faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 22./23. Oktober 2016, Nr. 247 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Wer ist der Verräter? Ein Flugblatt Rosa Luxemburgs für Karl Liebknecht aus dem Oktober 1916. Sozialistin Der Bezwinger. Ein FAZ-Herausgeber will dem russischen Präsidenten sorgfältiges Nachdenken beibringen Jeder Mensch verdient Rettung aus Seenot – auch auf dem Mittelmeer. Fotos von César Dezfuli Manchmal quatscht Sandy auch schon bei der Flaschenannahme mit den Kunden. Kaufland-Romanze. Von Annette Riemer W as begeistert Sie an Peter Weiss1? Mich fasziniert die Konsequenz, mit der er von früher Jugend an seiner künstlerischen Begabung gefolgt ist und gegen alle Widerstände unentwegt daran gearbeitet hat, für seine Erfahrungen und Einsichten die angemessenen künstlerischen Medien und Formen zu entwickeln. Er wollte bereits als 16jähriger Maler oder Dichter werden und hat diese Entscheidung in einem zähen Kampf gegen sein Elternhaus behauptet. Weiss ist ein sehr politischer Autor, ist dies auch ein Grund für Ihre Begeisterung? Seine Politisierung ist eine Folge der Unerschrockenheit, mit der er als Künstler in die Wirklichkeit hineingehört hat – das Wort »lauschen« hat für ihn eine sehr spezifische Bedeutung. Er nahm seine Kunst sehr ernst und analysierte seine Situation genauso aufmerksam. Ohne Scheu vor Konflikten und Peinlichkeiten thematisierte er seine ganz persönlichen Erfahrungen und Katastrophen. Da er in Jürgen Schutte … lehrte als Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und hat sich viele Jahre intensiv mit dem Werk von Peter Weiss auseinandergesetzt. Anlässlich des 100. Geburtstags dieses Künstlers erscheint Ende Oktober eine neue, von Prof. Dr. Jürgen Schutte herausgegebene Ausgabe der »Ästhetik des Widerstands« im PICTURE-ALLIANCE / AKG-IMAGES Suhrkamp-Verlag. diesem Punkt – lassen Sie uns sagen: der Suche nach seiner Wahrheit – keine Konzessionen machte, kam er mit einer gewissen Notwendigkeit zur Politik. Ein Beispiel: Nach dem unerwarteten Erfolg des »Marat/Sade«2, der weltweiten Ruhm und ein ganzes Bündel intellektueller Beziehungen mit sich brachte, hätte es nahe gelegen, Stücke der gleichen Art zu produzieren, auf den Erfolg draufzusatteln. Was macht er? Er verarbeitet seine beklemmenden Erfahrungen in der Bundesrepublik und bringt den AuschwitzProzess auf die Bühne. »Die Ermittlung« war eine Provokation, die ihm und dem Regisseur Erwin Piscator Beschimpfungen und Drohbriefe einbrachte. Peter Weiss blickte als Außenseiter aus Schweden auf die deutschen Verhältnisse. Welche Rolle spielte das Exil in seinem Werk? Eine ganz wichtige, obwohl er als tschechischer Staatsbürger und Sohn eines gut gestellten Kaufmanns die wirklichen Härten des Exils nicht erdulden musste. Er hat das Ausgesetzt-Sein vor allem in den fünfziger Jahren erlebt. Der Konflikt mit den Eltern, die seine künstlerischen Absichten nicht akzeptieren wollten, hat ihn für die Ausgrenzungen und die fremdenfeindlichen Ressentiments sensibilisiert, die in den fünfziger Jahren in der BRD virulent waren. Er wäre gerne zurückgekehrt. Die »Ästhetik des Widerstands« galt als »Jahrhundertroman« und hatte vom Ende der 1970er Jahre bis zum Kollaps des Sozialismus eine große Resonanz. Dann ließ das Interesse abrupt nach, jetzt wird das Werk Peter Weiß (Porträt aufnahme um 1960) »Peter Weiss hat die DDR immer sehr kritisch eingeschätzt« Gespräch Mit Jürgen Schutte. Über die Bedeutung der »Ästhetik des Widerstands«, Korrekturen am Text sowie dessen Rezeptionsgeschichte n Fortsetzung auf Seite zwei Peter Weiss Ein Gespräch mit Jürgen Schutte zum 100. Geburtstag des Schriftstellers über die »Ästhetik des Widerstands« und deren Rezeptionsgeschichte. Außerdem: Der Bezwinger. Ein FAZ-Herausgeber will Wladimir Putin zum sorgfältigen Nachdenken bringen. ACHT SEITEN EXTRA n junge Welt auf der Buchmesse Frankfurt am Main: Halle 4.1, Stand D 100 GEGRÜNDET 1947 · SA./SO, 22./23. OKTOBER 2016 · NR. 247 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Aufgeflogen