rassismus in den usa

inprekorr
Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF
INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ
RASSISMUS IN DEN
USA
September/Oktober
5/2016
Ausgabe 5/2016
USA
Dossier
BREXIT UND
KRISE DER EU
Die mit dem ‚Ja‘
zum Brexit zum
Ausdruck gelangte institutionelle Krise der EU
und die Herausforderungen an die Linke werden
in diesem Dossier diskutiert.
4
Ein Dossier mit
5 Beiträgen
Türkei
EIN ZWEIFACHER
STAATSSTREICH
Die Hintergründe des gescheiterten Putschversuches und
des autoritären Transformationsprozesses der
Türkei unter „Sultan“
Erdoğan und seiner AKP
und die Perspektiven der
revolutionären Linken.
21
Von Emre Öngün
GEGEN DAS
„DUOPOL“ VON
DEMOCRATS UND
REPUBLICANS.
Dossier
Ecuador
RASSISMUS IN
DEN USA
DER FEMINISMUS
IN ECUADOR
30
Stellungnahmen
der mit der IV. Internationale verbundenen US-Organisationen
Socialist Action und Solidarity zur Scheinalternative zwischen Trump
und Clinton.
Die schwarze Bevölkerung in den
USA wird die Rassenunterdrückung nur beenden können, wenn sie die
Herrschaft der Bourgeoisie beendet und den Kapitalismus stürzt.
Dieser Beitrag
gibt einen kurzen
Überblick über den
Feminismus in Ecuador.
Zwei Strömungen der
letzten 17 Jahre stehen im
Zentrum.
Socialist Action und
Solidarity
Ein Dossier mit
5 Beiträgen
33
44
Von Maria Isabel Altamirano, Tanya de la Torre,
Alba Aguinaga
I N H A LT
Pakistan
die Internationale
BABA JAN –
OPFER DER
PAKISTANISCHEN
KLASSENJUSTIZ
Philippinen
DER NEUE „STARKE MANN“ DER
PHILIPPINEN
SPANISCHER
BÜRGERKRIEG
1936 BIS 1939
Unser Genosse
Baba Jan von der
Awami Workers Party (AWP) Pakistans und
acht weitere Genossen wurden zu je 40 Jahren Gefängnis und einer
Geldstrafe von 500 000
Rupien verurteilt.
Rodrigo Dutertes
autoritärer NeoLiberalismus ist keine Antwort auf die Armut und den Machtmissbrauch auf den Philippinen. Der „starke Mann“
setzt vor allem auf Repression.
Der Spanische
Bürgerkrieg war
nicht bloß ein Kampf
zwischen Demokratie
und Faschismus, sondern
ein Krieg zwischen den
unterdrückten und den
herrschenden Klassen.
Von Jan Malewski
Von Alex de Jong
47
50
57
die Internationale mit
2 Beiträgen
DOSSIER: BREXIT
BREXIT UND KRISE
DER EU
Das Votum für den Austritt Großbritanniens aus der EU kam für die britische Bourgeoisie
unerwartet und stürzt die britische Wirtschaft in einen Krisenmodus. Die Bank of England hat ihre
Wachstumsprognose für 2017 – immerhin gehen 45 % der britischen Exporte in die EU und 55 % der
Importe kommen von dort – von 2,3 % auf 0,8 % korrigiert und die Zinsen auf das historische Tief von
0,25 % gesenkt. Auch wenn durch die auf 15 % reduzierte Unternehmenssteuer Kapital angezogen
werden soll, sind die kommenden Austrittsverhandlungen für die Unternehmen ein Hemmnis für
langfristige Investitionen. Der Industrieverband CBI fordert nun von der Regierung, entsprechend
vorteilhafte Bedingungen für den Vollzug des Austritts: Zugang zum Binnenmarkt und zu EUFördermitteln, Zugriff auf Arbeitskräfte aus der EU etc. auszuhandeln. Doch Schäuble und Konsorten
bleiben hart und verweigern sich jeder Form des „Rosinenpickens“, weil sie Ansteckungsgefahr
befürchten. Die mit dem Votum zum Ausdruck gelangte institutionelle Krise der EU und die
Herausforderungen an die Linke, werden in den folgenden Beiträgen, ausgehend vom Brexit,
diskutiert. Miwe
Ein Dossier mit 5 Beiträgen
Für Einheit und
Solidarität in
Europa, gegen
Rassismus und
Sozialdumping
SEITE 5
4 Inprekorr 5/2016
GB und der
Brexit:
Dichtung und
Wahrheit
Für ein anderes
Europa ohne
Grenzen und
Ausbeutung
SEITE 7
SEITE 9
Nach dem Brexit
– eine EU-Kritik
von links
SEITE 12
Die EU nach
dem Brexit: Nur
eine politische
Krise?
SEITE 14
DOSSIER: BREXIT
FÜR EINHEIT
3. UND
SOLIDARITÄT IN
EUROPA, GEGEN
RASSISMUS UND
SOZIALDUMPING
Büro der Vierten Internationale
1. Nach Griechenland und der Flüchtlingskrise
bedeutet das Ergebnis des britischen Referendums
eine weitere Steigerungsstufe in der EU-Krise. Eine
deutliche Mehrheit der an der Abstimmung Teilnehmenden in England und Wales hat für den „Brexit“ gestimmt
und dem gesamten Vereinten Königreich einen Austritt
aufgezwungen, obwohl in Schottland und Nordirland das
Gegenteil herauskam – ein Krisenfaktor innerhalb des
britischen Staates, was möglicherweise zu einem zweiten
Unabhängigkeitsreferendum in Schottland führen wird.
Der ausländerfeindliche Diskurs gegenüber
osteuropäischen MigrantInnen, den die beiden
Hauptwortführer der „Leave“-Kampagne, Boris
Johnson (Konservative Partei) und Nigel Farage (UKIP),
gleichermaßen strapazierten, beherrschte die Kampagne.
So gelang es ihnen, den tief sitzenden sozialen Frust
weiter Bevölkerungsteile – jener Schichten, die Sparmaßnahmen, Kündigungen oder dem Sozialabbau zum
Opfer fielen – aufzufangen. Ihre Erbitterung wendete
sich gegen die Eliten (in Westminster oder Brüssel).
Leider drückt diese massenhafte Ablehnung der EU
zurzeit keinen fortschrittlichen, gegen die Austeritätspolitik gerichteten Radikalismus aus, sondern eine Ablehnung europäischer ArbeitsmigrantInnen, die als Sündenböcke für Stellenabbau hinhalten müssen; darein
mischt sich eine Ablehnung der Europäischen Union,
die für die erlittenen Angriffe verantwortlich gemacht
wird.Das führte zu öffentlichen Äußerungen von
Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, die seit den
1970er Jahren untragbar geworden waren, als u. a. die
2. Anti-Nazi League dazu beitrug, den Anstieg von
rechtsradikalem Extremismus einzudämmen.
Die Dynamiken, die zum Ruf nach einem
britischen Referendum führten - insbesondere die
Entwicklung der UKIP, bestärkt durch den euroskeptischen rechten Flügel der Tories -, bereiteten ein zur
Austragung der Debatte in Großbritannien für die Linke
ausgesprochen ungünstiges Terrain.Die Labour-Partei
war hin- und hergerissen zwischen einer traditionellen
EU-Ablehnung - wie vor dem letzten Referendum 1975
- und Druck aus Gewerkschaftskreisen und anderen
Kräften, die argumentierten, die EU-Politik sei ein
Schutz gegen die schlimmsten neoliberalen Exzesse. Dazu
kam der Wunsch, die gegen Immigranten gerichtete
rechte Ausländerfeindlichkeit der „Leave“-Kampagne
zurückzuweisen.Stimmen aus Labour zugunsten des
Austritts wurden von den Medien stärker aufgegriffen als
die von der Partei offiziell vertretene „Remain“-Haltung.
Trotzdem unterstützten nur 37 % der Labour-WählerInnen den Austritt.
Die dominante „Remain“-Kampagne schien eine
Sache der Eliten, der arroganten City zu sein, die
mit der Angst vor einer drohenden Katastrophe im Fall
einer Mehrheit für den Austritt spielte, während Millionen britischer ArbeiterInnen bereits die Erfahrung einer
sozialen Katastrophe gemacht hatten, die von denselben
Leuten verursacht worden war wie denen, die für den
Verbleib in der EU plädierten.
In dieser Situation ist es unvermeidbar, dass die
linken Kampagnen – Another Europe Is Possible
(AEIP) für den Verbleib und Left Leave (Lexit) für einen
Austritt – auf wenig Gehör stießen.Dennoch erhielt AEIP
starke Unterstützung von Schatten-Finanzminister John
McDonnell, der Führung der Grünen Partei und vielen
linken GewerkschafterInnen, darunter Matt Wrack, dem
Generalsekretär der Gewerkschaft der Feuerwehrleute
FBU sowie Tausenden AktivistInnen im ganzen Land.
Das Abstimmungsergebnis bedeutet für alle
ArbeiterInnen und Studierenden aus EU-Ländern,
allen voran aus Osteuropa, dass ihre materielle Lage in
Großbritannien ausgesprochen unsicher geworden ist.
Viele fühlen sich durch Ausdrücke der Fremdenfeindlichkeit, die während des Wahlkampfs aufgeheizt wurde,
verletzbar.Bereits ist es zu physischen Angriffe auf
MigrantInnen – insbesondere aus Polen – gekommen.
Ähnlich werden auch das Stellenangebot und die Kaufkraft aller britischen ArbeiterInnen unter den Folgen der
Währungsmanöver rund um das britische Pfund und alle
4. 5. 6. Inprekorr 5/2016 5
DOSSIER: BREXIT
von der EU möglicherweise ergriffenen Maßnahmen
leiden.Das Austrittsvotum wird also alles andere als ein
Teil einer fortschrittlichen Zurückweisung des Austeritätskurses und der kapitalistischen Politik sein, sondern
die konservative Regierung in eine noch reaktionärere
Richtung führen. Ihr steht eine Labour-Partei gegenüber,
die vom Referendum und den scharfen Angriffen des
rechten Labour-Flügels auf die Führungsrolle von Jeremy
Corbyn geschwächt ist.
Umso wichtiger sind die Initiativen, die unmittelbar nach dem Referendum in Großbritannien
ergriffen worden sind, um Solidarität mit allen ArbeitsmigrantInnen zu zeigen, sehr wichtig, sie sollten fortgesetzt
und ausgeweitet werden.Ungeachtet der Meinungsunterschiede über das Referendum besteht die Aufgabe nun
darin, die breitestmögliche Einheit gegen die Sparpolitik
und in Solidarität mit den MigrantInnen zu bilden und
sich der Kampagne des rechten Labour-Flügels gegen
Corbyn und die Linke zu widersetzen.
Der Brexit schwächt die EU strukturell und hat
eine Führungskrise mit unvorhersehbaren
Folgen an der Spitze ausgelöst.Es vergeht kein Monat,
ohne dass den herrschenden Klassen die Folgen der
diktierten Sparpolitik verdeutlicht würden: die Befürwortung einer Rebellion durch das griechische Volk im
Januar und Juli 2015, die starke Mobilisierung in
Frankreich gegen Angriffe auf das Arbeitsrecht und
zuletzt massive Verluste von Matteo Renzi bei den
Kommunalwahlen in Italien.
Der völlige Mangel an Demokratie im Funktionieren der Europäischen Union, die sich anstauende soziale Verzweiflung angesichts der Angriffe
rechter wie linker Regierungen kommt überall dort, wo
die Wählerschaft die Möglichkeit hat, zum Ausdruck.
Die Europäische Union baut in allen Ländern den
sozialen Schutz und die Sozialgesetzgebung ab und
drängt EU-weit auf den Wettbewerb aller gegen alle
sowie Prekarisierung.
Leider spielt die Arbeiterbewegung in Europa, allen
voran der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), nicht
die Rolle eines Bollwerks und einer Waffe für internationale Solidarität und die Verteidigung sozialer Rechte.Es
gibt bislang noch keine europaweite fortschrittliche
Dynamik, diese Frustration umzuwandeln und die
kapitalistische Austeritätspolitik generell herauszufordern.
Die EU ist eine bürgerliche Institution, die wir
nicht für reformierbar halten und die tatsächlich zerstört werden müsste, um eine neue Grundlage für
7. 8. 9. 10. 6 Inprekorr 5/2016
innereuropäische Zusammenarbeit auf der Basis der
Solidarität zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen.
Um diese Krise der Europäischen Union in
einen Vorteil für die Ausgebeuteten und
Unterdrückten zu münzen, bräuchte es einen Grad an
politischem Zusammenhalt und gesellschaftlichem
Gewicht der antikapitalistischen Kräfte, der europaweit
vollkommen neu aufgebaut werden muss.
In dieser Situation stehen vielfältige Aufgaben
an:
„ Auf europäischer Ebene sollten wir alle Initiativen
(Madrid-Konferenz etc.) ermutigen, die den von der EU
durchgesetzten Austeritätskurs bekämpfen, wobei klar die
Verantwortung der nationalen Bourgeoisien auf nationalstaatlicher Ebene zu betonen ist und das Ausspielen der
ArbeiterInnen verschiedener Länder gegeneinander zu
kritisieren und eine Harmonisierung der sozialen Rechte
und Löhne nach oben zu fordern ist;
„ die Zahlung von illegitimen öffentlichen Schulden
und undemokratischen Verträgen wie TTIP und CETA
gemeinsam bekämpfen;
„ die Solidarität mit den Kämpfen von Bevölkerungen,
die sich konkret gegen die von der Troika diktierte Politik
wehren (Griechenland, Portugal usw.), bekanntmachen
und organisieren;
„ unsere Anstrengungen in Solidarität mit den MigrantInnen und ihren Forderungen nach Niederlassungsrechten, Arbeit und Sozialleistungen in der EU, für die
Öffnung der Grenzen und die Stärkung unserer Beziehungen zu Migrantenorganisationen verstärken;
„ die Diskussion in der radikalen europäischen Linken
über Perspektiven für den Auf bau eines neuen– eines
antikapitalistischen, antirassistischen, ökosozialistischen
und feministischen – Europa fördern und bereichern.
11. 12. DOSSIER: BREXIT
GB UND DER
BREXIT:
DICHTUNG UND
WAHRHEIT
Nicht nur gingen die Positionierungen der
linken Organisationen vor dem Referendum
weit auseinander. Auch in der Bewertung des
Ausgangs der Abstimmung sind sich die Linken
alles andere als einig. Phil Hearse
Die politische Linke und die KommentatorInnen aus dem
Mitte-Links-Spektrum haben eine Unmenge an Einschätzungen und Analysen hervorgebracht. Einige davon sind
vernünftig, andere sind voller Halbwahrheiten und ein
paar sind auch reine Phantasieprodukte. Es soll mit den
Phantasiegeschichten in dieser Debatte begonnen werden:
„Ein Sieg über die Austeritätspolitik und den Neoliberalismus“, so lautete die erste Reaktion auf der Website der
Socialist Workers Party. Eine solche Bilanz ist komplett
falsch.
Selbst dann, wenn die Abstimmung hauptsächlich als
ein Ergebnis eines Aufstandes der ArbeiterInnenklasse, die
die Schnauze voll hat von völliger Missachtung und
Überausbeutung, angesehen wird, übersieht die These, der
Ausgang des Referendums sei ein Sieg über den Neoliberalismus, den zentralen politischen Inhalt, dass der Brexit
aufgrund einer massenhaften Feindschaft gegenüber
Einwanderern hat siegen können. Darunter findet sich auch
viel rassistisches oder mindestens fremdenfeindliches
Verhalten.
Mit anderen Worten sind Millionen von ArbeiterInnen, die unter Armut und wachsender sozialer Ungleichheit leiden und unter miserablen Bedingungen leben, ohne
einen Ausweg daraus zu sehen, im Laufe der Kampagne
(und viele sicher auch schon lange vorher) zu der absolut
falschen Schlussfolgerung verleitet worden, dass eine
Politik des Einwanderungsstopps helfen könnte, selber die
„Kontrolle“ zu erhalten und die eigenen Probleme zu
lösen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Machtverschiebung
zugunsten von Michael Gove und Boris Johnson bedeutet
eine politische Wende nach rechts, die zu einer Verdopplung der Angriffe auf die Lohnabhängigen führen wird.
Die ArbeiterInnenklasse und die ärmeren Schichten
der Mittelklasse werden häufig zu einer Unterstützung von
PolitikerInnen fehlgeleitet, die komplett gegensätzlich zu
ihren eigenen Interessen stehen. Dies insbesondere durch
die penetrante Wiederholung der neoliberalen Lügen in
den Massenmedien. Das zeigt sich an der Massenunterstützung der Tea Party in den USA, die von den MilliardärInnen geführt und organisiert wird, wie auch an der Gefolgschaft für Donald Trump. Auch auf den Front National in
Frankreich unter seiner Führerin Marine Le Pen trifft dies
zu. Ebenso auf viele der übrigen Rechtsparteien in Europa
und anderswo.
Die stellvertretende Generalsekretärin der Socialist
Party, Hannah Sell, teilt die Fehleinschätzung in diesem
Punkt: „Gleichzeitig ist es völlig falsch, zu unterstellen,
dass die Stimme für den Austritt im Wesentlichen einen
rechtsradikalen oder rassistischen Kern hätte. Natürlich
haben einige derjenigen, die für den Austritt gestimmt
haben, dies aus rassistischen oder nationalistischen Gründen getan. Dennoch ist der grundsätzliche Wesenszug des
Entscheids für den Austritt ein Aufstand der ArbeiterInnenklasse. Die ArbeiterInnenbewegung ist niemals zu
hundert Prozent „rein“ und völlig frei von reaktionären
Kräften und Unterströmungen. Es ist die Aufgabe der
SozialistInnen, die vorrangige Botschaft zu erkennen –
und das ist in diesem Fall ein rebellisches Wahlverhalten
gegen das Establishment.“
Es ist bezeichnend, wie ausweichend der Begriff
„Aufstand der ArbeiterInnenklasse“ ist. Er umgeht die
präzise politische Charakterisierung des Brexit-Entscheids
(und das ist mit Sicherheit „vorrangig“) und versteckt sich
hinter angeblich soziologischen Fakten; es ist aber ein
Zeichen chronischer politischer Fehleinschätzung.
Neben den Erklärungen der radikalen Linken gibt es
bei den linksliberalen KommentatorInnen einige interessante Einschätzungen, die mit groben Vereinfachungen
bezüglich des Klassencharakters und des politischen Inhalts
der Abstimmung über „Remain“ oder Brexit kombiniert
werden. Im Guardian zitiert John Harris eine Frau aus
Manchester wie folgt: „Wenn du viel Geld hast, stimmst du
für ‚in‘, wenn du wenig Geld hast, stimmst du für ‚out’.“
John Harris selbst wiederholt diese Vereinfachung nicht,
aber offensichtlich findet er das meiste daran richtig.
Faktisch ist dies also eine Simplifizierung.
Es sei daran erinnert, dass über 16 Millionen Menschen
für „Remain“ gestimmt haben, darunter große Teile der
Inprekorr 5/2016 7
DOSSIER: BREXIT
ArbeiterInnenklasse und von Labour-UnterstützerInnen.
Alle Großstädte mit Ausnahme von Birmingham haben
für den Verbleib gestimmt. Es ist falsch zu sagen, das sei
deswegen, weil die Zentren dieser Städte von einer Masse
an Wohlhabenden und KleinbürgerInnen bevölkert seien.
Es glaubt zum Beispiel niemand, dass der Sieg von Saddiq
Khan bei den Bürgermeisterwahlen zustande kam, weil in
London großflächig die reiche Bevölkerung für ihn
gestimmt hat, im Gegenteil. Und auch auf die „Remain“Mehrheit in den Innenstadtbereichen von London trifft
dies nicht zu.
Im Gegenteil, auch die Innenstadtbezirke von London,
die mehrheitlich von ArbeiterInnen und multikulturell
geprägt sind, stimmten für den Verbleib. Multikulturalismus ist dabei oft ein Schlüsselfaktor. Anders in Sunderland
zum Beispiel, wo nur wenige MigrantInnen leben. Hier
stimmten 60 Prozent für den Brexit.
Die einzigen Londoner ArbeiterInnenbezirke, die für
den Brexit gestimmt haben, waren Barking, Dagenham
und Havering. In Barking und Havering lebt vor allem die
weiße ArbeiterInnenklasse, die stark unter dem wirtschaftlichen Niedergang und der Verarmung gelitten hat.
In beiden Bezirken erzielt die radikale Rechte seit langem
bedeutende Erfolge. Es gibt auch einen anderen BrexitBezirk mit großer, aber mehr gemischter ArbeiterInnenbevölkerung: Hillingdon. Das ist ein seit langem von den
Tories geprägter Bezirk und aktuell der Wahlkreis von
Boris Johnson.
In Haringey aber, mit seinen heruntergekommenen
Gegenden stimmten 79 Prozent für den Verbleib. Das ist
deshalb, weil Haringey stark multiethnisch und multikulturell geprägt ist. Es muss hier dazu gesagt werden, dass
das Bild der ArbeiterInnenklasse aufgrund der teilweisen
Verunglimpfungen der Innenstädte ein wenig verworren
ist. Viele junge ArbeiterInnen haben heutzutage einen
Uni-Abschluss und arbeiten (in der Regel schlecht
bezahlt) am Schreibtisch. Sie wohnen oft auch in den
Innenstädten und haben überwiegend für den Verbleib
gestimmt. Das sind keine Neureichen, die sich auf Kosten
der traditionellen ArbeiterInnenklasse im Norden und in
den Midlands bereichert haben.
Damit beginnt sich das Bild zu vervollständigen. Ganz
sicher haben bedeutende Teile der (vor allem weißen)
ArbeiterInnenklasse, wie von John Harris oder Aditya
Chakrobbati richtig beobachtet, für den Brexit gestimmt.
Sie gehören zu den ärmsten und am meisten entfremdeten
Schichten. Aber Armut und Entfremdung sind nicht der
einzige Grund für das Stimmverhalten. Andere kulturelle
8 Inprekorr 5/2016
und politische Faktoren kommen hinzu. Vor erst das Alter:
Es gibt ein fast perfektes Abbild des Alters bei dem Stimmverhalten. Die 18 bis 25-Jährigen haben massiv für den
Verbleib gestimmt, die über 65-Jährigen für den Brexit.
Viele junge Leute wurden auch nicht ins Wahlregister
aufgenommen, weil sie eine prekäre Wohnsituation haben.
Die alten Menschen gehen dagegen eher zur Wahl, und
das begünstigt immer konservative Haltungen.
Zweitens hat eine Untersuchung, die gestern veröffentlicht wurde, gezeigt, dass die Menschen, die eine linke
Weltsicht haben, für „Remain“ stimmten, während die mit
einer eher rechten oder konservativen Gesinnung für
„Leave“ votierten. Dabei gab es eine Ausnahme bezüglich
der Einschätzung von „Globalisierung“ und „Kapitalismus“. Die Hälfte sowohl der “Remain“- als auch der
„Leave“-Stimmen sehen den Kapitalismus als etwas Negatives. Alle anderen Kategorien wie Einwanderung, Feminismus, Ökologiebewegung und Multikulturalismus wurden
bei den Brexit-WählerInnen überwiegend negativ eingeordnet. Der Multikulturalismus wurde zu 71 Prozent von
den „Leave“-WählerInnen negativ bewertet. Möglicherweise ist eine solche Untersuchung etwas vereinfachend,
aber ich bezweifle, dass die Ergebnisse dadurch sehr stark
verfälscht werden.
Drittens bildet das Stimmverhalten auch die Regionen
ab, in denen die UKIP eine bedeutende WählerInnenbasis
hat oder die Rechte traditionell stark ist. Diese Basis hat
sich in der letzten Zeit noch ausgeweitet, etwa in Südwales.
Die Deindustrialisierung und der Niedergang der ArbeiterInnenbewegung, manchmal in Verbindung mit einem
demographischen Niedergang, weil die jungen Leute
abgewandert sind, haben Labour und die Linke stark
geschwächt. Das ist alles andere als neu.
Ich habe bereits in einem Artikel von 2009 ausgeführt:
„Wenn der Erfolg der UKIP auch auf einer langfristigen
reaktionären, fremdenfeindlichen Kampagne der Massenmedien auf baut, so wurde er auch von ebenso langfristig
wirkenden sozialen und politischen Faktoren begünstigt.
Allen voran durch die Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung durch die Thatcher-Regierung und ihrer Nachfolger. Die hatten gravierende strukturelle Auswirkungen.
Die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaftsbewegung
sind nicht mehr so wie in den 1970er Jahren. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften geht zurück und ebenso sind
die großen Kraftzentren der ArbeiterInnenklasse – in den
Bergwerken, dem Anlagen- und Maschinenbau, den
Autofabriken und anderswo – verschwunden. Der Neoliberalismus hat die Spaltungen der ArbeiterInnenklasse
DOSSIER: BREXIT
vertieft und sowohl zu Zentren der Neureichen als auch
der langfristig Armen geführt.
Die Schwäche der Analysen von John Harris und Aditya
Chakrobbati liegt darin, dass sie die Rolle der sozialen und
ökonomischen Faktoren bei den „Leave“-WählerInnen
übertreiben und die politischen und ideologischen Faktoren
unterbewerten. Es mag vielleicht stimmen, wenn John
Harris sagt, dass viele der „Leave“-WählerInnen, die er
überall im Land getroffen hat, keine offenen RassistInnen
sind. Aber das ist nicht der Punkt. Wichtig ist, dass diese
Leute hinter eine fremdenfeindliche und Anti-MigrationsStimmung versammelt werden konnten, die irrational und
vergiftend ist. Sie bettet sich ein in eine europaweite
Hysterie gegenüber dem Ansturm von MigrantInnen auf
Europa, aus Ländern, die unter der Verantwortung des
Westens destabilisiert wurden. und in eine Flut der Islamophobie. Die Menschen mögen gute Gründe haben, von der
EU die Schnauze voll zu haben. Aber das ist nicht der
Grund, warum der Brexit erfolgreich war. Der Brexit
konnte gewinnen, weil die Flut an Lügen, die über die
Einwanderung von den rechten PolitikerInnen, Zeitungen
und Fernsehen verbreitet wurden, nicht zurückgedrängt
werden konnte.
Es ist allerdings ebenso sicher, dass die Niederlage der
„Remain“-Kampagne nicht im Versagen von Jeremy
Corbyn begründet ist. Die Kampagne von Jeremy war
sicher nicht brillant, aber es ist auch schwer, Wirkung zu
erzielen, wenn die Massenmedien dich ignorieren und
sich auf die zwei Flügel der Tory-Partei fokussieren. Der
Misstrauensantrag in der Labour-Fraktion, eingebracht
von Margaret Hodge und Ann Coffey, vor vorhersehbar.
Was dagegen nicht vorhergesehen werden konnte, ist,
dass zum Zeitpunkt dieses Artikels bereits 140 000
Menschen die Petition unterzeichnet haben, die sich
gegen diesen Misstrauensantrag richtet. Die Versuche,
Jeremy Corbyn loszuwerden, werden weiterhin hart
umkämpft sein.
Dass sich Polly Toynbee den Anti-Corbyn Anträgen
anschloss, war vorhersehbar. Aber das Blairite- und
Anti-Corbyn-Lager ist mit einem unlösbaren Widerspruch konfrontiert, dem sie sich nicht stellen wollen. Die
Ablösung großer Teile ihrer früheren UnterstützerInnen
von der Labour-Party ist nicht auf den Vorsitzenden
Jeremy Corbyn zurückzuführen, sondern ist ein Ergebnis
der Zeit von Tony Blair als Premierminister und dem von
seiner Labour Party verfolgten Neoliberalismus, der
unvermeidlich zu wachsender Armut und Ausgrenzung
führt. Sie möchten die Zeit gerne zurückdrehen, um
ihren Blair wiederzubeleben oder eine britische Hillary
Clinton . Ihre Antwort auf das, was geschehen ist, ist die
Forderung, dass Labour noch weiter nach rechts rückt.
Die Linke muss sich jetzt selbstverständlich um
Kampagnen und harte Kämpfe vereinen, die sich bei
einer neuen Tory-Regierung ergeben. Es ist auch erforderlich, dass eine tiefer gehende strategische Diskussion
über die Kette an Niederlagen für die Linke beginnt, um
sich auch international für eine lange Periode der politischen Reaktion neu aufzustellen.
25. June 2016
Quelle: „UK & Brexit: Fact and Fiction about the Referendum“ aus: www.europe-solidaire.org/spip.php?article38303
Übersetzung: Thies Gleiss
„
FÜR EIN
ANDERES
EUROPA OHNE
GRENZEN UND
AUSBEUTUNG
Verantwortlich für die gegenwärtigen Krisen
ist das Europa der Banken und Konzerne.
Dennoch wäre es blauäugig, einen Ausweg
in der Wiederkehr nationaler Souveränität zu
suchen, die ein gemeinsames Interesse zwischen
Ausbeutern und Ausgebeuteten unterstellt. Die
Antwort kann nur in einem Europa und einer
Welt ohne Grenzen bestehen, die von den heute
Ausgebeuteten selbst regiert wird. Galia Trépère
Die Freizügigkeit für Personen im Schengenraum ist ein
Nebenprodukt des freien Warenverkehrs, an dessen
Inprekorr 5/2016 9
DOSSIER: BREXIT
Abschaffung die europäischen Kapitalisten kaum Interesse
haben dürften. Genauso wenig dürfte ihnen am Austritt
Großbritanniens, das ohnehin schon außerhalb der
Eurozone und des Schengenraums steht, aus der EU
gelegen sein. Genau dies dürfte aber passieren, wenn die
Brexiteers das Referendum gewinnen [was ja inzwischen
eingetreten ist], das Cameron seinerzeit aus wahltaktischen
Gründen versprochen hatte.
Gegen das Erstarken der extremen Rechten …
Bereits heute gibt es in Europa eine starke Tendenz zur
nationalen Abschottung und Schließung der Grenzen, die
zum einen Folge der Flüchtlingskrise und zum anderen
des Drucks ist, den die rechtsextremen Parteien – einschließlich faschistischer oder faschistoider Gruppierungen wie die Goldene Morgenröte in Griechenland und
Jobbik in Ungarn – ausüben. In ihnen kommt – in
pervertierter, rassistischer und fremdenfeindlicher Form
– der Protest von Teilen der Bevölkerung gegen die
Austeritätspolitik der herkömmlichen Parteien zum
Ausdruck.
Während der Front national in Frankreich und die
UKIP in Großbritannien erst noch an die Pforten der
Macht klopfen, haben sich Andere dort bereits etabliert –
etwa die Fidesz von Victor Orban, die seit 2010 regiert und
notabene Mitglied der EVP ist, oder seit vergangenem Oktober die PIS von Jaroslaw Kaczynski in Polen. In Österreich ist der Präsidentschaftskandidat der FPÖ, die bereits
zwischen 2000 und 2007 Koalitionspartner in der Regierung gewesen ist, nur knapp gescheitert [, zumindest bis
zur Wahlwiederholung am 2. Oktober].
Die Grenzbarrieren und Polizeikontrollen, mit denen
die EU bislang die Einwanderungs- und Flüchtlingsbewegung über Abkommen mit den Anrainerstaaten der EU
auf Abstand halten wollte, haben sich angesichts des
massenhaften Andrangs an den Grenzen als wirkungslos
erwiesen. Die jetzige Stärkung der Außengrenzen der EU
führt zwangsläufig auch dazu, die Binnengrenzen zwischen den EU-Ländern wieder stärker zu kontrollieren.
Auch die demokratischen Rechte folgen dieser Logik.
Natürlich ist es den Spitzen der Bourgeoisie angenehmer,
ihre Herrschaft über ein Land durch ein demokratisches
statt ein Polizeiregime zu sichern und die Mehrheit der
Bevölkerung dabei hinter sich zu haben, statt Proteste
gewaltsam zu unterdrücken. Aber genau dies findet in
Frankreich seit der Verhängung des Ausnahmezustands
und der Repression gegen die Anti-Arbeitsgesetz-Bewegung statt, wo die demokratischen Rechte, bspw. das
10 Inprekorr 5/2016
Demonstrationsrecht zunehmend eingeschränkt werden
und sich Polizeigewalt häuft.
Die Regierungen bereiten der extremen Rechten den
Boden, wenn sie gegen diejenigen vorgehen, die gegen die
zunehmend ungerechte, aber staatlich geschützte kapitalistische Ordnung protestieren, und MigrantInnen und
Flüchtlinge menschenunwürdig behandeln, wie dies in
Calais oder gegen die Roma passiert. Indem man sie
kriminalisiert, ihnen die Verantwortung für die schlechte
Behandlung in die Schuhe schiebt und sie der übrigen
Bevölkerung gegenüber als unerwünscht stigmatisiert,
gießt man Wasser auf die Mühlen der reaktionären
Demagogen und der extremen Rechten, die die Ausländer
zu Sündenböcken machen.
… helfen nur offene Grenzen und
Niederlassungsfreiheit!
Weder Barrieren und Mauern noch verstärkte Grenzkontrollen können verhindern, dass Millionen von Menschen,
die nicht mehr in ihren von Kriegen und Elend zerstörten
Ländern leben können oder durch die Folgen des Klimawandels vertrieben werden, neue Routen finden, auf
denen sie in die reichsten Länder der Erde, darunter die
europäischen, gelangen. Dies auch dann, wenn sie auf ihrer
gefährlichen Flucht zu Land und zu Wasser ihr Leben
riskieren und schreckliche Leiden dabei erdulden müssen
und unter elenden Bedingungen in Flüchtlingscamps und
unter Gewahrsam gehalten werden.
Wenn man diese katastrophalen Zustände wirklich
beenden und zu deren Lösung beitragen will, dann muss
man die Grenzen öffnen und Reise- sowie Niederlassungsfreiheit gewähren. Dies ist auch der einzige politische
Weg, um gegen die extreme Rechte, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorzugehen. Die Regierungen rechtfertigen häufig ihre repressive Politik gegenüber
den Flüchtlingen mit dem Einfluss der extremen Rechten
auf die öffentliche Meinung. Umgekehrt wird ein Schuh
draus, nämlich dass sie die öffentliche Meinung in diese
Richtung lenken, indem sie die Politik der extremen
Rechten kopieren.
Was hindert die Regierungen daran, die Grenzen zu
öffnen und die Elends- und Kriegsflüchtlinge menschenwürdig aufzunehmen und ihnen Wohnung und Arbeit
anzubieten? Dasselbe, was sie daran hindert, das Elend
hierzulande, die Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu
beenden – die Profitgier ihrer Auftraggeber in den
multinationalen Konzernen und Banken nämlich, die eine
Politik einfordern, mit der die öffentlichen Gelder in
DOSSIER: BREXIT
Unternehmenssubventionen statt in sozial notwendige und
nützliche Projekte fließen.
Statt eines Europa der Kapitalisten …
Die EU ist außerstande, mit dieser Logik zu brechen, da sie
– anders, als ihre „Gründerväter“ glauben machen wollen
– nicht aus dem Willen der Völker zur Zusammenarbeit
entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den USA auf
den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich gegen
deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren wollen.
Die europäischen Kapitalisten haben die Welt im Lauf
des 20. Jahrhunderts zweimal in Schutt und Asche gelegt,
um ihre Rivalität auszutragen. Dass sie nach dem Zweiten
Weltkrieg „friedlich“ geworden sind, lag nur daran, dass sie
durch den US-Imperialismus eindeutig beherrscht wurden.
Der wiederum hatte selbst starkes Interesse – zum Wohle
der eigenen Exportwirtschaft – an einem uneingeschränkten Warenverkehr zwischen den europäischen Ländern,
ohne dass exorbitant hohe Zölle und Steuern darauf
drücken, wie sie bis Ende der 60er Jahre üblich waren.
Die europäische Integration wurde in der Folge als ein
Instrument der besitzenden Klassen und ihrer mächtigsten
und reichsten Fraktionen vorangetrieben, um die Lasten
der wirtschaftlichen Konkurrenz, die sie mit ihresgleichen
auf der ganzen Welt ausfechten, den Lohnabhängigen und
der Bevölkerung im jeweils eigenen Land aufzuhalsen,
indem sie im Zuge der Globalisierung die Arbeitskräfte
weltweit gegeneinander konkurrieren lassen.
Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar
gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum mit
freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der Lage,
ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre
Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei dient, den
Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie
ein gemeinsames Interesse mit dem „nationalen“ Kapital
haben. Die verschiedenen Krisen, die die EU erlebt hat,
haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der
Kräfteverhältnisse, die von den reichsten und mächtigsten
Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt
werden. Und es sind die ärmsten Länder in der Peripherie,
Spanien, Italien oder Griechenland, auf deren Rücken die
reichen die Last der Flüchtlingsströme abwälzen.
Das Europa der EZB und des Euro ist nichts anderes als
das Europa der Kapitalisten. Die EU-Führer haben noch
nie entlang der Interessen der Bevölkerung gedacht und
gehandelt. Ihr Handeln wird bestimmt von ihrem Machterhalt und der Wahrung der Interessen der Besitzenden.
Diese wiederum greifen den Lebensstandard der Bevölkerung an, um noch mehr Reichtum zu scheffeln.
… eines der ArbeiterInnen und Völker!
Die Zuspitzung der Lage und das Scheitern der europäischen Staaten und der EU einerseits und das Verlangen
nach Fortschritt und Demokratie andererseits können ein
Bewusstsein dafür schaffen, dass ein anderes Europa,
nämlich das der Völker und ArbeiterInnen notwendig ist.
In der Gesellschaft stehen sich zwei Grundtendenzen
gegenüber: Auf der einen Seite geht es um Verteidigung
der kollektiven Interessen und Solidarität, auf der anderen
herrscht die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, was
letztlich dazu dient, die Interessen von Minderheiten und
deren Privilegien zu verteidigen. Ohne die Solidarität und
materielle Hilfe aus der Bevölkerung und das Engagement
tausender freiwilliger Helfer könnten die Flüchtlinge nicht
überleben, ebenso wenig wie ohne die gegenseitige
Solidarität untereinander.
Damit aber diese Solidarität wirklich zu einer starken
Kraft wird, muss sie von den AktivistInnen und ArbeiterInnen als integraler Bestandteil ihres Kampfes um die
eigenen Interessen gegenüber Kapital und Regierung
verstanden werden. Dazu gehören auch ein Bewusstsein
über die parasitäre Rolle der besitzenden Klassen und die
Überzeugung, die Gesellschaft aus eigener Kraft lenken zu
können. Ob EinwandererIn oder Flüchtling der ersten,
zweiten oder zehnten Generation – alle sind wir ProletarierInnen, die kein Vaterland haben und nur eine Grenze
kennen, nämlich die zwischen den Klassen.
Von all den Krisen, die die europäische Integration
erschüttert haben, ist zweifellos diejenige am schwerwiegendsten, die aus deren Unvermögen resultiert, dem
dramatischen Schicksal von Millionen von Frauen,
Männern und Kindern, die vor Krieg und Elend fliehen,
auch nur die geringste Abhilfe schaffen zu können.
Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der
Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung
der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen
der jeweiligen „nationalen“ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits. Im
Zeitalter der Globalisierung und der multinationalen
Konzerne sind es zweifellos die Zauberlehrlinge der
fremdenfeindlichen und rassistischen Demagogie, die die
nationale Rückbesinnung propagieren. Das Beispiel
Inprekorr 5/2016 11
DOSSIER: BREXIT
einiger Länder zeigt jedoch, dass dies nicht das Privileg
allein der extremen Rechten ist.
Alle reichen Länder der Erde, die letztlich für die
ökonomische Rückständigkeit und die Verelendung der
übrigen Welt sowie für die Kriege im Nahen Osten und in
Afrika verantwortlich sind, verschließen ihre Türen vor
den Flüchtlingen, für deren Fluchtursachen sie selbst
verantwortlich sind.
Europa könnte eine ganz andere Rolle spielen, wenn es
nicht das kapitalistische Europa der EZB, der Multis und
Banken wäre. Darum wird es u. a. in den kommenden
Klassenkämpfen gehen, nämlich ein anderes Europa zu
schaffen, das selbst ohne Grenzen ist und dazu beiträgt,
eine Welt ohne Grenzen zu schaffen – ein Europa des
Friedens und Fortschritts. Auch dies lehrt uns die gegenwärtige Krise.
Aus: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA Juni 2016
Übersetzung: MiWe
„
NACH DEM
BREXIT – EINE
EU-KRITIK VON
LINKS
In der Kampagne vor dem Referendum
konnten die Rechten weitgehend den Ton
bestimmen. Aber das Brexit-Votum offenbart
wie kaum ein anderes Ereignis die tiefe
Krise der EU und gibt der Linken eine gute
Chance, offensiver gegen die EU-Institutionen
anzugehen. Socialistisk Arbejderpolitik (SAP)
Im Ausgang des Referendums zum Ausstieg Großbritanniens kommt der Protest der Arbeiterklasse gegen die
herrschenden Klassen in der EU zum Ausdruck. Die Linke
sollte dies zum Anlass nehmen, uns an vorderster Front
gegen die EU zu wenden, die als Drehscheibe für Soziald12 Inprekorr 5/2016
umping und Aufweichung der steuerfinanzierten sozialen
Sicherungssysteme und der demokratischen Rechte
fungiert, alle Ansätze, mit der neoliberalen Politik Schluss
zu machen, unterbindet und außerstande ist, auf die
Klimakatastrophe zu reagieren. Wenn sich nicht die Linke
an die Spitze dieser Auseinandersetzung stellt – auf einer
antirassistischen und internationalistischen Basis – dann
werden mehr oder weniger rassistische Kräfte auf der
extremen Rechten davon profitieren.
Der Mehrheitsentscheid für den Brexit hat die europäische Bourgeoisie aus der Spur geworfen. Zwar erleben wir
seit Jahren einen massiven Widerstand unter der Bevölkerung verschiedener Länder gegen die Entwicklung der
EU, was wiederholt in den jeweiligen Referenden zur
europäischen Frage zum Ausdruck kam, aber wir haben
uns daran gewöhnt, dass die Maschinerie ohne Rücksicht
auf den demokratischen Willen der Völker weiterläuft.
Insofern ist es bezeichnend, dass jetzt Cameron dafür
kritisiert wird, dass er mit dem EU-Prozess „gespielt“
habe, indem er den Verbleib in der EU einem demokratischen Votum unterzogen hat.
Mit Blick auf die Demokratie ist der Umstand, dass mit
dem Brexit dieser Prozess – wenn auch nur in einem Land
– kurzgeschlossen werden konnte, ein gewaltiger Erfolg,
so wie jede Krise der EU stets einen Sieg für die Arbeiterklasse darstellt.
Soziale Frage vs. Rassismus
Dafür, dass sich die englische Arbeiterklasse massenhaft
gegen die EU ausgesprochen hat, gibt es hingegen eher
soziale als demokratische Gründe. Denn die EU ist – wie
in den anderen Mitgliedsländern – Symbol und zugleich
wesentlicher Handlungsträger der massiven neoliberalen
Pressionen, mit denen die Sparpolitik und die explodierende ökonomische Ungleichheit durchgesetzt werden sollen.
Die hohe Zahl von ArbeitsimmigrantInnen aus Osteuropa
und die starke Arbeitslosigkeit drücken erheblich auf die
Löhne und die Arbeitsbedingungen, zumal seit Thatcher
die vormals starke Gewerkschaftsbewegung erheblich
geschwächt ist. Hinzu kommt, dass die Tory-Regierung
das steuerfinanzierte soziale Sicherungssystem abgebaut
hat, bspw. durch hohe Studiengebühren, und sich dabei
stets auf die Freizügigkeit der Lohnabhängigen innerhalb
der EU beruft.
In der Kampagne zum britischen Referendum konnten
die fremdenfeindlichen Kräfte der Rechtspopulisten
weitgehend die Tagesordnung bestimmen. Statt vereint die
kapitalistische und unternehmerhörige EU zu bekämpfen,
DOSSIER: BREXIT
deren arbeiterfeindliche Politik die Lohnabhängigen der
Länder zugunsten des Kapitals gegeneinander ausspielt, hat
ein großer Teil der Arbeiterbewegung und der Linken
dieses Problem heruntergespielt und für den Verbleib in
der EU geworben. Ausschlaggebend war bei einigen
ausgerechnet die Befürchtung, sie könnten durch den
Aufruf zum EU-Austritt einer nationalistischen und
fremdenfeindlichen Agenda das Wort reden und die
Arbeitsplätze der Arbeitsimmigranten gefährden. Am
Ende jedoch wurde die Brexit-Kampagne durch die
fremdenfeindliche UKIP dominiert, die sich nun als der
große Gewinner des Referendums fühlen darf.
Für eine linke Offensive!
Doch lassen wir die Vergangenheit ruhen. Jetzt geht es
darum, eine Antwort auf die Krise der EU zu finden. Sollen wir uns angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig die
nationalistischen und fremdenfeindlichen Parteien in den
meisten Ländern die Opposition zur EU anführen,
zurücklehnen und auf bessere Zeiten warten? Oder sollen
wir weiter und noch intensiver gegen die EU als Institution kompromisslos kämpfen und die jetzt dargebotene
Gelegenheit nutzen, um dieses Herzstück der neoliberalen Angriffe auf die Arbeiterklasse auseinanderfallen zu
lassen?
Zweifellos müssen wir uns für die zweite Variante
entscheiden. Sich raus halten war noch nie eine erfolgreiche Strategie, die extreme Rechte daran zu hindern, nach
der Macht zu greifen. Wenn die Linke nicht das System
bekämpft und eine plausible Alternative anbietet, überlässt
sie die berechtigte Wut und den Widerstand der Propaganda der extremen Rechten und riskiert gar, als indirekter
Fürsprecher dieses verrotteten Systems dazustehen. Und
wenn dann das System zusammenbricht, sind es die
rechten Kräfte, die die Oberhand haben.
Dasselbe gilt für die gegenwärtige Lage: Wenn die
Linke nicht unmissverständlich für die Zerschlagung der
EU des Großkapitals eintritt, dann werden UKIP, Le Pen,
Af D, Dänische Volkspartei und Konsorten von den
Protesten profitieren und am Ende damit gar durchkommen.
Eine linke Alternative zur EU
Demnach muss es für die gesamte europäische Linke
vordringlich sein, an vorderster Stelle gegen die EU als
Institution zu kämpfen wie auch gegen deren Politik:
„ Die Entscheidungen der EU müssen auf allen Gebieten
abgeschafft und abgelehnt werden. Stattdessen müssen die
Mitgliedsstaaten Gesetze gegen Sozialdumping erlassen,
ihre steuerfinanzierten sozialen Sicherungssysteme
verteidigen, die von der EU aufgezwungenen Spar- und
Privatisierungsmaßnahmen stoppen, Umweltschutzmaßnahmen ergreifen, den Klimawandel stoppen, indem sie
die Produktionsmittel vergesellschaften etc.
„ Forderungen im Sinne der internationalen Solidarität
und des Antirassismus müssen in den Vordergrund rücken,
da die Bekämpfung des Sozialdumpings nicht bedeutet,
gegen die ArbeitsimmigrantInnen zu kämpfen, sondern
vielmehr für Tarifverträge und Gesetze, mit denen die
UnternehmerInnen an deren Unterbezahlung und
Überausausbeutung gehindert werden. Die Länder
Europas müssen die Flüchtlinge selbstverständlich aufnehmen und die Kosten dafür auf die Reichen abwälzen, statt
sie der Sozialversicherung aufzubürden.
„ Wir treten für einen Bruch mit der EU ein, die auf der
neoliberalen Doktrin des Lissabonner Vertrags gründet.
Hierbei sind auch Referenden ein nützliches Instrument,
um die gegenwärtigen europäischen Institutionen zu
zerschlagen.
„ Wir treten für eine andere Form der europäischen
Kooperation ein, wo die demokratisch getroffenen Beschlüsse der Mitgliedsländer respektiert werden, einschließlich derer zur eigenen Wirtschaftspolitik. Diese Kooperation betrifft auch Umweltpolitik, Klimawandel, Aufnahme
der Flüchtlinge, Unternehmensbesteuerung etc. und
gründet auf zwischenstaatlichen Minimalabkommen, über
die selbstverständlich hinaus gegangen werden kann.
Natürlich müssen diese Forderungen in den Parlamenten
dargelegt werden, aber an vorderster Stelle gilt es, unverzüglich eine Bewegung aufzubauen, die dafür eintritt.
Solche Bewegungen müssen in allen Ländern entstehen,
auf der Basis internationaler Zusammenarbeit und grenzübergreifender Solidarität für ein alternatives Programm
zu Europa. Erste vielversprechende Ansätze gab es bereits
in der Flüchtlingssolidarität, im Kampf gegen den Klimawandel oder bei bestimmten gewerkschaftlichen Ansätzen.
Der legitime Widerstand der Völker gegen die kapitalistische EU, der sich unter verschiedenen Aspekten von
Nord bis Süd ausbreitet, darf nicht den Parteien der
fremdenfeindlichen Rechten überlassen bleiben, da diese
in keiner Weise die Interessen der Arbeiterklasse vertreten,
sondern deren Gegenteil. Glücklicherweise gibt es
Anzeichen, dass auch die Linke im übrigen Europa ihre
Illusionen über die Reformierbarkeit der EU verliert und
zunehmend erkennt, dass ein „Plan B“ erforderlich ist,
Inprekorr 5/2016 13
DOSSIER: BREXIT
nämlich eine Alternative, sobald der Austritt aus der EU
ansteht.
Die europäische Linke muss ihre Stelle als Avantgarde
im Kampf gegen die kapitalistische und neoliberale
Maschinerie mit dem Namen EU wiederfinden.
Kopenhagen, 2. Juli 2016
Erklärung des Exekutivkomitees der SAP, dänische Sektion der
IV. Internationale
Übersetzung: MiWe
„
DIE EU NACH DEM
BREXIT – IN EINER
POLITISCHEN KRISE ODER IN EINER
UNLÖSBAREN
STRUKTURKRISE?
Das Brexit-Votum ist für Linke ganz bestimmt
kein Grund zum Jubeln. Weder können wir an
der Motivation der übergroßen Mehrheit der
Brexit-BefürworterInnen1 noch an dem politischen Ergebnis anknüpfen: Die Angriffe auf die
sozialen Sicherungssysteme werden zunehmen,
der Zuzug von Arbeitskräften aus Osteuropa und
von Flüchtlingen wird weiter erschwert, die rassistische Spaltung der Klasse wird sich vertiefen
… ganz zu schweigen von dem durch das Votum
begünstigten Aufschwung rassistischer Kräfte in
anderen EU-Ländern. Jakob Schäfer
Selbst für diejenigen, die (wie wir) die EU als eine Institution im Interesse des Kapitals ablehnen und sich eine Schwä14 Inprekorr 5/2016
chung dieser Macht wünschen – wie verheerend die EU
wirkt, haben am dramatischsten die Menschen in Griechenland zu spüren bekommen –, gibt es keinen Grund
zum Feiern.
Aber auch den Herrschenden in Europa kommt diese
Entwicklung höchst ungelegen. Zwar können KapitalistInnen in Großbritannien die zu erwartende Vertiefung
der Spaltung unter den abhängig Beschäftigten für sich
nutzen, aber viel gewichtiger sind die jetzt befürchteten
Behinderungen für den Warenverkehr. Nicht grundlos
hatten sich mehr als 80% der Mitglieder des britischen
Industriellenverbandes CBI (Confederation of British
Industry) gegen den Brexit ausgesprochen.2 Ganz aktuell
können wir hinzufügen: Der CBI stützt die von der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC (PricewaterhouseCoopers) erstellte Analyse, nach der die britische Wirtschaft durch den Brexit bis 2020 (kumuliert) einen Verlust
von ca. 100 Mrd. £ erleiden wird.3 Und für den Finanzsektor sieht die Sache erst recht nicht rosig aus, denn es
bahnt sich eine Neuaufteilung der Finanzmärkte in Europa
an. Die City, genauer die im gesamten Königreich ansässigen Banken, brauchen ausländische Anlagen, wenn sie
weiterhin 8% zum BIP der britischen Wirtschaft beitragen
sollen.4 Da nun aber das Pfund schon abwerten musste und
weiter unter Druck stehen wird, stellt sich die Frage,
welchen Sinn es macht, dort Gelder anzulegen. (Ein
Großteil der Bankgeschäfte allerdings bleibt vom Brexit
relativ unberührt, vor allem der Derivaten-und Devisenhandel, in dem die City weltweit führend ist.)
Sicher sind die unmittelbar wirtschaftlichen Überlegungen nicht für alle Teile des Bürgertums die einzige
Richtschnur für ihr Handeln. Das britische Bürgertum
(mindestens, was ihre politischen Vertreter angeht) war
und ist gespalten. Aber: Es stellt sich doch die Frage, ob –
für die längerfristigen Interessen der bürgerliche Klasse –
dieser „Betriebsunfall“ auf dem Weg zu einer weiteren
Integration des europäischen Kapitals vermeidbar war oder
ob es für diese offen ausgebrochene Krise nicht doch tiefer
liegende Gründe gibt.
Brexit: Ausdruck einer politischen Krise?
Ganz zweifellos waren die parteiegoistischen Motive der
britischen Konservativen (verstärkt durch persönliche
Karriereplanungen) der Auslöser dafür, dass sie ihr Heil in
einem Referendum suchten. Hierüber wollten sie sich als
Regierende absichern, angesichts der größer werdenden
Zweifel und auch strikter Ablehnung in großen Teilen der
Bevölkerung. Die Gegnerschaft zu „Europa“ wurde
DOSSIER: BREXIT
allerdings – nicht erst seit gestern – vor allem mit chauvinistischen Begründungen vorangetrieben.
Der Nährboden für diese Bestrebungen: Eine wachsende Zahl von Menschen wurde und wird – nicht nur als
Ergebnis von Thatchers Deindustrialisierungspolitik – abgehängt.5 Die Krise 2007 ff – wie auch der Blick nach
Südeuropa – wurde von vielen Menschen (mangels einer
starken glaubwürdigen linken Alternative) in traditionell
chauvinistischer Weise verarbeitet. Sie schlussfolgerten:
„Das wollen wir auf keinen Fall und wir wollen nicht noch
mehr Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa (vor allem aus Polen); und wir wollen nicht noch mehr
Flüchtlinge. Wir wollen, dass die Grenzen dichtgemacht
werden!“
So erscheint zwar die Politik der EU wie auch der Troika als ein wesentliches Element für die Zuspitzung der
EU-Ablehnung in den letzten Jahren. Der politökonomische und institutionelle Hintergrund für das Ausbrechen
der offenen Krise liegt aber in der Struktur dieses Gebildes.
Galia Trépère (siehe den Artikel in dieser Inprekorr) hat
das gut dargelegt. Wir verweisen auf ihren Beitrag und
wollen an dieser Stelle nur kurz zitieren:
„Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar
gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum
mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der
Lage, ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei
dient, den Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit dem ‚nationalen‘ Kapital eint. Die verschiedenen Krisen, die die EU
erlebt hat, haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der Kräfteverhältnisse, die von den reichsten
und mächtigsten Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt werden. […]
Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der
Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung
der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen
der jeweiligen ‚nationalen‘ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits.“6
Mit anderen Worten: Es liegt gerade nicht an den
jeweils Regierenden, dass die EU Glaubwürdigkeitsprobleme hat und bei der weiteren Integration nicht mehr
vorankommt. Die in Maastricht und Lissabon verkündeten
Ziele – nämlich als geeinte Wirtschaftsmacht den anderen
Mächten die Stirn zu bieten – rücken in immer weitere
Ferne. Wenn das Kapital sich heute so sehr „transnationalisiert“ und der Nationalstaat demzufolge eigentlich der
Vergangenheit angehört: Wieso gelingt es nicht, über die
Wirtschafts- und Währungsunion hinauszukommen und
eine europäische Wirtschaftsmacht zu etablieren? Dazu
bräuchte es einen Bundesstaat. Die Frage ist, warum es
dazu nicht kam und unter den Bedingungen des 21.
Jahrhunderts nicht kommen kann. Dazu ein kurzer Blick
auf aktuelle Strukturtendenzen des Kapitals.
Nationales oder transnationales Kapital
Ohne jeglichen Zweifel schreitet die Konzentration und
Zentralisation des Kapitals länderübergreifend voran.7
Welches ist die Basis für die politökonomischen Grundsatzentscheidungen der Herrschenden? Ernest Mandel
schreibt: „Von Natur aus duldet das Kapital in seiner
Expansion keinerlei geographische Schranken.“8 Aber
Mandel hebt auch hervor: „Das Kapital hat die Neigung,
internationale Expansion mit der Herausbildung und
Konsolidierung nationaler Märkte zu kombinieren.“9
Das Ganze geht auch heute nicht ohne den Einsatz
politischer Macht, weshalb Mandel auch schreibt, dass
„sowohl das Verhältnis zwischen nationaler und internationaler Expansion als auch das zwischen kapitalistischen
Entwicklungsgesetzen und bewußter Benutzung der
Staatsgewalt zu ökonomischen Zwecken eine neue
Dimension [annimmt].“10
Und weiter: „Die allgemeine Aufteilung der Welt
unter imperialistische Großmächte, selbst eine Folge der
Einengung der kapitalistischen Konkurrenz auf dem
Innenmarkt, kulminiert in einer Verschärfung der internationalen Kapitalkonkurrenz auf dem Weltmarkt, in
interimperialistischer Konkurrenz und in einer Tendenz
zur periodischen Neuverteilung dieses Weltmarktes, auch
mittels Waffengewalt, d. h. imperialistischen Kriegen.“11
Mandel fügt hinzu: „Im Spätkapitalismus wird der
internationale Konzern die bestimmende Organisationsform des Großkapitals…. [Der tiefere Grund dafür liegt
darin, dass] das Wachstum der Produktivkräfte den
Rahmen des Nationalstaates durchstößt, d. h. daß die
Mindestgrenze der Rentabilität, mit der gewisse Waren
erzeugt werden können, Serien erfordert, die den Absatzmarkt verschiedener Länder umschließen.“12
Wie vollzieht sich nun die internationale Konzentration und Zentralisation des Kapitals konkret, wo liegt die
Verfügungsgewalt und wie sieht dann das Verhältnis zu
dem einen oder anderen Staat aus?
Winfried Wolf schreibt: „Es ist kein Zufall, dass
Inprekorr 5/2016 15
DOSSIER: BREXIT
Großbritannien an EADS nicht beteiligt wurde und dass
der britische Rüstungsriese BAE inzwischen stärker in den
USA als in Europa verankert ist. Erst aufgrund des Fehlens
eines ‚europäischen Kapitals‘ konnte es diesen ‚Riss‘ in der
britischen Kapitalistenklasse und in derselben eine Minderheitsfraktion geben, die für den Brexit eintrat.“13 W.
Wolf nennt als einen entscheidenden Grund dafür, dass es
zu keiner europäischen Bourgeoisie gekommen ist: die
„nationalen Beharrungstendenzen aller großen nationalen
Bourgeoisien im Allgemeinen und in dem Dominanzstreben der herrschenden Klasse in Deutschland im Besonderen. […] Zweitens ist eine solche EU gescheitert, weil der
entscheidende jüngere Schritt zur kapitalistischen Vereinheitlichung, die Einheitswährung, zur internen Spaltung
der EU führte und auf deutliche ‚nationale‘ Widerstände
stößt.“14
Zur Erläuterung: Vollkommen unabhängig vom
Willen der einen oder der anderen Regierung hat die
Einführung der Einheitswährung für so unterschiedliche
nationale Volkswirtschaften wie die des Euroraums aus
strukturellen Gründen katastrophale Folgen: Die schwächeren Volkswirtschaften können ihre Industrie nicht
mehr durch Abwertungen schützen. Am Anfang profitierten diese Länder von den gesunkenen Kreditzinsen. Aber
schon nach wenigen Jahren wurden sie niederkonkurriert
und können sich nicht mehr wehren. Die Kluft in der EU
wurde also allein schon deswegen größer, statt kleiner.
Mit der Stringenz nüchterner politökonomischer
Analyse schrieb Mandel bereits 1972: „Aber eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Handelspolitik, eine
gemeinsame Steuerpolitik, eine gemeinsame Politik von
strukturändernden öffentlichen Arbeiten ist ohne eine
Bundesregierung mit Steuerhoheit, Finanzhoheit und eine
die Autorität garantierende exekutierende Repressionsgewalt, d. h. ohne einen gemeinsamen Staat, auf die Dauer
unmöglich.“15
Genau in dieser Falle steckt nun die EU, zuvörderst die
Eurozone. Einen Bundesstaat auf europäischer Ebene zu
bilden, ist vor allem aus den Gründen der gewaltigen
wirtschaftlichen Ungleichheit unmöglich. Die Kosten
einer Angleichung auf ein für die Menschen akzeptables
Lebensniveau sind nicht zu stemmen, von den sonstigen
Schwierigkeiten, die dann auf der institutionellen Ebene,
der kulturellen (sprachlichen) und politischen Ebene
entstünden, ganz abgesehen.16 Würde ein Anlauf in diese
Richtung unternommen – mit der zu befürchtenden
dramatischen Angleichung der Lebensverhältnisse nach
unten – dann käme es in kürzester Zeit zu neuen Austritts16 Inprekorr 5/2016
referenden (Niederlande, Frankreich usw.). Es wäre das
endgültige Aus für die EU.
So kann die EU über einen gemeinsamen Markt nicht
hinauskommen. Und wenn der Euro beibehalten wird,
können die Probleme in keinem Fall kleiner werden. Das
Beispiel Griechenland wird sich zwangsläufig wiederholen, und zwar völlig unabhängig davon, wer in Berlin
Finanzminister ist. So könnte schon Italien der nächste Fall
sein. Dort sind die Banken so marode (sie sitzen auf faulen
Krediten von deutlich mehr als 360 Mrd. €17), dass ohne
die Beschränkungen durch die EU der italienische Staat
schon längst eingegriffen hätte (es sind nämlich zu viele
Kleinsparer betroffen, was bei einem Run auf die Banken
zu einem totalen Zusammenbruch des Finanzsektors
führen kann, mit Auswirkungen weit über Italien hinaus).
Die EU will diese Intervention aber (noch) nicht erlauben,
weil dies „Schule machen würde“. Die Auflagen der EU
sind nicht nur eine Folge davon, dass sie aus politischen
Gründen gegenüber der aufgebrachten Öffentlichkeit hoch
und heilig versprochen hat, dass der Bankenfreikauf von
2008/09 sich nicht wiederholen wird. Der objektive
Grund: Die Mittel der öffentlichen Haushalte sind heute
stark eingeengt, schließlich wurde mit den damaligen
Bankenrettungsprogrammen die Krise in die Staatshaushalte vieler Länder (und damit indirekt auch in die EU als
Gesamtgebilde) geholt.
Letztlich stellt sich für das in Europa fungierende
Kapital das Problem, wie es Ernest Mandel beschrieb, als er
über die damalige EWG ausführte: „Genauso wie innerhalb dieser internationalen Konzerne keinerlei Hegemonie
geduldet wird, so kann auch die dieser Form des Kapitals
kongruente Staatsform auf die Dauer weder die Vormacht
eines einzigen bürgerlichen Nationalstaates gegenüber
anderen noch die lose Konföderation souveräner Nationalstaaten sein, sondern nur ein durch Übertragung entscheidender Souveränitätsrechte gekennzeichneter supranationaler Bundesstaat.“18
Und genau hier liegt die Crux der EU im 21. Jahrhundert: Für eine solche Übertragung der Souveränitätsrechte
gäbe es folgende Lösungsansätze: Entweder sie wird mit
Schwert und Feuer durchgesetzt, vergleichbar der deutschen Reichsgründung 1871. Dies ist aber unter den
heutigen Bedingungen der fortgeschrittenen Internationalisierung der Produktion wie auch des Absatzes auf dem
Boden der imperialistischen Mächte keine Erfolg versprechende Perspektive. Die Rückschläge für die Profitaussichten auf Jahre und Jahrzehnte hinaus wären zu gravierend, von den mangelnden militärischen und erst recht
DOSSIER: BREXIT
politischen Erfolgsaussichten eines solchen Abenteuers im
21. Jahrhundert mal ganz abgesehen.
Die zweite Möglichkeit bestünde in einer wirtschaftlichen Dynamik, die alle betroffenen Länder – quasi
„freiwillig“ – mitziehen lassen würde. Aber genau diese
Dynamik existiert nicht und ist angesichts der stagnativen
bis stellenweise sogar rezessiven Phase der derzeitigen
langen Welle des Kapitalismus auch überhaupt nicht
absehbar. Auf dieser Grundlage kann also die bisherige
relative Dominanz des deutschen Bürgertums (oder auch
des hauptsächlich in Deutschland basierten Großkapitals)
nicht zu einer alles beherrschenden absoluten Dominanz
ausgebaut werden. Dies wäre dann möglich, wenn die
deutsche Wirtschaft beispielsweise dreiviertel des EU-BIP
ausmachen würde (heute sind es aber gerade mal 27%)
oder wenn die wirtschaftliche Entwicklung in ganz
Europa über längere Zeiträume hohe Zuwachsraten
aufweisen könnte.
Heute ist aber das Gegenteil der Fall: Die wirtschaftliche Ungleichheit in den einzelnen Ländern ist so groß,
dass eine Angleichung der Verhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist, und zwar nicht nur
wegen der gewaltigen Transfers an Wirtschaftsressourcen,
die nötig wären, um eine funktionierende Nationalökonomie auf europäischer Ebene zu schaffen, was übrigens auch
die Herausbildung einer europaweit sich ausgleichenden
Profitrate voraussetzen würde. Heute wächst sogar die
Kluft zwischen Deutschland, den Niederlanden und
Österreich auf der einen Seite und den anderen Ländern
des „Kerneuropas“ (etwa Frankreich und Italien) auf der
anderen Seite. Dies wird auch noch dadurch gefördert,
dass der deutsche Staat von dem Schuldendienst der
anderen Länder profitiert, denn deutsche Staatsanleihen zu
kaufen, bringt den Käufern zurzeit nur Negativzinsen und
dem deutschen Finanzminister tatsächliche Einsparungen.
In wirtschaftlich unsicheren Zeiten profitieren immer die
„sicheren Häfen“, was also die Kluft nur vergrößern kann
und vergrößern wird.19
Machtblöcke und transnationale Konzerne
Zu diesen Schwierigkeiten gesellt sich eine weitere hinzu:
Im internationalen Kampf um Einflusssphären, Zugriffsrechte auf bestimmte Rohstoffe usw. spielen die internationalen Machtblöcke nach wie vor eine bedeutende Rolle.
Die über Jahrzehnte existierende Tripolarität (Nordamerika, Europa, Japan) hat sich aber stark verändert:
„ Eine Reihe von Schwellenländern (BRICS) spielt
inzwischen auf der internationalen Bühne eine gewisse
Rolle und kann gewissen Konzernen aus den alten
imperialistischen Mächten durchaus Konkurrenz machen.
„ Vor allem China baut seine Machtstellung sehr zielstrebig aus (Landkauf in Afrika, Kauf von Rohstoffquellen
und Infrastruktureinrichtungen in allen Teilen der Welt,
staatlich gesteuerter Kauf von Hochtechnologie – Kuka ist
nur das letzte Beispiel – usw.). Inzwischen wird diese
Machtpolitik sogar militärisch abgesichert (s. die Besetzung sowie Schaffung von „künstlichen“ Inseln im
südchinesischen Meer).
„ Die USA stehen heute ökonomisch schwächer da als
noch in den 1970er Jahren und bauen deswegen noch mehr
auf ihre militärische Überlegenheit wie auch wieder
verstärkt auf die Rolle ihrer Leitwährung.
Kurz: Die EU konnte die Einbußen in der ökonomischen
Dominanz der USA aufgrund ihrer strukturellen Probleme nicht nutzen. Sie ist zwar ein wichtiger Absatzmarkt,
aber als gemeinsam handelnder Faktor heute tendenziell
eher wieder von abnehmender Bedeutung. Das drückt sich
nicht nur in der sinkenden Bedeutung des Euro als
Reservewährung aus. Auch militärisch sind die EU-Kapazitäten (im Vergleich zu den Großmächten) bescheiden. So
bleibt die EU weiterhin stark an die USA angelehnt. Eine
von den USA unabhängige – oder ihr gar widerstreitende
– Politik ist ihr aufgrund der nicht lösbaren Strukturprobleme nicht möglich. Die USA werden kein Interesse daran
entwickeln, dass die EU zerfällt, aber als ernsthafter,
„herausfordernder“ machtpolitischer Konkurrent ist die
EU zweite Liga.
Bestimmte Kapitale – nämlich diejenigen, die in einem
bestimmten Block (erst recht in einer bestimmten Nation)
ihre Eigentümerbasis haben – setzen aber auf eine enge
Unterstützung „ihres“ Blocks oder „ihrer“ Nation. Dies
umso mehr, als in Zeiten weltwirtschaftlicher Krisen die
Unterstützung durch den Staat heute eine größere Rolle
spielt als etwa im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Aus den Erfahrungen nach dem Auslaufen der expansiven
Phase der kapitalistischen Entwicklung nach dem II.
Weltkrieg schlussfolgerte Mandel: „Die einzige Prognose,
die man aus dieser Erfahrung ableiten kann, ist, daß
multinationale Konzerne nicht nur eines Staates, sondern
besonders eines stärkeren Staates als des ‚klassischen
Nationalstaates‘ bedürfen, um die ihre riesigen Kapitalien
periodisch bedrohenden Wirtschafts- und Gesellschaftswidersprüche wenigstens teilweise überwinden zu können.“20
In Mandels Analyse sind multinationale Konzerne, die
gegenüber der Staatsmacht „indifferent sind“, eher als eine
Inprekorr 5/2016 17
DOSSIER: BREXIT
Zwischenform (als eine Übergangsform) anzusehen. Denn
früher oder später bemühen sich auch diejenigen Konzerne, die eine multinationale Eigentümerbasis haben, um die
„Benutzung der Staatsgewalt zum Zweck der Verteidigung der eigenen Interessen gegen Konkurrenten.“21
Gerade das Scheitern der Herausbildung eines europäischen Bundesstaates ist für EU-beheimatete Konzerne eine
gewisse Ernüchterung. Die Rückendeckung, die sie sich
möglicherweise noch vor 15 oder 20 Jahren von einer
zusammengewachsenen EU erhofften, ist im Konkurrenzkampf mit außereuropäischem Kapital nur begrenzt zu
erwarten. Dass diese Konzerne allerdings auf innereuropäischer Ebene sehr wohl die Unterstützung der EU-Institutionen haben – vor allem, wenn es um weitere Privatisierungen, Sozialabbau, Abbau von Gewerkschaftsrechten
usw. geht –, muss an dieser Stelle sicher nicht extra
hervorgehoben werden.
Die Tatsache, dass die EU auf absehbare Zeit nicht über die
Ansätze eines Protostaates hinauskommt, hat zur Folge:
a. dass sie das internationale Kräfteverhältnis nicht zu
ihren Gunsten (und damit zugunsten des hauptsächlich
europäisch beheimateten Kapitals) verändern kann;
b. dass die Krise der EU als politökonomisches Projekt
und die Selbstbeschäftigung der EU-Institutionen zwangsläufig andauern werden, ganz gleich, wer gerade im
geschäftsführenden Ausschuss zur Umsetzung der Kapitalinteressen (d. h. vor allem in den Regierungen Kerneuropas) sitzt.
c. Je nachdem, wie sich dieser geschäftsführende Ausschuss anstellt, kann dies die Austrittsbestrebungen in
anderen Ländern fördern, was die Krise noch verschärfen
würde. Sie wird sich auch ohne weitere Referenden dann
verschärfen, wenn rechtsextreme Parteien Zulauf bekommen. Auch die Fortsetzung der Erpressungspolitik
gegenüber Griechenland (tendenziell auch gegenüber
Portugal) wird die Wogen des politischen Unmuts nicht
gerade glätten.
Diese erschwerten Bedingungen sind natürlich dem
Kapital wie auch den Regierenden bekannt. Es ist deswegen damit zu rechnen, dass in nächster Zeit verstärkt der
Wunsch nach einer Konzentration auf ein Kerneuropa
bzw. auf ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“
vorangetrieben wird. Allerdings wird eine solche Option
aus politischen Gründen (die Grundlagenverträge müssten
neu ausgehandelt werden) kaum zu realisieren sein, und
zwar allein schon deswegen, weil beispielsweise Polen und
andere osteuropäische Länder bei Laune gehalten werden
18 Inprekorr 5/2016
sollen (sie spielen in der Einkreisungspolitik gegenüber
Russland eine wichtige Rolle).
Welche Perspektiven des Widerstands und der
Entwicklung eines Gegenmodells?
Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, dass die EU
nicht einfach nur falsch oder schlecht regiert wird und
eine Reihe von Demokratiedefiziten hat. Dieses kapitalistische Projekt hat beispielsweise die Personenfreizügigkeit nur als ein Beiwerk eingeführt, denn auf dem
Weg einer weiteren Integration mussten auch die
Arbeitskräfte frei sein, durften also keinen regionalen
(oder gar vorkapitalistischen) Einschränkungen unterworfen bleiben. Die Menschen „mitnehmen“ war somit
nicht nur politisch wichtig, es entspricht auch kapitalistischer Vernunft.
Wenn nun in der nüchternen Analyse die EU kein
Projekt im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung ist und
sie auch nicht in unserem Sinne reformierbar ist, so ist sie
natürlich noch lange nicht für die Mehrheit der Menschen
„erledigt“, jedenfalls ganz bestimmt nicht in den Kernländern. Selbst in Griechenland wird die EU immer noch von
großen Teilen der Bevölkerung nicht grundsätzlich
abgelehnt, weil mit dieser Institution gewisse Errungenschaften (vor allem die Reisefreiheit, der Aufschwung in
den frühen 2000er Jahren, der Touristenstrom usw.)
verbunden werden.
Es wird deshalb in keinem Fall reichen, die EU zu
kritisieren und ihr ein alternatives Wunschmodell gegenüberzustellen. Klar muss sein – erst recht nach dem
vorwiegend fremdenfeindlich motivierten Brexit-Votum
–, dass wir (bzw. die linken Kräfte in Europa) keine
Bewegung für ein anderes Europa erschaffen können,
mehr oder weniger aus dem Nichts. Dafür gibt es heute
keine ausreichende Basis. Solche Initiativen von linken
Kreisen hängen faktisch in der Luft.
Wir sind darauf angewiesen, dass Widerstandsbewegungen entstehen, die sich nicht einfach nur gegen die
„EU-Bürokratie“ oder dergleichen richten. Und nur an
solchen Bewegungen können wir positiv anknüpfen, die
sich nicht gegen Einwanderungen usw. richten, sondern
auf grenzüberschreitende Solidarität bauen. Solche
Bewegungen sind heute absolute „Mangelware“, selbst im
gewerkschaftlichen Bereich, wo Widerstand gegen die
Politik von Konzernen mehr denn je angesagt ist. Auch der
Widerstand etwa gegen die Stellenabbaumaßnahmen von
Alstom (heute General Electric) ist ein mühsames Geschäft
und kommt schon auf der nationalen Ebene über kleinere
DOSSIER: BREXIT
Aktionen kaum hinaus (nicht überall gibt es eine solche
Basis für Widerstand wie in Mannheim).
Dessen ungeachtet ist es sinnvoll und wichtig, sich über
einige Grundlagen zu verständigen, weil ein rein defensiver Kampf ohne klare Vorstellung der künftigen, auch der
weit in der Zukunft liegenden Ziele schnell in eine
Sackgasse geraten kann.
1. Der Schwerpunkt unserer Aktivitäten gegen die Politik
der EU (bzw. der Troika) kann nicht auf der Propaganda
für die sozialistischen Staaten von Europa liegen (abgesehen davon, dass für unser Fernziel auch diese letztlich nur
ein Zwischenstadium darstellen können; alle sozialen wie
politischen Grenzen müssen im Interesse einer humanen
Gesellschaft überwunden werden). Die Bemühungen
müssen sich auf die Unterstützung von defensiven Kämpfen konzentrieren (offensive sind ja leider vorläufig
unrealistisch).
2. In diesen Kämpfen allerdings ist unsere Argumentation
keine zweitrangige Angelegenheit. Sie muss nicht nur nachvollziehbar sein, sie muss auch lang fristig in sich schlüssig
sein. So sollten wir nicht für einen Ausbau der Demokratie
in den EU-Institutionen argumentieren, denn dies würde
die Illusion fördern, dass wir die EU grundsätzlich für in
unserem Sinne als reformierbar erachten. Schließlich kann
die EU aus den genannten strukturellen Gründen niemals
zu einer sozialen Union werden.
3. Auch kann eine Forderung nach einer Ausdehnung der
Kompetenzen des Europaparlaments für uns keine in sich
schlüssige und zukunftweisende Argumentation eröffnen.
Das Europaparlament wird nicht dadurch zu einem
Instrument der Demokratie von unten, dass wir ihm mehr
Kompetenzen verschaffen. Hier stellt sich schon die Frage:
Kompetenzen wofür und um welche Interessen durchzusetzen? Etwa mehr Kompetenzen dafür, dass es mit den
Tausenden Lobby-Verbänden direkter verhandeln darf?
Das EU-Parlament kann nicht losgelöst vom Gesamtprojekt der kapitalistischen EU und den Funktionsweisen
eines bürgerlichen Parlaments gesehen werden.
