Folien Woche 9 - Rechtswissenschaftliches Institut

Rechtswissenschaftliches Institut
Übersicht (27. Februar 2015)
I.
Grundlagen und Überblick
II. Stimmrecht und Stimmrechtsausübung
III. Grundrechtliche Dimension des Stimmrechts
IV. Schutz des Stimmrechts, inkl. Verbot behördlicher
Interventionen
Vorbemerkung:
Zahlreiche Folien in diesem Foliensatz lehnen sich an die
entsprechende Darstellung von RA Dr. iur. Andrea Töndury,
Oberassistent an der UZH, an.
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Rechtswissenschaftliches Institut
I. Grundlagen und Überblick
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Rechtswissenschaftliches Institut
Definition „Stimmrecht“
Zusammenfassender Ausdruck für die verschiedenen
politischen Rechte, d.h. für die Rechte, die den Bürgerinnen
und Bürgern eine Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung
vermitteln (status activus).
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Rechtswissenschaftliches Institut
Grundlagen
Begriff und Funktionen des «Stimmrechts»
− Das Stimmrecht ist Individualrecht und Ausdruck einer
Organfunktion
− Ausdruck für die verschiedenen politischen
Mitwirkungsrechte («status activus»)
Historische Entwicklung
− Alte Eidgenossenschaft als «Urdemokratie»?
− Ausfluss der aufklärerischen Prinzipien der individuellen
Freiheit und Gleichheit
− Ein «langer Weg» bis zum allgemeinen Stimmrecht im Sinne
der Gleichheit (1990: Einführung des Frauenstimmrechts im
Kanton Appenzell Innerrhoden, BGE 116 Ia 359)
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Rechtswissenschaftliches Institut
II. Stimmrecht und Stimmrechtsausübung
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Rechtswissenschaftliches Institut
Voraussetzungen bei eidgenössischen Wahlen und
Abstimmungen im Bund
Schweizer Bürgerrecht (Art. 136 Abs. 1 BV)
Zurücklegung des 18. Altersjahres (Art. 136 Abs. 1 BV)
Keine «Entmündigung» wegen Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche (Art. 136 Abs. 1 BV): D.h. keine
umfassende Beistandschaft wegen dauernder
Urteilsunfähigkeit (Art. 2 BPR).
Politischer Wohnsitz (in der Schweiz) (Art. 39 Abs. 2 BV)
Eintragung im Stimmregister (Art. 4 Abs. 1 BPR)
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Rechtswissenschaftliches Institut
Mindestanforderungen an die kantonalen
Regelungen über die Ausübung der politischen
Rechte
Politischer Wohnsitz (in der Schweiz) (Art. 39 Abs. 2
BV)
Ausübung der politischen Rechte nur in einem Kanton
(Art. 39 Abs. 3 BV)
Karenzfrist (Art. 39 Abs. 4 BV)
Direkte Demokratie in der Verfassungsgebung,
repräsentative Demokratie in der einfachen
Gesetzgebung (Art. 51 Abs. 1 BV)
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Stimmrechtsausübung (1)
Politischer Wohnsitz
Territorialitätsprinzip und Ausnahmen
«Politisches Domizil», Ausübung nur an einem Ort (Art. 39
Abs. 3 BV)
Eintragung im Stimmregister
Stimmabgabe
Grundsatz: Geheimes Stimm- und Wahlrecht
Ausnahme: Versammlungen
1. ZP EMRK nicht ratifiziert, Art. 25 Bst. b UNO-Pakt II mit
Vorbehalt
An der Urne/brieflich/elektronisch (versuchsweise)
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Rechtswissenschaftliches Institut
Stimmrechtsausübung (2)
Stimmzwang und Stimmpflicht
Ausdruck der Organfunktion
Art. 23 Abs. 2 KV SH
Stimmbeteiligung
Problematik tiefer Stimmbeteiligung?