Ausgebremst Aussichten Auf Pump 2 4 7 9 Unterschriftensammlung gegen Venezuelas Präsident wegen Fälschungen gestoppt NSU: »Ermittlungsgruppe Umfeld« in Baden-Württemberg hatte kaum Befugnisse Der Linke Jean-Luc Mélenchon will nächstes Jahr Präsident Frankreichs werden Ölscheichs Saudi-Arabiens borgen sich am Finanzmarkt 17,5 Milliarden Dollar Der nächste EU-GAU Wallonie bleibt beim Nein zu CETA, Kanada bricht Gespräche mit belgischer Regionalregierung ab. Vorher herrschte noch Optimismus beim EU-Gipfel. Von Arnold Schölzel F Berlin. Die libysche Küstenwache hat nach Angaben der Hilfsorganisation »Sea Watch« am Freitag ein Flüchtlingsboot angegriffen, dadurch kamen mehrere Menschen ums Leben. Die Besatzung eines Schnellboots mit der Aufschrift »Libysche Küstenwache« habe das Schlauchboot mit etwa 150 Menschen an Bord geentert und sei mit Knüppeln auf die Passagiere losgegangen, erklärte die deutsche Hilfsorganisation. An Bord brach Panik aus; viele Menschen rutschten ins Wasser. Die Helfer von »Sea Watch« versuchten möglichst viele von ihnen zu retten, bei einer zweistelligen Anzahl von Menschen sei dies jedoch nicht gelungen. Vier Leichen seien bereits geborgen worden. Ein Sprecher der libyschen Marine in Tripolis erklärte, er habe nichts von dem Vorfall gehört. (Reuters/jW) Namur am Freitag: Protest vor dem Parlament der Wallonie ner »Radikalisierung« bei den Wallonen auftauchen. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite, die gern die EU als Geisel für ihre Russophobie nimmt, erklärte, die EU sei zur »Geisel nationaler Politik eines Landes« geworden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) behauptete, sie sei »optimistisch«, dass bei CETA »vielleicht noch eine Lösung gefunden« werde. Nur EU-Ratspräsident Donald Tusk zeigte sich »besorgt«. Einigungen konnten dagegen mit Rumänien und Bulgarien erzielt werden: Beide Länder kündigten am Freitag ihre Zustimmung zu dem Freihandelsabkommen an. Sie hatten zuvor im Gegenzug die Zusage Kanadas für eine Visabefreiung erhalten. Ein Hin und Her bestimmte auch andere Themen des Gipfels. Entgegen den Ankündigungen konnten sich die Führungskräfte nicht auf eine konkrete Sanktionsandrohung gegen Russland einigen. In der Abschlusserklärung hieß es lediglich, bei einer Fortsetzung der »Greueltaten« ziehe die EU »alle verfügbaren Optionen« in Betracht. Im Entwurf war noch ausdrücklich mit »Sanktionen« gegen alle Unterstützer der syrischen Regierung gedroht worden, also auch gegen Russland. Nur gegenüber Afrika einigten sich die EU-Lenker auf Formulierungen im gewohnt neokolonialistischen Ton und erklärten: »Mehr Anstrengungen sind nötig, um den Zustrom irregulärer Migranten einzudämmen, besonders aus Afrika.« Sie verlangten verstärkte Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und beauftragten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, beim EU-Gipfel im Dezember über »Fortschritte« der Zusammenarbeit mit fünf ausgewählten afrikanischen Ländern – Äthiopien, Mali, Niger, Nigeria und Senegal – berichten. Der Gipfel werde dann »Orientierungen« für die weitere Kooperation geben und »die Ausweitung auf andere Länder in Betracht ziehen«. BND darf massenhaft Daten abzapfen Nach NSA-Affäre: Bundestag legalisiert Komplettüberwachung des Internets D er Bundestag hat am Freitag gegen den Widerstand der Opposition die sogenannte BNDReform beschlossen. Das neue Gesetz erlaubt es dem Auslandsgeheimdienst in einem weit größeren Umfang als bisher, Internetknotenpunkte in Deutschland anzuzapfen, um E-Mails und Telefonate zwischen Ausländern im Ausland auszuforschen. Die Linke-Abgeordnete Martina Renner kritisierte, die Regierung legalisiere damit eine anlasslose Massenüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Die Koalition verteidigte das Gesetz, Siehe Seite 16 Tote nach Angriff auf Flüchtlingsboot vor Libyen FRANCOIS LENOIR/REUTERS assungslosigkeit und Durcheinander beim EU-Gipfel in Brüssel, dann die Ankündigung des GAUs. Trotz Druck, Beschimpfungen und Direktverhandlungen mit Kanada wies der wallonische Regierungschef Paul Magnette von der Sozialistischen Partei Belgiens (PS) auch am Freitag das Freihandelsabkommen CETA zurück. Am Nachmittag brach die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland daraufhin die Gespräche ihm ab und erklärte: »Es scheint für mich und Kanada offensichtlich, dass die EU derzeit nicht in der Lage ist, ein internationales Abkommen abzuschließen.