtteilen
oft um Wochen verzögere. Die
Post bleibe einen Dienst schuldig,
für den bereits bezahlt worden sei.
Dem Mann ist Erfolg zu wün‑
schen, aber er sollte zweierlei be‑
denken: dass es keine Eilsache gibt,
die durch Verspätung nicht noch
eiliger würde; und dass schlechte
Nachrichten immer zu früh kom‑
men und gute früh genug. GRN.
Kleine Fotos (v. o.): J. Squire/Getty Images; plainpicture; A. Pein/laif (l.); F1online
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