Stimmrechtsausübung durch Auslandschweizer
Problematik: Ausnahme vom Territorialitätsprinzip
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Rechtswissenschaftliches Institut
Aspekte der Wählbarkeit
Unvereinbarkeit
Amtszwang
Amtsdauer
Amtsunfähigkeit
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Rechtswissenschaftliches Institut
III. Grundrechtliche Dimension des Stimmrechts
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Rechtswissenschaftliches Institut
Art. 34 Abs. 1 BV (Politische Rechte)
1
Die politischen Rechte sind
gewährleistet.
im Ausmass, wie sie vom Verfassungs- und
Gesetzgeber in Bund und Kantonen
ausgestaltet sind,
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Rechtswissenschaftliches Institut
Art. 34 Abs. 2 BV (Politische Rechte)
Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie
Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe.
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Beispiele:
– Wahlrechtsgleichheit
– Korrekte Vorbereitung des Urnengangs durch die Behörden
– Hinreichende behördliche Information
– Verbot der Irreführung der Stimmberechtigten
– Verbot behördlicher Propaganda
– Grundsatz der Einheit der Materie
– Geheime Stimmabgabe
– Korrekte Ermittlung des Wahl- und
Abstimmungsergebnisses
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Rechtswissenschaftliches Institut
Insbesondere: Wahlrechtsgleichheit
Grundsatz und (viele) Ausnahmen
Ableitung aus Art. 8 Abs. 1 BV sowie Art. 34 BV
Teilaspekte:
−
die Zählwertgleichheit sichert allen Stimmenden das gleiche Gewicht
ihrer Stimme zu;
−
die Stimmkraftgleichheit garantiert insbesondere, dass zwischen
Sitzzahl und Repräsentationsbasis überall das gleiche Verhältnis gilt;
−
die Erfolgswertgleichheit erfordert, dass alle Stimmen in gleicher Weise
zum Wahlergebnis beitragen.
Die Wahlrechtsgleichheit muss in der ganzen schweizerischen
Rechtsordnung wirken
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Rechtswissenschaftliches Institut
Überblick Wahlsysteme
Majorz mit
MehrpersonenWahlkreisen
Idealmajorz mit
EinpersonenWahlkreisen
Proporz mit
Mindestgrösse
der Wahlkreise
Darstellung: Dr. A. Töndury
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Rechtswissenschaftliches Institut
Insbesondere: Einheit der Materie
Konkretisierung von Art. 34 Abs. 2 BV.
Keine Abstimmung über eine Vorlage mit mehreren
unterschiedlichen Sachfragen.
Innerer Zusammenhang der (verbundenen) Fragen.
Der Stimmbürger soll sich nicht nur mit „ja“ oder „nein“ zu
mehreren verschiedenen politischen Grundanliegen äussern
müssen.
Bei Unterzeichnung und Abstimmung: freier und wirklicher
Wille der Stimmbürger muss zum Ausdruck kommen.
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Rechtswissenschaftliches Institut
IV. Schutz des Stimmrechts, inkl. Verbot behördlicher
Interventionen
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Rechtswissenschaftliches Institut
Schutz des Stimm- und Wahlrechts
(Art. 34 Abs. 2 BV)
Anspruch, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird,
das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig
und unverfälscht zum Ausdruck bringt.
Jeder Stimmberechtigte soll seinen Entscheid für oder gegen
eine Vorlage gestützt auf einen freien und umfassenden
Prozess der Meinungsbildung treffen und mit seiner Stimme
entsprechend zum Ausdruck bringen können.
Gewährleistung der erforderliche Offenheit der politischen
Auseinandersetzung.
Bild des informierten, aufgeklärten, vernünftigen, rational
entscheidenden Bürgers.
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Rechtswissenschaftliches Institut
Behördliche Interventionen (1)
Volkswahlen
Strikte Enthaltungspflicht der Behörden («Neutralität»).
Sachabstimmungen
Verschiedene Modelle bezüglich der Rolle der Behörden.
Was soll den Behörden im Abstimmungskampf erlaubt sein?
Wo endet Information und wo beginnt Propaganda?