4. Unsere Vorstellungen eines anderen Europas, für das
wir bei unserem Eingreifen in diese Kämpfe argumentieren, müssen im Kern auf Folgendem auf bauen und für
Nicht-Linke nachvollziehbar erläutert werden:
a. Die entscheidende Kraft für die Durchsetzung eines
anderen, eines solidarischen, zukunftssicheren, friedlichen
und ökologisch ausgerichteten Europas ist die Klasse der
Lohnabhängigen. Die Gewerkschaften müssen für diese
Ziele gewonnen werden, Abwehrkämpfe gegen die Politik
der Konzerne müssen international geführt werden.
b. Dieses andere, zukunftsweisende Europa kann nur dann
den Interessen der großen Mehrheit gerecht werden, wenn
das Kapital enteignet wird. Das stellt unvermeidbar die
Machtfrage. Innerhalb des kapitalistischen Systems ist eine
gerechte und von gesellschaftlicher Unterdrückung freie
Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung nicht möglich. Es
braucht eine demokratisch geplante Wirtschaft. Eine
Fortexistenz von Kapital ist damit unvereinbar, genauso
wie es innerhalb des Kapitalismus keine partizipative und
kooperative Wirtschaftsweise geben kann.
c. Politisch kann eine solche andere Gesellschaftsordnung
nicht mit den bürgerlichen Machtinstrumenten bewerkstelligt werden, also mit einer abgehobenen Regierung,
die von einem nicht abwählbaren Parlament für vier oder
mehr Jahre bestimmt wird. Die beste bisher bekannte
Form der politischen Partizipation und gemeinschaftlicher
Machtausübung (d. h. Entscheidungsgewalt in gesellschaftlichen Fragen) ist die Rätestruktur. Dort ist auf der
jeweils für diese Fragen relevanten Ebene nach offener und
demokratischer Debatte zu entscheiden.
d. Eine Etappentheorie, nach der wir zuerst eine „demokratischere EU“ schaffen und dann weiter kommen,
beruht auf purer Illusion, einer gefährlichen Illusion, weil
sie von den entscheidenden Fragen ablenkt und zwangsläufig in eine Sackgasse führen muss.
e. Und in keinem Fall kann eine Linke, die sich nicht
selbst ad absurdum führen will, den entscheidenden Fragen
ausweichen und etwa populistischen Bestrebungen
anheimfallen, wie dies beispielsweise Sahra Wagenknecht
schon zum wiederholten Mal in der Flüchtlingsfrage
gemacht hat. Dies kann nur Verwirrung stiften und uns
inhaltlich und argumentativ schwächen. Von solchen
Irrungen muss eine sich selbst ernst nehmende Linke
öffentlich distanzieren.22
Für den Auf bau von revolutionären Kräften, die sowohl
am Auf bau einer breiten, möglichst internationalen
Widerstandsfront beteiligt sind, als auch in der politischen
Ausarbeitung zukunftsweisender Perspektiven engagiert
sind, bleibt noch viel zu tun.
1. 8. 2016
1 Phil Hearse hat sicherlich Recht, wenn er schreibt: „[The]
political content is that Brexit won because of mass hostility to
immigration. Much of that is racist or at least xenophobic.”
http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article38303
2 S. Costas Lapavitsas in seinem Beitrag „Warum Brexit?“ in
Lunapark21, Heft 34 (Sommer 2016)
Inprekorr 5/2016 19
DOSSIER: BREXIT
3 http://news.cbi.org.uk/news/leaving-eu-would-cause-aserious-shock-to-uk-economy-new-pwc-analysis/
4 Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert unter 5%.
5 Christian Bunke hat diese Entwicklung recht anschaulich
zusammengefasst: „Die soziale Lage arbeitender Menschen in
Großbritannien“, in Lunapark21, Nr. 34, S. 44 ff
6 Weiter führt sie aus: „Die EU ist außerstande, mit dieser
Logik zu brechen, da sie – anders, als ihre „Gründerväter“
glauben machen wollen – nicht aus dem Willen der Völker zur
Zusammenarbeit entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den
USA auf den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich
gegen deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren
wollen.“
7 Siehe dazu auch Kapitel 10 in Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt (suhrkamp) 1972
8 ebenda, S. 289; Mandel verweist hier zusätzlich auf Marx,
MEW 25, 345 f.
9 ebenda, S. 290
10 ebenda, S. 290
11 ebenda
12 ebenda, S. 294
13 „Die Troika auf den Champs-Élysées!“, Lunapark21 Nr.
34, S. 6
14 ebenda
15 Mandel, a. a. O. S. 305
16 Die überschlägige Rechnung des Autors für die erforderlichen Summen für eine auch nur annähernde Angleichung der
Lebensverhältnisse in der EU-28 (künftig 27) geht in die
Richtung von mindestens 3 % des jährlichen BIP der Kernländer über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren. Das sind unvorstellbare Summen und würde – wenn es zu keiner Konfiszierung der Profite und zu keiner Enteignung des Kapitals führen
soll, zu einem beispiellosen Reallohnabbau und zur Vernichtung der sozialen Sicherungssysteme führen, kurz zu einer
Senkung des Lebensstandards in D, F usw. um ca. 50 %!
17 Spiegel online v. 12.7.2016: „Zusammengenommen hat
Italiens Finanzbranche Kredite von insgesamt 360 Milliarden
Euro in ihren Bilanzen, die, freundlich gesagt, ‚problematisch‘
sind. Das sind rund 20 Prozent aller ausgegebenen Kredite.
Von diesen gelten bis zu 200 Milliarden als ‚wahrscheinlich
unwiederbringlich‘, wie Branchenprofis es ausdrücken.“
18 Mandel, a. a. O. S. 304
19 Schon 2014 brauchte der Bundeshaushalt aufgrund der
Euro-Krise und dem Run auf sichere Anleihen im Vergleich
zu 2008 29,61 Mrd. € weniger Zinsen zahlen. Inzwischen hat
sich diese Entwicklung so weit fortgesetzt, dass in den
Monaten März, Mai und Juni 2016 der Bund über seine
Kredite (Staatsanleihen) mehr Geld einnimmt, als er dafür
zahlen musste. Er „verdiente“ im zweiten Quartal 2016 mit
seinem Schuldenmachen sage und schreibe 1,5 Mrd. €.
Spiegelonline, 1. 8. 2016
20 Mandel, a. a. O. S. 307
21 ebenda, S. 306
22 Die Erklärung der AKL vom 26. 7. (Thies Gleiss) ist
wohltuend, genauso wie die anderer Mitglieder der Partei
(Van Aken, Pflüger usw.). Wir sollten aber nicht vergessen,
20 Inprekorr 5/2016
dass dies kein einmaliger Ausrutscher Sahra Wagenknechts ist.
Zu ihren (und Lafontaines) populistischen Äußerungen
schrieb der Autor im Zusammenhang mit der Verschärfung
der Politik gegenüber Flüchtlingen nach der Silvesternacht
von Köln: „Solange also diese vom Imperialismus beherrschte
Weltunordnung existiert, verbietet es sich unserer Ansicht
nach auch für eine Politikerin der Partei Die Linke, sich in der
Form zu äußern wie Sahra Wagenknecht (ähnlich auch
Lafontaine) sich gegenüber dem Spiegel äußerte: ‚Wir können
nicht jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen.‘ (Spiegel
online 12. 12. 2015). Damit wird letztlich (wenn auch
ungewollt) nur die Politik der RassistInnen bedient.“
TÜRKEI
EIN ZWEIFACHER
STAATSSTREICH
Der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli liefert dem Staatspräsidenten
Erdo˘gan die Handhabe, seinen in den Monaten zuvor begonnenen „zivilen
Staatsstreich“ zu akzentuieren und den autoritären Umbau des Regimes
voranzutreiben. Welche Möglichkeiten hat die türkische Linke angesichts
der dramatischen Folgen, die den unterdrückten Schichten der türkischen
Gesellschaft und besonders der kurdischen Minderheit drohen, sich aber auch
auf die syrische Revolution auswirken?
Emre Öngün
„
Der versuchte Staatsstreich in der Nacht
vom 15. Juli wirft viele Fragen auf, nicht nur über die
Urheber, sondern auch über den seither laufenden politischen Umbruch des Landes.
Noch während der Putschversuch lief und als es um
Mitternacht offensichtlich wurde, dass die Putschisten
außer den gezeigten keine weiteren Ressourcen hatten,
bestimmte Unglaube die ersten Reaktionen: Glaubten
denn diese Militärs ernsthaft, mit 1000–1500 Soldaten,
zwei F-16 und einem Hubschrauber an die Macht gelangen zu können? In der Tat war es dann auch kein Staatsstreich der Armee sondern von Militärs, genauer einer
Minderheit von Offizieren, dessen Scheitern nach wenigen
Stunden erwiesen war.
Dieser Unglaube angesichts des jämmerlichen Versuchs, bei dem nicht einmal die Regierungsmitglieder
festgenommen werden konnten und der im Nachhinein
geradezu absurd erscheint, hat zu der Annahme verleitet,
dass das Ganze von Erdoğan, der vor Falschinformation
nie zurückgeschreckt war, inszeniert war, um seine Macht
im Land zu festigen. Diese Annahme stützte sich auch
darauf, dass binnen weniger Tage mehrere Zehntausend
Beamte suspendiert wurden, was auf vorgefertigte Listen
hindeutet.
Dennoch ist diese Hypothese wenig plausibel, da
Erdoğan schon vor dem Putschversuch die Hebel in der
Hand hielt, um die politische Landschaft aufzumischen,
und – wie wir weiter unten sehen werden – bereits nach
den Wahlen vom November 2015 damit begonnen hatte.
Hinzu kommt, dass Fethullah Gülen in seiner Kolumne in
der New York Times, die voller Unwahrheiten steckt,
zwar den Putschversuch zu verurteilen behauptet, zugleich
aber nicht einmal versucht, die Theorie von der Inszenierung zu stützen. Dabei hätte er zweifellos Beweise für
diese Theorie, die ihm nur nützen könnte, auf den Tisch
gelegt, wenn er sie denn gehabt hätte. Wie aber soll man
dann diesen Putschversuch erklären und die Verantwortlichen benennen? Welche Rolle spielt dabei die Bruderschaft
Inprekorr 5/2016 21
TÜRKEI
von Gülen, dem Ex-Verbündeten von Erdoğan, der nach
seinem öffentlichen Bruch 2013 zu seinem Gegner
geworden ist?
Die erste mögliche Erklärung lautet: Die Putschisten,
hauptsächlich Gülenisten, die die Armee infiltriert haben,
hätten lieber alles auf eine Karte gesetzt, da sie befürchten
mussten, dass der Hohe Militärrat – eine gemeinsame
Instanz von Militärführung und Regierung, die besonders
über Beförderungen entscheidet – sie bei seiner nächsten
Sitzung Ende August rausgesäubert hätte.
Aber auch wenn sich die Putschisten in die Enge
getrieben sahen und sich obendrein noch ziemlich dämlich
angestellt haben, lässt sich dennoch nicht begreifen, wie sie
sich in ein derart offensichtlich zum Scheitern verurteiltes
Projekt versteigen konnten, ohne sich das geringste
Hintertürchen offen zu lassen.
Ebenso unklar ist, wie gerademal eine Hundertschaft
von Soldaten mit der Besetzung der ersten Brücke über
den Bosporus – quasi als öffentlicher Auftakt zum Putsch
– beginnen konnten, während mehrere tausend Soldaten,
deren Kommandant sich als einer der ersten vom Putschversuch distanzierte, in Istanbul stationiert waren. Wo
blieb das Erste Korps, das in Ankara stationiert ist, während der dort laufenden Zusammenstöße und der symbolischen Besetzung des Hauptquartiers der Streitkräfte? Und
wo waren die vielen anderen F-16 der türkischen Armee,
als die Putschisten mehrere Stunden nach Beginn des
Putschversuchs in Torschlusspanik das Parlament mit den
dort versammelten 100 Abgeordneten von oben bombardierten?
Die offizielle Version der AKP lautet: „Es war eine
kleine Minderheit unter den Militärs, die diese Taten
verübt hat, und das Volk hat sich gewehrt und die Demokratie gerettet,“ (eine These, auf die wir noch zu sprechen
kommen). Abgesehen davon, dass dabei die Rolle der
Polizei als Hochburg der AKP außen vor bleibt, lässt diese
ERKLÄRUNG VON YENIYOL, DER TÜRKISCHEN SEKTION DER IV. INTERNATIONALE
Gegen den Staatsstreich des Militärs und den aus dem Serail*
letzten Wahlen, als die AKP fast 50 Prozent der Stimmen für sich
organisieren wir die Front der Demokratie, bauen wir die Klas-
verbuchte, läuft eine vernünftigere Interpretation darauf hin-
senpolitik auf!
aus, zu sagen, dass die Pro-Gülen-Kräfte, denen groß angelegte
„Säuberungsaktionen“ drohten, noch schnell die Initiative zu ei-
In der Nacht des 15. Juli wurden wir plötzlich Zeugen des Ab-
nem überstürzten Staatsstreich ergriffen haben.
laufs eines Staatsstreichs mit all seinen Unsicherheiten: dem an-
Wenn wir auch noch etwas zuwarten müssen, um genauere
fänglichen Zögern, den jeweiligen Initiativen der aktiven Lager
Informationen über die Motive, die Akteure und den Kenntnis-
und der Brutalität. Man wird sich an die in dieser blutigen Nacht
stand der Geheimdienste über das Projekt zu haben, so ist es
ablaufenden Kämpfe zwischen Soldaten und Polizisten, die Be-
schon jetzt offensichtlich, dass die Konsequenz dieser Ereignisse
setzung der Medien, die Bilder von massakrierten Zivilisten und
in einer Verstärkung des islamisch-autoritären Charakters des
gelynchten Soldaten, sowie – als Höhepunkt – die Bomben auf
Erdoğan-Regimes liegen wird.
das Parlament erinnern. Dies scheint einer der letzten Akte des
Einen Tag, nachdem die Unterstützer des Regimes die „De-
Machtkampfes zwischen der AKP und der von Gülen geführten
mokratie“ mit Rufen wie „Allahu ekber“ (türk. Ausspr. für arab.
Glaubensgemeinschaft in einem Staat zu sein, den die beiden
‚akbar‘), „Recep Tayyip Erdoğan“ und „wir wollen die Todesstra-
(vormaligen) Komplizen zusammen aufgebaut haben.
fe“ „gerettet“ haben, sind die Amtsenthebungen von Tausen-
Die Hypothesen über eine Verschwörung, wonach dieser
den von Richtern und Staatsanwälten und die Verhaftung von
Putschversuch von Erdoğan selbst inszeniert wurde, um seine
hohen Beamten Zeichen dafür, dass man den Staatsapparat neu-
diktatorischen Ambitionen zu befriedigen, sind auf ein breites
erlich – und diesmal endgültig – säubern möchte.
Echo gestoßen. Dies wegen der Tatsache, dass seit den Wahlen
Die Aufrufe der staatlichen Organe und aus den Mosche-
vom 7. Juni 2015 das Erdoğan-Regime nicht gezögert hat, Cha-
en an die Menschen, auf die Straße zu gehen und das Regime
os und eine bürgerkriegsähnliche Lage zu provozieren, weil der
gegen den Putsch zu verteidigen, haben bereits am zweiten
Putsch rasch niedergeschlagen wurde und weil Mitglieder der
Abend auch zu Angriffen gegen Syrer und zu Spannungen in den
Regierung mit neuem Image in den Medien aufgetaucht sind.
Wohnvierteln der Alewiten geführt, was das gefährliche Niveau
Unter Bedingungen einer Konsolidierung des Regimes bei den
der zahlreichen Gegensätze in der türkischen Gesellschaft an-
22 Inprekorr 5/2016
TÜRKEI
Interpretation offen, warum nicht die große Mehrheit der
Armee gegen die Putschisten eingesetzt wurde. Damit
hätte dieser Aufstandsversuch sehr viel schneller und
einfacher im Keim erstickt werden können. Tatsächlich
war es so, dass die türkische Armee keinerlei Rolle in der
Abwehr des Putsches gespielt hat, sondern ganz überwiegend und gegen alle Logik der große Abwesende bei den
Kampfhandlungen war.
Wahrscheinlich werden wir auch in absehbarer Zeit
keine harten Fakten zu diesem Putschversuch liefern
können. Aber gegen einen Irrtum sollten wir gefeit sein,
nämlich den „Kemalismus“ ins Spiel bringen zu wollen, in
der Annahme, dieser entspräche einer umschriebenen
ideologischen Strömung innerhalb der Gesellschaft oder
der Armee oder einer Eigengruppe innerhalb der Militärhierarchie.
Denn bereits lange vor dem Putsch gab es – begünstigt
von dem Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bru-
derschaft – innerhalb der Armee, der Verwaltung etc. eine
Annäherung zwischen „republikanisch-etatistischen“
Sektoren, die von der Gülen-Bruderschaft ins Abseits
gestellt worden waren, und dem herrschenden Regime.
Erleichtert wurde diese Annäherung durch die Kriegspolitik gegenüber den Kurden und das gemeinsame nationalistische Grundverständnis (das übrigens auch von der
Gülen-Bruderschaft geteilt wird). Dass ein Besessener wie
Do÷u Perinçek, Karikatur eines „militaristisch-nationalistischen Ultra-Kemalisten“ auf dem AKP-Sender Akit-TV
Anfang des Jahres verbreiten durfte, dass „dies die schönste
Zeit in seinem Leben“ sei und dabei Lobeshymnen auf das
herrschende Regime vergoss, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Verfasstheit dieser Person sondern auf eine sich
anbahnende Allianz.
Auch wenn er keine eindeutigen Beweise liefert, sind
die Thesen, die der linke türkische Journalist Ahmet ùık,
einer der besten Kenner der Gülen-Bewegung, in einem
zeigt. Wir haben keinerlei Zweifel, dass Erdoğan – der jede Kritik
Politik zu reduzieren versucht, nur das Regime stärken, das auf
am Regime als Terrorismus brandmarkt und behauptet, Hoch-
blutige Art und Weise nicht nur Putsche niederschlägt, sondern
schulen, Journalisten, Beamte, Mitglieder kurdischer oder sozi-
alles, was sich ihm im Namen des „Willens der Nation“ in den
alistischer Organisationen seien Putschisten, die man verhaften
Weg stellt; und das auch nicht zögert, sogar Scharia- oder fa-
müsse – den Putschversuch ausnützen wird, um noch härtere
schistische Kräfte einzubinden, die wir seit dem 15. Juli am Werk
Angriffe gegen jede Form von Opposition zu fahren.
sehen.
Wir können sicher sein, dass der 15. Juli 2016 mittelfristig
Es muss dringend eine vereinte Front der demokratischen
einer der Gründungsmythen des Regimes sein wird – ein Putsch,
und für den Frieden eintretenden Kräfte aufgebaut werden, um
der vom Volk, das auf die Panzer stieg, verhindert wurde, statt
sich gegen die Angriffe auf die Arbeitenden, die ethnischen und
eines Putschversuchs ohne Basis, ohne Führung und ohne Un-
religiösen Minderheiten, die Frauen und die LGBTI durch ein
terstützung von außen, der daher zum Scheitern verurteilt war.
Regime, das die absolute Macht in Politik, Justiz, beim Mili-
Alle Organisationen der radikalen Linken und alle im Par-
tär und in der Wirtschaft anstrebt, zur Wehr zu setzen. Gleich,
lament vertretenen Parteien haben erklärt, dass sie gegen den
ob wir es mit dem Staat eines islamisch-kapitalistischen Blocks
Putsch sind. Auch für uns ist es eine wichtige Aufgabe, sich im
oder der Option einer blutigen Militärdiktatur zu tun haben –
Bewusstsein gegen den Putsch auszusprechen, dass die Arbei-
der Weg liegt im geduldigen Aufbau einer gesellschaftlichen
tenden und Unterdrückten aus Interventionen des Militärs, die
Opposition von unten, die der Arbeiterklasse einen zentralen
die demokratischen Rechte und Freiheiten aufheben, nichts zu
Platz einräumt.
gewinnen haben. Darüber hinaus erklären wir unsere Gegnerschaft gegen die Staatsstreiche von Erdoğan, der Wahlergebnis-
Wir befinden uns auf einem düsteren Weg. Zuversicht und
Widerstand sollen unser Licht sein!
se nicht anerkennt, wenn es um den Erhalt seiner Macht geht, der
Kurdistan in ein Ruinenfeld verwandelt, um die Stimmen der Na-
16. Juli 2016
tionalisten zu gewinnen, der Streiks verbietet, weil sie angeblich
„eine Bedrohung der Nation“ darstellen, und der die Vertretung
* AK Saray (Weißer Palast) heißt der Amtssitz von „Sultan“ Erdoğan in
des kurdischen Volkes zu zerstören sucht.
Anspielung auf den Namen der von ihm gegründeten AK-P.
Heute kann eine Opposition, die sich nicht der Logik „ent-
„ Übersetzung: PBK
weder Staatsstreich oder Erdoğan“ entzieht, worauf die AKP die
Inprekorr 5/2016 23
TÜRKEI
Interview mit der Deutschen Welle in dessen türkischsprachigem Programm geäußert hat, durchaus interessant. Ihm
zufolge waren Nicht-Gülenisten aus den traditionelleren
Schichten der Armee und die Gülenisten – geeint durch
ihre gemeinsame Gegnerschaft zu Erdoğan – in den
Putschversuch verwickelt. Diese Allianz sei jedoch
während des Staatsstreichs zerbrochen und Teile der Einen
hätten die Anderen verraten. Dadurch seien die Gülenisten, aber nicht nur sie, ins offene Messer gelaufen. Damit
wäre erklärt, warum die Putschisten überhaupt losgeschlagen haben, nämlich weil sie auf sehr viel mehr Unterstützung gezählt hatten.
Weiter meint der Journalist, dass die Regierung über
das Vorhaben und dessen Ablauf im Bilde gewesen wäre,
wenn auch vielleicht nur ganz kurzfristig. Er weist darauf
hin, dass Pressemitteilungen zufolge die ersten verdächtigen Truppenbewegungen bereits am Nachmittag stattgefunden hatten und dass der Chef des Generalstabs bereits
zwischen 17 und 18 Uhr in Geiselhaft hätte genommen
werden sollen. Die Regierung sei während des laufenden
Putsches tätig geworden, um mit Teilen der Putschisten zu
verhandeln und den Rest zu isolieren. Damit hätte sie den
Putschversuch zum Scheitern gebracht und risikolos die
eigene Basis in Polizei und Zivilbevölkerung mobilisieren
können. Unter diesen Umständen, nämlich nach erfolgreichen Verhandlungen, hätten Teile der Armee, einschließlich der noch kurz davor mit den Putschisten sympathisierenden, kapiert, dass sie besser still halten sollten.
Was die umgehende Veröffentlichung der schwarzen
Listen angeht, muss man A. ùık völlig Recht geben, dass
diese wahrscheinlich schon sehr lange vorgelegen hatten
und die Regierung nur die Gunst der Stunde genutzt
hatte, um davon Gebrauch zu machen.
Erdoğan vs. Gülen: Krieg unter Gleichgesinnten
In der Nacht vom 15. Juli standen sich also zwei Lager
gegenüber, die zumindest im Wesentlichen bis vor
wenigen Jahren noch verbündet waren. Genauer gesagt
stammen die Bewegung von Fethullah Gülen und Milli
Görüú (Nationale Sicht), die wichtigste politische Formation des Islamismus, aus der auch Recep Tayyip Erdoğan
stammt, ursprünglich aus demselben Milieu, auch wenn
sie Konkurrenten waren. Ihre Wurzeln liegen im Kleinbürgertum Anatoliens, das sie aber in den 60er Jahren
hinter sich gelassen haben, um sich dem „Kampf gegen den
Kommunismus“ zu widmen. Das politische Klima nach
dem Militärputsch von 1980, geprägt von sunnitischem
Islamismus und neoliberaler Wirtschaftspolitik (die sie
24 Inprekorr 5/2016
beide verfechten), kam ihnen zugute, so dass sie schließlich
2002 als tragende Partner einer Koalition an die Macht
gelangten. Beide Strömungen vertreten eine konservative,
kapitalistische, etatistische und nationale Version des
Islams. Ihre Differenzen liegen im strategischen Bereich.
Die Milli Görüú hat sich seit jeher auf die Politik
konzentriert. Ihr Auf bau begann mit der Wahl von
Necmettin Erbakan als unabhängiger Abgeordneter von
Konya in Zentralanatolien. Zuvor war Erbakan Präsident
der Handelskammer gewesen und damit quasi genuiner
Vertreter des anatolischen Kleinbürgertums. Seine erste
Parteigründung war die Nationale Ordnungspartei MNP,
die er mit der Unterstützung des konservativ-sufistischen
Naqschbandi-Ordens ins Leben rief. Mit diesen verschiedenen Parteigründungen erfüllte sich die raison d’être von
Milli Görüú Nebenher wurden Verbände und Stiftungen
gegründet, aber Schwerpunkt blieb stets die Partei, die sich
in den 70er Jahren als Juniorpartner in Regierungskoalitionen behaupten konnte.
Fethullah Gülen verfolgte einen anderen Weg, indem
er sich zunächst in einem Krämerviertel von Izmir als
Prediger in der Nurculuk-Bewegung betätigte. Mit
zunehmendem Einfluss gründete Gülen seine eigene
Bewegung, die sich niemals direkt politisch betätigte,
sondern ihren Schwerpunkt auf die Gründung von
Schulen für Kinder aus Elendsvierteln oder armen Landregionen legte. Die Bruderschaft gewährte ihren Jüngern
eine qualifizierte Ausbildung, weswegen diese ihnen auch
nach der Ergreifung eines Berufs – zumeist im Staatsdienst
– weiter verbunden blieben. Gülen legte stets und unter
allen jeweiligen Regierungen größten Wert auf die Pflege
seiner Netzwerke und Entourage. Den Militärputsch 1980
begrüßte er aufs Wärmste und nutzte die Liberalisierung
des Schulwesens, um sein Netz von Privatschulen weiter
auszubauen.
Während der Staat und seine Schergen in den 90er
Jahren ihren Krieg gegen die PKK intensivierten, erlebten
Milli Görüú und Gülen einen steilen Aufstieg. Der
ehemalige Bürgermeister von Istanbul und Führer der
„Erneuerer“ in Milli Görüú, Erdoğan, löste sich Anfang
des Jahrtausends von seinem Mentor Erbakan, um eine
politische Lauf bahn einzuschlagen, die über die bisherigen
muslimischen Kreise hinausreichte.
Als seine Partei an die Regierung gelangte, musste sich
Erdoğan nach Bündnispartnern umtun. Uraz Aydin
schreibt hierzu, dass er sich mit Gülen verbündete, „um die
republikanisch-laizistische Hegemonie im Staatsapparat zu
bekämpfen und die Armee unter Kontrolle zu bringen.
TÜRKEI
Die Prozesse, die 2007–2010 gegen Militärs (darunter der
ehemalige Generalstabschef ) wegen Verschwörung zum
Staatsstreich geführt wurden, beruhten nahezu ausschließlich auf falschen Beweisstücken aus der Machenschaft der
gülenistischen Polizei.“
Allerdings verschlechterten sich Anfang dieses Jahrzehnts die Beziehungen zwischen Erdoğan und Gülen (der
sich vorsichtshalber in die USA absetzte), weil sich dessen
Bruderschaft immer mehr im Staate breit machte und
darüber hinaus Profite aus öffentlichen Bauauftragsvergaben und den Privatschulen schöpfte. Ab 2014 wuchs sich
die Opposition zu einer eindeutigen Konfrontation mit der
Bruderschaft aus, die im Internet kompromittierende
Aufzeichnungen über Erdoğan und seine Entourage
verbreitete, derweil die Regierung mit Säuberungen in
Justizapparat und besonders Polizei zurückschlug.
Dadurch verlor die Gülen-Bruderschaft an Einfluss und
der Putschversuch war offensichtlich der letzte Akt dieser
Auseinandersetzung, die sich eindeutig zugunsten
Erdoğans gedreht hat. Gülens Niederlage ist darauf
zurückzuführen, dass er nie über eine politische Massenbasis über seine direkten Anhänger hinaus verfügt hat. An
den 2014 von dieser Bewegung organisierten Versammlungen nahmen nur wenige teil, da keine einzige relevante
politische oder soziale Schicht auch nur einen Finger für
diesen kapitalistischen und nationalistischen Verein rühren
wollte, der früher bedenkenlos alle Gegner seines einstigen
Spezels Erdoğan verfolgt hatte. Mit anderen Worten hat
die politische Instrumentalisierung der Massen über die
Netzwerkerei gesiegt.
Erdoğans Fußtruppen
Als sich zeigte, dass den Putschisten die Luft ausging und
die Hardliner unter ihnen sich mit den regimetreuen
Polizisten schlugen, rief Erdoğan das „Volk“ zum Widerstand gegen den Staatsstreich auf. Dieser Aufruf wurde
über die Mobilfunkanbieter und die Moscheen, die in der
Türkei staatliche Institutionen sind, verbreitet. Daraufhin
gingen erhebliche Menschenmengen auf die Straße und
begaben sich zu den von den Militärputschisten gehaltenen
Stellungen. Nach und nach mussten die Militärs ihre
Positionen räumen: die Brücken über den Bosporus, die
staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt (in der eine
Sprecherin unter Zwang die Erklärung der Putschisten
verlesen hatte), den Flughafen, die Polizeistationen, den
Kızılay-Platz in Ankara etc.
Dadurch gab es sicherlich ein paar zusätzliche Opfer
unter den Polizisten und Zivilisten, die von Soldaten
erschossen wurden, die offenbar blind den Anweisungen
der Vorgesetzten gehorchten, ohne über ihren Einsatz
genau Bescheid zu wissen. Beispielsweise berichtete der
Vater eines von den Gegendemonstranten auf einer
Bosporusbrücke gelynchten Soldaten – einfacher Gefreiter
in der Kantine einer Militärschule – dass der Kommandant
seinem Sohn erzählt hätte, dass sie ins Manöver gingen.
Von den ersten Verhaftungswellen, die sich gegen
unmittelbar Beteiligte am Putschversuch richteten, waren
überproportional viele Offiziere der Bereitschaftspolizei
und – in geringerem Ausmaß – der Marine und Luftwaffe
betroffen, im Gegensatz zu den zahlenmäßig größten
Bodentruppen.
Gleich in der Nacht wurde die offizielle Version des
Regimes verbreitett: „Es war eine kleine Minderheit unter
den Militärs, die diese Taten verübt hat, und das Volk hat
sich gewehrt und die Demokratie gerettet“. Wie die
Genossen von Sosyalist Demokrasi için Yeniyol, der
türkischen Sektion der IV. Internationale, sagen, „können
wir sicher sein, dass der 15. Juli 2016 mittelfristig einer
der Gründungsmythen des Regimes sein wird“ (s. Kasten
S. 22).
Diese offizielle Version birgt ein Körnchen Wahrheit,
übertreibt aber auch in zweierlei Hinsicht im Sinne einer
Propaganda für die AKP. Der eine Punkt betrifft die oben
erwähnte Zurückhaltung seitens der nicht beteiligten
Mehrheit der Armee, die weiter im Dunklen bleibt. Der
zweite betrifft das sog. „Volk“.
Zweifellos gingen Teile der Bevölkerung gegen den
Staatsstreich auf die Straße und manche von ihnen haben
in der Tat ihr Leben dabei riskiert und verloren. Aber so,
wie der Staatsstreich keine soziale oder politische Basis
hatte (alle Parlamentsparteien haben ihn spontan verurteilt), so war es nicht „das Volk“, das auf die Straße ging,
sondern bestimmte Teile davon. Quantitativ war diese
Mobilisierung des Volkes denn auch in keiner Weise
vergleichbar bspw. mit der in Venezuela anlässlich des
versuchten Staatsstreichs gegen Chávez 2002. Und
politisch ging sie hauptsächlich von AKP-Anhängern aus,
selbst wenn darunter einige Fahnen der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP zu sehen waren.
Das autoritäre Regime macht mobil
Dass der Staatsstreich von Beginn an zum Scheitern
verurteilt war, wurde erst im Nachhinein klar. Insofern
bedurfte es schon eines hohen Maßes an Überzeugung und
Mut, in der Putschnacht auf die Straße zu gehen und sich
den Panzern entgegen zu stellen. Dies ist sicher bemerInprekorr 5/2016 25
TÜRKEI
kenswert, kann aber keinen ernsthaften Beobachter der
Türkei wirklich verwundern, da man Erdoğan eine reale
Basis in der Bevölkerung nicht absprechen kann.
Ebenso unstrittig ist, dass die Putschisten eine unmittelbare Bedrohung für die demokratischen Rechte
darstellten und man ihnen entgegen treten musste.
Nichtsdestotrotz darf man die Reaktion von Teilen der
Bevölkerung auf den Putsch hin nicht mit einem demokratischen Impetus verwechseln. Dies versteht sich von
selbst, wenn man schaut, wer da auf die Straße gegangen
ist. Die Mobilisierung der Bevölkerung wurde von vorne
bis hinten vom Erdoğan-Regime gesteuert und blieb somit
strikt in dessen Grenzen: Nicht um die Demokratisierung
des Regimes wurde gestritten, sondern um dessen Erhalt.
Insofern richtete sich der zunächst den Putschisten
entgegen gebrachte Hass in den Tagen danach auch schnell
gegen die – reale oder eingebildete – Opposition des
Regimes schlechthin.
Die da nachts und in den Tagen danach auf die Straße
gegangen waren, waren sicherlich nicht in der Mehrheit
„Faschisten“, sondern Männer (Frauen waren in der Tat
kaum vertreten) „aus dem einfachen Volk“, die die
Wählerbasis der AKP repräsentieren. Dennoch wurden sie
gelenkt – nicht nur in der globalen Ausrichtung aus der
Ferne seitens der Regierung, sondern auch vor Ort, und
zwar von eingefleischten Reaktionären – mitunter gar
IS-Anhängern – die mit dem Regime verbunden sind.
Dies gilt auch für die Aufläufe, die sich in den Folgetagen
gegen die Bewohner von Minderheitenvierteln richteten,
etwa in Malatya gegen die Aleviten im Stadtteil Paúaköúkü
oder in Istanbul-Gazi. Und erst recht gilt dies für die
späteren Jubelveranstaltungen „zum Ruhme Erdoğans“.
Stellvertretend für die Augenzeugen dieses Mobs sei hier
die Journalistin Laura-Maï Gaveriaux zitiert, die für Le
Monde diplomatique einen bemerkenswerten Artikel über
den Wandel des türkischen Regimes verfasst hat1. „Ich
frage einen Jugendlichen, der den Wolfsgruß zeigt2 , was
dies zu bedeuten habe.
„ Dass wir gewonnen haben.
„ Gegen wen?
„ Gegen die Ratten.
„ Wer sind die Ratten?
„ Die USA, der Iran. Vor allem die Kurden.
„ Die Kurden oder die PKK?
„ Das ist doch dasselbe.
„ Ein Baby ist doch nicht Mitglied der PKK!
„ Aber später wird es das sein.“
26 Inprekorr 5/2016
Um zu verstehen, was seit dem Putschversuch gang und
gäbe ist, muss man die Ereignisse über die Zeit hinweg
betrachten. Leo Trotzki schrieb über den Aufstieg der
Nazis in Deutschland:
„Wenn einer der Feinde mir täglich mit kleinen
Giftportionen zusetzt, der zweite aber aus der Ecke
hervorschießen will, so schlage ich vor allem diesem
zweiten Feinde den Revolver aus der Hand, denn das gibt
mir die Möglichkeit, mit dem ersten Feinde fertig zu
werden. Das heißt aber nicht, daß Gift im Vergleich zum
Revolver ein »kleineres Übel« ist.“3
Auf die Türkei übertragen, heißt dies, dass die Putschisten diejenigen mit dem Revolver sind und die AKP
der Giftmischer. In der Putschnacht wäre die richtige
Losung gewesen: „Zunächst den Staatsstreich abwehren,
anschließend Erdoğan“, aber am Tag danach war dies überholt. Im Falle der Türkei muss Trotzkis Metapher um
zweierlei ergänzt werden: Derjenige, der mit dem Revolver schießen will, ist bereits zuvor vom Giftmischer
entwaffnet worden und sitzt im Knast; und der Giftmischer benutzt letale Dosen und nicht kleine Portionen.
Fakt ist, dass der Putsch, noch während er lief, schon
komplett erledigt war. Die Ereignisse in der Türkei sind
daher nicht die bloße Umkehr der traumatischen Erfahrungen in Ägypten, also nicht die Version mit einem
Happyend, in dem ein türkischer as-Sisi von der Machtergreifung abgehalten worden wäre und ein türkischer
Mursi (Erdoğan) – selbst wenn er ein kapitalistischer und
konservativer Politiker ist – ein parlamentarisches und
demokratisches Regime garantiert, das es in Ägypten nicht
mehr gibt. Erdoğan ist nicht Mursi, da seine Macht im
Staate nach 14 Jahren unvergleichlich stärker ist als bei
Mursi. Und die türkischen Putschisten verfügten längst
nicht über die Mittel wie weiland as-Sisi, Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee.
Die Reaktion marschiert
Der Putschversuch war bereits Geschichte, als die Machthaber am Morgen des 16. Juli zu Massenverhaftungen und
Suspendierungen im Staatsdienst griffen und somit die
bereits vor dem Putsch angelaufenen Säuberungen und
damit den autoritären Wandel des Regimes forcierten.
Denn dass dieses Regime, selbst nach den – unzulänglichen – bürgerlich-parlamentarischen Maßstäben demokratisch wäre, lässt sich schwerlich behaupten. Dass dort
Wahlen abgehalten werden, aus denen die AKP siegreich
hervorging, ist für sich kein Beweis, sondern nährt die
Illusion einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie.
TÜRKEI
Dahinter stehen willkürliche Verhaftungen, vom Staat
tolerierte Attentate der Fundamentalisten gegen Oppositionelle, von der Polizei getötete Demonstranten, vom Staat
zerstörte kurdische Siedlungen und ermordete Bewohner,
antikurdische Pogrome, Einkerkerung gewählter kurdischer Amtsträger etc.
Auch wenn in Westeuropa in den vergangenen Jahren
ebenfalls die parlamentarische Demokratie zunehmend
ausgehöhlt und die demokratischen Rechte immer mehr
beschnitten werden, etwa in Frankreich mit seinem
Ausnahmezustand und dem „Anti-Terror-Kampf “, lässt
sich die Situation dort kaum mit der Türkei vergleichen.
Hier ist diese Entwicklung ungleich weiter fortgeschritten.