« Sie fügte hinzu: »Nicht einmal mit einem Land, das europäische Werte teilt wie Kanada.« Sie werde nach Hause fahren. Das Regionalparlament der Wallonie hatte vor einer Woche mit deutlicher Mehrheit gegen das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada gestimmt. Dadurch konnte Belgien der für den 27. Oktober geplanten Unterzeichnung von CETA nicht zustimmen, womit das gesamte Abkommen blockiert war. Magnette traf am Freitag morgen Freeland. Eine Einigung gelang aber nicht: Magnette sprach anschließend vor einem Ausschuss des Regionalparlaments in der Stadt Namur zwar von »bedeutsamen Fortschritten« etwa im Bereich der Landwirtschaft. Insbesondere bei der Frage von Schiedsgerichten gebe es aber noch »Schwierigkeiten für uns«. Die EU-Oberen, die gleichzeitig in Brüssel tagten, verfolgten das Geschehen mit einer Mischung aus Ärger über die Unbotmäßigkeit in Belgiens Südosten und Durchhalteoptimismus. Der Ministerpräsident des Landes, Charles Michel sah das Gespenst ei- Dein Abo Zeit. zur rechten das der Überwachung von Datenströmen in Krisenregionen diene. Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz nannte das Gesetz verfassungswidrig. »Unsere Verfassung, die Grund- und Menschenrechte, sie sind kein Störfaktor beim Kampf gegen den Terrorismus, sondern sie sind die Grundlage dafür«, betonte er. Wie von Notz kritisierte auch Renner die Filter, die eine Überwachung der Telekommunikation deutscher Bürger verhindern sollen. Sie seien nicht zuverlässig, so dass auch E-Mails und Telefonate von Deutschen, deren Überwachung nicht zulässig ist, dem Dienst ins Netz gehen würden, bemängelte sie. Der Betreiber des weltgrößten Internetknotenpunkts DE-CIX in Frankfurt am Main hatte im September beim Bundesverwaltungsgericht Leipzig Klage gegen die Bundesregierung eingereicht. Das Unternehmen bezweifelt, dass der Zugriff des BND auf den Internetknoten rechtmäßig ist. Bisher durfte der BND nach dem sogenannten G-10-Gesetz höchstens 20 Prozent der Datenströme einer Leitung überwachen. Der Verband der Internetwirtschaft (Eco) kritisiert, dass sich diese Beschränkung in dem neuen Gesetz nicht mehr findet. Damit werde grünes Licht für eine Komplettüberwachung des Internets gegeben. Ein wesentlicher Auslöser für die BND-Reform war die NSA-Affäre, durch die die Ausspähung europäischer Konzerne und Beamter durch den deutschen Dienst im Auftrag der NSA bekanntwurde. Künftig soll der BND die Kommunikation von Einrichtungen der Europäischen Union (EU), von EUStaaten sowie einzelnen EU-Bürgern nur noch in bestimmten Fällen überwachen dürfen. (Reuters/jW) Siehe Kommentar Seite 8 Rüstungsdeal: Israel will weitere deutsche U-Boote Berlin. Israel erwägt den Kauf drei weiterer deutscher U-Boote für einen Milliardenbetrag. Es gebe derzeit »Abstimmungsgespräche«, in denen es auch um einen finanziellen Zuschuss Deutschlands gehe, sagte der stellvertretende Sprecher der Bundesregierung, Georg Streiter, am Freitag in Berlin. Israel hat bereits fünf deutsche U-Boote erhalten. Ein weiteres soll nächstes Jahr ausgeliefert werden. Gebaut werden sie von »Thyssen-Krupp Marine Systems« in Kiel. Für das Unternehmen würde der Auftrag ein Milliardengeschäft bedeuten. Die Bundesregierung unterstützt die U-Boot-Exporte mit Zuschüssen im dreistelligen Millionenbereich. Die letzten beiden Lieferungen wurden zu einem Drittel mit deutschen Steuergeldern bezahlt. Nach Experteneinschätzung können die U-Boote theoretisch mit Atomwaffen ausgerüstet werden. (dpa/jW) wird herausgegeben von 1.881 Genossinnen und Genossen (Stand 14.10.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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