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Rechtswissenschaftliches Institut
Behördliche Interventionen (2)
Informationsarten
Grundlageninformationen
Zeitpunkt: Zu Beginn der „Endphase“ des
Abstimmungskampfe
Inhalt: Notwendige Informationen,
Abstimmungserläuterungen, Empfehlungen
«Gerichtete» Informationen
Zeitpunkt: Während des laufenden Abstimmungskampfe
Inhalt: Zusätzliche Informationen (etwa Richtigstellungen
etc.)
Private Äusserungen / Aussagen mit behördlichem
Charakter
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Rechtswissenschaftliches Institut
Willensbildungsprozesse nach Abgabe der Erläuterungen
Interventionsmodell
Behörden
Diskursmodell
Eingriff als Ausnahme
Behörden
Teilnahme als Regel
(reaktiv)
(aktiv)
Staat
Gesellschaft
Stimmberechtigte
Parteien
Stimmberechtigte
Medien
Parteien
Kantone
Medien
Bund
Darstellung von Dr. A. Töndury
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Rechtswissenschaftliches Institut
Interventionen im Abstimmungskampf
(Grundregeln gem. bundesgerichtlicher Praxis)
Private
Behörden
Behördenmitglieder
Interventionsverbot
Nach objektivem
Anschein
Art. 16 BV
Meinungsäusserungsfreiheit
freie und
unverfälschte
Willensbildung
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Rechtswissenschaftliches Institut
Bundesgerichtliche Grundsätze zu behördlichen Informationen
vor (eigenen) Abstimmungen
Grundsatz:
Verbot behördlicher Interventionen in der Phase
des Abstimmungskampfes
Ausnahme:
Triftige Gründe für behördliche Intervention, vor
allem
– zur Richtig- oder Klarstellung irreführender
privater oder behördlicher Information,
– bei Bekanntwerden neuer, für den
Abstimmungskampf erheblicher Tatsachen,
– wenn die Komplexität des
Abstimmungsgegenstandes
Zusatzinformationen nötig macht (umstritten)
– und falls die Ungewöhnlichkeit einer Vorlage
ein gesteigertes Informationsbedürfnis
entstehen lässt.
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Rechtswissenschaftliches Institut
Grundsätze der behördlichen Abstimmungsinterventionen bei
Vorliegen triftiger Gründe
Sachlichkeit
(Korrektheit,
Ausgewogenheit,
Klarheit)
freie und
unverfälschte
Willensbildung
Transparenz
(keine verdeckte
Einflussnahme)
Verhältnismässigkeit
(finanzielle Mittel,
Intensität der
Intervention)
Fairness
(Zurückhaltung)
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Rechtswissenschaftliches Institut
Unzulässige Beeinflussung der Stimmberechtigten durch Private
Grundsatz:
Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 BV) aller
Privaten als wesentliches Element einer
pluralistischen Demokratie.
Ausnahme:
Einflussnahmen von einer bestimmten Art und
Intensität verfälschen die Willensbildung unzulässig.
– Falsche Darstellung objektiver Tatsachen
– Schwerwiegende Irreführung, weil die Tatsache
einen zentralen Punkt der Vorlage oder eine
zentrale persönliche Eigenschaft betrifft
– Falsche Informationen knapp vor Stimmakt
– Auswirkungen auf das Ergebnis müssen
zumindest sehr wahrscheinlich sein.
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Rechtswissenschaftliches Institut
Aufhebung eines Abstimmungsresultats wegen Mängeln mit
nicht klar bezifferbaren Folgen (Grundsätze)
Bundesgericht
Gesamtbetrachtung
Mutmassliche
Wirkung auf
StimmbürgerInnen
Schwere des Mangels/
Grundsätzlichkeit des
Fehlers
Grösse des
Stimmenunterschieds
Keine Aufhebung, wenn nach den gesamten Umständen die Möglichkeit,
dass die Abstimmung anders ausgefallen wäre, derart gering erscheint,
dass sie nicht mehr ernsthaft in Betracht fällt.
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