Europa zerbricht - auch finanziell

Europa zerbricht - auch finanziell
Von Dirk Heilmann
Der europäische Binnenmarkt beruht auf vier Freiheiten: der Freiheit des Verkehrs von
Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Seit einiger Zeit wird die Freizügigkeit von
Personen in Frage gestellt. So hat sich im Referendum vom 23. Juni eine Mehrheit der
britischen Bürger von der Europäischen Union losgesagt, weil sie keine ungesteuerte
Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Staaten mehr akzeptieren will. Doch auch
die anderen drei Freiheiten sind gefährdet. Die Freiheit des Waren- und
Dienstleistungsverkehrs wird angesichts des harten Ausstiegskurses der britischen Regierung
ebenso leiden. Alle vier das gemeinsame Europa konstituierenden Freiheiten stehen auch in
anderen EU-Staaten in der Kritik populistischer Parteien. Was der Wirtschaft nützt, ist
inzwischen einem Generalverdacht ausgesetzt, wie auch die Ablehnungsfront gegen
Freihandelsabkommen aller Art belegt.
Noch wenig beachtet wird in diesem Zusammenhang, dass sich selbst der europäische
Kapitalmarkt, der vor allem in der Euro-Zone bereits sehr weitgehend realisiert war, wieder
fragmentiert. Zunächst waren es die globale Finanzkrise und in ihrer Folge die EuroSchuldenkrise, die Fliehkräfte aus einem gemeinsamen Kapitalmarkt aller Euroländer
entfesselten. Die Renditedifferenzen zwischen den Staatsanleihen der Euro-Staaten, die sich
in den „Euro-Flitterwochen“ der Jahre 2000 bis 2008 fast komplett verflüchtigt hatten,
vervielfachten sich ebenso wie die Risikoaufschläge auf Finanzierungsinstrumente von
Banken hoch verschuldeter Staaten. Gleichzeitig entstanden enorme Salden im Target2Zahlungssystem der nationalen Zentralbanken des Euro-Systems, weil die Geschäftsbanken
der hoch verschuldeten Staaten sich das Geld, das sie von anderen Geschäftsbanken nicht
mehr bekamen, von ihren nationalen Notenbanken liehen. Zugleich setzte eine Flucht
privaten Kapitals von den südeuropäischen Euroländern in die nördlichen ein.
Alle diese Krisenindikatoren beruhigten sich mit der Eindämmung der Euro-Schuldenkrise –
zunächst. Denn seit etwa eineinhalb Jahren hat sich dieser positive Trend wieder umgekehrt.
Die Entwicklung geht seither wieder in Richtung einer Renationalisierung der Kapitalmärkte
in Europa. Die Salden im Target-2-System haben sich wieder deutlich erhöht. Die
Forderungen der Bundesbank an die Notenbanken insbesondere der südeuropäischen Euro-
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Staaten haben mit derzeit insgesamt 715 Milliarden Euro wieder fast den Rekordstand von
Mitte 2012 erreicht. Die Renditen der Staatsanleihen von Ländern wie Portugal, deren
Solvenz in Zweifel gezogen wird, sind kräftig gestiegen, ebenso wie die Kosten der
Absicherung gegen eine Zahlungsunfähigkeit von Banken und Unternehmen dieser Länder in
Form von CDS-Papieren – die ein gängiger Risiko-Indikator sind.
Der Grund für diese Desintegration des Kapitalmarktes der Euro-Zone ist ein nachhaltiger
Vertrauensverlust der Kapitalanleger wie der Unternehmen in die Reformfähigkeit der so
genannten „Club Med“-Staaten. Besonders schädlich ist die nach wie vor große
wechselseitige Abhängigkeit der Banken und der Staaten. Nach wie vor leihen sich die
Staaten vor allem bei den Geschäftsbanken des eigenen Landes das Geld, das sie für die
Finanzierung ihrer Staatshaushalte und die Ablösung fällig werdender Altschulden
benötigen. Die Europäische Zentralbank versorgte die Geschäftsbanken zunächst großzügig
mit Liquidität, damit sie diese Papiere erwerben konnten. Nunmehr kauft sie diesen Banken
per „Quantitative Easing“ diese Papiere wieder ab, um die Institute in die Lage zu versetzten,
immer neue Anleihen ihrer hoch verschuldeten Heimatländer zu kaufen. Praktischerweise
müssen die Banken nach wie vor die erworbenen Staatsanleihen von Euroländern nicht mit
Eigenkapital hinterlegen, da diese Papiere nach Maßgabe der geltenden Rechtsvorschriften
als ausfallsicher gelten. Staaten und Banken sind durch diese Vorgänge kranke siamesische
Zwillinge geworden. So sitzen französische Banken nach Zahlen des Europäischen
Bankenverbandes auf 273 Milliarden Euro an Staatsanleihen ihres Heimatlandes. Bei
italienischen Banken beträgt diese Summe 172 Milliarden Euro, bei spanischen 211 Milliarden
Euro.
Das Vertrauen in das europäische Bankensystem wird nur wieder zurückkehren, wenn diese
unselige Symbiose zwischen überschuldeten Staaten und fragilen Banken aufgelöst wird.
Banken in den Peripherieländern müssen von ihren teilweise bedrohlich großen Beständen an
notleidenden Krediten befreit und mit frischem Kapital ausgestattet werden – auch wenn
dafür noch einmal die Staatskasse herangezogen werden müsste. Die Alternative ist, dass
sich diese Banken wie Zombies noch jahrzehntelang dahinschleppen und die Kreditvergabe
an Unternehmen in den betroffenen Ländern auch langfristig nicht wieder in Gang kommt.
Gleichzeitig führt aber kein Weg daran vorbei, dass die Euro-Staaten ihre Finanzen endlich in
Ordnung bringen. Nur dann werden auch hohe Bestände an Staatsanleihen in den Büchern
der Geschäftsbanken Investoren keine Sorgen mehr bereiten.
Solange beides nicht geschieht, sitzt die EZB in der Falle: Sie kann trotz einer mutmaßlich
bald deutlich steigenden Inflationsrate weder ihre massiven Anleihekäufe zurückfahren noch
ihre ultraleichte Zinspolitik aufgeben, da sie sonst eine weitere Desintegration des
europäischen Kapitalmarktes riskieren würde. Wenn die EZB keine Staatsanleihen am
Sekundärmarkt kaufen würde, müssten die Geschäftsbanken noch mehr Staatsanleihen auf
die Bücher nehmen oder aber die die Staaten müssten den internationalen Investoren höhere
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Zinsen bieten. Doch diese Zinsen zu bedienen, würde die Staatskassen der Peripherieländer
stark belasten. Und sobald die Solvenz eines Staates in Frage steht, rutschen auch die
Geschäftsbanken tiefer in die Krise - ein Teufelskreis, aus dem sich bislang kein Ausweg
abzeichnet.
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