Zudem vollzieht sich in der Türkei ein rascher Wandel hin
zu einem autoritären und potentiell faschistoiden Regime
auf einer nationalistisch-fundamentalistischen Grundlage,
wonach nur der ein Recht hat, der von türkischer Nationalität und sunnitischen Glaubens ist. Bereits vor dem
Putschversuch hatte ich diesen Umbau des Regimes mit
Unterstützung der Opposition aus CHP und MHP in
einem Artikel als zivilen Staatsstreich bezeichnet: „Eine
qualifizierte Zweidrittel-Mehrheit hat den vorläufigen
Artikel 20 der Verfassung abgesegnet, in dem die parlamentarische Immunität von Abgeordneten aufgehoben
wird, gegen die aktuell ermittelt wird. Entscheidend ist
dabei das Stichwort „vorläufig“, das klar macht, gegen wen
sich diese Änderung richtet, nämlich gegen die HDP.
Zwar gehören nur 51 der insgesamt 137 betroffenen
Abgeordneten der HDP an, aber von den 667 laufenden
Gerichtsverfahren richten sich 405 gegen die 51 der HDP,
die insgesamt 58 Parlamentarier stellt. Diese Absicht, die
HDP aus dem Parlament zu säubern und zu kriminalisieren, wird auch von Erdoğan und seiner Regierung nicht
verheimlicht.“4
[…] Seit dem 16. Juli finden umfangreiche Säuberungen im Staatsapparat statt: Zehntausende Beamte wurden
suspendiert und betroffen sind nicht nur Mitglieder des
Gülen-Netzwerks sonders bspw. auch die „Akademiker
für den Frieden“. Aus dem Schuldienst wurden über
20.000 LehrerInnen entfernt und nahezu ein Fünftel der
höheren Justizbeamten wurde entlassen. Alle Beamten
wurden aus dem Urlaub zurückbeordert, HochschullehrerInnen dürfen das Land nicht verlassen bzw. wurden aus
dem Ausland zurückgerufen und zahlreiche Organisationen wurden aufgelöst. […] Zahlreiche Fälle von Folterungen wurden berichtet und die Regierung gibt kund, dass
sie sich den Forderungen nach Wiedereinführung der
Todesstrafe nicht verschließen könne und dass die „Verrä-
ter“ auf eigenen Friedhöfen ohne würdiges Begräbnis
bestattet würden.5
Die AKP-Führung ließ wissen, dass sie den Notstand
nach französischem Vorbild verhängt habe, was auf die
Inspirationskraft von Hollande und Valls schließen lässt.
Zusätzlich jedoch darf der Polizeigewahrsam auf bis zu 30
Tagen verlängert werden. Wenn wir uns erinnern, dass
2002 die AKP nach ihrem Regierungsantritt den Notstand im türkischen Teil Kurdistans aufgehoben hat und
ihn jetzt für das ganze Land verhängt, dann sehen wir,
welche Entwicklung diese Partei genommen hat.
Außenpolitischer Kurswechsel
Bereits vor dem Putschversuch hatte das Erdoğan-Regime
einen außenpolitischen Schwenk vollzogen und eine
Aussöhnung mit Israel, das nunmehr als unverzichtbarer
Bündnispartner angesehen wird, und Russland angestrebt.
Im Zuge der „Normalisierung“ der Verhältnisse distanzierte sich Erdoğan auch im Nachhinein von der Entsendung der Mavi Marmara nach Gaza im Jahr 2010, die von
der israelischen Armee aufgebracht wurde, wobei neun
türkische Besatzungsmitglieder getötet wurden. Dieser
Kurswechsel ist kaum verwunderlich, da das Streben nach
einer subimperialistischen Position in der Region kaum
vereinbar ist mit der Unterstützung eines antiimperialistischen Kampfes, schon gar nicht, wenn er die Befreiung
Palästinas zum Ziel hat.
Zugleich kam nach dem Putschversuch die Wiederannäherung zwischen Putin und Erdoğan in Gang [und ist
inzwischen offiziell besiegelt, AdÜ]. Ende Juni hatte sich
Erdoğan erfolgreich bei Putin für die Tötung eines
russischen Bomberpiloten durch die türkische Luftwaffe
entschuldigt und über die regimetreue Presse verbreiten
lassen, dass die verantwortlichen Piloten dem gülenistischen Netzwerk angehört hätten. Dabei hatte seinerzeit
der damalige und inzwischen in Ungnade gefallene
Premierminister Davuto÷ lu bestätigt, die Order dazu
erteilt zu haben … um jetzt, sieben Monate später, durch
den jetzigen Vizepremier dementiert zu werden.
Im Zuge dieses Kurswechsels hat Erdoğan offensichtlich auch in seiner Syrienpolitik einen Schwenk vollzogen
und seine Gegnerschaft zu Assad, die niemals demokratisch begründet, sondern eher gegen die Kurden und auf
wirtschaftliche Vorteile gerichtet war, ad acta gelegt.
Jedenfalls legt dies ein Interview nahe, das der ehemalige
Vizeadmiral Cem Gürdeniz der regierungstreuen
Hürriyet am 24. Juli gegeben hat. Gürdeniz war 2011 auf
Betreiben des Gülen-Netzwerks aus der Armee entlassen
Inprekorr 5/2016 27
TÜRKEI
und nach dessen Zerwürfnis mit der AKP rehabilitiert
worden. Als selbsternannter „Kemalist“ (was zeigt, wie
beliebig dieser Begriff inzwischen gebraucht wird) hält er
die gegenwärtigen Spannungen in der Armee für die
Fortsetzung einer schon immer vorhandenen Differenz
zwischen NATO-Anhängern – darunter die Gülenisten
– und einer eurasischen Fraktion. Er plädiert für mehr
Distanz zum „neuen Rom“ und freut sich, dass Erdoğan
dies auch so sieht.
Wörtlich formuliert Gürdeniz dies so: „Als der
Kemalismus als Fundament der Armee durch manipulierte
Urteile (der gülenistischen Richter) zerstört wurde, ist dort
ein Vakuum entstanden. Und der Putsch hat gezeigt, dass
der Islam dieses Vakuum nicht füllen kann, denn Gülen
war Islamist und hat trotzdem einer islamistischen Regierung den Krieg erklärt. Daher müssen wir nun zusammenstehen und zu den Gründungsprinzipien der Republik
zurückfinden.“
Konstitutiver Bestandteil dieser „Gründungsprinzipien“ der türkischen Republik und ihrer imperialen Logik
ist die Auslöschung der Kurden. Dazu passt auch der
Schlusssatz des Interviews: „In dem Moment, wo ein
solcher (nämlich ein kurdischer oder von PKK-orientierten Kurden geführter) Staat mit Zugang zum Meer
entstünde, wäre die strategische Bedeutung der Türkei
vorbei. […] Die Konsequenzen wären nicht nur für uns,
sondern auch für Russland und den Iran nicht hinnehmbar.“
Was immer man von diesem Szenario halten mag,
weisen diese Worte auf die rote Linie hin, die der Nationalismus den türkischen Machthabern jedweder Couleur
vorgibt: die Schaffung eines autonomen kurdischen
Gebietes unter Einfluss der PKK an den Grenzen der
Türkei ist eine Option, die Erdoğan „um jeden Preis“
verhindern würde. Dennoch sollte man die diversen
Anti-NATO-Statements und die eindeutige Wiederannäherung zwischen Russland und der Türkei nicht auf die
Goldwaage legen, da Erdoğans Neuausrichtung nur
bedingt möglich ist. Da die Türkei in den globalen
Kapitalismus eingebunden und seit Jahrzehnten mit den
westlichen Großmächten eng verbunden ist, während
Russland nur begrenzte Möglichkeiten bietet, kann dieses
auf keinen Fall die westlichen Länder als Wirtschafts- oder
militärischer Partner ersetzen. Insofern dient diese
Neujustierung dem Regime wahrscheinlich eher innenpolitischen Zwecken.
Vor allem darf dabei nicht übersehen werden, dass der
„eurasische“ Flügel der Armee wegen seiner vorsichtigen
28 Inprekorr 5/2016
Annäherung an Russland keinesfalls als antiimperialistisch
gelten kann, bloß weil er sich dem Atlantikbündnis und
Gülen widersetzt. Die Differenzen zielen ausschließlich auf
die Stärkung der Türkei als subimperialistische Macht und
auf ihre wirtschaftliche Expansion.
Das „Kurdenproblem“
Vor diesem Hintergrund muss das noch immer schwärende „Kurdenproblem“ in der Türkei gesehen werden.
Erdoğans Politik scheint sich hierin nicht zu ändern und
die tödlichen Gefechte zwischen Armee und PKK dauern
an. Hierbei spielt der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien
natürlich eine große Rolle. Die mit der PKK verbundenen
Demokratischen Kräfte Syriens SDF führen gegen die
Dschihadisten einen (auch unter der Zivilbevölkerung)
verlustreichen Kampf bei Manbidsch mit der Unterstützung der Westmächte, namentlich der USA. Seitens der
SDF geht es darum, ein autonomes, zusammenhängendes
kurdisches Gebiet unter Einfluss der PKK zu schaffen –
eine Horrorvorstellung für die türkischen Nationalisten.
Die Forderung der Kurden nach Autonomie sowohl in
der Türkei als auch in Syrien ist natürlich absolut legitim,
rechtfertigt aber keineswegs das gewaltsame Vorgehen
gegen die nichtkurdische Bevölkerung und schon gar nicht
ein Stillhalteabkommen gegenüber Assad. Riza Altun,
verantwortlich für die „Außenpolitik“ der PKK, fand
kürzlich in einem Interview mit der libanesischen Tageszeitung As Safir lobende Worte für das Assad-Regime
wegen „dessen entgegenkommender Unterstützung in der
Vergangenheit“ – eine geschichtsvergessene Interpretation, die verschweigt, wie Assad noch vor wenigen Jahren
im Verein mit Erdoğan die PKK und ihre Partner verfolgt
hat.
In diesem Interview kritisiert Altun die Art und Weise,
wie Rojava errichtet wurde, als einseitigen Akt – was
freilich damals nicht ohne Billigung der PKK-Führung
möglich gewesen wäre. Er geht sogar so weit, den Namen
„Rojava“ (kurdisch für „Westen“ als Bezeichnung für das
syrische Kurdistan) zu hinterfragen, weil dies eine bloß
kurdische Identität impliziert, und spricht sich stattdessen
für die Bezeichnung als „Unionsstaat Nordsyriens“ aus.6
Diese Wortklauberei deutet darauf hin, dass ein
Verwaltungsgebiet unter PKK-Einfluss geschaffen werden
soll, das mit dem Assad-Regime so weit als möglich
vereinbar ist, selbst wenn dabei die formale Bezeichnung
als vorwiegend kurdisches Gebiet verloren ginge. Dies
diskreditiert erheblich die bisherige Position eines „freien
und demokratischen Rojava innerhalb eines demokrati-
TÜRKEI
schen Syriens“, da sich ein radikaldemokratisches Konzept
unmöglich mit einem diktatorischen Mörderregime wie
dem von Assad vereinbaren lässt.
Eine solche Position ist völlig blind gegenüber der
Frage der syrischen Revolution und dem Leid der Bevölkerung von Aleppo. Diese kurzsichtige „Realpolitik“ wird
in absehbarer Zeit auf die Kurden Syriens und der Türkei
zurückfallen. Denn wer garantiert, dass der US-Imperialismus weiterhin an der Unterstützung der SDF interessiert
sein wird? Und was kann die ohne diese Unterstützung
ausrichten? Was passiert, wenn Assad auch die letzten
revolutionären Widerstandsnester zerstört hat und wieder
auf Erdoğan zugeht, der seinerseits sich mit Putin und dem
Iran zwischenzeitlich versöhnt haben wird?
Bittere Zeiten für die Linke
Ein wirklicher Friedensprozess in der Türkei ist nicht
absehbar. Die HDP bleibt weiterhin ostentativ von allen
Gesprächen zwischen den Parteien nach dem Putsch
ausgeschlossen. Dass sich die Front gegen die PKK
vorübergehend „beruhigt“ hat, liegt an der fälligen
Umstrukturierung der Armee und keineswegs an einem
politischen Richtungswechsel.
Uraz Aydin meint, dass Erdoğan eine Politik der
nationalen Union auf dem Rücken der HDP betreibt, weil
die Staatsmacht geschwächt ist und „er die republikanischkemalistischen Kräfte und die MHP einbinden muss, um
die kaltgestellten Gülenisten zu ersetzen. Insofern werden
auch die 2007 – 2010 wegen „Umsturzplänen“ kaltgestellten Militärs wieder rehabilitiert, um die gülenistischen
Offiziere zu ersetzen.“ Symbolisch für diese Burgfriedenspolitik war die Massenkundgebung am 7. August „für
Demokratie und die Märtyrer“, an der Erdoğan und der
Generalstabschef, aber auch die beiden handzahmen
Oppositionsparteien CHP und MHP teilnahmen. Als
Motto wurde ein „zweiter Unabhängigkeitskrieg“
ausgerufen, eine offensichtliche Drohung an alle, die
außerhalb dieses Dunstkreises stehen und als nationale
Fremdkörper gelten (HDP, revolutionäre Linke etc.)
Dies stellt die radikale Linke vor zweierlei Herausforderungen. Unmittelbare Aufgabe ist die Bildung einer
demokratischen Einheitsfront mit der HDP und darüber
hinaus mit allen politischen und sozialen Sektoren, die
dafür infrage kommen. Dabei muss es vorrangig um die
demokratischen Rechte und die Wiederherstellung eines
Friedensprozesses gehen. Dies ist ein notweniger Zwischenschritt, um den türkischen Kapitalismus zu schwächen.
Zugleich jedoch darf man nicht die Massen abschreiben, die derzeit hinter der AKP stehen. Diese Herausforderung wird allerdings nur längerfristig zu bewältigen
sein, da sie unter starkem Einfluss des reaktionären
Apparats der AKP stehen und nur schwer zugänglich sind.
Eines der Mittel hierfür sind erfolgreiche betriebliche
Mobilisierungen, die aber für sich nicht ausreichen, da sie
kaum über die lokalen Grenzen hinaus wirken und
insofern kaum als Anreiz für eine unabhängige bspw.
gewerkschaftliche Organisierung dienen.
Insofern wäre die erfolgreiche Bewältigung des ersten
– politischen – Schrittes auch hierfür hilfreich und könnte
eine offen klassenkämpferische Offensive ermöglichen.
Die kurzfristigen Mobilisierungen für Demokratie und
gegen Putschversuche, bspw. seitens der HDP am 23. Juli
oder am Folgetag seitens der CHP – mit allerdings weit
darüber hinaus reichender Beteiligung unabhängiger und
linker Kräfte und zudem ein Fanal, sich die Straße zurückzuerobern, statt sie den reaktionären Aufmärschen der
AKP zu überlassen – zeigen, dass ein Potential für eine
demokratische Einheitsfront vorhanden ist und dies auch
nottut. Der Weg dorthin wird allerdings dornenreich sein.
Aus: http://www.contretemps.eu/interventions/turquieautopsie-double-coup-état
Übersetzung: MiWe
„
1 https://www.monde-diplomatique.fr/2016/07/GAVERIAUX/55960
2 Graue Wölfe ist die Bezeichnung für die Mitglieder der
rechtsextremen MHP.
3 Leo Trotzki Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?
Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied
der KPD, vom 8. Dezember 1931
4 ESSF (article 38703), Turquie : le coup d’Etat d’Erdoğan et
ses conséquences – Un régime en transformation.
5 Unter den Verhafteten waren 149 Generäle und Admirale,
282 Polizeioffiziere und 1559 Richter und Staatsanwälte.
Hingegen wurden 1200 Soldaten wieder freigelassen, weil sie
von den Putschisten instrumentalisiert worden seien. Im
Rahmen des Ausnahmezustands wurden 35 Gesundheitseinrichtungen, 1043 Privatschulen, 1229 Stiftungen, 19 Gewerkschaftsverbände und 15 Universitäten geschlossen bzw.
aufgelöst, weil sie dem Gülen-Netzwerk angehört haben
sollen. Desgleichen 45 Zeitungen, 16 Fernsehketten, 3
Presseagenturen, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und 29
Verlagshäuser.
6 http://assafir.com/Article/1/504826
Inprekorr 5/2016 29
USA
„Die Partei Eisenhowers und Reagans wurde von
einem korrupten Demagogen gekapert, der nicht
nur die Ideale seines Landes verrät, sondern auch
seine grundlegenden nationalen Interessen. Es
droht ein globales Desaster.“, sorgt sich B.-H. Lévy
um die Zukunft der Weltherrschaft des Kapitals.
Von diesen Sorgen sind wir weit entfernt, zumal
Clinton kaum ein geringeres Desaster darstellt.
Im Folgenden zwei Standpunkte der beiden
Strömungen der IV. Internationale in den USA
zu den anstehenden Wahlen: der Wahlaufruf
von Socialist Action zugunsten ihrer Eigenkandidatur sowie der Wahlaufruf von Solidarity
zugunsten der linksbürgerlichen Green Party.
DEINE STIMME FÜR
SOCIALIST ACTION
Socialist Action führt eine landesweite Kampagne, um für
die Wahl ihres Parteisekretärs Jeff Mackler zum US-Präsidenten und von Karen Schraufnagel zur Vizepräsidentin zu
werben.
Jeff Mackler engagiert sich seit vielen Jahrzehnten auf
Seiten der Arbeiterbewegung für soziale Gerechtigkeit und
Umweltschutz und gegen die Kriege und Interventionen
des US-Imperialismus. Vom Vietnamkrieg bis heute hat er
unzählige Massenkundgebungen gegen die US-Kriege organisiert und moderiert. Er war Mitbegründer der Umweltinitiative Northern California Climate Mobilization und ist
führender Aktivist bei den Protesten gegen den Klimawandel in der Bay Area von San Francisco.
Er war jahrzehntelang in der Lehrergewerkschaft aktiv,
u. a. als gewählter Gewerkschaftssekretär in seinem Heimatort Hayward, Kalifornien. Daneben leitet er eine landesweite
Initiative zur Freilassung des politischen Gefangenen Mumia
Abu-Jamal und verfasste eine Vielzahl von Werken zur Geschichte der Arbeiter- und der Bürgerrechtsbewegung sowie
zu anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Themen. Für
Socialist Action kandidierte er 2006 zu den Senatswahlen in
Kalifornien.
Karen Schraufnagel ist Mitglied der Nationalen Leitung
von Socialist Action und lokale Leiterin in Minnesota-St.
Paul. Dort ist sie in der antirassistischen Bewegung, in der
Umwelt- und Anti-Kriegsbewegung sowie in der antizionistischen BDS-Kampagne aktiv.
Die sozialistische Wahlplattform von Socialist Action umfasst eine breitgefächerte Kritik an der kapitalhörigen Politik
der anderen Parteien. Einige ihrer Kernforderungen sind:
30 Inprekorr 5/2016
„ Rasche und komplette Umstellung auf erneuerbare
Energien zur Bekämpfung des Klimawandels
„ Qualifizierte Ersatzarbeitsplätze für die Beschäftigten in
den dadurch wegfallenden Branchen
„ Für ein staatlich finanziertes und allgemein zugängliches Gesundheits- und Erziehungswesen auf hohem Niveau
„ Abschaffung aller rassistischen, sexistischen und
homophoben Gesetze und Praktiken
„ Bezahlbaren Wohnraum und tariflich entlohnte
Arbeitsplätze für Alle
„ Tariflich abgesicherter Mindestlohn von 15$ als erster
Schritt zu einem auskömmlichen Lohnstandard
„ Abschaffung der Rüstungsindustrie und Schluss mit den
US-Interventionen
„ Rückwirkende Legalisierung und gleiche Rechte für
alle ImmigrantInnen
„ Für eine Arbeiterpartei als Ausdruck einer demokratischen, breiten und wirklich klassenkämpferischen Arbeiterbewegung
„ Für eine Arbeiterregierung unter antikapitalistischen
und sozialistischen Vorzeichen
Kämpft mit uns und unseren KandidatInnen für die
Arbeiterklasse und gegen die beiden Großparteien des
US-Kapitalismus!
Übersetzung: MiWe
„
USA
FÜR JILL STEIN UND EINE
UNABHÄNGIGE POLITIK
Nationales Komitee von Solidarity
Bernie Sanders Kampagne für eine „politische Revolution“ erleuchtete den Vorwahlkampf wie ein Meteor den
Abendhimmel. Entgegen der landläufigen Meinung, dass
er auf blitzen und schnell verblassen würde, blieb Sanders
ein Problem für die Demokratische Parteimaschine
während der ganzen Vorwahlen. Er übertraf alle Erwartungen, gewann 23 Vorwahlen und Parteikonferenzen,
sammelte den erstaunlichen Betrag von 222 Millionen
Dollar fast ausschließlich aus kleinen Spenden und sicherte
sich über 1800 Delegierte.
Sanders und seine Anhängerschaft versprachen, bis
zum Parteitag von Philadelphia weiterzumachen und dafür
zu kämpfen, einen „progressiven Pflock“ in das Wahlprogramm der Partei einzuschlagen. Aber mit der lang erwarteten (und letztlich unvermeidlichen) Nominierung von
Hillary Clinton als Präsidentschaftskandidatin ist Bernie
Sanders eingeknickt, um nun „alles zu tun, um Donald
Trump zu besiegen“.
Die Sanders-Kampagne verkörperte immer einen
Widerspruch. Innerhalb des Rahmens eines starren ZweiParteien-Systems gab die Bewerbung um die demokratische Nominierung einem bekennenden „demokratischen
Sozialisten“ Zugang zu den Stimmzetteln und einen Platz
in den Debatten. Doch es bedeutete auch, wie Sanders von
Anfang an offen gesagt hat, dass er die von der Partei am
Ende nominierte Person unterstützen würde, und es gab
nie einen Zweifel darüber, wer das sein würde. Trotzdem
verstehen wir, warum viele seiner Anhänger enttäuscht
sind; dies ist kein überraschendes Ergebnis, und es stellt
sich die Frage: „Was nun?“
Wie viele andere auf der Linken begrüßte Solidarity
die Energie und die Hoffnung auf Veränderung, die die
Sanders-Kampagne auslöste. Falls Du Solidarity nicht
kennst – wir sind eine sozialistische, feministische, antirassistische Organisation. Unsere Mitglieder in einer Reihe
von Gewerkschaften und Städten haben sich am „Labor for
Bernie“-Projekt beteiligt, das wir als ein wichtiges Werkzeug sehen, um politische Diskussionen zur Sache der Gewerkschaftsmitglieder und nicht der Führung zu machen.
Nun ist es aber eine bittere Tatsache, dass der Schwung
und die Kreativität des Vorwahlkampfes den Weg frei
machen für ein schäbiges Rennen zwischen dem zynischen Unternehmer-Zentrismus von Hillary Clinton und
dem widerlichen rassistischen Wirtschaftsnationalismus
von Donald Trump. Im derzeitigen besonders bösartigen Klima ist es für uns von wesentlicher Bedeutung,
alle Kraft auf die Verteidigung von „Black Lives Matter“
(BLM) gegen die rassistischen Schmähungen und Angriffe
der Rechten zu richten. Die Angriffe auf die BLM sind
praktisch eine Lizenz für weitere Gewalt und Morde gegen
afroamerikanische Menschen und Gemeinschaften.
Sicher ist ein Teil der Strategie, die „politische Revolution“ fortzusetzen, die Bewegungen aktiv zu halten – die
Kämpfe für rassische und reproduktive Gerechtigkeit, der
Kampf für 15 $ Mindestlohn, Solidarität mit Eingewanderten und Widerstand gegen Homophobie, Transphobie
und Islamophobie. Die wichtigen Errungenschaften des
LGBTQ-Kampfes müssen verteidigt und ausgebaut werden.
Trotz aller Anstrengungen der Unterstützerinnen und
Unterstützer von Sanders findet sich im Wahlprogramm
der Demokraten fast nichts davon. Der Antragsausschuss
hat die Resolutionen abgewiesen, das Transpazifische
Freihandelsabkommen TPP (das bei der Bevölkerungsmehrheit verhasst ist) abzulehnen, das Fracking zu beenden (sogar auf Bundesland!) und die palästinensische
Bevölkerung im Kampf gegen die israelische Besatzung
zu unterstützen. Es gab keinen Grund, etwas anderes von
einer Partei des Kapitals und des Imperialismus zu erwarten. Um diese Niederlagen hübsch darzustellen wurde viel
von der „fortschrittlichsten Plattform der Demokraten
aller Zeiten“ geredet. Aber um es klar zu sagen, das meiste
davon – außer vielleicht der schrittweisen Erhöhung des
Mindestlohns – besteht aus vagen Allgemeinheiten, die
schnell vergessen sein werden.
Wenn man meint, dass eine bessere Alternative
möglich ist, braucht eine Bewegung für eine „politische
Revolution“ auch einen Ausdruck auf Wahlebene. Bei
Inprekorr 5/2016 31
USA
dieser Wahl ist der beste Ausdruck auf nationaler Ebene für
das, wofür wir alle kämpfen, die Kampagne der Grünen
Partei für Jill Stein. Solidarity unterstützt diese Kampagne
als eine Möglichkeit, die „politische Revolution“ in 2016
zu unterstützen.
Wenn man nicht nur bis zum Wahltermin im November schaut, sondern auch darüber hinaus, dann muss man
– und das gilt vor allem für die Unterstützerinnen und
Unterstützer von Bernie Sanders, die die Sackgasse der
Option Hillary Clinton ablehnen – ins Auge fassen, dass
es mehr als einen anderen Kandidaten braucht: Es braucht
eine andere Partei. Hillary Clinton hat die Demokratische
Partei nicht gekapert. Sie repräsentiert genau das, was die
Demokratische Partei wirklich ist: Wall-Street-Connections, Militarismus und all das. Es gab keine Möglichkeit,
dass Bernie Sanders der Kandidat der Demokraten werden
würde.
Diese Realität erklärt, warum die Unterstützung für
Jill Stein wächst. Ebenso wie lokale unabhängige politische
Organisationen, Kampagnen und Wahlinitiativen. Wir
rufen auf für eine Stimme für Jill Stein, aber wichtiger als
eine einmalige „Proteststimme“ ist eine solide unabhängige politische Organisation. Das wird ein langer Weg
sein und es gibt keine Zauberformel zur Schaffung einer
auf die Arbeiterklasse ausgerichteten Partei in den Vereinigten Staaten, die die Stimme der sozialen Bewegungen
sein kann. Aber schon jetzt sollte eines klar sein: die Falle,
immer wieder für ein „kleineres Übel“ nach dem anderen
zu stimmen, das doch nur Unternehmerpolitik verkörpert,
wird uns nur schlechtere und nutzlosere Alternativen übrig
lassen.
Die Demokratische Partei will die Stimmen der
Sanders-Unterstützenden, aber nicht ihre Forderungen,
die Banken zu brechen, die Superdelegierten loszuwerden,
das TPP zu versenken und endlich die obszöne einseitige
Unterstützung der USA für Israels Krieg gegen das palästinensische Volk zu beenden. „Wählen und Klappe halten“,
ist die Botschaft der Clinton-Kampagne an die SandersBasis. Es muss einen besseren Weg geben, sonst werden
wir nie etwas anderes sehen als die miserable alternativlose
Politik des „Duopols“ der Unternehmerparteien.
Wer eine „politische Revolution“ will, die über leere
Versprechungen hinausgeht, für den ist jetzt der Zeitpunktgekommen, um mit den kapitalistischen Parteien zu
brechen. Bei der Jill-Stein-Kampagne heißt es dazu:
„Eine Bewegung für Demokratie und Gerechtigkeit
läuft um den Planeten von Occupy Wall Street über den
arabischen Frühling bis zur „Black Lives Matter“-Bewe32 Inprekorr 5/2016
gung. Die Menschen erheben sich, um den neoliberalen
Angriff zu stoppen; sie fordern ein Amerika und eine Welt,
die für alle da sind. Während unsere Bewegung wichtige
Siege erringt – vor allem für existenzsichernde Löhne und
gegen fossile Energien – hat die wirtschaftliche Elite ihren
Griff nur noch mehr verschärft. Die Menschen erkennen,
dass, wenn wir die verrottete Wirtschaft, das verrottete
System rassischer Ungerechtigkeit, das verrottete Energiesystem usw. in Ordnung bringen wollen, dass wir dann
auch das verrottete politische System reparieren müssen …“
Jill Steins „Power to the People“-Programm spiegelt
viel von der Innenpolitik der Sanders-Kampagne wider:
Einkommensgleichheit, Klimagerechtigkeit, kostenlose
öffentliche Hochschulbildung, Medicare für alle, Rechte für Immigrantinnen und Immigranten, Gerechtigkeit
für alle Rassen und ein Ende der Masseneinkerkerung. In
anderen Bereichen geht Stein viel weiter als Sanders: für die
Streichung der studentischen Schulden, volle öffentliche
Wahlkampffinanzierung und die Schaffung öffentlicher
Banken.
Die Woge der Unterstützung für Donald Trump
wurde durch die wirtschaftliche Misere des NAFTA und
der Deregulierung der Wall Street ausgelöst – eine Politik,
die von beiden Clintons gefördert wurde. Der neoliberale
Clintonism hat auch den Aufstieg von Trump verursacht.
Die Uhr tickt – für den nächsten Zusammenbruch der
Wall Street, für die Kernschmelze des Klimas, die expandierenden Kriege, das Abgleiten zu Faschismus, nuklearer
Konfrontation und vielem mehr. Dies ist die Zeit, mit Mut
für unsere Überzeugungen einzustehen, solange wir noch
können. Vergesst das kleinere Übel. Kämpft für das größere Gute – als würde unser Leben davon abhängen, denn
das tut es. Die Unternehmerparteien werden das für uns
nicht klären. Wir sind die, auf die wir gewartet haben.“
Dem stimmen wir voll zu und dies begründet einmal
mehr, warum heute die Zeit für den Auf bau unabhängiger
Politik ist.
19. Juli 2016
Quelle: https://www.solidarity-us.org/site/node/4736
Übersetzung: Björn Mertens
„
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
RASSISMUS IN DEN
USA
Auch 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und der formalen Gleichstellung
der Schwarzen in den USA prägt die rassistische Diskriminierung deren Alltag.
Nachfolgend ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung dieser Unterdrückung
und der Stationen der Gegenwehr in den vergangenen 100 Jahren.
Ein Dossier mit 5 Beiträgen
USA – Klassensolidarität gegen
rassistische
Gewalt
US-Arbeiterbewegung
und Rassismus
(1930/40)
SEITE 34
SEITE 35
Die Bürgerrechtsbewegung
Wege der
Befreiung
Abschwung nach
den 70ern
SEITE35
SEITE 39
SEITE 42
Inprekorr 5/2016 33
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
USA – KLASSENSOLIDARITÄT GEGEN RASSISTISCHE GEWALT
Dass die Schwarzen von Hillary Clinton nicht
mehr zu erwarten haben als von Trump zeigt
bspw. die Strafrechtsreform von 1994 unter Bill
Clinton, die am Anfang der großen Inhaftierungswelle vorwiegend Schwarzer stand. Yvan Lemaitre
Den US-Börsen geht es prächtig: Die Indices von Dow
Jones und Standard & Poor’s 500 erreichen Rekordmarken,
gepuscht von den Geldhäusern JP Morgan Chase, Citigroup und Goldman Sachs.
Unterdessen preist die US-Regierung als Erfolg, 287 000
Arbeitsplätze geschaffen zu haben – 112 000 mehr als
erwartet –, die vorwiegend aus Gelegenheitsjobs im Dienstleistungsgewerbe, v. a. in Gastronomie, Freizeitindustrie,
Gesundheitswesen und IT bestehen. Die Arbeitslosenquote
hingegen ist offiziell von 4,7 % auf 4,9 % der erwerbsfähigen
Bevölkerung gestiegen und einer von sieben US-Amerikanern lebt in Armut, 40 % davon als „working poor“.
Die Profite nähren sich also aus Prekarität, Armut und
wachsender Ungleichheit, sodass sogar der IWF in seinem
Jahresbericht über die US-Wirtschaft anmahnt, dass
„dringender Handlungsbedarf “ auf diesem Gebiet besteht.
Polizeigewalt und Rassismus
Von dieser sozialen Verelendung in den USA sind in erster
Linie die Schwarzen betroffen. Zugleich nehmen Rassismus
und Polizeigewalt zu .Der Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation NAACP (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) meint: „Ein junger Schwarzer hat
ein einundzwanzigmal so hohes Risiko, durch Polizeigewalt zu sterben, wie ein Weißer. Die Zahl der inhaftierten
Schwarzen steigt sprunghaft und liefert damit einen entlarvenden Ausdruck für Unrecht und Gewalt auf allen Ebenen
der Gesellschaft gegenüber den Schwarzen.
Genau diese rassistische Polizeigewalt steckt hinter den
34 Inprekorr 5/2016
Tötungen in Dallas, wo fünf Polizisten bei einer Protestversammlung erschossen wurden, die sich gegen die
Polizeimorde an Schwarzen richtete, bei denen einer bei
einer Straßenkontrolle vor den Augen seiner Frau und
Tochter erschossen wurde und der andere, als er bei seiner
Verhaftung am Boden lag. Auch hinter den Anschlägen
von Baton Rouge in Louisiana steckt derselbe Mechanismus, der dazu geführt hat, dass seit Anfang des Jahres 500
Personen von der Polizei getötet worden sind.
Seit dem Mord an dem jungen Schwarzen Michael
Brown vor zwei Jahren in Ferguson nimmt der organisierte
Protest unter der afroamerikanischen Bevölkerung zu. Die
„Black lives matter“-Bewegung (BLM) erfasst inzwischen
das ganze Land. Auch nach dem Anschlag in Dallas gehen
die Proteste gegen die Polizeigewalt weiter – trotz aller
Repression mit bisher über 200 Verhaftungen.
Wahlzirkus
Nach kurzer Unterbrechung infolge der Ereignisse sind
Trump und Clinton rasch zur Tagesordnung zurückgekehrt
und betreiben wieder ihren Wahlkampfzirkus. […] Die
Trauer war rasch verflogen. Trump, der zu einer “starken
Führung, zu Liebe und Mitgefühl” aufgerufen und “die zu
große Spaltung des Landes, in dem die Spannungen zwischen den Rassen schlimmer statt besser werden” beklagt
hatte, hat inzwischen seinen Vizekandidaten ausgerufen.
Mike Pence, Gouverneur von Indiana, steht der evangelikalen Rechten nahe. Als erbitterter Abtreibungsgegner hat
er kürzlich ein Gesetz verabschieden lassen, wonach der
Schwangerschaftsabbruch im Falle einer Missbildung des
Fötus verboten ist. Im Vorjahr hatte er bereits die Rechte der LGBT beschnitten, als er ein Gesetz durchbrachte,
durch das es Handel und Gastronomie erlaubt wird, Homosexuelle aus religiösen Gründen nicht zu bedienen.
Bei den Demokraten hat sich Sanders hinter Clinton
gestellt, „um Trump zu verhindern“, der schlagfertig
zurückkeilte: „Wenn Bernie Sanders die Lügnerin Hillary
unterstützt, ist dies, wie wenn ‚Occupy Wall Street‘
Goldman Sachs aufwartet.“ Dieser Hieb sitzt leider an der
richtigen Stelle, denn die Lohnabhängigen, die Schwarzen
und die einfachen Leute haben von diesem Wahlzirkus
nichts zu erwarten.
Die BLM-Bewegung weist den ausgebeuteten und
beherrschten Klassen den richtigen Weg: „Organisiert
Euch, nehmt Eure Geschicke in die eigenen Hände und
schafft Euch eine eigene Partei!“
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
US-ARBEITERBEWEGUNG
UND RASSISMUS
(1930/40)
Die Zweite industrielle Revolution führte zur
Integration der Schwarzen in die US-Arbeiterklasse und – mit wechselndem Ausgang – auch
in deren Organisationen. Xavier Guessou
Der US-Kapitalismus erlebte nach dem Ersten Weltkrieg
einen tiefen Umbruch: Durch massenhaften Einsatz ungelernter Arbeitskräfte für eine in viele simple Einzelschritte
zerlegte Tätigkeit konnte Ford 1925 an einem einzigen
Tag so viele Autos produzieren lassen wie im gesamten Jahr
1908. Eine neue Arbeiterklasse entstand, die aus Hunderttausenden an- oder ungelernter ArbeiterInnen bestand und
in den Massenfabriken der Automobil- oder Stahlindustrie etc. tätig war und wo die Schwarzen inzwischen eine
bedeutende Minderheit repräsentierten.
Die Arbeiterbewegung war jedoch weitgehend rassistisch geprägt. Die meisten Gewerkschaften des Gewerkschaftsbundes AFL waren nur daran interessiert, die – nahezu ausschließlich weißen – Facharbeiter zu organisieren.
Schwarze wurden gar nicht aufgenommen oder sogar
gegen deren Anstellung gekämpft. Als mit der Weltkrise
1929 ein Jahrzehnt hoher Profite zu Ende ging und viele
alte Gewissheiten infrage gerieten, stieß auch ein klassenkämpferischer Antirassismus auf offene Ohren.
Die KPUSA der 30er Jahre
Nach 1928 befasste sich die Kommunistische Partei der USA
(KPUSA) zunehmend mit dem Problem der Rassendiskriminierung. Da die Schwarzen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen waren und die KP die Priorität auf den
Aufbau von Arbeitslosenkomitees setzte, konnte sie sich in
den Schwarzenghettos verankern. Daneben gründete sie die
„International Labor Defense“ als Zweig der Internationalen
Roten Hilfe, die sich vehement gegen Lynchjustiz einsetzt
und die Schwarzen als „Gefangene des Klassenkriegs“ sieht.
Insofern kam auch eine umgehende Reaktion, als im
März 1931 neun junge Schwarze in Alabama unter der
falschen Anschuldigung, zwei weiße Frauen vergewaltigt
zu haben, verhaftet und stante pede zum Tode verurteilt
wurden. Durch eine weltweite Verteidigungskampagne
konnten die sog. „Scottsboro boys“ vor der Hinrichtung
bewahrt werden, büßten teilweise jedoch jahrelange
Gefängnisstrafen ab. Dadurch stieg das Renommée der
KPUSA unter weiten Teilen der schwarzen Gemeinde, da
ihre GenossInnen offensichtlich auch durch Festnahmen
und Polizeigewalt sich nicht davon abhalten ließen, für die
Schwarzen einzutreten. Zudem war damit der Beweis
erbracht, dass breite Aktionen und die Einheit zwischen
weiß und schwarz fruchteten.
Auf Initiative der KP wurde die Landarbeitergewerkschaft Sharecroppers’ Union (SCU) gegründet, die nahezu
10 000 Mitglieder in der Region Alabama umfasste.
Bekannt wurde die bewaffnete Auseinandersetzung
zwischen einer Gruppe von SCU-Mitgliedern und der
Staatsmacht, die einen überschuldeten Bauern von seinem
Land vertreiben wollte. Trotz offizieller Rassentrennung
und extremer Repression schaffte es die KPUSA, in Alabama eine weitgehend aus Schwarzen bestehende Gliederung
aufzubauen, die 1934 aus 1000 Mitgliedern bestand. In der
ersten Hälfte der 1930er Jahre war sie durchgängig
antirassistisch ausgerichtet und bekämpfte gleichermaßen
die italienische Intervention in Äthiopien wie die Rassendiskriminierung im Profisport etc. Auch wenn ihre Politik
damals sektiererisch war, gelang es ihr dennoch, den
Schwarzen ein eigenes politisches Organ zu verschaffen, in
dem sich auch die schwarzen Arbeiterinnen wiederfinden
konnten, die wie Claudia Jones ihre dreifache Unterdrückung theoretisierten und bekämpften.
Im Zuge der Hinwendung zur Volksfrontpolitik
weichte die KP ihre antirassistischen Positionen auf, um
sich ihren neuen Verbündeten anzudienen. Dass sie nicht
mehr bedingungslos die Kolonialvölker unterstützte, ein
Bündnis mit der Gewerkschaftsbürokratie anstrebte und
Wahlkampf für Roosevelt unter nationalistischen Vorzeichen betrieb, nahm der antirassistischen, letztlich auch
klassenkämpferischen Ausrichtung der KP alle Schärfe:
Indem sie aufhörte, revolutionär zu sein, setzte sie ihren
Antirassismus aufs Spiel.
Die kurze Blüte der CIO
Ab 1934 kam es zu massiven Kämpfen der Arbeiterklasse. Mit drei siegreichen Streiks unter antikapitalistischer
Führung (Toledo, San Francisco und Minneapolis, letzteInprekorr 5/2016 35
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
rer unter trotzkistischer Dominanz) wurde deutlich, dass
Proteste zum Erfolg führen können: Mithilfe unerschrockener Führer begannen die Arbeiter, sich selbst zu organisieren und sich sogar bewaffnet gegen die Nationalgarde zu
verteidigen.
Im Gefolge dieser Streiks entstand ein neuer Gewerkschaftsverband: der CIO (Congress of Industrial Organizations). Teile der Gewerkschaftsbürokratie – voran John
Lewis, der Führer des Bergarbeiterverbandes UMW – hatten erkannt, dass eine Konkurrenzgewerkschaft unter
revolutionärer Führung entstehen könnte, wenn nicht
vorbeugend „Industriegewerkschaften“ geschaffen würden,
in denen alle Arbeiter einer Industrie ungeachtet ihrer
Qualifikation und somit auch ihrer Hautfarbe organisiert
sind. Da die Unternehmer das Recht auf gewerkschaftliche
Organisierung schlichtweg nicht zuließen, musste sich der
CIO mittels massenhafter Mobilisierungen, die wie
„antirassistische Kreuzzüge“ anmuteten, durchsetzen. In
der Automobilindustrie wurde Ford als letzter Arbeitgeber
durch einen Streik in die Knie gezwungen, nachdem zuvor
in ganz Detroit eine Massenkampagne geführt worden war,
wo die Gewerkschaft Dutzende schwarzer Aktivisten
rekrutierte, die in den Ghettos intervenieren sollten. Selbst
vor den Toren der Ford-Werke am Rouge River hielten
schwarze Prediger Ansprachen an die Arbeiter. Eben
aufgrund dieser antirassistischen Kampagne verlief der
Streik letztlich erfolgreich.
In der Stahlindustrie führte die gewerkschaftliche
Organisierungskampagne dazu, dass Ende der 1930er Jahre
in manchen Regionen die Rassentrennung vollkommen
aufgehoben wurde – etwa in Schwimmbädern, Kinos oder
Restaurants. Die Stoßtrupps des CIO, der 1938 aus der AFL
ausgeschlossen wurde, bestanden aus Mitgliedern des UMW.
Der hatte es seit 1890 geschafft, eine Organisation aufzubauen, die mit einer Kampagne für die Rechte der Schwarzen in
der Lage war, der Rassentrennung im Süden die Stirn zu
bieten und zahlreiche Schwarze für führende Positionen der
lokalen Gewerkschaftsstrukturen zu rekrutieren.
Viele sagten sich daher: Wenn wir es geschafft haben,
die Unternehmer in die Knie zu zwingen und unser
Koalitionsrecht gegenüber Roosevelt und seinen bewaffneten Truppen durchzusetzen, warum sollten wir dann nicht
versuchen, unsere eigene Arbeiterpartei aufzubauen und
für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die Arbeiter
bestimmen? Insofern entstand parallel zum Auf bau des
CIO eine Massenbewegung für den Auf bau einer Arbeiterpartei in bewusster Abgrenzung zu den Republikanern und
Demokraten. Nur mit Mühe gelang es der Gewerkschafts36 Inprekorr 5/2016
bürokratie, dies mit aktiver Beihilfe der KP abzuwiegeln,
die 1940 im CIO 40 % der Führungskader stellte. Aber
auch wenn sich die KP in den Gewerkschaftsapparat
integriert und ihre eigenen Betriebszellen nach 1938
aufgelöst hatte, blieb an der Basis eine antirassistische und
klassenkämpferische Tradition auch über die eigenen
Reihen hinaus bestehen. Allein 1940 schlossen sich 500 000
schwarze Arbeiter dem CIO an.
Mit Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg
entstand ein erheblicher Anpassungsdruck an das System
auf die Führungen beider Gewerkschaften. Die Teamster
von Minneapolis und deren gewerkschaftliche Vertretung
aus den Reihen der trotzkistischen SWP wurden 1941
wegen ihrer Opposition gegen den imperialistischen Krieg
vor Gericht gestellt und im Namen des „Smith Act“, eines
Gesetzes zur Beschneidung der Meinungsfreiheit, zu 18
Monaten Gefängnis verurteilt – unter dem beifälligen
Nicken der KPUSA.
Obwohl beide Gewerkschaftsführungen den Verzicht
auf Streiks während des Krieges (No strike pledge) erklärt
hatten, wuchs der Widerstand gegen die Kriegsgewinnler.
Die Bergarbeiter unter dem aus der CIO-Führung ausgeschlossenem John Lewis führten 1943 etliche erfolgreiche
Streiks. Allenthalben kam es zu wilden Streiks in sämtlichen Großindustrien, die bis Kriegsende weiter zunahmen.
Die KP hingegen profilierte sich damals als Vorreiter der
Burgfriedenspolitik: Sie verteidigte den „No strike pledge“
und sogar den Akkordlohn und protestierte nicht einmal
gegen die Internierung japanischstämmiger US-Amerikaner in Konzentrationslagern.
Zu jener Zeit legte die KP-Führung auch die Rassenfrage im Namen der „antifaschistischen“ Allianz zwischen
USA und der UdSSR ad acta. Die Schwarzen hatten aber
inzwischen genug Selbstvertrauen, um aus eigener Kraft
weiter zu kämpfen. Da ihr Anteil an der Industriearbeiterschaft inzwischen stark gestiegen war und sie auch als
US-Soldaten im Krieg kämpften, protestierten sie jetzt
auch gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz und in der
Armee. Der sozialistische Gewerkschafter A. Philip
Randolph drohte mit einem Protestmarsch gegen die
Rassentrennung auf Washington, weswegen Roosevelt
Maßnahmen ergriff, die nach dem Krieg unter dem
wachsenden Druck der Schwarzen zur Aufhebung der Rassentrennung in der Armee führten.
Rollback in der McCarthy-Ära
In den Jahren 1945/46 erlebten die USA die bisher größte
Streikwelle: 3 470 000 Streikende 1945 und 4 600 000 in
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
1946. Wurde der Aufstieg der Arbeiterbewegung nach
dem Ersten Weltkrieg noch erstickt, waren diesmal die
Streiks überwiegend erfolgreich. Beim Streik bei General
Motors forderten die Streikenden gar von den Unternehmern die Offenlegung der Geschäftsbücher.
Aber ab 1946 ging die Bourgeoisie massiv zum Gegenangriff über. Die antikommunistische Paranoia unter
McCarthy führte nicht nur zu Säuberungswellen unter
Künstlern und Intellektuellen sondern auch dazu, dass
nahezu die gesamte radikale Vorhut der Arbeiterbewegung
zerschlagen wurde: Tausende verloren ihre Arbeitsstelle
oder wurden ins Gefängnis geworfen. Im CIO führte eine
Massensäuberung dazu, dass 1949/50 eine Million
Mitglieder ausgeschlossen wurden.
Davon hat sich die US-Arbeiterbewegung, die fortan
unter der unangefochtenen Fuchtel prokapitalistischer
Reaktionäre stand, nie mehr erholt. Nachdem die klassenkämpferische Strömung, die zugleich auch die Speerspitze
im antirassistischen Kampf war, zerschlagen war, führten
die Arbeitskämpfe der Nachkriegszeit im Unterschied zu
den 30er Jahren nicht mehr zu einer politischen Radikalisierung. Das reaktionäre Klima engte den Spielraum der
schwarzen Arbeiter ein, die durch ein diskriminierendes
Schema der Betriebszugehörigkeit in unterqualifizierte
Jobs gedrängt wurden, ohne dass seitens der Gewerkschaftsführungen dagegen vorgegangen wurde.
Trotzdem gab es unter einzelnen Gewerkschaften auch
in dieser Zeit Widerstand, besonders im Süden. Beispiele
hierfür waren die radikale Bergarbeitergewerkschaft Mine
Mill, die Landarbeitergewerkschaft FTA und die UPWA
in den Schlachthöfen: Sie waren in der Lage, gegen die
diskriminierenden Praktiken der Unternehmer zu
protestieren, Kampagnen gegen den gesellschaftlichen
Rassismus zu führen und trotz der Rassentrennung
gemeinsame Freizeitunternehmungen zwischen Schwarz
und Weiß zu organisieren etc. In der FTA gab es sogar
schwarze Gewerkschaftsführer – eine absolute Ausnahme
damals. Auch wenn viele dieser Ansätze antirassistischer
Tätigkeit unter den Arbeitern zerschlagen wurden, haben
sie doch ein Erbe hinterlassen, das uns weist, dass durch
klassenkämpferische Politik der Rassismus auch unter den
schwierigsten Bedingungen zurückgedrängt werden kann.
Übersetzung: MiWe
„
DIE BÜRGERRECHTSBEWEGUNG
Von den ersten Sklavenaufständen über die
Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Revolte
in den Ghettos liefert die Geschichte der
schwarzen Bevölkerung in den USA ein
reiches Feld an Erfahrungen, Projekten und
Lehrbeispielen. Galia Trépère
They said if you was white should be all right
If you was brown stick around
But as you black, oh brother
Get back, get back, get back
(Refrain eines Volksliedes aus dem Süden der USA)
Das United States Census Bureau der Bundesregierung
der Vereinigten Staaten und die Einzelstaaten legten fest,
welcher Rasse jemand angehörte. In Georgia wurde jede
Person mit einem farbigen Vorfahren, gleich welcher
Generation, selbst als farbig eingestuft. Und ob jemand
als Weißer oder Nicht-Weißer galt, hatte grundlegende
Auswirkungen, besonders in den 29 Staaten, in denen die
Rassentrennung existierte.
Schwarze konnten bspw. nicht dort wohnen, wo sie
wollten. Die Gemeindeverordnungen, die vor Gericht
rechtsverbindlich waren, verboten ihnen den Zugang zu
bestimmten Wohnvierteln und wenn sie es jemals wagten,
sich in Wohngegenden der Weißen niederzulassen,
wurden sie eingeschüchtert, bedroht und terrorisiert. Auf
der Arbeit waren sie die letzten, die eingestellt, und die
ersten, die entlassen wurden. Meist waren sie arbeitslos,
verrichteten Schwerstarbeit in Arbeitslagern oder waren
als Gesinde angestellt – 45 % der Hausangestellten waren
Schwarze. Selbst während des Zweiten Weltkriegs, als die
Waffenindustrie händeringend nach Arbeitskräften suchte,
waren nur 3 % der Arbeiter dort Schwarze.
In 14 Bundesstaaten durften Schwarze nicht dieselben
Zugabteile, Wartesäle, Restaurants oder Hotels benutzen
wie die Weißen. Nur in 18 von 48 war Rassentrennung in
öffentlichen Stätten verboten – ein Gesetz, das allerdings
Inprekorr 5/2016 37
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
nur selten zur Anwendung kam. In 29 von 48 Staaten war es
illegal, dass Angehörige verschiedener Rassen untereinander
heirateten und Kinder bekamen. Es kam vor, dass Ehen
annulliert wurden, weil einer der beiden Partner angeblich
ein Sechzehntel schwarzes Blut in den Adern hatte.
Die Schwarzen standen nicht nur unter dauernder
Beobachtung seitens der Behörden sondern auch der
weißen Rassisten. Wie sehr die Bevölkerung von der
rassistischen Pest durchdrungen war, zeigt die damalige
Stärke des Ku Klux Klans, der in seiner Hochzeit 1925
sechs Millionen Mitglieder hatte und mit 40 000 TeilnehmerInnen nach Washington vor das Kapitol zog. Nach
einem Abflauen in den 30er Jahren kam es während des
McCarthyismus der Nachkriegsjahre zu einem Wiederaufschwung. Anfang der 60er Jahre konnte er in manchen
Städten der Südstaaten ungestraft aufmarschieren und sich
öffentlich zu Morden an Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung bekennen.
Die Kampagne gegen Rassentrennung
Rosa Parks erhielt nach ihrem Tod 2005 ein Staatsbegräbnis. Als sie sich freilich am 1. Dezember 1955 im Alter von
43 weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu
räumen, war sie noch dafür festgenommen worden. Dies
war damals der Auftakt zur Bürgerrechtsbewegung.
Als Zeichen des Protestes organisierten schwarze
AktivistInnen einen Busboykott, was einen Umsatzeinbruch von 60 % zur Folge hatte. Nach mehrmonatigem
Kampf und Terrormaßnahmen des KKK entschied das
Bundesbezirksgericht schließlich am 4. Juni 1956, dass die
Segregationspraxis in den öffentlichen Verkehrsmitteln in
Alabama illegal sei. Bis zum Ende des Jahres wurde in 21
weiteren Städten im Süden nach vergleichbaren Boykottmaßnahmen die Rassentrennung im Transportwesen
aufgehoben. Einer der prägenden Figuren dieser Bewegung
war Martin Luther King, damals Prediger in Montgomery.
Er gehörte 1957 zu den Gründungsvätern der Southern
Christian Leadership Conference (SCLC).
Junge StudentInnen, die 1961 das Student Nonviolent
Coordinating Committee (SNCC) gründeten, führten
Sitzstreiks (Sit-ins) durch, um Plätze, Bars, Restaurants
oder Geschäfte zu besetzen, die für Schwarze verboten
waren. Andere Aktionen gegen die Rassentrennung in den
Überlandbussen, sobald diese die Nordstaaten verließen,
wurden vom Congress of Racial Equality (CORE)
organisiert und von jungen weißen und schwarzen AktivistInnen aus dem Norden durchgeführt, die sich „Freedom
Riders“ nannten. Große Aufmerksamkeit wurde ihnen
38 Inprekorr 5/2016
zuteil, als die New York Times 1961 ein Titelphoto von
einem dieser Busse veröffentlichte, der von Rassisten zur
Explosion gebracht worden war.
Die Rassentrennung galt auch für öffentliche Schulen
und Universitäten trotz gegenteiligen Beschlusses durch
den Obersten Gerichtshof von 1954 (Causa Brown). In
Little Rock, Arkansas, befahl 1957 der rassistische Gouverneur Orval Faubus der ihm unterstellten Nationalgarde,
neun schwarzen Studenten den Zutritt zur Universität zu
verwehren. Sie wurden von den Garden und der weißen
Bevölkerung weggedrängt und beleidigt, aber sie wichen
nicht. Als sie dann auf Geheiß der Bundesverwaltung unter
militärischem Geleit zur Universität zugelassen wurden,
exmatrikulierten sich weiße StudentInnen und später
wurde die Universität seitens der Stadtverwaltung sogar
geschlossen. Im Juni 1963 postierte sich sogar der Gouverneur von Alabama, George Wallace, höchstselbst vor dem
Portal der Universität von Alabama, um zwei schwarzen
Studenten den Zutritt zu versperren.
Dort, wo es um kommerzielle Interessen ging, etwa in
Bussen, Restaurants oder Bars, waren diese Kampagnen
erfolgreich. Viel schwieriger war es, die Gleichberechtigung in den Schulen durchzusetzen. Noch schwerer, aber
entscheidend war der Kampf um das bedingungslose
Wahlrecht. Er begann, nachdem im „Gesetz über die
Bürgerrechte“ vom 2. Juli 1964 in den ganzen USA die
Rassentrennung an öffentlichen Stellen und in den Schulen
verboten worden war. Mit diesem Gesetz wurde auch die
Benachteiligung bei der Arbeitsplatzsuche verboten, vom
Wahlrecht jedoch war keine Rede.
Die Kampagne für das Wahlrecht
Das Wahlrecht konnte von den lokalen Behörden gewährt,
beschränkt oder verwehrt werden und war oft an Steuerzahlungen gekoppelt. Die größte Hürde jedoch war, dass
Wahlen in den Augen des KKK eine „Angelegenheit der
Weißen“ waren und die Schwarzen, die wählen wollten,
schikaniert oder gar ermordet wurden.
Dort, wo die Schwarzen die Bevölkerungsmehrheit
stellten, waren die Hürden zur Einschreibung in die
Wahlregister am höchsten. In der Stadt Selma in Alabama
waren über 50 % der Einwohner Schwarze, insgesamt
15 000. Davon waren nur 383 auf den Wählerlisten
registriert. In Mississippi durften nur 6,4 % wählen.
Als der SNCC in diesem Staat die Einschreibung der
Schwarzen in die Wählerlisten durchsetzen wollte, wurden
im Lauf des Sommers 1964 insgesamt 35 Kirchen angesteckt, 30 Gebäude in die Luft gesprengt, 80 Menschen
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
verprügelt und mindestens sechs umgebracht. Nachdem in
Selma am 18. Februar 1965 ein junger Aktivist von den
Bullen totgeprügelt worden war, rief der SCLC zu einem
Marsch nach Montgomery, der Hauptstadt von Alabama,
auf, um den Gouverneur Wallace zur Rede zu stellen.
Martin Luther King unterstützte den Marsch, nahm aber
nicht am Auftakt am 7. März 1965 teil. An diesem Tag
begaben sich 600 Marschierer auf die Edmund-PettusBrücke, benannt nach einem Südstaaten-General und
Führungsfigur des KKK in Alabama. Ihnen gegenüber
standen 150 bewaffnete und teils berittene Zivilisten und
Polizisten. Sie trugen Gasmasken, Schlagstöcke, Peitschen
oder Elektroknüppel, die zum Viehtrieb verwendet
wurden. Hinzu kamen zahlreiche weiße Schaulustige aus
der Stadt.
Die Marschierer wurden unvermittelt mit Pferden und
Tränengas malträtiert und am Ende standen 90 Verletzte.
Die Szenerie wurde von Presse und Fernsehen aufgezeichnet
und am selben Abend über ABC gesendet: eine viertel
Stunde lang Schreie und Knüppelschläge ohne Kommentar.
Daraufhin kehrte Luther King nach Selma zurück und
schwor, dass der Marsch fortgeführt würde. Landesweite
Aufrufe ergingen und fast 1000 Menschen schickten sich
an, die Brücke erneut zu überqueren. Auf richterlichen
Beschluss wurde der Marsch bis auf Weiteres untersagt. Als
er dann trotzdem am 9. März stattfand, wurde er erneut auf
halber Strecke beendet – diesmal auf Geheiß von Luther
King zur Deeskalation. […]
Nachdem am 15. März die richterliche Genehmigung
erfolgt war und Präsident Johnson ein Gesetz zum Wahlrecht vor dem Kongress und im Fernsehen angekündigt
hatte, machten sich am 21. März 3600 Marschierer unter
dem Schutz der Nationalgarde auf nach Montgomery und
erreichten ihr Ziel nach vier Tagen. Am Folgetag sprach
Luther King vor 25 000 DemonstrantInnen vor dem State
Capitol Building in Montgomery und am selben Tag legte
Johnson dem Kongress das neue Gesetz vor, das mit
übergroßer Mehrheit in beiden Kammern angenommen
und am 6. August 1965 von Johnson ratifiziert wurde.
Zwischen 1965 und 1968 schrieben sich im tiefsten
Süden 740 000 neue afro-amerikanische WählerInnen
ein. Der zentrale Bestandteil der rassistischen Jim-CrowGesetze war damit erledigt und mit ihm die fast 70 Jahre
dauernde Rassentrennung.
Unter leichter Kürzung übersetzt von MiWe
„
WEGE DER
BEFREIUNG
Im Laufe der Revolution der Schwarzen in den
Jahren 1955 bis 1970 entstanden viele Organisationen, die sich von bereits bestehenden scharf
abgrenzten. Auch wenn es zu heftigen Debatten
und harscher Kritik kam, ging es doch stets darum, Wege zur Emanzipation des afroamerikanischen Volkes zu finden. Galia Trépère
Vor der Bürgerrechtsbewegung
Eine der ältesten und einflussreichsten Organisationen
der Schwarzen war die National Association for the
Advancement of Colored People (NAACP), die 1909, als
den Schwarzen gewaltsam die Rassentrennung auferlegt
werden sollte, von W.E.B. Du Bois und anderen jungen
schwarzen Intellektuellen gegründet wurde. Die NAACP
bekämpfte alle Formen der Diskriminierung, führte juristische Auseinandersetzungen und verteidigte die Schwarzen, die Opfer von Gewalttaten geworden waren. Ende
des Zweiten Weltkriegs zählte sie über 540 000 Mitglieder,
darunter auch Rosa Parks, die wie viele andere aus der
Bürgerrechtsbewegung kam.
Während die NAACP für die Integration der Schwarzen
eintrat, träumte Marcus Garvey – ein 1887 in Jamaica
geborener Drucker und späterer Journalist – nach dem
Ersten Weltkrieg von einem „Königreich Afrika“, das es zu
erobern galt. Er wurde damit ungeheuer populär und
konnte 1920/21 mehrere Millionen Anhänger hinter sich
scharen. Man mag sich wundern, dass eine solche Utopie
derart erfolgreich war, aber was er darin zum Ausdruck
brachte, war der Stolz der schwarzen Bevölkerung auf ihre
Herkunft und die Überzeugung, dass von den Weißen
ohnehin nichts zu erwarten war. Während Garvey die
NAACP bekämpfte, brach Du Bois, der sich der marxistischen und kommunistischen Idee zugewandt hatte, mit der
NAACP, als diese sich weigerte, einen Aufruf des afroamerikanischen Volkes an die Vereinten Nationen zu richten,
und trat für den Panafrikanismus und die Vereinigung der
Afroamerikaner mit den gegen den Kolonialismus kämpfenden Afrikanern ein.
Inprekorr 5/2016 39
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
Elijah Muhammed, der die „Nation of Islam“ anführte, vertrat wie Garvey die Ansicht, dass Gott ein Schwarzer
sei, propagierte jedoch den Islam in bewusster Abgrenzung
vom christlichen Protestantismus als Religion der Sklavenhalter. In dieser Organisation erwarb Malcolm Little seine
ersten Sporen als Redner und Organisator, nachdem er
seine Jahre im Gefängnis mit Lektüre und Studien
zugebracht hatte. Sein Vater, ein Prediger, war 1925 von
einem Kommando des Ku Klux Klan bedroht worden,
weil er Anhänger von Marcus Garvey war. Als sich
Malcolm den Black Muslims zuwandte, legte er folglich
auch seinen Sklavennamen ab und nannte sich Malcolm X.
Verbindendes und Trennendes
Von Beginn an war die Bürgerrechtsbewegung mit dem
Namen von Martin Luther King verbunden, der zur Zeit
des Bus-Boykotts in Montgomery 1955 dort Prediger war.
Damals war er 26 Jahre alt und blieb bis zu seiner Ermordung am 4. April 1968 mit dieser Bewegung verbunden.
Er bekannte sich zur Gewaltlosigkeit, was zweifellos
religiös begründet war, genauso sehr aber auch taktische
Gründe hatte. Daniel Guérin schrieb dazu: „Martin
Luther King verwahrte sich dagegen, Pazifist zu sein, und
bestand vielmehr auf den konkreten und positiven Aspekten wie auch dem Idealismus seiner Kampfmethoden.
Seine Gewaltlosigkeit war nicht Ausdruck der Feigheit,
sondern seines Verständnisses von militantem Engagement
und er war in hohem Maße aktiv und nicht passiv. […]
Für eine Minderheit, wie sie die Afroamerikaner
darstellen, die unbewaffnet oder gemessen an ihrem
Gegner ungleich schlechter bewaffnet sind, war Gewalt in
den Augen von Luther King eine waghalsige Taktik,
sowohl im Offiziellen wie auch im Privaten. Außerdem
war sie für ihn nicht opportun, da damit der Teil der
öffentlichen Meinung abgeschreckt würde, der zur
Empörung über einen Gegner neigt, der zu Lynchjustiz,
Terror, Mord und Massakern selbst an Kindern greift.“1
Er wurde dafür hart kritisiert von Malcolm X, der ihm
vorwarf, ein „Onkel Tom“ zu sein, der sich von den
weißen Machthabern instrumentalisieren ließ, als er am
28. August 1963 vor 250 000 Teilnehmern beim Marsch
auf Washington sprach. Er warf ihm vor, mit Kennedy
verhandelt und diesem ermöglicht zu haben, den Marsch
für sich zu reklamieren und sich als Partner im Kampf der
Schwarzen zu präsentieren, während der Staat nichts gegen
die Rassisten unternahm.
Bei anderen Anlässen wurde er auch von den jungen
AktivistInnen des ‚Student Nonviolent Coordinating
40 Inprekorr 5/2016
Committee‘ (SNCC) kritisiert, von denen einige später
führende Mitglieder der Black Panthers wurden, wie
Eldridge Cleaver, Stockely Carmichael oder Huey Newton. Trotzdem erwies Cleaver King nach dessen Ermordung seine Achtung und erinnerte an „die wütenden
Reaktionen, die er erntete, als er das Ende der US-Bombardements in Nordvietnam, Verhandlungen mit der FNL
und die Aufnahme der VR China in die UN forderte. […]
Letzten Endes kann gut sein, dass King trotz alledem
Amerika geprägt und im Innersten getroffen hat und dass
wir unseren revolutionären Kampf deswegen gewinnen
können, weil er so weit gegangen ist.“2
In der Bürgerrechtsbewegung entwickelten diese
Aktivisten unter dem Einfluss von Malcom X die Losung
der „Black Power“ und gründeten die „Black Panthers“.
Malcolm X
Malcolm X hatte bei den jungen Aufständischen in den
Ghettos großes Prestige erlangt, da er ihnen den Stolz
darauf, Schwarze zu sein, vermittelte sowie das Gefühl
ihrer Würde und die Bereitschaft, ihr Leben selbst in die
Hand zu nehmen, statt in die Kriminalität abzugleiten. Er
gab dem Hass Ausdruck, den sie gegen die Rassisten und
Weißen empfanden, und prangerte die Prinzipien der Gewaltlosigkeit an, die von Martin Luther King eingefordert
wurden. „Es gibt keine Revolution, in der man die andere
Wange hinhält. Eine gewaltfreie Revolution gibt es nicht.“
Die Black Muslims forderten einen schwarzen Staat.
Insofern kam für sie nicht infrage, an der Bürgerrechtsbewegung teilzunehmen, deren Ziel in ihren Augen darin
bestand, von den Weißen akzeptiert zu werden. „Wir
wollen, dass unser Volk, dessen Eltern und Großeltern
Nachfahren von Sklaven sind, auf diesem oder einem
anderen Kontinent einen eigenen Staat gründen oder ein
Territorium errichten können, das ihnen gehört. Wir
glauben, dass unsere früheren Sklavenhalter uns dies
schuldig sind.“3
Wie alle anderen Organisationen der Schwarzen auch
erhielten die Black Muslims nach dem Zweiten Weltkrieg
enormen Zulauf. Sie reklamierten 150 000 Mitglieder für
sich und waren in 82 Städten vertreten. Sie – und besonders Malcolm X – stießen auf außerordentliches Gehör
und unter den schwarzen Jugendlichen war besonders
populär, dass sie einen eigenen Ordnerdienst, den „Fruit of
Islam“, zu ihrer Selbstverteidigung unterhielten.
Aber Malcolm X’ Mitgliedschaft wurde von Elijah
Muhammed ausgesetzt, als er Kennedys Ermordung mit
den Worten kommentierte:„Chickens came home to roost
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
(was so viel bedeutet wie „die vergangenen Fehler haben
sich gerächt“). Danach war er isoliert und ohne Organisation, aber weiterhin sehr populär. Er reiste mehrfach nach
Afrika und gewann die Überzeugung, dass die Kolonialvölker und das afroamerikanische Volk einen gemeinsamen
Kampf gegen den Imperialismus führen müssen. Nach
seinem Bruch mit den Black Muslims gab er deren sektiererische Haltung auf und suchte nach Wegen der Zusammenarbeit zwischen der Bürgerrechtsbewegung und weißen
Sympathisanten. Bei einem Meeting am 21. Februar 1965
wurde er im Alter von 40 Jahren von Mitgliedern der Black
Muslims – wahrscheinlich unter Zutun des FBI – ermordet.
Black Power und die Black Panthers
Die Ideen von Malcolm X verfingen unter den jungen Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung. Ihre Losungen: „Freedom now“ und ab 1966 „Black Power“ waren Ausdruck des
Aufbegehrens unter der schwarzen Jugend und ihrer Ungeduld. „Black Power“ bedeutete, dass die Schwarzen eine
Macht bilden, ihre Städte und Wohnviertel selbst kontrollieren und nur auf sich selbst und nicht auf das vermeintliche
Wohlwollen der Weißen vertrauen sollten. Insofern musste
auch eine unabhängige Partei der Schwarzen gegründet
werden. Dies wurde dann die Black Panther Party (BPP),
die von Huey Newton, Eldridge Cleaver und dann Stockely Carmichael gegründet wurde. Da sie davon überzeugt
waren, dem Repressionsapparat des weißen Staates gegenüber treten zu müssen, wie dies während der Aufstände auch
der Fall war, propagierten sie die Selbstverteidigung und
gründeten, unter Berufung auf den zweiten Zusatzartikel
der US-Verfassung über das Tragen von Waffen, bewaffnete
Milizen in den schwarzen Vierteln.
Die BPP versuchte, in allen Richtungen aktiv zu sein:
Verankerung in den Ghettos, spektakuläre Guerilla-Aktionen oder Theoriebildung. Ein weiterer Schwerpunkt war
die Knastarbeit, wo viele Jugendliche wegen Beteiligung an
den Aufständen einsaßen. Aber aufgrund der scharfen
Repression, die sie erlitt, blieb ihr gar nicht die Zeit, ihre
ganzen Kapazitäten zu entfalten. Viele Mitglieder wurden
ermordet oder ins Exil gezwungen.
eine unabhängige Partei zu schaffen, und der Unterordnung
aller kommunistischen Parteien unter die Schwenks der
stalinistischen Politik. Stattdessen suchten sie einen Ausweg
auf Seiten der politischen Kräfte, die die antikolonialistischen
Revolutionen führten, da ihnen ein gemeinsamer Feind gegenüberstand: der Kolonialismus und der US-Imperialismus.
Aber aus demselben Grund, weswegen die Kolonialländer keine wirkliche Unabhängigkeit erlangen konnten, ohne
den Sturz des Kapitalismus zu betreiben, wird die schwarze
Bevölkerung in den USA die Rassenunterdrückung nur
beenden können, wenn sie die Herrschaft der Bourgeoisie
beendet und den Kapitalismus stürzt. Denn die Rassenunterdrückung kann ohne soziale Ungleichheit und Ausbeutung
nicht bestehen. Rassismus allein beschreibt nicht die reale
Totalität der sozialen Ungleichheit, sondern ist nur ein
komplementärer Bestandteil davon. Die Ausbeuterklassen
machen sich ihn zunutze, um eine noch größere Ausbeutung
zu rechtfertigen, die Ausgebeuteten gegeneinander auszuspielen und die Illusion einer Interessengleichheit zu erzeugen, die angeblich aus derselben Hautfarbe, andernorts aus
derselben nationalen Zugehörigkeit rührt.
Der Aufstand der Afroamerikaner war in sich außerordentlich subversiv, da er die weltweit stärkste imperialistische
Macht geschwächt hat, indem er ihre demokratische Legitimation infrage gestellt hat. Insofern hat er viel dazu beigetragen, dass auch die weiße Jugend rebelliert hat und die USA
den Vietnamkrieg verloren haben. Aber er hätte eine
ungleich glanzvollere Rolle spielen können, wenn er in der
weißen Arbeiterklasse einen Bündnispartner gefunden hätte.
Daher kommt es nicht von ungefähr, dass alle Versuche,
schwarze und weiße ArbeiterInnen zu vereinen, von den
Herrschenden in den USA stets erbittert bekämpft worden
sind, bis hin zu Pogromen seitens des KKK oder anderer.
Diese handelten im Interesse der Herrschenden, da denen
bewusst war, dass ihre Existenz auf dem Spiel steht.
Wir können darauf hoffen, dass unter den neuen Bedingungen, die die wirtschaftliche Entwicklung und die
Revolution der Schwarzen geschaffen haben, etwa dem viel
höheren Anteil schwarzer Lohnabhängiger am US-Proletariat, diese Einheit zustande kommen wird.
Übersetzung unter geringen Änderungen MiWe
„
Vorläufige Bilanz
Die AktivistInnen und Organisationen der Revolution
der Schwarzen hatten kaum die Mittel, um die damaligen
Grenzen zu überwinden, nämlich das Fehlen einer wahrhaft
sozialistischen und internationalistischen Perspektive infolge
der Probleme der US-amerikanischen Arbeiterbewegung,
1 Daniel Guérin, De l’oncle Tom aux Panthères, éditions
10/18, S. 204
2 Zitiert nach Guérin, S. 208
3 Punkt 4 des Muslim-Programms
Inprekorr 5/2016 41
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
ABSCHWUNG
NACH DEN 70ERN
Die frühen 70er Jahre markierten den Höhepunkt von Black Power, waren aber zugleich der
Auftakt zu einem lang anhaltenden Niedergang
der afroamerikanischen Bewegung, der von Repression, Wirtschaftskrise und Einführung einer
systematischen Gefängnishaft gezeichnet ist. Mit
dem Verfall der Kräfteverhältnisse ging auch ein
politischer Abstieg einher, wo nicht mehr eine
Perspektive für die gesamte schwarze Gemeinde,
sondern das Streben nach individuellen Auswegen im Vordergrund steht. Stan Miller
Unter den Strategien, mit denen sich die herrschende
Klasse in den USA die Aufrechterhaltung der bestehenden
Ordnung gesichert hat, spielte die Peitsche stets eine viel
größere Rolle als das Zuckerbrot. Konnte die Bürgerrechtsbewegung noch Gesetzesänderungen erzwingen,
steht die afroamerikanische Bewegung seither unter Dauerbeschuss des Staates.
Zerschlagung der afroamerikanischen
Organisationen
Seit seiner Gründung verfolgt das FBI stets ein Ziel, nämlich
die Überwachung „aufrührerischer“ Bewegungen (Sozialisten, Kommunisten oder schwarze Nationalisten). Dafür
wurden verschiedene „Programme“ zur Gegenaufklärung
ins Leben gerufen, wie etwa das COINTELPRO (COunter
INTELligence PROgram) von 1956 bis 1971.
J. Edgar Hoover, notorischer Antikommunist und unbedingter Verfechter der Rassentrennung, leitete das FBI seit
dessen Gründung 1924 bis zu seinem Tod 1972. Nach zahlreichen Skandalen und dank der hartnäckigen Arbeit des
investigativen Journalismus ist es inzwischen möglich, die
Methoden und das Ausmaß des repressiven Systems zu erfassen, das aus Mord, Einschleusung von Agents provocateurs,
gezieltem Drogenumschlag in den Schwarzenghettos etc.
bestand. Ein Beispiel für die direkte und blutige Verwicklung des FBI war die Ermordung des Chicagoer Führers der
Black Panther Party Fred Hampton am 4. Dezember 1969
42 Inprekorr 5/2016
durch Bundesbeamte anhand von Indizien, die von einem
eingeschleusten Informanten stammten. Daneben wurden
bezahlte Provokateure in die Bewegungen eingeschleust,
um sie zu überwachen, aber auch um Spaltungen und innere
Querelen zu provozieren. Es wurden an „wohlgesonnene“
Zeitungen gezielte Informationen über Strafregister oder
außereheliche Affären von führenden Mitgliedern der Bewegung gestreut. Oder die Polizei provozierte durch Schikanen
sog. „Ungehorsam“, der dann erbarmungslos erstickt wurde.
Die bekanntesten unter den Organisationen der Schwarzen wie die BPP oder die DRUM (Dodge Revolutionary
Union Movement) waren auf ein derartiges repressives Vorgehen nicht gefasst. Hinzu kam, dass die martialische Strategie der BPP und ihr Mangel an innerer Demokratie dem FBI
die Arbeit erleichterten. Die „direkten Aktionen“ lieferten
dem FBI den notwendigen Vorwand für das gewaltsame
Vorgehen und die Binnenstruktur, die von „charismatischen“
Führungsfiguren abhing, erleichterte die Desorganisation der
Gruppe, wenn die Führer im Gefängnis oder im Exil saßen
oder tot waren.
Wohl spielte das FBI dabei die Hauptrolle, aber jede
andere lokale, bundesstaatliche oder nationale Sicherheitsoder nachrichtendienstliche Agentur bediente sich derselben
Methoden. So finanzierte die CIA in den 80er Jahren die
antisandinistischen Contras in Nicaragua durch den Handel
mit Kokain in den Schwarzenghettos, wie 1998 letztlich
eingestanden wurde.
Warum griff die US-Bourgeoisie auf eine derartige Repression zurück? Eben weil sie in der damaligen Zeit (Ende
der 60er, Anfang der 70er Jahre) genauso außerordentlich um
die Stabilität ihres Herrschaftssystems fürchten musste. Auf
internationaler Ebene war nach dem Sieg der kubanischen
Revolution 1959 und dem Scheitern aller konterrevolutionärer Versuche sowie der Niederlage in Vietnam mit dem
Rückzug der US-Truppen 1973 die US-Vormachtstellung seit
dem Zweiten Weltkrieg angeschlagen: Ein kleines, isoliertes
Land hatte die mächtigste Armee der Welt bezwungen.
Die Niederlage in Vietnam war zugleich das Ergebnis der
größten Antikriegsbewegung der Weltgeschichte: Massendemonstrationen in den USA, aber auch „direkte Aktionen“
und Fahnenflucht, ganz abgesehen von Protesten unter den
Soldaten, besonders den schwarzen, selbst.
Fast ein Jahrhundert lang hatte die Rassentrennung nach
dem Sezessionskrieg 1861–1865 die Herrschaft über die
Schwarzen unter Fach und Dach gehalten. Mit der Bürgerrechtsbewegung und ihren Massenmobilisierungen und
erzwungenen Gesetzesänderungen jedoch wurde das Verlangen nach der seit Ewigkeiten versprochenen Gleichheit unter
DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA
den Schwarzen wieder geweckt. Und Black Power bedeutete
die Zuspitzung dieser Bedrohung und ihre Organisationen waren wohl zahlenmäßig bescheiden, aber trotzdem
Ausdruck eines sehr viel tiefer gehenden Protests unter der
gesamten schwarzen Bevölkerung.
Nachdem sie in den frühen 70er Jahren ihren Höhepunkt
erreicht hatte, wurde die afroamerikanische Bewegung
durch die Repression nachhaltig geschwächt. Als die Wirtschaftskrise ausbrach und mit ihr Massenarbeitslosigkeit und
Sozialabbau und die Schwarzen als Sündenböcke herhalten
mussten, waren die radikalen afroamerikanischen Organisationen entweder nicht mehr existent oder nicht mehr dazu in
der Lage, überhaupt noch Widerstand zu organisieren.
Eine neue Variante der Unterdrückung
Von der Wirtschaftskrise der 70er Jahre war gerade die
schwarze Bevölkerung besonders betroffen, zumal sie auch
den Vorwand lieferte, ein neues Repressionsinstrument zu
etablieren: die massenhafte Inhaftierung von Schwarzen.
Mit dem Niedergang ganzer Industrien waren die
Afroamerikaner als erste von der Massenarbeitslosigkeit
betroffen, da sie über die geringste Qualifikation verfügten
und vorwiegend in den Industrieregionen lebten. Hinzu
kamen die Trennung der Rassen nach Wohngebieten, wobei
die Schwarzenviertel besonders vom Abbau der öffentlichen
Dienste, gerade im öffentlichen Verkehrswesen, betroffen
waren und dadurch noch mehr ghettoisiert und vom Wirtschaftsleben abgeschnitten wurden. Die Fabriken wurden
nach China, Mexiko oder in die Südstaaten verlagert, wo die
Gewerkschaftsrechte gering und die Konkurrenz zu immigrierten Niedriglöhnern aus Lateinamerika um die verbliebenen wenig qualifizierten Stellen besonders hoch ist.
Unter Ronald Reagan, dem republikanischen Präsidenten von 1980 bis 1988 begann die systematische Zerstörung
der in den 1930er Jahren erkämpften sozialen Errungenschaften. Um die Unterstützung der armen Weißen und
die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, stellte er die
Schwarzen als Hauptnutznießer dieses sozialen Sicherungssystems dar. Hinzu kam die Medienhetze, die nach dem
Muster von Chiracs berühmter Rede über „den Lärm und
Gestank“ der Immigranten, die übliche Falschpropaganda
verbreiteten, etwa von der „welfare queen“, einer schwarzen
Mutter zahlreicher Kinder, die angeblich Hunderttausende
von Dollars an Sozialhilfe abkassierte.
Zugleich wurde „der Kampf gegen die Drogen“ aufgenommen, will heißen, Menschen bereits beim ersten Delikt
im Zusammenhang mit Drogen – zumeist bloßer Konsum
– ins Gefängnis zu stecken – mitunter jahrelang. Obwohl
10 % der AmerikanerInnen mindestens einmal im Jahr Drogen konsumieren, kaprizieren sich Polizei und Justiz ganz
vorrangig auf die Schwarzen, die festgenommen, durchsucht,
verfolgt und eingeknastet werden. Die Zahl der Gefängnisinsassen in den USA ist sprunghaft angestiegen: Inzwischen
sitzt ein Erwachsener von 100 im Knast und einer von 9 Afroamerikanern ist hinter Gittern oder unter Polizeiaufsicht.
Die Ausrufung des „Drogenkriegs“ in den 80/90er
Jahren zielte auf die verschärfte Stigmatisierung der Schwarzen als notorische Dealer, Junkies und Schmarotzer an der
Sozialversicherung als Rechtfertigung für den Sozialabbau.
Zugleich konnte damit ein anderes soziales Problem angegangen werden, das die herrschende Klasse umtrieb: In
Zeiten der Massenarbeitslosigkeit waren die Schwarzen als
Arbeitskraft überflüssig und konnten gegen noch billigere
Tagelöhner unter den MigrantInnen ausgetauscht werden.
Indem man sie massenhaft wegsperrte, beseitigte man das
Problem und signalisierte den Schwarzen obendrein, dass
jede Form von Protest im Keim erstickt würde und dass
selbst ihre formalen Rechte ausgehebelt würden. Diese
Praxis gilt seither unverändert, gleich welche Partei an der
Regierung ist.
Der „Quotenneger“
Radikale Organisationen blieben von diesem allgemeinen
Niedergang und der Repression nicht verschont und verstummten allmählich. Die Reformisten meldeten sich jetzt
zu Wort und propagierten eine Art positive Diskriminierung
mit Quotierung der Studienplätze und der verantwortungsvollen Positionen, damit auch eine Minderheit unter den
Schwarzen an die Fleischtöpfe der Macht gelangen könne.
Mögen die Schwarzen im Ganzen als Schmarotzer und
Kriminelle behandelt werden, von offizieller Seite werden
einzelne „Vorzeigeexemplare“ hervorgehoben, die sich in die
Mittelschicht emporarbeiten konnten, aber gleichwohl dem
in der US-Gesellschaft grassierenden Rassismus unterliegen.
Die Kriminalisierung der breiten Masse der Schwarzen hingegen trifft kaum auf organisierten Widerstand.
Obamas Wahl zum Präsidenten ist Folge der genannten
Strategie und gewissermaßen der „Quotenneger“ schlechthin und soll demonstrieren, dass die Hautfarbe in den USA
nicht mehr zählt. Wie die Realität jedoch beschaffen ist, wie
sie die übergroße Mehrheit der Schwarzen tagtäglich erlebt,
das zeigt eher die BlackLivesMatter-Bewegung
Übersetzung: MiWe
„
Inprekorr 5/2016 43
E C UA D O R
DER FEMINISMUS IN
ECUADOR
Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick
der Entwicklung des Feminismus in Ecuador
während der letzten 17 Jahre. Im Zentrum
stehen zwei Strömungen, die in dieser Zeit
präsent waren: der liberale Feminismus und
der „feminismo popular“1. Die Frage ist,
inwieweit diese beiden Strömungen zu einem
emanzipatorischen Prozess für die Frauen
beitragen konnten.
Maria Isabel Altamirano, Tanya de la Torre,
„
Alba Aguinaga
Die zwei Regierungsjahre von Lucio Gutiérrez (Januar 2003 bis April 2005) bedeuteten für die erste der beiden
Strömungen, den liberalen Feminismus, eine Krisenzeit.
Diese Strömung hatte sich in Ecuador ab den 1980er-Jahren entwickelt. Im Verlaufe der 1990er-Jahre war es ihr
gelungen, eine starke Präsenz in den staatlichen Institutionen zu erreichen und zur Einführung neuer Gesetze
beizutragen: 1993 das Gesetz gegen Gewalt an Frauen,
1994 das Gesetz zur kostenlosen Mutterschaft, 1997 das
erste Quotengesetz und 1998 in der Verfassunggebenden
Versammlung, als die kollektiven Rechte der indigenen
und afroecuadorianischen Bevölkerung sowie jene der
LGBT-Gruppen in die Verfassung aufgenommen wurden.
Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stürzte der Neoliberalismus
das Land jedoch in eine institutionelle und wirtschaftliche
Krise. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als 1999 die Bankenkrise ausbrach und die Ersparnisse von Tausenden EcuadorianerInnen beschlagnahmt wurden. Dies löste eine
Auswanderungswelle nach Europa und in die USA aus, an
der sich auch ein hoher Prozentsatz von Frauen beteiligte.
Das war der Kontext, in dem sich der feminismo popular entwickelte. Diese mit dem Kampf der sozialen Bewegungen verbundene feministische Strömung war in den
44 Inprekorr 5/2016
1990er-Jahren entstanden. Weiteren Auftrieb erhielt sie
Ende des nachfolgenden Jahrzehnts unter dem Einfluss des
Weltsozialforums (WSF) und des Weltmarschs der Frauen,
die den Kampf der Frauen in einen weltweiten Zusammenhang stellen, nach dem Motto „eine andere Welt ist
möglich“. So konnten die mit der indigenen Bewegung
verbundenen Frauenorganisationen und die antineoliberalen Gruppen auf der politischen Bühne des Landes an Kraft
gewinnen.
In den Jahren zwischen 2003 und 2005 schwächten
drei entscheidende Faktoren den institutionellen Feminismus: der Chauvinismus der Regierung von Lucio
Gutiérrez, die politische Repräsentationskrise, die das
Land durchmachte und die Schwierigkeiten des institutionellen Feminismus, die Rechte der Frauen über das hinaus
durchzusetzen, was die Regierung jeweils zu akzeptieren
gewillt war. Der feminismo popular hingegen erreichte
im ganzen Land soziales Wachstum. Er hatte aber Schwierigkeiten, die politische Führung der Frauenbewegung zu
übernehmen und ein Programm zu entwerfen, das über
den institutionellen Rahmen hinausging.
Seit 2007 und unter der Regierung von Correa entwickelt sich der institutionelle liberale Feminismus in
Richtung eines fortschrittlichen liberalen Feminismus.
Einerseits ist dies auf die Präsenz des feminismo popular
zurückzuführen, der gewisse Stränge der Regierungspolitik wie zum Beispiel den Extraktivismus (Wirtschaft,
die auf Rohstoffexport basiert) infrage stellt. Andererseits
erklärt sich diese Entwicklung durch den Einfluss weiterer
fortschrittlicher Kräfte, die die Sozialpolitik der Regierung unterstützen, etwa den „Gutschein für menschliche
Entwicklung“, den Hausfrauen sowie bedürftige betagte
und behinderte Personen erhalten.
2008 gelang es den Frauenorganisationen, ihren verschiedenen Anliegen in der Verfassungsgebenden Versammlung Gehör zu verschaffen, insbesondere in Form
von Ergänzungsvorschlägen zu Bestimmungen in den
Bereichen Wirtschaft, Politik, Sexualität, Soziales, Kultur
und Umwelt. So machte es die Verfassung von 2008 möglich, die kollektiven Rechte der Frauen zu stärken, aller-
E C UA D O R
dings mit der wichtigen Einschränkung, dass es im Bereich
der sexuellen Rechte zu Rückschritten kam.
Während der ecuadorianische Feminismus der 1990erJahre die Geschlechterfrage in den Mittelpunkt stellte,
konzentrierte sich der Feminismus der Jahre nach 2008
vor allem auf die wirtschaftlichen Rechte – unter Vernachlässigung der gesetzlichen Regelungen zur Sexualität
und Fortpflanzung. Ganz zu schweigen von der Tatsache,
dass die fortschrittlichen Bestimmungen der Verfassung
von 2008 an Radikalität einbüßten, als die nachgeordneten Gesetze ausgearbeitet wurden. Es kam dabei zu einer
Abschwächung der Fortschritte, die die Verfassung in den
Bereichen Landumverteilung, Verstaatlichung des Wassers,
Rechte der Natur, Nahrungssouveränität sowie soziale
und solidarische Ökonomie gemacht hatte.
Der feminismo popular setzte den Akzent auf die wirtschaftlichen Rechte und wies ein gewisses Wachstum auf.
Zwischen 2008 und 2014 hatte er aber immer mehr Mühe,
sich mit dem Staat zu einigen und dessen Unterstützung zu
erhalten. So stießen die basisnahen Frauenorganisationen
in diesen Jahren zwar auf wachsende Zustimmung, gleichzeitig sahen sich die sozialen AktivistInnen aber mit immer
mehr Repression und Kriminalisierung konfrontiert.
Hinzu kam die Anwendung des Strafgesetzbuches Código
Orgánico Integral Penal (COIP), das den Vorschlag der
straffreien Abtreibung nach Vergewaltigung nicht aufgenommen hatte – ein Rückschritt im Bereich der sexuellen
und reproduktiven Rechte.
ECUADOR
Quito
Fläche und Einwohner: Etwa 20% kleiner als Deutschland, aber nur
16 Mio. EinwohnerInnen. Nach Angaben der
Indígena-Organisation CONAIE beträgt der
Anteil der Indígenas bis zu 50 %; Mestizen
machen ca. 40 % aus; Menschen mit
europäischer Abstammung ca. 10–15 %,
Afroecuadorianer etwa 5–10 %.
Wirtschaft:
E. gehört der OPEC an und exportiert 70 %
seiner Ölförderung. Defekte Leitungen und
rücksichtsloser Abbau führen zu großen
Umweltschäden. Die Rechte der betroffenen
Ureinwohner werden grob missachtet.
Soziale Lage:
Die oberen 20 % verfügen über 60 % des
Nationaleinkommens, die untersten 40 %
gerade mal über 12 %. E. ist mit 4760 $
Jahreseinkommen (Kaufkraftparität) das
viert ärmste Land Lateinamerikas. 20% der
Bevölkerung leben deswegen im Ausland (USA,
Spanien).
Politisches System:
Stark zentralisiertes Präsidialsystem mit nur
geringen Ansätzen einer Dezentralisierung
Die Politik der Regierung Correa
Die Kontrolle über den Körper und die Sexualität der Frau
nimmt unter der Politik der Regierung Correa zu. Nach
dem Strafgesetzbuch COIP zum Beispiel drohen sowohl
den Frauen, die abtreiben, als auch den Personen, die den
Abbruch durchführen, Gefängnisstrafen von zwei bis sechs
Jahren. Dies, obwohl man weiß, dass Frauen ihr Leben
riskieren, wenn sie eine Abtreibung im Geheimen durchführen lassen. Ein weiteres Beispiel, das man hier anführen
kann, ist die „Nationale, bereichsübergreifende Strategie
zur Familienplanung und Verhinderung von Jugendschwangerschaften (ENIPLA)“, die durch den „Ecuadorianischen Familienplan“ ersetzt wurde. Letzterer wird von
einer Sprecherin der Organisation Opus Dei gesteuert, die
dem Volk einen konservativ ausgerichteten Sexualunterricht vermitteln will.
Die Politik der Regierung Correa bürdet den Frauen
der unteren Schichten den größten Teil der Auswirkungen
der Wirtschaftskrise auf. Denn diese Frauen sind in erster
innerhalb der letzten zehn Jahre. Die
traditionellen Parteien (PSC, PRE, ID) teilten
sich jahrzehntelang die Macht im Verbund mit
einer starken Stellung des Militärs. Dem stehen
die Indígena-Dachorganisationen CONAIE
und die mit ihr verbündete Partei Pachakutik
gegenüber.
Präsident Rafael Correa gehört der Partei Movimiento PAÍS (eine
Sammelpartei, die sich mit dem Bolivarianismus
identifiziert) an und stützte sich bei seinem
Wahlsieg (Nov. 2006) u. a. auf CONAIE. Diese
ist jedoch inzwischen sehr enttäuscht, weil
die extraktivistische Politik kaum geschmälert
fortgesetzt wird. Im Ausland hat Correa
weiterhin den Ruf eines „linken“ Präsidenten,
der zusammen mit den PräsidentInnen
Venezuelas, Brasiliens, Boliviens und Chiles eine
Linkswende in Lateinamerika symbolisierte.
Inprekorr 5/2016 45
E C UA D O R
Linie betroffen, wenn die Arbeitsintensität steigt, schlechte
Arbeitsbedingungen zunehmen und die Zahl der informellen Beschäftigungsverhältnisse ohne soziale Absicherung (prekäre Anstellungen und Teilzeitarbeiten) immer
größer wird. Für die unbezahlten Hausarbeiterinnen wurde zwar eine Sozialversicherung geschaffen, sie kommen
aber weiterhin nicht in den Genuss aller Rechte. Außerdem wird dieses System durch die LohnempfängerInnen
in der Familie finanziert und nicht durch den Staat – dies
ungeachtet der Tatsache, dass die unbezahlte Arbeit 15%
des BIP ausmacht (INEC, 2014).
Der Mutterschaftsurlaub wurde um drei bezahlte
Monate verlängert und beträgt nun neun Monate, jedoch ohne dass für die anderen sechs Monate ein Lohn
bezahlt wird. Die Beamten unterstehen nicht mehr dem
Arbeitsgesetz und profitieren nicht mehr von den Kollektivverhandlungen. All diese Massnahmen scheinen gutem
Willen zu entspringen, doch in Tat und Wahrheit verhält
es sich anders: Sie entsprechen dem Willen von Correa,
dem Kapital möglichst gute Bedingungen zu bieten – zum
Nachteil der Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Die Politik von Correa versucht auch, die sozialen
Bewegungen zu kriminalisieren. Das geht zum Beispiel so
weit, dass junge Frauen des Terrorismus angeklagt werden, weil sie politische Versammlungen abgehalten haben,
oder Bäuerinnen juristisch verfolgt werden, weil sie gegen
Bergbauprojekte oder den Extraktivismus protestieren
und sich für die Pachamama (personifizierte Mutter Erde)
einsetzen.
Der Staat hat gelernt, sich des Feminismus zu bedienen.
Er versucht, die Frauen in die herrschende soziale Struktur einzubinden, indem er ihnen minimale Freiheiten
gewährt, gleichzeitig aber ihren Protest zum Schweigen
bringt. Allerdings kann niemand abstreiten, dass sich
die formelle Gleichstellung der Frauen in Bezug auf ihre
politische Vertretung und gewisse Regierungsprogramme
verbessert hat – auch wenn der größte Teil der ecuadorianischen Frauen unter den negativen Auswirkungen des
produktivistischen Entwicklungsmodells der Regierung
leidet.
Der feminismo popular arbeitete mit den afroecuadorianischen und indigenen Frauen sowie den Mestizinnen
an gemeinsamen Forderungen und Zielen und trug damit
zur Annäherung der verschiedenen Frauengruppen bei.
Das Auftauchen dieser neu entstandenen politischen Kraft,
die gleichzeitig Nahrungssouveränität, eine Wirtschaft für
das Leben, umfassende Frauenrechte, das Recht auf volle
Teilhabe, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und
46 Inprekorr 5/2016
Entkriminalisierung der Abtreibung fordert, ermöglicht
es, die feministische Revolution als gesellschaftliche Alternative zu präsentieren. Doch der Staat leistete in diesen
Jahren großen Widerstand und machte den Auf bau von
Frauenorganisationen sowohl innerhalb wie außerhalb
der sozialen Bewegungen schwierig. Hinzu kommt, dass
die komplexen Auseinandersetzungen mit den Sozialinstitutionen für die feministischen Frauen nicht einfach zu
bewältigen sind.
Zurzeit ist dem feminismo popular also kein großer
Erfolg beschieden. Es ist ihm nicht gelungen, eine feministische Antwort zu liefern, die über den Rahmen der
Institutionen und der Regierung hinausgeht.
Trotzdem führen die Frauenorganisationen und Feministinnen ihre kritischen Interventionen weiter, insbesondere indem sie die chauvinistischen Haltungen des Staates
anprangern, die Kämpfe der indigenen Frauen unterstützen, die ökologischen Forderungen in ihre Ansätze integrieren, gegen Geschlechtermorde an Frauen kämpfen und
ein Gesetz gegen die Gewalt an Frauen fordern.
Das ändert jedoch nichts daran, dass die Frauenbewegung – wie andere soziale Bewegungen auch – eine Krise
durchläuft, die sich sowohl durch die Aufsplitterung als
auch durch die Institutionalisierung ihrer Forderungen
ausdrückt. Demobilisierung und Demoralisierung sind die
Folgen. Wenn wir keine andere Form als die Institutionalisierung der Frauenforderungen finden, werden wir nicht
vorankommen. Daran muss ein kritischer und emanzipatorischer Feminismus heute arbeiten.
Maria Isabel Altamirano Solarte,
Tanya De la Torre Ortega und Alba Margarita Aguinaga
Barragán, Soziologinnen und Feministinnen, sind Aktivistinnen der feministischen Nationalversammlung Asamblea de
Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE).
Übersetzung: A. W.
„
1 s.v.w. Feminismus von unten od. Feminismus der nicht
herrschenden Klassen [Anm. d. Red.]
PA K I S TA N
BABA JAN – OPFER
DER PAKISTANISCHEN
KLASSENJUSTIZ
Unser Genosse Baba Jan, stellvertretender Vorsitzender der Awami Workers Party (AWP) Pakistans und deren Führer in Gilgit-Baltistan, wurde
vom obersten Appellationsgericht dieser von
Pakistan besetzten und verwalteten Region am
8. Juni 2016 zu 40 Jahren Gefängnis und einer
Geldstrafe von 500 000 Rupien verurteilt. Mit
ihm zusammen wurden acht weitere Genossen
zur gleichen Strafe verurteilt: Iftikhar Hussain,
Aleem, Irfan Ali, Shukurullah Baig, Sarfraz, Rasheed, Musa und Sher Khan. Jan Malewski
Anders als die Schwere der Strafe vermuten lässt, haben
Baba Jan und seine Genossen keinen bewaffneten Kampf
gegen den Staat geführt. Sie haben lediglich ihre Stimme
erhoben, um auf das Schicksal Tausender Menschen im Tal
von Hunza, die nach einer Naturkatastrophe im Januar
2010 umgesiedelt wurden, aufmerksam zu machen und
gegen die herrschende Korruption und die gewaltsame
Unterdrückung der Gegenwehr der betroffenen Bevölkerung im August 2011 zu protestieren.
In einem Bericht der asiatischen Menschenrechtskommission vom 16. Juni heißt es dazu: „Der Zeitpunkt des
Urteils weckt Zweifel, dass es dabei unparteiisch und gerecht
zugegangen ist. Baba Jan kandidierte im Wahlkreis Hunza-6
zu den für den 28. Mai vorgesehenen Teilwahlen zur
gesetzgebenden Versammlung in Gilgit-Baltistan. Drei Tage
vor dem Urteilsspruch hatte das Wahlkampfteam, dem die
regionale Führung der AWP angehört, eine Massenkundgebung zur Wahlunterstützung organisiert, an der zahlreiche
Menschen, auch Frauen und Jugendliche teilnahmen.
Am selben Tag forderte Zafar Iqbal von der Pakistanischen Volkspartei PPP, der Vorgänger der gegenwärtigen
Regionalregierung unter der Muslimliga PML-N, das
oberste Appellationsgericht auf, die Kandidatur von Baba Jan
wegen dessen Verurteilung durch ein Antiterrorgericht zu
untersagen. Zafar Iqbal ist bekanntlich seinem Konkurrenten
von der PML-N, der aus einer der traditionell führenden
Familie dieser Region stammt, freundschaftlich verbunden.
Obwohl Baba Jan von der vorigen Berufungsinstanz freigesprochen worden war, entschied dieses Gericht daraufhin,
die Wahl zu verschieben, bis über den Einspruch des
Gouverneurs gegen diesen Freispruch entschieden worden
sei. Dies verwundert insofern, als die Wahlkommission Baba
Jans Kandidatur ausdrücklich zugelassen hatte.
Mit dem Urteil des obersten Appellationsgerichts wird
Baba Jans Wahlkampagne in flagranter Weise sabotiert und
die politische Konkurrenz von der herrschenden PML-N
bevorzugt. Baba Jan wird dafür bestraft, dass er die Interessen der Arbeiterklasse in Gilgit-Baltistan vertritt. […] Die
Justiz, die eigentlich für Gleichheit vor dem Gesetz sorgen
sollte, lässt einen Verstoß gegen die Menschenrechte zu. Wie
soll die Bevölkerung von einer Institution Gerechtigkeit
erwarten, die selbst weder gerecht noch unabhängig ist?“1
Baba Jan und seine Genossen wurden aufgrund des sog.
„Antiterrorgesetzes“ inhaftiert. Dieses wurde 1997
verabschiedet und seither mehrfach modifiziert. Dabei
gelten alle möglichen Taten als terroristisch, wie etwa das
„Stiften von Unruhe unter der Bevölkerung“. Aziz
Siddiqui von der Menschenrechtskommission in Pakistan
fasste dies 2012 so zusammen: „Dies dient als Rezept, um
aus Unschuldigen Verdächtige zu machen und aus Verdächtigen Schuldige, selbst über den Tod hinaus. Das Gesetz
erlegt gewissermaßen die Schuld auf.“
Die Katastrophe gebiert Korruption …
Begonnen hat die Strafverfolgung von Baba Jan und seinen
Genossen im Winter 2010 im Hunza-Tal in Gilgit-Baltistan,
einer Region, die formal nicht zu Pakistan gehört, de facto
jedoch von Islamabad kontrolliert wird. Die pakistanische
Regierung verweigert dieser Region die offizielle Anerkennung als Teil des Landes und setzt vielmehr auf den Anschluss
im Rahmen eines Referendums über Kaschmir, einer seit
Inprekorr 5/2016 47
PA K I S TA N
dem Ende der britischen Kolonialherrschaft zwischen Indien
und Pakistan umstrittenen Nachbarregion, deren Bewohner
nach einem nie umgesetzten UN-Beschluss über ihre
künftige Zugehörigkeit abstimmen sollten. Da Gilgit-Baltistan mehrheitlich muslimisch ist, hofft der pakistanische Staat
auf deren Stimmen, um bei einem möglichen Referendum
die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten kippen zu
können.
Unterdessen verfügt die dortige Bevölkerung nicht über
die gleichen verfassungsmäßigen Rechte wie der Zentralstaat
und stellt auch keine Abgeordneten im Parlament, sondern
verfügt nur über eine autonome gesetzgebende Versammlung mit faktisch bloß konsultativer Funktion und eine
Regierung, die mehrheitlich von Islamabad benannt wird.
Auch die Richter und Gerichtspräsidenten werden vom
pakistanischen Premier benannt.
Als Grenzregion zu China verfügt sie über strategische
Bedeutung. Zudem ist das Hunza-Tal die wichtigste Verbindung nach China und der geplante Wirtschaftskorridor
CPEC – ein 46 Milliarden Dollar teures Projekt – weckt
Begehrlichkeiten unter der ohnehin korrupten Verwaltung.
Der faktische Kolonialstatus der Region gewährt ihr dabei
Straflosigkeit.
Am 4. Januar 2010 blockierte ein gewaltiger Erdrutsch
den Fluss Hunza, der sich zu einem See aufstaute, der die
Dörfer bedroht. Zwanzig Menschen kamen dabei ums
Leben, Felder und Plantagen wurden überschwemmt. Baba
Jan, der damals Mitglied der Labour Party Pakistan (LPP)2
war, startete eine landesweite Aufklärungskampagne über
die dortige Situation und wies darauf hin, dass ganze Dörfer
vom Untergang bedroht seien, wenn nicht umgehend Hilfe
seitens der Regierung und humanitärer Stellen geleistet
würde. Seine Warnungen verhallten ungehört.
Die chinesische Regierung, die 2008 eine ähnliche
Situation erfolgreich bewältigt hatte, bot vergeblich ihre
Hilfe an. Stattdessen ging der Auftrag an eine Baugesellschaft der pakistanischen Armee, die zusagte, das Geröll
umgehend zu beseitigen. Passiert ist seither wenig, sodass
sich der Fluss weiter und bis zu einer Länge von 23 km
aufstaute und vier Dörfer unter sich begrub. Etwa 1000
Menschen verloren dadurch ihre Heimstatt und 25.000
waren von der Kommunikation mit dem Rest des Landes
abgeschnitten, von denen mehrere Hundert noch immer in
Lagern hausen.
… und Repression
Nach dreimonatigen Protesten erhielt die Bevölkerung des
Tales eine Zusage der Regierung über finanzielle Entschä48 Inprekorr 5/2016
digung der am meisten betroffenen Familien. Ein Viertel
unter ihnen ging dann jedoch leer aus, da das Geld
wahrscheinlich von korrupten Beamten unterschlagen
wurde. Daraufhin blockierten im August 2011 einige
dieser betroffenen Familien die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Pakistan und China. Als die Polizei die
Ansammlung auflösen wollte, wurden zwei Protestteilnehmer erschossen. Dies führte zu gewaltsamen Aufständen der Bevölkerung im ganzen Tal und zur mehrtägigen
Besetzung der Stadt Aliabad.
Um die Situation zu beruhigen, versprach die Behörde
eine Strafverfolgung der beteiligten Polizisten und finanzielle Entschädigung. Parallel dazu ging sie gegen die
„Anstifter“ vor, um die Ereignisse totzuschweigen.
Mehrere von ihnen wurden verhaftet und unter dem
Vorwurf des Terrorismus ins Gefängnis geworfen und
gefoltert – darunter Baba Jan. Unterdessen verliefen die
Ermittlungen gegen die am Tod der beiden Demonstranten verantwortlichen Polizisten im Sande.
Im Gefängnis setzte sich Baba Jan für bessere Haftbedingungen und die Aufhebung der administrativ verordneten Trennung zwischen schiitischen und sunnitischen
Häftlingen ein und überzeugte sie, gemeinsam für ihre
Rechte zu kämpfen. Die Gefängnisleitung isolierte
daraufhin Baba Jan und vier weitere Genossen und folterte
sie.
Infolge einer weltweiten Solidaritätskampagne, an der
sich Intellektuelle wie Noam Chomsky und Tariq Ali
beteiligten, wurde Baba Jan im Oktober 2012 schließlich
freigelassen, wohingegen andere Genossen weiter in Haft
blieben. Draußen nahm Baba Jan, inzwischen Leitungsmitglied der neu gebildeten AWP, wieder den Kampf für
die Rechte der Bevölkerung von Gilgit-Baltistan auf und
mobilisierte gegen Preiserhöhungen für Getreide und
gegen die Privatisierung der Bodenschätze und deren
Verkauf an chinesische Investoren.
Die korrupte Verwaltung schlug zurück: Im September
2014 wurden Baba Jan und elf weitere Genossen wegen
dreierlei Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem
Aufstand in Aliabad zu 71 Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei ließ das Gericht die Polizeimorde, die zu dem Aufstand
geführt hatten, völlig außer Acht. Andere Angeklagte, die
der PML-N angehörten, wurden freigesprochen. Baba Jan,
der sich noch auf freiem Fuß befand, stellte sich den Behörden und ist seither inhaftiert.
Im April 2015 hob ein anderes Gericht zwei der drei
Anschuldigungen gegen Baba Jan auf. Im Mai 2015
kündigte dieser seine Kandidatur für die gesetzgebende
PA K I S TA N
Versammlung von Gilgit-Baltistan auf der Liste der AWP
an. Dies stieß auf eine überwältigende Resonanz unter der
Bevölkerung im Tal: Tausende Anhänger gingen auf die
Straßen und schwenkten die Fahnen der AWP, darunter
viele Frauen – ein Novum in dieser patriarchalischen
Region, in der Frauen von der Politik ferngehalten werden
und kaum wählen dürfen. Finanziert wurde die Wahlkampagne allein aus den Mitteln der Anhänger, wohingegen sein Rivale, Mir Ghazanfar Ali, ein Vertreter der
herrschenden Partei und Mitglied der ehemaligen Königsfamilie, die die Region seit fast 1000 Jahren unter der
Knute hält, aus dem Vermögen schöpfen konnte und die
Unterstützung der Medien genoss. Am Ende siegte dieser
zwar, aber Baba Jan erreichte mit einem Drittel der
Stimmen den zweiten Platz und lag damit vor den Kandidaten der traditionell herrschenden Parteien PPP und PTI.
Nachdem Mir Ghazanfar Ali im April 2016 zum
Gouverneur des Territoriums ernannt worden war,
wurden Nachwahlen für den vakanten Parlamentssitz
fällig. Gegen den Willen der Bürokratie ließ die Wahlkommission Baba Jans Kandidatur zu. Dass die Umfragen
ihn an erster Stelle sahen, ließ das Establishment nicht
ruhen: Die Wahlen wurden verschoben und Baba Jan in
dem eingangs erwähnten Prozess verurteilt.
Der Fall Baba Jan wirft ein Schlaglicht auf die neokolonialen und repressiven Herrschaftsverhältnisse in dieser
Region. Aber trotz aller Brutalität gegen die Opposition
wird sich die mit deren Hilfe dort entstandene Arbeiterbewegung nicht mundtot machen lassen. Die AWP hat im
gesamten Land eine Massenkampagne ausgerufen, um die
sofortige Freilassung der Verurteilten und die Aufklärung
des tatsächlichen Hergangs der damaligen Ereignisse zu
fordern. Dafür bedarf es auch einer internationalen
Solidarität, denn nur eine weltweite Kampagne wird die
pakistanische Regierung unter Druck setzen und zur
Achtung der Menschenrechte zwingen können.
Leo Trotzki
Revolution und Bürgerkrieg
in Spanien 1931–1939
512 Seiten, gebunden
Mit einem Beitrag von Reiner Tosstorff:
„Die POUM – Achse einer neuen Internationale?“
Sub.-Preis bis 31.12.2016: 24,80 €
ab 1. Januar 2017: 29,80 €
ISBN 978-3-89 900-149-5
erscheint Juni 2016
Gekürzte Übersetzung: MiWe
„
1 http://www.humanrights.asia/news/urgent-appeals/
AHRC-UAU-012-2016
2 Die LPP war damals pakistanische Sektion der IV. Internationale und vereinigte sich später mit zwei weiteren Organisationen zur Awami Workers Party (AWP).
Freiheit für Baba Jan! Internationale Solidarität gefordert!
Aufruf auf Seite 68
Inprekorr 5/2016 49
PHILIPPINEN
DER NEUE „STARKE MANN“
DER PHILIPPINEN
Rodrigo Dutertes autoritärer Neo-Liberalismus ist keine Antwort auf die
Armut und den Machtmissbrauch auf den Philippinen. Der „starke Mann“
setzt vor allem auf Repression, nicht nur gegen angebliche oder tatsächliche
„Drogendealer“.
Alex de Jong
„
Rodrigo Dutertes Wahl zum philippinischen Präsidenten machte weltweit Schlagzeilen. Der
Grund dafür ist nicht schwer zu erraten. Beschrieben als
„Außenseiter“ und „Eigenbrötler“, ist Duterte ein charismatisches Rätsel.
Er ist bekannt für seine mit vulgären Ausdrücken
gespickten Reden, seine frauenfeindlichen Scherze und
verspricht, der Polizei bei der Ermordung von Verdächtigen freie Hand zu lassen. Aber er bezeichnet sich auch als
Sozialisten und als ersten linken Präsidenten der Philippinen. Was bedeutet sein Erfolg? Hat sein Aufstieg irgendetwas mit dem Wandel zu tun, den er verspricht? Und was
bedeutet das für die philippinische Linke?
Oligarchie auf den Philippinen
Um Dutertes Erfolg zu verstehen, müssen wir sein Selbstbildnis als Führer eines Volksaufstandes beiseitelassen und
stattdessen ihn in den Kontext der philippinischen Ökonomie und Politik stellen. Die philippinische Wirtschaft
stützt sich weitgehend auf Pachtverträge (Grundrente) und
die relative Schwäche des Staates. Die unterentwickelte
industrielle Basis der Philippinen und der verarmte
landwirtschaftliche Sektor haben zur Folge, dass der Zins
die größte Quelle von Reichtum ist.
Kapitalisten konkurrieren untereinander um Einfluss
auf den Staatsapparat oder übernehmen gar Teile von ihm,
50 Inprekorr 5/2016
um Märkte zu kontrollieren und Zugang zu Ressourcen
zu erhalten. Zusammengenommen führen die Suche nach
Zins und die Konkurrenz über die Kontrolle des Staates zu
einer strukturellen Korruption, die ihrerseits institutionalisierte Straflosigkeit hervorbringt.
Der philippinische Kapitalismus wird von einer herrschenden Klasse kontrolliert, die nach der Beschreibung
von Alfred W. McCoy eine „Oligarchie“ ist. Diese besteht
aus einer begrenzten Zahl von Familien – zusammengehalten durch Blutsbande und Heirat –, die die „politische
Macht mit ökonomischem Besitz kombinieren, um die
Geschicke der Nation zu lenken“. Eine kleine Anzahl dieser
Familien, die mit Landwirtschaft anfingen, dominieren die
philippinische Oligarchie seit kolonialer Zeit.
Als Spanien Manila in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts für den Handel öffnete, entstand ein kapitalistischer landwirtschaftlicher Sektor, der auf die internationalen Märkte ausgerichtet war. Spanien versuchte eine
zentrale Bürokratie aufzubauen, um die philippinischen
Eliten zu kontrollieren. Aber dies scheiterte kläglich und
provozierte eine Rebellion, die erst mit der Machtübernahme durch die Vereinigten Staaten endete.
Die Vereinigten Staaten führten ein gewisses Maß an
lokaler Autonomie für die Regionen des Landes und Wahlen ein, die es den landbesitzenden Eliten ermöglichten,
ihre politische Dominanz zu sichern. Laut McCoy schuf die
PHILIPPINEN
Politik der USA „eine neue Klasse von Provinzpolitikern
und eine nationale Gesetzgebung, die es etablierten wie auch
aufstrebenden Familien ermöglichten, staatliche Ressourcen
zu privatisieren.
Klientel-Beziehungen wurden zum Rückgrat der philippinischen Politik: Es gab vertikale Beziehungen zwischen
reichen Land besitzenden Politikern, über weniger einflussreiche Familien in städtischen Gebieten bis hinunter zu den
Dörfern. Politische Parteien etablierten sich als Zusammenschlüsse von Oberschichtfamilien und ihrer Klientel, die ihr
Zentrum traditionell in Manila hatten.
Die Marcos-Diktatur störte zunächst dieses Arrangement.
Die Vereinigten Staaten unterstützten aber Marcos, weil sie
davon ausgingen, dass ein starker zentralisierter Staat weniger
nationalistische Bestrebungen gegen die US-Hegemonie
entwickeln werde und dafür sorgen könne, dass die Philippinen ein stabiler Stützpfeiler des US-Imperialismus in SüdostAsien blieben. Aber dieser Versuch einer passiven Revolution
schlug wegen der räuberischen Natur der herrschenden Clique großenteils fehl: Sie „privatisierte“ den philippinischen
Staat in beispielloser Weise und brachten dabei die Bevölkerung noch mehr gegen sich auf.
Nachdem Marcos 1986 gestürzt worden war, kehrten
die Philippinen zu der oben beschriebenen „oligarchischen
Demokratie“ zurück, allerdings mit einigen wichtigen Unterschieden. Das Marcos-Intermezzo hat das vorher existierende Zweiparteiensystem aufgebrochen und neue Akteure
drängten sich in den Vordergrund. Eine ganze Reihe vor
Parteien florierte. Aber wie zuvor kämpften diese Parteien
nicht für kohärente politische Plattformen, sondern organisierten sie klientelistische Netzwerke zwischen Schutzherren
und jeweiliger Klientel.
Seit den 90er Jahren wurde dieses System nicht grundsätzlich bedroht, aber die Regierungen, die es hervorbrachte,
waren sehr oft instabil, wurden von unten herausgefordert
und waren zerrissen durch interne Streitigkeiten.
Inzwischen haben eine wachsende Bevölkerung und der
Staatsapparat die traditionellen Klientelbeziehungen stark
verändert. Zunehmender Gebrauch von Gewalt und zerstreutere Formen von Klientelismus sind an die Stelle der eher
paternalistischen Klientelbeziehungen getreten.
Die Grenze zwischen dem persönlichen Eigentum der
Politiker und öffentlichen Geldern ist dünn, da staatliche
Stellen und Aufträge zu verteilen oder Stimmen zu kaufen
sind. Je weiter von Manila entfernt, desto unverhohlener werden diese Praktiken. All das verteuert erfolgreiche Wahlkampagnen außerordentlich: Die Verbindungen eines Politikers
mit Industriemagnaten und reichen Familien zählen mehr als
der Inhalt von Plattformen. Die König machenden Familien
mögen Hazendero-Wurzeln haben, aber sie haben inzwischen Kapital im Finanzwesen, dem Bergbau, dem Bauwesen
und in anderen Teilen der Wirtschaft investiert.
Die Situation wird dadurch verschärft, dass die philippinischen Wahlgesetze persönliche oder Firmenspenden nicht
begrenzen und Politiker ihre Unterstützer erst nach der Wahl
offenlegen müssen.
Die Volksmassen werden bei den Kampagnenspektakeln
nicht vergessen: Politiker erreichen sie durch offenen Stimmenkauf, Geschenke, Bestechung und spektakuläre Kampagnenauftritte ohne viel inhaltliche Substanz. Versprechen
werden fast nie gehalten: In diesem Wahlkampf sagte jeder
Kandidat, dass er Vertragsarbeit abschaffen will. Allerdings
sind die Chancen gering, dass sie dermaßen gegen die Interessen der Oligarchie vorgehen werden.
Der bescheidene Diener
Dutertes politische Karriere war erfolgreich aufgrund des
oligarchischen Systems. Er ist mit den Familien Durano und
Almendras verwandt, aus denen seit Jahrzehnten prominente
Politiker in seiner Geburtsregion Cebu entstammen.
Die Dutertes selbst, so schreibt Michael Cullinane in
„Anarchy of Families“ (Familienanarchie), waren „seit Langem eine bedeutende Politikerfamilie in Danao“, einer Stadt
in der Provinz Cebu. Dutertes Vater, Vicente G. Duterte,
war Anwalt und Bürgermeister von Danao und als Nachfolger von Alejandro Almendras von 1959 bis 1965 Gouverneur
der Danao-Provinz. Hier baute sein Sohn seine politische
Basis auf.
Nach der „People Power Revolution“ (Volksmachtrevolution) im Jahr 1986 wurde Rodrigo Duterte Vize-Bürgermeister von Davao City. Zwei Jahre später kandidierte er
erfolgreich für das Bürgermeisteramt, eine Position, die er 10
Jahre lang hielt. Almendras, inzwischen ein reifer Politiker
und Holzmagnat, sowie frühere Kumpels von Marcos, wie
Manuel Garcia, Elias Lopez und Ricardo Limso, unterstützten Duterte bei seinen ersten Schritten in die Politik.
Als Duterte die Begrenzung von drei Amtsperioden als
Bürgermeister erreichte, wurde er Mitglied des Repräsentantenhauses. Drei Jahre später wurde er wieder Bürgermeister
von Davao City. 2010 erreichte er wieder die Begrenzung;
also wurde er Vize-Bürgermeister. Er tauschte die Position
mit seiner Tochter, Sara Duterte-Carpio, die an seiner Stelle
Bürgermeisterin wurde.
In Davao City kultivierte Duterte sein Bild als bescheidener Diener des Volkes. Aber die Enthüllungen über seinen
persönlichen Reichtum in der Vorwahl-Periode sollten nieInprekorr 5/2016 51
PHILIPPINEN
manden überraschen. Als herauskam, dass Duterte ein nicht
angegebenes Bankkonto in Höhe von 4 Millionen US-$
hatte, ging er einfach darüber hinweg und sagte, dass dies
Geschenke von „reichen Freunden“ seien. Sein angegebener
Reichtum nahm bemerkenswert zu: In den letzten 19 Jahren
wuchs er mit einer jährlichen Rate von 132,6 Prozent.
Wir sollten Duterte als einen überdurchschnittlichen
„Mann fürs Grobe“ bewerten, eine nicht ungewöhnliche Figur in der philippinischen Politik. Der Politikwissenschaftler
Patricio Abinales beschreibt in seiner Arbeit über Mindanao
den „Mann fürs Grobe“ als regionalen Repräsentanten von
in Manila basierten mächtigeren Akteuren. Solche Menschen
sammeln Macht an durch Klientel-Netzwerke sowie mittels
Kontrolle über wichtige Unternehmen und „am Wichtigsten
von allem, mittels eines Monopols auf Nötigung und nackter
Gewalt“.
Nach dieser Analyse ist Rodrigo Duterte in Manila ein
„Außenseiter“, der Repräsentant einer weniger mächtigen,
provinzielleren Schicht der philippinischen Elite. Einige
seiner Verbündeten, wie der für das Finanzministerium vorgesehene Carlos „Sonny“ Dominguez, gehören ebenfalls zu
Clans aus Mindanao oder studierten mit Duterte.
Aber nach den Wahlen schlossen sich andere Establishment-Parteien und Überläufer aus der noch amtierenden
Regierung schnell Dutertes Koalition an. Sie waren sehr
bemüht, ihren Zugriff auf Macht und öffentliche Ressourcen
zu behalten.
Linkes Geschwätz ignorierend ist das der klarste Weg, um
Duterte zu verstehen: Es handelt sich um einen regionalen
Boss, der es durch die Wahl zum Präsidenten geschafft hat,
einen großen Coup zu landen und einen Teil der traditionellen hochrangigen Elite zur Seite zu drängen. Die bedeutendste Änderung, die seine Wahl verspricht, ist, dass ein Teil der
Elite Manilas durch ein anderes, provinzielleres Segment der
Oligarchie des Landes ersetzt wird.
Geld und Mord
Dutertes Lager schaffte es die Wahlen zu gewinnen, in dem
es sich die Wut und Unzufriedenheit, die es in den verschiedenen sozialen Klassen gibt, zunutze machte.
Ohne seine Basis in Davao City hätte er nicht gewinnen
können. Davao City ist mit 1,45 Millionen Menschen auf
2444 Quadratkilometern relativ dünn besiedelt. Es ist ein
kommerzielles Zentrum und die bei Weitem wichtigste Stadt
auf Mindanao, der zweitgrößten Insel des philippinischen
Archipels. Mindanaos Wirtschaft ist hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt und befindet sich an der Peripherie des
philippinischen sozialen und politischen Lebens. Davao City
52 Inprekorr 5/2016
wird jetzt als Beispiel für „gute Regierung“ gepriesen, aber
Mitte der 1980er Jahre war sie ein Schlachtfeld.
Die Kommunistische Partei der Philippinen (CPP) und
ihr bewaffneter Flügel, die New People’s Army (NPA – Neue
Volksarmee) waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die
NPA testete in Davao City städtische Kriegsführungstaktiken, um Methoden zu entwickeln, ihren ländlichen GuerillaKrieg in die Städte zu bringen.
Aber als Duterte Bürgermeister wurde, war der CPPEinfluss in Davao City kollabiert. Die Regierung nutzte
eine anti-kommunistische Miliz, Alsa Masa (Sich erhebende
Massen), die sich zusammensetzte aus früheren Soldaten und
Polizisten, örtlichen Gangstern, Überläufern der NPA und
unterstützt von Militärkommandeuren und örtlichen Geschäftsleuten, um sie fernzuhalten. Sie schafften es, sich nicht
nur die Untergrund-Linke und die Guerilla loszuwerden,
sondern auch die legalen, offen arbeitenden linken Gruppen.
Alsa Masa war hauptsächlich in der Amtszeit von Dutertes Vorgänger aktiv, aber laut einem Bericht von Erik Guyot
vom Institute of Current World Affairs von 1988 unterstützte Duterte die anti-kommunistischen Milizen. Er gab
ihnen mutmaßlich Geld und erklärte: „Der Friede und die
Ordnung haben sich mit dem Auftauchen von Alsa Masas
bedeutend verbessert“.
Heutzutage wird Davao City als die „sicherste Stadt in
Südostasien“ bezeichnet und Dutertes angeblicher Erfolg bei
der Bekämpfung von Verbrechen hatte in seinem Präsidentschaftswahlkampf einen zentralen Stellenwert. Aber seine
„harte Haltung gegen Verbrechen“ ist eine beschönigende
Beschreibung: Während seiner Zeit als Bürgermeister ermordete eine Todesschwadron, bekannt unter dem Spitznamen
„Davao Death Squad“ (Davao Todesschwadron) oder DDS ,
Hunderte von Menschen und wurde zum festen Bestandteil
der Stadt. Wie Alsa Masa besteht die DDS aus früheren NPAKämpfern und örtlichen Kriminellen, die unter dem Schutz
und mit der Kooperation der örtlichen Autoritäten handelt.
Laut einem Bericht von Human Rights Watch „sagen
örtliche Aktivisten, dass die Morde in Davao City an angeblichen Drogenhändlern, Kleinkriminellen und Straßenkindern durch die Todesschwadron irgendwann Mitte der
1990er Jahre begann.“
Der Bericht zitiert die Coalition Against Summary
Execution (CASE - Bündnis gegen kurzen Prozess) und das
Tambayan Center for the Care of Abused Children (Tambayan – Zentrum für die Betreuung misshandelter Kinder), die
behaupten, dass die Zahl von Morden durch Todesschwadronen in Davao City in der zweiten Hälfte der Jahre 2000 stark
PHILIPPINEN
angestiegen ist – anscheinend als Antwort auf die steigende
Kriminalitätsrate infolge des Wachstums der Stadt.
CASE dokumentiert 814 Morde durch Todesschwadronen in Davao City in der Zeit zwischen 1998 und Anfang
2009. Die Opfer waren städtische Arme, meist der Straßenkleinkriminalität verdächtig, wie Drogengebrauch, Kleinhandel mit Drogen oder Handy-Diebstahl.
Duterte hat die Existenz der DDS bestritten, aber er
machte klar, dass er die außergerichtliche Ermordung von
Menschen unterstützt, die im Verdacht krimineller Handlungen stehen. Er hat sogar mit der Zahl von Leuten geprahlt, die
er angeblich selbst getötet hat.
Die Morde waren nicht unpopulär. Viele sehen in ihnen
eine praktische Antwort auf ein ineffektives Justizsystem und
korrupte Strafverfolgungsbehörden. Das glauben generell
viele auf der philippinischen Rechten, die, als „Lösung“ für
Verbrechen, polizeiliche Gewalttätigkeit einschließlich summarischer Hinrichtungen unterstützen.
Über Davao hinaus genießt Duterte nationale Popularität als „Verbrechensbekämpfer“. Viele Filipinos, die der
Arbeiterklasse angehören, glauben, dass das Verbrechen
außer Kontrolle gerät; ein Eindruck der durch den Fokus der
Medien auf sensationelle, besonders grauenvolle Fälle genährt
wird. Aber nach einer Umfrage der Social Weather Stations
(Soziale Wetterstationen) kommen Dutertes WählerInnen
überproportional aus den reicheren Schichten der Bevölkerung, angezogen von seinem Versprechen, die Straßenkriminalität zu beseitigen.
Sie sind willens, wachsende staatliche Gewalt zu akzeptieren und ignorieren die Tatsache, dass Davao City›s Sicherheit
überwiegend fiktional ist – basierend auf manipulierten
Statistiken und ohne Berücksichtigung der verletzlichsten
EinwohnerInnen der Stadt. Sie hoffen, dass Duterte seine
berichteten Erfolge auf nationaler Ebene wiederholen wird.
Vielen seiner Bewunderer erscheint Duterte als patriarchalische Figur, die ihre Untertanen beschützt, aber auch bestraft.
Sein Ruf als „Mann fürs Grobe“ zieht diejenigen Konservativen an, die glauben, dass das einzig Falsche an den bestehenden Regeln ist, dass sie nicht durchgesetzt werden.
Seine Unterstützer beklagen den „Mangel der Filipinos
an Disziplin“ und erwarten von ihm, dass er der Bevölkerung Respekt für Ordnung aufnötigt. Seine Vorschläge, eine
landesweite Ausgangssperre zu verhängen, das Rauchen auf
der Straße zu verbieten und den Verkauf von Alkoholika
einzuschränken, gehen alle in diese Richtung.
Die Tatsache, dass so viele reiche Filipinos Duterte
unterstützen, mag überraschen. Es waren ja die Eliten, die
hauptsächlich von der Regierung Aquino profitierten. Er
setzte eine Politik durch, die von den wohlhabenderen Teilen
der philippinischen Bevölkerung unterstützt wurde, erklärte
den Kampf gegen die Korruption zur Priorität und war nach
neo-liberalen Maßstäben erfolgreich. Das philippinische
Bruttosozialprodukt wuchs während seiner Amtszeit mit Rekordzahlen. Gemessen an lokalen Standards war die Regierung Aquinos außerordentlich stabil und war weder von den
Volksklassen noch von anderen Fraktionen der Oligarchie
ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt.
Aber wohlhabende Filipinos unterstützten Dutertes
Wahlkampf und lehnten Mar Roxas, den Kandidaten der
amtierenden Regierung ab. Wie konnte die Glaubwürdigkeit der Regierung Aquinos derart in die Brüche gehen, dass
Duterte die Wahlen mühelos gewinnen konnte? Eine der
Antworten ist, dass Aquinos relative Erfolge Ungeduld erzeugten, die sich verstärkte, als er zunehmend als ineffektiver
Führer angesehen wurde.
Das heißt nicht, dass die Volksklassen Duterte nicht
unterstützten. Der philippinische Soziologe und politische
Aktivist Walden Bello bezeichnet Dutertes „Schimpfen auf
Korruption und Armut, seine offene Verachtung für die
Reichen – die er conos (Fotzen) nennt – und vor allem, dass
er „als einer von uns“ daherkommt, als Magnet für ArbeiterInnen, die städtischen Armen, Bauern und Bäuerinnen und
die unteren Mittelklassen“.
Die Erfolge der Regierung Aquinos haben hauptsächlich
den Wohlhabenden genutzt, und die Regierung erschien als
arrogant und von gestern, als sie die Kritik der Volksklassen
ignorierte. Roxas hatte ähnliche Schwächen. Als Nachkomme einer der angesehensten Familien des Landes (er ist der
Enkel von Manuel Roxas, erster Präsident der unabhängigen
philippinischen Republik) war er zu sehr mit der Regierung
verbunden und erschien zu sehr als Karriere-Politiker und
privilegierter Sohn der hohen Eliten, als dass er auf ein unzufriedenes Wahlvolk anziehend wirken konnte.
In einer Debatte mit Roxas spielte Duterte seine „normaler Typ“-Personalität aus, in dem er sich über seinen Gegner
lustig machte. Er sagte, dass er den Konflikt zwischen den
Philippinen und China über Teile des Südchinesischen Meeres (oder des Westphilippinischen Meeres) beenden würde,
in dem er persönlich eine philippinische Flagge auf den strittigen Atollen hissen werde. Als er die überraschte Reaktion
seines Gegners sah, fügte er hinzu, dass er mit einem Jetski
dorthin kommen würde.
Dieses Außenseiterflair hat ihm immer gut getan. Die
Unterstützung von Duterte ist besonders in seiner Heimatregion auf Mindanao sehr groß, weil seine Vorschläge
direkt die Beschwerden der Menschen gegenüber Manila
Inprekorr 5/2016 53
PHILIPPINEN
ansprechen und ein Ende der seit Jahrzehnten andauernden
Unruhen zu versprechen scheinen.
Seine Vorschläge für ein mehr dezentralisiertes und
föderales Regierungssystem sprechen direkt diejenigen an,
die sich von einem, wie sie es nennen „imperialen Manila“
vernachlässigt und ausgebeutet fühlen. Darüber hinaus unterstützt er Autonomie für muslimische Filipinos.
Die muslimischen Rebellen auf Mindanao haben sich
schon lange von ihrem ursprünglichen Ziel einer Abspaltung verabschiedet und fordern jetzt Autonomie. Dutertes
Gegnerschaft gegen militärische Operationen gegen sie zeigt,
dass er ihren Beschwerden mehr Sympathien entgegenbringt
als die traditionellen Oligarchen in Manila.
Schlussendlich verspricht er, die Friedensgespräche mit
der CPP wieder aufzunehmen. Die NPA-Aktivität konzentriert sich großenteils in Mindanao und nach Jahrzehnten des
„bewaffneten Kampfes“ erkennen viele EinwohnerInnen,
dass die Regierung den Aufstand nicht einfach durch noch
mehr Soldaten aus der Welt schaffen kann. Aber die Mitglieder der hohen Elite Manilas - die den maoistischen Aufstand
als Werk übler Ideologen sehen, die das dumme Bauernvolk
manipulieren - glauben immer noch, dass der „gottlose
Kommunismus“ zerschlagen werden muss.
Die Leute glauben, dass Duterte mit den Maoisten
Frieden schließen kann, weil er in den 1980er Jahren gute
persönliche Beziehungen mit ihnen entwickelte. Trotz seiner
Verbindungen zu früheren Kumpanen von Marcos waren
seine politischen Verbündeten damals, unter anderen, Leoncio „Jun“ Evasco Jr, ein früherer CPP-Führer und Erasto
„Nonoy“ Librado, Generalsekretär von Kilusang Mayo UnoMindanao, der mit dem „national-demokratischen“ Milieu
verbundenen Gewerkschaftsbewegung. Er entwickelte eine
„Leben-und-Leben-lassen“-Beziehung mit den Guerillas, in
dem er militärische Operationen gegen NPA-Operationen
in den Nachbar-Regionen von Davao nicht unterstützte.
Die Kritik der legalen national-demokratischen Organisationen an Duterte waren relativ weich; sie betrachteten ihn
eher als Verbündeten. Ein großer Teil der kritischen Forschungen zur DDS stammen nicht von den national-demokratischen Menschenrechtsgruppen, sondern von breiteren
links-liberalen Gruppierungen.
Duterte schafft die Balance zwischen der extremen Rechten des Landes und den Maoisten. Seit 2001 hat er Parteien
des national-demokratischen Blocks unterstützt, während
er gleichzeitig seiner Bewunderung für Ferdinand Marcos
Ausdruck gab und für dessen Beerdigung auf dem Friedhof
für Nationalhelden eintrat.
54 Inprekorr 5/2016
Viele der angeblichen Widersprüche von Duterte machen
mehr Sinn, wenn man seinen regionalen Kontext berücksichtigt. Er kann ein philippinischer Nationalist sein und
gleichzeitig eine dezentralisierte Regierung befürworten, für
muslimische Autonomie eintreten und für Frieden mit der
CPP werben.
Seine seltsame Kombination von Machismus, Frauenfeindlichkeit und Unterstützung für HomoEhen macht Sinn,
wenn man die lange Tradition einer sichtbaren aber streng
abgegrenzten und nicht bedrohlich wirkenden Homosexualität in Mindanao berücksichtigt.
Mix-und-Match Wahlen
Duterte erklärte sich selbst zum Sozialisten und ersten linken
Präsidenten der Philippinen – aber es gibt wenig Grund zu
glauben, dass das mehr als Demagogie ist. Die Politik unter
seiner Präsidentschaft scheint mehr vom Hergebrachten zu
sein. Kaum als Wahlsieger bestätigt, machte Duterte schon
klar, dass er die Hauptlinien von Aquinos Wirtschaftspolitik
beibehalten wolle. Das Kapital hat positiv reagiert: Einige
Tage nach den Wahlen berichtete Bloomberg, dass Duterte
„die philippinischen Finanzmärkte durch seine Wandlung in
einen wirtschaftsfreundlichen Führer neu belebt hat“.
Seine ersten wirtschaftspolitischen Stellungnahmen
sowie die Personalvorschläge für sein Kabinett (größtenteils
Establishment-Personen, von denen viele schon an früheren
Regierungen beteiligt waren), wurden vom Finanzgiganten
JPMorgan begrüßt, der erklärte, dass „die Finanzmärkte das
ausdrückliche Bekenntnis der zukünftigen Regierung zu der
bisherigen makro-ökonomischen Politik begrüßen werden“.
Tatsächlich scheint Duterte die philippinische Wirtschaft
noch mehr als Aquino oder Roxas liberalisieren zu wollen.
Er will die verfassungsmäßige Beschränkung ausländischer
Eigentümer von philippinischen Firmen aufheben, mehr
Sonderwirtschaftszonen einrichten und die Firmenbesteuerung senken.
Die Linke, überwiegend nicht in der Lage, auf der
Wahlebene, die von Klientelismus und Korruption dominiert ist, Fuß zu fassen, war nicht in der Lage, erfolgreich
dagegen zu opponieren. Nach dem Fall der Marcos-Diktatur
organisierten die Nationaldemokraten die Partido ng Bayan
(Volkspartei), aber nach zwei enttäuschenden Wahlen, „löste
sich die Partei selbst auf“. In den folgenden Jahren hat sich die
Lage nicht verbessert.
2010 kandidierten 2 bekannte Nationaldemokraten – Satur Ocampo und Liza Maza – für den Senat, aber sie schafften es nicht unter die siegreichen 12 Kandidaten. Maza war
Fünfundzwanzigster mit 3,6 Millionen Stimmen, während
PHILIPPINEN
Ocampo mit 3,3 Millionen Stimmen auf Platz 26 landete.
2016 kam der einzige national-demokratische Kandidat, Neri
Colmenares, auf fast 6,5 Millionen Stimmen und damit auf
Platz 20, erhielt aber keinen Sitz. Die philippinische Linke
hatte bei sogenannten Partei-Listen-Wahlen größere Erfolge.
Im Repräsentantenhaus sind 55 Sitze (20 %) für Parteilisten
reserviert, gedacht, um die geographisch verstreuten und
marginalisierten Gruppen zu repräsentieren, die anderweitig
keine Stimme hätten. Filipinos können außer für spezifische
Kandidaten noch für eine der Parteilisten stimmen.
Die erste Partei-Listen-Wahl fand 1998 statt und die
philippinische Linke zog wieder in den Kongress ein. Verschiedene sozialistische und sozial-demokratische Gruppen
wie Sanlakas und Akbayan schafften es, Sitze zu gewinnen.
Die Nationaldemokraten stiegen 2001 mit der Organisation
Bayan Muna (Nation First, Nation Zuerst) wieder in die
Wahlpolitik ein. Seit dieser Zeit haben sie andere linke Kräfte in den Partei-Listen-Wahlen überflügelt und haben Listen
zugeschnitten auf unterschiedliche Sektoren organisiert.
Aber die Linke kämpft auch hier. Die räuberische Elite
hat entdeckt, dass das System benutzt werden kann, um
Zugriff auf Staatsmittel zu erhalten und haben eigene Parteilisten aufgestellt. Tatsächlich haben einige der bei Wahlen erfolgreichsten Listen wenig mit den marginalisierten
Gruppen zu tun, die sie angeblich repräsentieren. Stattdessen
werden sie von Geschäftsleuten, früheren hochrangigen
Funktionären und Mitgliedern politischer Familien genutzt,
um gewählt zu werden.
Ein Weg, den die Linke versucht hat, um die Hürden
zu überwinden, die die Oligarchie aufgerichtet hat, sind
Allianzen mit etablierten bürgerlichen Parteien. Aber diese
Allianzen fordern, dass die Linke weitreichende politische
Zugeständnisse macht. Das war der Weg, den Akbayan,
ursprünglich als Bündnis verschiedener sozialistischer und
sozial-demokratischer Gruppen gegründet, gegangen ist. Es
war eine der erfolgreicheren linken Wahlformationen.
Aber 2010 verbündete sie sich mit Benigno Aquino und
seiner Liberal Party (Liberalen Partei). In der Regierungszeit
Aquinos näherte sich Akbayan immer mehr der Regierung
an und verpflichtete sich, den Regierungskandidaten für
2016 zu unterstützen – egal wer es wäre.
Akbayans Allianz scheint sich bezahlt gemacht zu haben,
zumindest für Ana Theresia Hontiveros, ihre Kandidatin für
den Senat. Nachdem sie ihr linkes Profil abgemildert hatte
und von einem liberalen Reformisten fast ununterscheidbar
war, schaffte sie es endlich unter die zwölf GewinnerInnen.
Aber Akbayan selbst fiel bei den Partei-Listen-Wahlen vom
5. (im Jahr 2013) auf den 13. Platz in den Wahlen.
Unzufrieden mit der bedingungslosen Unterstützung
seiner Partei für die Regierung und seine Liberal Party trat
Akbayans bekanntester Vertreter, Walden Bello, 2015 von
seinem Sitz im Kongress zurück. Bello kommentierte das
schlechte Abschneiden seiner Partei in diesem Jahr wie folgt:
„Ich will kein Salz in die Wunden streuen, aber da ich gefragt
worden bin, denke ich, dass der Verlust von über zweihunderttausend Stimmen gegenüber 2013 und der Absturz vom
fünften auf den dreizehnten Platz vermutlich der Identifizierung der Partei mit der Liberal Party geschuldet ist …“.
Die Ergebnisse der national-demokratischen Bayan Muna
waren ebenfalls enttäuschend. Die Partei startete 2001 mit
Unterstützung durch die damalige Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo. „Die CPP hatte es offensichtlich geschafft,
vom Macapagal-Arroyo Klan Unterstützung zu bekommen,
die Bayan Muna dabei half, die größte Anzahl von Stimmen
für die Parteiliste und die maximale Anzahl von Sitzen zu
erhalten“, schrieb Dominique Caoutte 2004 in seiner damaligen Studie über die CPP. Aber dieses Jahr [2016] fiel Bayan
Muna vom dritten auf den vierzehnten Platz.
Der national-demokratische Block schließt regelmäßig
Bündnisse mit bürgerlichen Politikern auf der Basis schriftlicher politischer Vereinbarungen. Aber niemand erwartet
wirklich, dass sich die Politiker daran halten. Was zählt ist
die transaktionale Natur der Vereinbarung: Die Nationaldemokraten liefern die Stimmen ihrer UnterstützerInnen im
Gegenzug für Kampagnen-Ressourcen und Publizität. Die
Allianzen gewinnen Kongress-Sitze, tragen aber wenig zum
Aufbau einer unabhängigen sozialistischen Bewegung bei,
weil sie die Linke an ihren Senior-Partner binden.
Es führte auch zu völlig unerwarteten Allianzen wie
2010, als national-demokratische Kandidaten zusammen
mit Ferdinand Roumaldez Marcos Jr. auftraten, dem stolzen
Sohn des früheren Diktators, als dieser – übrigens erfolgreich
– für einen Senatssitz kandidierte.
Aber in diesem Jahr gab es ein interessantes Experiment,
das einen anderen Weg vorwärts weisen kann. Nach seinem
Verzicht auf den Kongress-Sitz kandidierte Walden Bello als
Unabhängiger. Obwohl er sich selbst noch als Mitglied von
Akbayan betrachtet, unterstützte die Partei seine Kandidatur
nicht. Bello wies das Geld der Oligarchen zurück, lehnte die
Unterstützung durch religiöse Führer ab und bildete keine
Allianzen mit den etablierten Parteien. Stattdessen baute die
Kampagne auf die Unterstützung durch soziale Bewegungen
und fortschrittliche Gruppen. Die Anzahl von Stimmen, die
Bello erhielt, war klein: gerade über eine Million. Aber Bellos
unabhängige Kandidatur und fortschrittliche Plattform kann
zum ersten Schritt auf dem Weg zu etwas Größerem werden.
Inprekorr 5/2016 55
PHILIPPINEN
Wie immer unterstützten die Untergrundstrukturen der
National-Demokraten – nämlich die [maoistische] CPP und
ihre diplomatische Front, die National Democratic Front of
the Philippines (NDFP, National-Demokratische Front der
Philippinen) offiziell keinen der Kandidaten und riefen auf zu
„Revolution statt Wahlen“.
Aber ein prominenter Maoist hatte einige nette Dinge
über Duterte zu sagen. Jose Maria Sison, der Gründer der
CPP und immer noch der Chef-Ideologe des philippinischen
Maoismus, erklärte in Vorwahl-Interviews, dass eine Präsidentschaft Dutertes die beste Option für „nationale Einheit“
sei. Er drückte auch Optimismus aus über die Reformen,
die die neue Regierung bringen könne. Zum ersten Mal in
einer Präsidentschaftswahl-Kampagne sprachen Sison und
Duterte einige Wochen vor der Wahl (über Skype) miteinander. Makabayan, die legale politische Allianz der NationalDemokraten, erklärte ihre Unterstützung für die Präsidentschaftskandidatin Grace Poe. Aber es gibt Medienberichte,
nach denen Teile der Bewegung Duterte unterstützten.
Peter Tiu Lavina, ein Sprecher Dutertes, kritisierte die
national-demokratische Unterstützung für Poe und behauptete, „dass wenigstens ihre Organisationen in Mindanao,
die verwurzelter sind, die eigennützige, kurzsichtige und
opportunistische Haltung ihrer nationalen höheren Organe
nicht teilten“.
CPP-Einheiten verschafften Dutertes Ansehen als Friedensstifter einen weiteren Schub, als sie Kriegsgefangene ihm
persönlich übergaben, während seine Wahlkampagne auf
Hochtouren lief. Duterte behauptet, dass Sison, der seit den
Jahrzehnten in den Niederlanden im Exil lebt, sich darauf
freut, wieder heimzukommen, wenn die Friedensgespräche
wieder aufgenommen werden. Duterte hat der CPP auch
einige Kabinettsposten angeboten, ein Angebot, das Sison als
„großherzig“ bezeichnete.
Luis Jalandoni von der NDFP sagte, dass der Vorschlag
„ein großer Schritt in Richtung Einheit ist und die Ketten
aus Unterdrückung und Ausbeutung entfernen wird“. Die
NDFP hat sogar angedeutet, dass Duterte der „Hugo Chavez“ der Philippinen sein könne. Aber Dutertes Vorschläge
bringen die CPP in eine schwierige Lage. Nach Jahren der
Verbindungen zu den CPP-Einheiten auf Mindanao genießt
er Sympathien bei ihnen. Wenn die Parteiführung seinem
Wunsch nach Unterstützung nicht nachkommt, könnte Duterte versuchen, einen Keil zwischen sie und die Einheiten
auf Mindanao zu treiben.
Aber wenn die CPP sein Angebot annimmt, gerät sie in
Gefahr als Apologet einer bürgerlichen Regierung zu enden.
Sisons Vorschlag, dass die vorgeschlagenen Kabinettsposten
56 Inprekorr 5/2016
an qualifizierte „Patrioten“, die nicht notwendigerweise
CPP-Mitglieder sind, vergeben werden, würde zu einer
gewissen Distanz zwischen Partei und Regierung führen.
Dutertes Plan, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen, führt in eine ähnliche Klemme. Die CPP hat immer
darauf bestanden, dass die bewaffnete Revolution der einzige
Weg sei, um die Probleme des Landes zu lösen. Sie behauptet,
dass ihre Guerilla-Armee kurz davor ist, den Krieg auf eine
neue, höhere Ebene zu eskalieren.
Die neue Regierung will jedoch, dass die Maoisten den
bewaffneten Kampf aufgeben. Die Maoisten würden an
Unterstützung verlieren, sollten sie das Verhandlungsangebot
zurückweisen, aber sie brauchen Massenunterstützung, um
die Regierung zu bedeutenden Zugeständnissen zu zwingen.
Es ist bezeichnend, dass Duterte den National-Demokraten
Posten im sozialen Bereich angeboten hat, während die zentralen Bereiche der Staatsmacht wie Finanzen und Militär in
den Händen von Mitgliedern des Establishments verbleiben.
Es ist vielleicht zu früh zu sagen, welche Art von „Revolution“ Duterte den Philippinen bringen wird. Sicher ist,
dass die BürgerInnen sich auf Experimente mit einer drakonischen Recht-und-Ordnung-Politik einstellen müssen.
Duterte hat gesagt, dass er die Todesstrafe wieder einführen
will – durch Hängen.
Seine Vergangenheit in Davao City zeigt, dass er sich um
die Rechte von Verdächtigen wenig kümmert. Die ärmsten,
verletzlichsten Teile der Gesellschaft werden einen hohen
Preis zahlen. Die Polizeigewalt agiert bereits zügellos. Jetzt
haben die Polizisten einen Präsidenten, der denkt, dass sie
handeln können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Von außen betrachtet mag die Situation trostlos erscheinen. Die Präsidentschaft Dutertes wird die Probleme, die das
Land plagen, wie Straflosigkeit, Armut und Ungleichheit
nicht lösen. Das kann nur eine starke Linke. Die Philippinen
haben schon eine mächtige Linke, aber sie ist verteilt auf
eine große Zahl von politischen Gruppen, Bewegungen und
sozialen Organisationen.
Dieses soziale Gewicht in politische Repräsentation
umzusetzen, ist schwierig, wie die letzten Wahlergebnisse
zeigten. Aber der Aufbau einer unabhängigen, sozialistischen
Linken ist längst überfällig und es gibt viele engagierte AktivistInnen, die das zu einer Realität machen können.
Übersetzung: Wolfgang W.
„
Die Internationale
58
REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION IM
SPANISCHEN BÜRGERKRIEG
Der Spanische Bürgerkrieg wird – selbst in der linken Öffentlichkeit – zumeist als Generalprobe
der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Faschismus wahrgenommen. Übersehen wird
dabei, dass dabei ein Klassenkrieg geführt wurde.
D I E I N T E R N AT I O N A L E
Der Spanische Bürgerkrieg wird – selbst in der
linken Öffentlichkeit – zumeist als Generalprobe
der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und
Faschismus wahrgenommen. Übersehen wird dabei,
dass dabei ein Klassenkrieg geführt wurde, der sich
weder in die Logik der verlogenen stalinistischen
Volksfronttaktik noch in die der um Nichtintervention
bemühten „demokratischen Mächte“ fügte.
Anlässlich des 80. Jahrestags des Militärputsches im
republikanischen Spanien versuchen wir mit zwei
Texten – einem historischen Überblick über die
Ereignisse und einer Darstellung des Disputs zwischen
der Internationalen Kommunistischen Opposition
und der linkssozialistischen POUM – dunkle Seite ein
wenig zu erhellen.
HISTORISCHES STICHWORT „SPANISCHER BÜRGERKRIEG 1936 BIS 1939“
REINER TOSSTORF
I
m Jahre 1931 wurde die jahrhundertealte Monarchie
in Spanien gestürzt. Seit 1923 war sie mit einer Militärdiktatur unter dem General Miguel Primo de Rivera – sein
Sohn José Antonio begründete dann 1933 die faschistische
Falange, die zukünftige Staatspartei der Franco-Diktatur
– verbunden worden. Die Zurückgebliebenheit des Landes
hatte sie nicht beseitigen können. Noch immer war Spanien in weiten Teilen agrarisch geprägt. Auf dem Lande
herrschte insbesondere im Süden Großgrundbesitz mit
einem die meiste Zeit des Jahres arbeitslosen Landarbeiterproletariat vor. In anderen Teilen des Landes kämpften
Pächter und Kleinbauern um bessere Bedingungen. So
drängten viele in die Städte und vergrößerten dort das
Arbeitslosenheer bei einer katastrophalen Wohnungssituation.
In ähnlicher Weise war der Staat „zurückgeblieben“.
Wahlen wurden jahrzehntelang systematisch verfälscht,
das staatliche Bildungssystem war rudimentär, da noch
58 Inprekorr 5/2016
immer die katholische Kirche im Bildungssektor – wie
auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen – einen
wichtigen Platz einnahm. Zudem war die Monarchie seit
dem ausgehenden 19. Jahrhundert von aufkommenden
Nationalitätenkonflikten gekennzeichnet. In Katalonien
und im Baskenland mit anderen, nichtspanischen Sprachen und Kulturen wie mit eigenständigen historischen
Traditionen, die aber zugleich die entwickeltsten Gebiete
des Staates darstellten, bildeten sich aus Opposition gegen
den von der Madrider Bürokratie betriebenen Zentralismus starke Nationalbewegungen. Und schließlich hatte
die Monarchie das Land, nach dem Verlust seiner Kolonien
in Amerika und in Asien, in ein neues Kolonialabenteuer
in Nordafrika mit der Folge der Eroberung des nördlichen
Teils von Marokko geführt.
So unfähig, auch nur eines der grundlegenden Probleme zu lösen, hatte die Diktatur Primo de Riveras stattdessen zur Zunahme des gesellschaftlichen Widerstandes
D I E I N T E R N AT I O N A L E
geführt. Seine mächtigste Kraft bestand aus einer der
stärksten Arbeiterbewegungen Europas, in der neben einer
Sozialistischen Partei (PSOE) und ihrer Gewerkschaft
(UGT) eine breite anarchistisch-syndikalistische Massenbewegung (CNT und FAI) einflussreich war. Das gab es
sonst nirgendwo auf der Welt, während die Kommunisten
(PCE) seit ihrer Entstehung Anfang der zwanziger Jahre
nur eine Randexistenz führten und zugleich stark fraktioniert waren. Neben den nationalistischen Bewegungen
im Baskenland und Katalonien mit ihrer kleinbürgerlichbäuerlichen Basis erhielt aber nun auch die republikanische
Bewegung in Zentral- und Südspanien großen Zulauf,
die die kleinen mittelständischen Schichten repräsentierte.
Selbst starke konservativ eingestellte katholische Kreise
hatten nun die Monarchie aufgegeben.
Doch das Reformwerk der neuen Republik – zunächst
dominiert von einem Bündnis der Sozialisten mit den
republikanischen Parteien – blieb sehr schnell in Anfängen
stecken. Die Agrarreform geriet ins Stocken, da hierfür grundlegend in das Privateigentum am Boden hätte
eingegriffen werden müssen, um eine auch nur annähernd
gerechte Verteilung des Landes zu erreichen. Die nichtspanischen Nationalitäten drängten nach mehr Eigenständigkeit. Die Katalanen hatten nur eine, wenn auch bescheidene Autonomie in Gestalt einer eigenen Regierung,
der „Generalitat“, erreichen können. Dass sie sich damit
zufrieden gaben, statt einer zunächst geforderten gleichberechtigten Föderation der Nationalitäten auf der iberischen
Halbinsel, lag daran, dass Katalonien das Zentrum der
Anarchisten darstellte, von denen sich auch die katalanischen Nationalisten mit ihrer sozialen Basis im Kleinbürgertum bedroht fühlten. Etwas verspätet, ab 1932,
ließ auch die Weltwirtschaftskrise ihre Auswirkungen in
Spanien verspüren. Die Arbeitslosigkeit stieg. All das führte zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung. In der
Sozialistische Partei bildete sich im Jahre 1933 ein starker
linker Flügel, gestützt vor allem auf die Landarbeitergewerkschaft und die Jugendorganisation, der angesichts der
Machtübernahme der Nazis in Deutschland das Ende des
Reformismus konstatierte und nur noch einen revolutionären Ausweg sah. Das Bündnis von Republikanern und
Sozialisten brach auseinander.
Bei den Wahlen im November 1933 siegten die Parteien der Rechten, die eine spiegelbildliche Radikalisierung
durchmachten, sich allerdings von der Entwicklung in
Deutschland und Italien beflügelt sehen mussten und daran
gingen, Reformen der Jahre zuvor rückgängig zu machen.
Dagegen formierte sich ein Einheitsfrontbündnis der Lin-
ken, die Arbeiterallianz (Alianza Obrera), die allerdings
von Teilen der Anarchisten und zunächst auch von der KP
boykottiert wurde, zu deren maßgeblichen Initiatoren aber
die aus der Partei ausgeschlossenen oppositionellen kommunistischen, teilweise trotzkistisch beeinflussten Kräfte
gehörten, die dann 1935 die POUM bilden sollten. Als es
gegen den Regierungseintritt der ultrarechten katholischen Partei CEDA im Oktober 1934, die eine Art „Klerikalfaschismus“ vertrat, zu einem Aufstand kam, konnte
dieser niedergeschlagen werden, da er nicht von allen
Kräften der Arbeiterbewegung getragen war und regional
zersplittert (v. a. im Norden, in Asturien) stattfand. Doch
gelang es der Regierung nicht, den gesellschaftlichen
Widerstand insgesamt zu vernichten. Nach einer Reihe
von Korruptionsskandalen kam es im Februar 1936 zu
Neuwahlen, die einem Wahlbündnis der Linken mit den
Republikanern (für das sich später die Bezeichnung Volksfront einbürgerte), bei Unterstützung an den Wahlurnen
durch die meisten Anarchisten, die Mehrheit brachte.
Doch eingekeilt zwischen ihrer Wählerschaft und
deren Willen, diesmal unwiderrufliche Reformen durchzusetzen, und der Entschlossenheit der Rechten, diesmal
reinen Tisch zu machen, war die neue republikanische Regierung aktionsunfähig. Fast teilnahmslos sah sie zu, wie
die Rechte eine Verschwörung organisierte. Am 17. Juli
begann der Militärputsch, zu dessen Anführer schnell der
General Francisco Franco, ein Veteran des Kolonialkriegs
in Marokko, wurde.
Zwar hatten die Putschisten zunächst große Niederlagen in den städtischen Zentren wie Barcelona, Madrid
und Valencia erlitten. Ihre Hochburg war „Spanisch-Marokko“ mit seinen Kolonialtruppen. Hier rächte sich, dass
Republikaner und Sozialisten nie Interesse an der Beseitigung dieser Kolonialherrschaft gehabt hatten. Doch die
für die Republik günstige militärische Ausgangssituation
änderte sich schnell: Die Putschisten gewannen in Hitler
und Mussolini Bündnispartner, die ihnen umfangreiche
Unterstützung an Waffen und sonstigem Kriegsmaterial
sowie nicht zuletzt Soldaten zur Verfügung stellten. Besonders berüchtigt sollte die Legion Condor werden, in der
die nach Spanien entsandten deutschen Luftwaffeneinheiten zusammengefasst waren. Dort wurden neue Flugzeuge
erprobt und die Bombardierung von Städten eingeübt, für
die die Vernichtung des baskischen Gernikas am 26. April
1937 eine Generalprobe darstellte. Ohne diese Hilfe hätte
Franco nie siegen können.
Während die Republik von einer starken politischen
Zersplitterung gekennzeichnet war, waren die PutschisInprekorr 5/2016 59
D I E I N T E R N AT I O N A L E
ten unter dem Oberbefehl Francos, der sich schnell die
verschiedenen zivilen und militärischen Fraktionen der
Rechten unterwarf, vereint. Zudem musste die Republik
erleben, dass sie von den Westmächten, allen voran von
Großbritannien, boykottiert wurde. Nach dem 19. Juli hatte
sich auf ihrem Gebiet als Antwort auf den Putsch und darauf, dass in seinem Gefolge der Staatsapparat auseinandergebrochen war, eine soziale Revolution entwickelt. Industrie
und Großgrundbesitz wurden von Gewerkschaften und
Arbeiterkomitees übernommen, ein Prozess der Kollektivierung von unten. Anstelle der auseinandergefallenen Armee entstanden Arbeitermilizen. In dieser Situation zogen
es die Westmächte, allen voran das um seine Investitionen
in Spanien fürchtende konservativ regierte Großbritannien,
aber in dessen Gefolge auch die französische Volksfrontregierung, vor, eine offen mit Nazi-Deutschland sympathisierende Herrschaft in Kauf zu nehmen. Sie erfanden dafür
die Formel der „Nicht-Intervention“, ein internationales
Abkommen, das jedwede Unterstützung von außen an eine
der beiden Bürgerkriegsseiten, dabei Republik und Putschisten auf eine Ebene stellend, unterbinden und dadurch
schnell ein Ende des Konflikts herbeiführen sollte. Doch
weder Hitler noch Mussolini dachten auch nur für einen
Moment, sich an das Abkommen zu halten, das sie bereitwillig unterschrieben hatten. Auch die Sowjetunion hatte
sich in den ersten entscheidenden Wochen dazu bekannt,
musste aber im September dessen Unterlaufen durch die
faschistischen Mächte konstatieren und begann nun ihrerseits mit Unterstützungsmaßnahmen. So fand die Republik
praktisch nur Hilfe bei ihr, doch zu Stalins politischen Bedingungen, die der Republik nicht den Sieg erbringen sollten. Allerdings im Wissen um die internationale Bedeutung
dieses Kampfes waren bereits sofort nach Bekanntwerden
des Putsches viele Freiwillige nach Spanien, zunächst ganz
unorganisiert vor allem aus dem Nachbarland Frankreich,
geeilt, darunter viele Flüchtlinge aus Deutschland und Italien. Oft wandten sie sich, die Grenze zu Katalonien überschreitend und auch aus politischer Sympathie, direkt an die
in diesem Teil Spaniens wirkenden Kräfte der Anarchisten
oder der POUM. Erst später, im September, organisierte
dann auch die Kommunistische Internationale die zu einem
mythischen Begriff gewordenen Internationalen Brigaden,
die zwar die Mehrheit der internationalen Freiwilligen,
aber eben nicht alle umfassen sollten.
Im Sommer 1936 gelang es den Putschisten dank der
ihnen zugekommenen Unterstützung, ihre verschiedenen
Gebiete im Norden und im Süden des Landes zusammenzuschließen. Doch ihre Hoffnung, dann im November
60 Inprekorr 5/2016
die Hauptstadt zu erobern, scheiterte am Widerstand der
Madrider Bevölkerung, wobei es auch zum erstmaligen
Einsatz der Internationalen Brigaden kam. Bereits im September war es zur Bildung einer Volksfrontregierung unter
dem linken Sozialisten Largo Caballero gekommen, der ab
November auch die Anarchisten angehörten. Sie nahm die
Zentralisierung des fragmentierten republikanischen Staats
in Angriff und baute vor allem ein einheitliches Heer wieder auf. Dafür kam die Hilfe praktisch ausschließlich von
der Sowjetunion als Versorger der Republik mit Waffen
und Militärberatern. Doch all dies geschah auf Kosten der
sozialen Revolution und sollte dadurch bald zu neuen politischen Spaltungen führen, da sich dadurch die Republik
mit einem wesentlichen Teils ihrer sozialen Basis überwarf.
Dies galt vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, für Katalonien, dem Gebiet mit der stärksten Arbeiterbewegung.
Im Mai 1937 kam es in Barcelona zu bewaffneten Kämpfen,
bei denen die Anarchisten und die POUM eine Niederlage
erlitten. Eine neue Regierung unter dem rechten Sozialisten Juan Negrín, unterstützt von Teilen der Sozialisten,
den Kommunisten und den Republikanern, wollte nun
„Ordnung“ schaffen in der Hoffnung, daraufhin endlich
die politische Bestätigung und die Hilfe der Westmächte zu
erhalten. Eine Hoffnung, die nichts als trügen sollte.
Doch gelangen der Republik zunächst einige militärische Erfolge: Schon im März 1937 war ein italienisches
Expeditionskorps in Guadalajara geschlagen worden.
Nach zahlreichen kleineren Rückschlägen vor allem in
Norden (vom Baskenland bis Asturien), den die Republik
verlor, war im Winter 1937/38 ein Überraschungsangriff
auf die Stadt Teruel im Süden Aragóns erfolgreich. Es
stellte sich aber als unmöglich heraus, daraus eine richtige
Gegenoffensive zu entwickeln. Im Gegenteil, den Soldaten Francos gelang es bald, Teruel zurückzuerobern und
von dort bis ans Mittelmeer vorzustoßen. Die Republik
wurde geteilt, die Mitte und Teile des Südens von Madrid
bis Valencia wurden von Katalonien abgetrennt. Ein
erneuter Angriff im Sommer 1938, die Ebro-Offensive,
bei der es den Republikanern gelang, diesen Fluss im
Süden Kataloniens in einem Überraschungsangriff zu
überqueren, blieb angesichts der faschistischen Materialüberlegenheit bald stecken. Es gelang der Republik, deren
Versorgungslage immer katastrophaler wurde, nicht
mehr, all ihre verbliebenen Kräfte zu mobilisieren. Die
Westmächte, die ganz mit Nazi-Deutschland beschäftigt
waren und sich bemühten, Hitlers Expansionsgelüste auf
den Osten zu richten, opferten Ende September 1938 die
Tschechoslowakei im Münchner Abkommen. Sie signa-
D I E I N T E R N AT I O N A L E
lisierten damit auch, dass sie am Schicksal der Republik
kein Interesse mehr hatten. Im Januar 1939 wurde Katalonien besetzt. Das Schicksal der Republik war praktisch
aussichtslos; im Februar wurde Franco von Frankreich
und Großbritannien anerkannt. Ende März 1939 fiel das
noch immer von der Republik gehaltene beträchtliche
Zentralgebiet mit der Hauptstadt Madrid, nachdem es
dort auch noch zu bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen den Kommunisten und einem Block der nichtkommunistischen Kräfte gekommen war. Am ersten April
konnte Franco seinen Sieg proklamieren, fünf Monate vor
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es begann eine vom
Militär getragene Terrorherrschaft, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch Zehntausenden das Leben kosten
sollte. Zwar säuberte Franco das Bild seiner Herrschaft
ab 1945, nach der Niederlage Deutschlands und Italiens,
von offener faschistischer Symbolik, was aber vor allem
eine Fassadenreparatur darstellte. In den fünfziger Jahren
verlor die Diktatur zwar langsam ihre Mobilisierungskraft
angesichts eines in Spanien einsetzenden ökonomischen
Wandels. Doch erst nach dem Tod Francos konnte sie beseitigt werden, deren Erbschaft aber durchaus in manchen
Zügen noch die spanische Gesellschaft durchwirkt.
Einige Literaturhinweise: Von den ‚klassischen‘
Gesamtdarstellung liegt auf Deutsch Pierre Broué – Émile
Témime: Revolution und Krieg in Spanien, Frankfurt/M. 1968,
vor, in dem auch ausführlich auf die soziale Revolution in
der republikanischen Zone eingegangen wird. Die Darstellung des englischen Historikers Hugh Thomas wurde nur in
der ersten Ausgabe übersetzt: Der spanische Bürgerkrieg, Berlin
1962. Die in den siebziger Jahren wesentlich erweiterte Fassung erschien dann nicht mehr auf Deutsch und liegt nur als
englisches Taschenbuch vor: The Spanish Civil War, 3. Aufl.,
Harmondsworth 1977. Eine neuere Darstellung aus Großbritannien liegt dann aber wiederum auf Deutsch vor: Antony
Beevor, Der Spanische Bürgerkrieg, München 2006. Geraffte
Überblicksdarstellungen liefern Walther L Bernecker, Krieg
in Spanien 1936 – 1939, 2. Aufl, Darmstadt 2005, und Carlos
Collado Seidel, Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines
europäischen Konflikts, 2. Aufl., München 2010.
Ein Gesamtüberblick der deutschen Freiwilligen auf
Seiten der Republik findet sich bei Patrik von Zur Mühlen,
Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen
Bürgerkrieg 1936 bis 1939, Bonn 1991. Für dieses Buch, das
das Gesamtspektrum der deutschen Linken, von Sozialdemokraten über Kommunisten bis hin zu Anarchisten
und Linkssozialisten bzw. oppositionellen Kommunisten,
konnte der Verfasser allerdings in den achtziger Jahren viele
Archive noch nicht auswerten, die seitdem erst zugänglich wurden, vor allem zu den Internationalen Brigaden.
Leider gibt es aber auf Deutsch bisher von diesen noch keine
Gesamtdarstellung, wie sie der französische Historiker
Rémi Skoutelsky unternommen und dabei viele mit ihnen
verbundene Mythen richtiggestellt hat (span: Novedad en el
frente. Las Brigadas Internacionales en la Guerra Civil, Madrid
2006). Hinweise auf internationale Freiwillige bei den Anarchisten finden sich bei Heleno Saña, Die libertäre Revolution. Die Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg, Hamburg 2000,
und zur POUM bei Reiner Tosstorff, Die POUM in der
spanischen Revolution, 2., erweiterte Auflage, Köln 2016.
Alle diese Bücher geben umfassende Angaben zu der
kaum noch zu überblickenden historischen Literatur, die
insbesondere seit dem Tod Francos natürlich vor allem auf
spanisch erscheint und zu der Jahr um Jahr zahlreiche neue
Arbeiten hinzukommen, ohne dass sich nicht doch noch
immer wieder überraschende Lücken bei der Erforschung
und Darstellung des Bürgerkriegs erweisen. Und all diese
historischen Darstellungen werden zudem durch eine
Vielzahl an Erlebnisberichten ergänzt, von literarischen
Darstellungen erst gar nicht zu reden. Auch auf sie finden
sich in der genannten Literatur weiterführende Hinweise.
Aus: Werner Abel, Enrico Hilbert: Sie werden nicht durchkommen. Deutsche an der Seite der Spanischen Republik
und der sozialistischen Revolution. Bd. 1, Verlag Edition AV,
Lich/Hessen 2015
Inprekorr 5/2016 61
D I E I N T E R N AT I O N A L E
DIE POUM UND DER
TROTZKISMUS
REINER TOSSTORF
D
ie Beziehungen zwischen der POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einigung) und dem
Trotzkismus nahmen einen völlig anderen Verlauf als die
Beziehungen zu den unabhängigen revolutionären Gruppierungen. Die Beteiligung am Volksfrontbündnis bei
den Wahlen im Februar 1936 hatte zum Bruch Trotzkis
und des Internationalen Sekretariats der Internationalen
Kommunistischen Liga mit den ehemaligen Mitgliedern
der ICE1 geführt. Doch alle Versuche, aus den wenigen
übrig gebliebenen Kontakten eine neue trotzkistische
Organisation aufzubauen, hatten zu keinem Ergebnis
geführt.
Die ersten Nachrichten aus Spanien nach dem 19. Juli
bestätigten für Trotzki die Verantwortung der Volksfront
dafür, dass der Putsch ausbrechen konnte. Dies drückte
auch eine Solidaritätserklärung mit dem Kampf der spanischen Arbeiter aus, den die Konferenz der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) verabschiedete; diese
Konferenz der IKL, der internationalen trotzkistischen
Organisation, fand vom 29. bis 31. Juli 1936 in Genf statt,
auf ihr benannte die IKL sich offiziell in „Bewegung für
die IV. Internationale“ um. In der Solidaritätserklärung
wurde auf die POUM nicht eingegangen, sondern nur
in allgemeiner Form die Bildung einer revolutionären
Führung gefordert.
Erst in einem ursprünglich nicht für die Veröffentlichung gedachten Brief an das Internationale Sekretariat
(IS) vom 27. Juli kam Trotzki auf die POUM zurück und
griff sie wegen ihrer Unterstützung der Volksfront bei der
Parlamentswahl im Februar in scharfen Worten an. Doch
62 Inprekorr 5/2016
kurz darauf änderte er seine Meinung, als er Möglichkeiten für eine Wiederannäherung sah. Dies war eine direkte Folge der ersten Kontakte, die eine Delegation des IS
unter Leitung seines Mitglieds Jean Rous 2 in Barcelona
mit der POUM hatte und über deren Ergebnisse Trotzki
von Rous durch ein Telegramm informiert wurde. Er
antwortete mit einem Brief, den er auch Nin 3 zu zeigen
bat. Darin erklärte er seine Bereitschaft, nach Katalonien
zu kommen, wenn die POUM für ihn die Aufenthaltserlaubnis erreichen würde, und für La Batalla 4zu schreiben.
Über die Möglichkeit, mit der POUM auch politisch
zusammenzuarbeiten, schrieb er:
„Was nun Nin, Andrade5 und die anderen angeht,
so wäre es ein Verbrechen, wenn wir uns jetzt in diesem
großen Kampf von Erinnerungen an die vergangene Periode leiten ließen. Wenn es auch im Programm und bei
den Methoden Meinungsverschiedenheiten gibt, so dürfen doch diese Meinungsverschiedenheiten – selbst nach
den gemachten Erfahrungen – keinesfalls eine aufrichtige
und dauernde Wiederannäherung ausschließen. Das Weitere
wird die Erfahrung bringen.“
Somit schien Trotzki jetzt Möglichkeiten zu sehen,
um zu einer Wiederannäherung zu gelangen. Doch
erreichte dieser Brief seinen Adressaten nicht. Es waren
allerdings andere Dinge, die schließlich die Wiederannäherung verhinderten. Trotzki selbst wurde nur kurz
darauf in seinem norwegischen Exil unter Quasi-Internierung gestellt und damit bis zu seiner Übersiedelung
nach Mexiko Anfang 1937 jeder Möglichkeit beraubt, zur
Entwicklung in Spanien Stellung zu nehmen. Doch mehr
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als das waren es allgemeine politische Probleme, die der
Wiederannäherung im Wege standen.
Am 5. August waren die Vertreter des Internationalen
Sekretariats in Barcelona als erste internationale Delegation überhaupt eingetroffen. Sie trafen dort auf Fosco6 .
Durch seine Vermittlung sprachen sie mit dem Exekutivkomitee der POUM. Neben der Mitarbeit Trotzkis an La
Batalla und dem Versuch, ihm die Aufenthaltserlaubnis
zu verschaffen, wurden die Entsendung von Freiwilligen
und die materielle Unterstützung vereinbart. In diesen
ersten Tagen waren die Beziehungen zwischen POUM
und den Trotzkisten noch ungetrübt. Es schien sogar
großes Interesse bei den ehemaligen ICE-Mitgliedern an
einer erneuten Zusammenarbeit zu bestehen. Juan Andrade schrieb später: „Am Anfang unterhielten Nin und
ich herzliche Beziehungen zu den Trotzkisten, die wir für
die uns nächsten hielten.“
So wurde auf einer Veranstaltung der POUM am 6.
August eine Grußadresse der Delegation verlesen, die
anschließend in La Batalla wiedergegeben wurde. Inzwischen traf eine Reihe von trotzkistischen Freiwilligen
für die POUM-Miliz ein. An der Aragón-Front war in
deren Reihen die Internationale Kolonne Lenin gebildet
worden, in der sie mit 23 Milizionären eine Mehrheit
bildeten. Es konstituierte sich eine Bolschewistisch-Leninistische Gruppe.
Am 18. August veröffentlichte La Batalla einen Brief
der trotzkistischen Freiwilligen an der Aragón-Front,
in dem es u. a. hieß: „Allein die POUM vertritt bei so
großer Konfusion der traditionellen Parteien Losungen,
die der Situation entsprechen und einen Klasseninhalt
haben.“
Doch nur kurz darauf begannen sich die Beziehungen wieder abzukühlen. Verschiedene Ursachen waren
dafür maßgebend. Zum einen trafen jetzt auch verstärkt
Freiwillige aus dem Bereich des Londoner Büros ein. Ein
direkter Ausdruck davon war die Zensur, die Gorkin7
am einzigen Trotzki-Text, den La Batalla veröffentlichte,
ausübte und in dem er Trotzkis Kritik an der Unterstützung, die Pivert 8 der Regierung Blum 9 gab, herausstrich.
Gorkin begründete dies später mit der Hilfe, die Pivert
von seiner Position aus für die POUM gab. Auf jeden
Fall führte es zu einer scharfen Reaktion von Rous gegen
diese Zensur.
Auf der anderen Seite veröffentlichte die Zeitung
der französischen Trotzkisten, La lutte ouvrière, plötzlich
Trotzkis Brief an das IS vom 27. Juli, in dem die Unterschrift der POUM unter das Wahlabkommen als Ver-
brechen Mauríns10 und Nins bezeichnet wurde. Diese
Veröffentlichung trug wesentlich zur Verschlechterung
der Beziehungen bei, wie Fosco und Vereeken11 berichteten. Doch jenseits der dadurch hervorgerufenen persönlichen Betroffenheit bei den POUM-Mitgliedern ging es
dabei natürlich um die politische Bewertung der Taktik
der POUM durch Trotzki und die trotzkistische Bewegung, was sich in den folgenden Monaten vor allem mit
dem Regierungseintritt12 und schließlich den Mai-Tagen
1937 noch zuspitzte.
Zunächst aber gab es innerhalb der in Barcelona befindlichen Trotzkisten einen Konflikt über ihre Haltung
zur POUM. Wortführer waren auf der einen Seite Fosco,
auf der anderen Rous. Für Fosco hatte die trotzkistische
Kritik an der Politik der POUM zwar nicht an Bedeutung verloren. Die POUM bildete aber für ihn in der
konkreten Situation den Ansatz für eine revolutionäre
Partei. Eine solche könne nicht im Leeren aufgebaut werden, war sein Argument. Er schlug deshalb den Eintritt
vor, um ihre politische Entwicklung zu beeinflussen. Für
Rous dagegen lief die Taktik der Trotzkisten auf eine
ziemlich kurzfristige Spaltung der POUM hinaus. So
unterbreitete er den ehemaligen Mitgliedern der ICE im
Exekutivkomitee der POUM, Nin, Andrade und Molins13, den Vorschlag, eine Fraktion zu organisieren, was
sie entschieden ablehnten.
Der Konflikt zwischen Fosco und Rous verschärfte
sich dadurch, dass Fosco zu einer Abspaltung von der
französischen Sektion um Raymond Molinier14 tendierte.
Dies führte schließlich zu seinem Ausschluss, worauf hin
er seine eigene Gruppe organisierte, die aber nur aus wenigen Ausländern bestand und eine nur auf Französisch
erscheinende Zeitschrift veröffentlichte.
Gleichzeitig begann die Kritik an der aktuellen Politik
der POUM. Lutte ouvrière veröffentlichte am 15. August einen Brief aus Barcelona (von Rous?), in dem der
POUM „bürokratische Halsstarrigkeit einiger zentristischer Führer“ nachgesagt wurde. Eine Woche darauf, am
22. August, erschienen weitere Briefe, in denen insbesondere die Beteiligung der POUM am katalanischen Wirtschaftsrat als einem Instrument der Generalitat15 angegriffen wurde. Damit begann die offene Auseinandersetzung.
Als Anfang September ein französischer Trotzkist an der
Front fiel, ließ die POUM bei seiner Beerdigung die Fahne der IV. Internationale nicht zu. Den Delegierten des IS
und der französischen trotzkistischen Organisation POI
wurde der Zugang zu den Lokalen der POUM wegen
Organisierung von Fraktionstätigkeit untersagt.
Inprekorr 5/2016 63
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Den entscheidenden Bruchpunkt bildete dann die
Beteiligung der POUM an der katalanischen Regierung.
Hier war für Trotzki und die IV. Internationale wegen
der direkten Teilnahme an einer Volksfrontregierung
ein klarer Trennungsstrich zu ziehen. Dies wurde zum
zentralen Punkt in den Auseinandersetzungen. Dennoch
versuchte die Bolschewistisch-Leninistische Gruppe jetzt,
um aus ihrer Isolierung herauszukommen, der POUM
als Fraktion beizutreten. Nin antwortete ihnen am 13.
November im Auftrage des Exekutivkomitees und lehnte
jede Art von fraktioneller Tätigkeit ab. Sie könnten individuell beitreten, müssten sich aber von der „Verleumdungs- und Diffamierungskampagne“ der IV. Internationale distanzieren. Unter diesen Bedingungen war ein
Beitritt natürlich nicht möglich. Kurz darauf benannte
sich die Gruppe in „Sección bolchevique-leninista de
España (IV Internacional) (SBL)“ um, wie Rous erklärte, um sich damit „auf die sofortige Bildung einer neuen
Partei gegen die POUM“ zu orientieren.
Ab Anfang 1937 gab sie ein hektographiertes Bulletin
in mehreren Sprachen heraus. Anfang April 1937 erschien
dann die erste Nummer einer Zeitung auf Spanisch unter
dem Titel La voz leninista. Zahlenmäßig blieb sie aber unbedeutend. Alle organisatorischen Angaben sprechen von
ca. 30 Mitgliedern, verteilt auf Gruppen in Barcelona, an
der Front und zumindest zeitweise in Madrid. Der überwiegende Teil der Mitglieder vor allem in der ersten Zeit
waren Ausländer. Die führenden Köpfe waren zum einen
der deutsche Trotzkist Freund, der unter dem Pseudonym
Moulin auftrat.16 Er war zunächst in Madrid gewesen,
ging dann aber mit dem Beginn der Repression von dort
nach Barcelona. Zum anderen kehrte nach Ausbruch des
Bürgerkrieges Grandizo Munis17, ein Mitglied der ICE,
der 1935 nach Mexiko gegangen war, wieder zurück und
wurde einer der Wortführer der SBL.
Es gelang der trotzkistischen Gruppe schließlich sogar,
das eine oder andere Mitglied der POUM zu gewinnen,
insbesondere in der Madrider Gruppe, die im Rahmen
der Partei einen quasi-trotzkistischen Flügel bildete.
Während der Mai-Tage, in denen die SBL eine intensive Tätigkeit entfaltete und dabei vor allem den Kontakt
mit der anarchistischen Oppositionsgruppe „Amigos de
Durruti“ suchte, fiel als einziges Mitglied der Gruppe der
Andalusier Julio Cid, der zugleich aktives Mitglied der
POUM war.
Das Internationale Sekretariat äußerte jedoch Kritik
an ihrer politischen Linie. Sie würde sektiererisch auftreten. Unter anderem könne man der POUM keine Be64 Inprekorr 5/2016
dingungen für einen Eintritt stellen, sondern müsse ihn
sofort vollziehen, um dort revolutionäre Arbeit durchzuführen. Es entsandte deshalb im Mai Erwin Wolf.18
Dabei war das Verhalten gegenüber der POUM in
der Bewegung für die IV. Internationale durchaus nicht
unumstritten geblieben. Es entwickelte sich eine POUMnahe Tendenz, die insbesondere von der niederländischen
Sektion19 getragen wurde, die über gute Beziehungen zur
POUM verfügte und auch die Unterstützung von Victor
Serge20 fand. Auf der Sitzung des Internationalen Büros
der Bewegung für die IV. Internationale vom 12./13.
Januar 1937 in Amsterdam prallten die Gegensätze aufeinander. Die Verteidiger der POUM blieben jedoch in der
Minderheit. Im Gefolge dieser und anderer Auseinandersetzungen brachen die Niederländer mit der IV. Internationale. Eine Zwischenposition nahm eine Minderheit
in der belgischen Sektion um Georges Vereecken ein. Er
teilte zwar bestimmte Kritiken, so z. B. an der Regierungsbeteiligung, warf dem Internationalen Sekretariat
aber eine sektiererische Politik mit der Bildung einer
eigenständigen Sektion vor. Darüber kam es schließlich
auch zu seinem Bruch mit der IV. Internationale. Ähnliche, aber weitaus unbedeutendere Tendenzen gab es auch
in anderen Sektionen wie in den USA und in Frankreich.
Unstrittig war aber innerhalb der Bewegung für die
IV. Internationale der Wunsch, an der geplanten Konferenz in Barcelona teilzunehmen. Von ihr wurde auch ein
anderer Verlauf als von dem Brüsseler Kongress erwartet. Eine Resolution des Büros der IV. Internationale
drückte aus, dass der Grund dafür in der Organisierung
der Konferenz in Barcelona durch die POUM liege. Die
vorgesehene Tagesordnung habe einen Inhalt, der näher
am Auf bau der IV. Internationale läge. Anfang Januar 1937 antwortete Gorkin im Namen der Leitung der
POUM auf einen entsprechenden Brief zunächst einmal ausweichend. Erst in nächster Zeit werde über den
Teilnehmerkreis entschieden. Dieses Ausweichen dürfte
seinen Grund nicht nur in der heftigen Opposition der
Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), sondern auch im
Widerstand des rechten Flügels der POUM gehabt haben,
der sich auf dem ZK im Dezember gezeigt hatte. Die
ständige Verschiebung der Konferenz brachte die Frage
der Klärung nicht näher, bis sie sich schließlich durch die
Repression gegen die POUM im Juni 1937 von selbst
erledigte. Ebenfalls völlig selbstverständlich war für die
trotzkistischen Organisationen, dass sie sich auch nach
Maßgabe ihrer Kräfte gegen die stalinistische Verleumdungskampagne gegen die POUM wandten.
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Die POUM hatte in dieser ganzen Zeit einen klaren
Trennungsstrich gegenüber dem Trotzkismus gezogen.
Zunächst erfolgte er auf organisatorischer Ebene: vom
Verbot des Zutritts zu POUM-Lokalen für Rous und
die Delegation Anfang September bis zur Ablehnung des
Gesuchs um Beitritt. Anfang Oktober hörte auch Foscos
Tätigkeit auf. Eine trotzkistische Fraktionsarbeit sollte
nicht geduldet werden. Deshalb überwachte die POUM
auch die ausländischen Trotzkisten. Ein ehemaliges
Mitglied der SAP, Leutnant in der POUM-Miliz an der
Aragón-Front und gleichzeitig Mitglied der JCI ( Juventud Comunista Ibérica, dem Jugendverband der POUM),
der zur SBL übergetreten war, wurde aus der JCI ausgeschlossen, was eine Polemik zwischen den jeweiligen
Zeitungen auslöste.
Politische Abgrenzungen in den Zeitungen der
POUM erfolgten erst spät. Sie begannen mit einem Kommentar in La Batalla zu einer Stellungnahme Trotzkis aus
seinem mexikanischen Exil, die zunächst unkommentiert
abgedruckt worden war und in der er sich u. a. kritisch
zur Regierungsbeteiligung der POUM in Katalonien
geäußert hatte. Die POUM habe, so antwortete man
ihm, die Volksfront nicht unterstützt, sondern sie denunziert. Man sei in die Regierung eingetreten, weil sie
eine revolutionäre Regierung mit einem revolutionären
Programm gewesen sei. Im Übrigen würde Trotzki den
Kampf schon verloren geben.
Weitaus umfassender versuchte Kurt Landau 21 kurz
nach dem Erscheinen der ersten Nummer von La voz
leninista Stellung zu beziehen. Trotzki würde sein Verhalten in der Komintern – speziell 1923 – keiner Selbstkritik
unterziehen und die Grundlagen der Sowjetunion idealisieren. Im Augenblick befinde er sich in einer ultralinken
Phase, wo er mit Schemata operiere, statt die konkrete
Realität zu analysieren wie z. B. bei den Bedingungen
für den Regierungseintritt. Er gründe eine Internationale
ohne die notwendigen Vorbedingungen. Sein Organisationsverständnis sei das von Lassalle, nicht das von Lenin.
„Das sind nur einige der wichtigen Punkte, die uns von
Trotzki und dem Trotzkismus trennen. Wir sind weder
Trotzkisten noch Antitrotzkisten; wir sind einfach Marxisten, die den Trotzkismus verwerfen.“
Etwas systematischer versuchte sich Gorkin in zwei
Artikeln mit dem Thema Trotzkismus zu befassen und
kam dabei zu dem Schluss, dass das Sektierertum auf folgendem beruhe: „Die trotzkistische Opposition leidet an
einem Entstehungsfehler: nichts anderes zu sein als eine
antistalinistische Opposition. Eine negative, sektiereri-
sche Opposition. Dieser Negativismus und dieses Sektierertum haben den Trotzkismus zur Unfähigkeit geführt,
in der er sich befindet. Trotzki und die Trotzkisten haben
das Terrain der Realität verlassen, um in den impotentesten Schematismus zu verfallen.“
Überraschend dabei war, dass sich die ehemaligen
Trotzkisten der ICE in der POUM bei dieser Auseinandersetzung zurückhielten. Erst nach den Mai-Tagen
antwortete Nin in einem Artikel für Juillet22 zum ersten
(und einzigen) Mal und fasste darin seine Argumente zur
Verteidigung der POUM-Politik systematisch zusammen. Er analysierte die Machtorgane in der spanischen
Revolution und warf den Trotzkisten dabei den Versuch
einer schematischen Übertragung der russischen Situation mit Sowjets und Doppelherrschaft vor. In Spanien sei
die Situation jedoch vollständig verschieden gewesen. Die
Gewerkschaften hätten eine gewaltige Rolle, nämlich
die von politischen Organisationen, gespielt. Die Komitees, sowohl die örtlichen wie das Zentralkomitee der
Milizen, seien bloße antifaschistische Organismen und
keine Doppelherrschaftsorgane gewesen. Deshalb habe
es auch keine Doppelherrschaft gegeben und somit habe
man auch nicht das ZK der Milizen der Generalitat, der
katalanischen Regierung, gegenüberstellen können. Im
Weiteren führte er die Position der POUM zur Schaffung von revolutionären Machtorganen aus: Die Losung
einer „Konstituierenden Versammlung von Komitees der
Arbeiter, Bauern und Soldaten“. In der aktuellen Situation nach den Mai-Tagen seien es jetzt die Komitees zur
Verteidigung der Revolution, aus denen revolutionäre
Machtorgane entstehen könnten.
Dies war der einzige Versuch von POUM-Seite
überhaupt, systematisch den Argumenten der Trotzkisten
die eigenen gegenüberzustellen, anstatt wie Gorkin und
Landau – „sektiererisch, rein negativ, Trotzki als Lassalle“ – psychologisierend zu argumentieren. Es muss hier
aber angemerkt werden, dass Nin dabei nicht nur eine
fragwürdige Interpretation der Rolle der Komitees in den
ersten Monaten lieferte: Warum gab es dann solche Konflikte um sie, wenn sie keine revolutionären Machtorgane
waren? Auch äußerte er sich nicht zu den Arbeitermilizen, sondern widersprach damit durchaus seinen eigenen
früheren Aussagen, wie z. B. der vom September 1936, als
er auf einer Großkundgebung der POUM in Barcelona
davon sprach, in Katalonien herrsche schon die Diktatur
des Proletariats.
Kurz darauf wurde Nin entführt und die gesamte
Partei illegalisiert und verfolgt. Damit endeten auch die
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letzten Hoffnungen für die POUM, über eine siegreiche
Revolution in Spanien den Neuauf bau der revolutionären Arbeiterbewegung entscheidend zu beeinflussen.
Eine direkte Auswirkung davon war eine Verschärfung
der Auseinandersetzungen zwischen POUM und Trotzkismus.
Dieser Beitrag ist auf Vorschlag des Verfassers seinem sehr
viel umfangreicheren Essay „Die POUM: Achse einer neuen
Internationale?“ entnommen worden, der als Nachwort zu der
zweiten deutschsprachigen Ausgabe von Leo Trotzkis Schriften
Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931‒1939 (Köln:
Neuer ISP Verlag, 2016) veröffentlicht wurde.
Hier sind die umfangreichen Fußnoten des Originals mit Nachweisen der zitierten oder erwähnten historischen Quellen entfernt
und von der Inprekorr-Redaktion durch Kurzbiographien und
Erläuterungen der nicht allgemein bekannten Personen, Periodika und einiger Ereignisse oder Institutionen ersetzt worden.
1 Izquierda Comunista de España (ICE, Linke Kommunisten) Der
von den spanischen Bolschewiki-Leninisten unter Führung
von Andrés Nin angenommene Name, bevor sie sich mit der
Katalanischen Föderation zur POUM vereinigte.
2 Jean Rous (1908–1985), französischer Journalist, Rechtsanwalt und Politiker, trat 1934 der trotzkistischen „Ligue communiste“ bei, stand in den Jahren 1934 bis 1939 im Vertrauen
von Leo Trotzki, bei dem er sich in Norwegen auf hielt, reiste
im Auftrag des IS nach Spanien,
3 Andrés Nin (1892–1937), katalanischer marxistischer Politiker und Theoretiker, 1919 Sekretär des Nationalkomitees
der CNT, wurde 1921 auf einem Plenum der CNT-Leitung
in die Delegation gewählt, die zum dritten Kongress der
Kommunistischen Internationale und Gründungskongress
der Revolutionären Gewerkschafts-Internationale entsandt
wurde. Er arbeitete für den Generalrat der RGI, während die
CNT 1922 aus ihr austrat, und schloss sich 1926 der Linken
Opposition an. Trotzki sowie die Mehrheit der mit seinem
Namen verbundenen Bewegung und N. hatten ab 1932 zunehmende Meinungsverschiedenheiten. Nin betrieb 1934/35
die Vereinigung von BOC und ICE, wegen der Abwesenheit
von J. Maurín ab Juli 1936 Generalsekretär der POUM. Er
wurde von stalinistischen Agenten entführt, gefoltert und im
Juni 1937 auf Anordnung von NKWD-General Alexander
Orlow, in der Nähe von Madrid ermordet.
4 La Batalla, Tageszeitung der POUM, erschien von August
1936 bis Mai 1937 auf Spanisch in Barcelona.
5 Juan Andrade (1898–1981), spanischer Politiker und Publizist. 1920 Mitbegründer der Spanischen Kommunistischen
Partei. Er trat ab 1927 für die Auffassungen der Linken
Opposition ein, leitete 1931 bis 1934 die ICE-Zeitung Comunismo. 1935 Mitglied des Zentralkomitees der POUM, ab
Juli 1936 im Exekutivkomitee der POUM, nach der Illegalisierung der POUM im Juni 1937 verhaftet und bis 1938 im
Gefängnis. Er ging 1939 nach Frankreich ins Exil kehrte,
wurde 1940 vom Vichy-Regime verhaftet und 1944 von
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einem Résistance-Kommando unter Leitung des POUMLeitungsmitglieds Wilebaldo Solano befreit.
6 Fosco – Pseudonym von Nicola Di Bartolomeo (1901–1946),
italienischer Trotzkist, war der italienische Delegierte in der
Kommission, die Freiwillige auswählte, die in der Miliz der
POUM kämpfen wollten.
7 Julián Gorkin (1901–1987), ab 1921 in der kommunistischen Föderation der Levante aktiv. Er trat 1933 dem BOC
bei, 1935 Mitglied im ZK der POUM, leitete 1936/37 die
La Batalla, nach den Mai-Tagen 1937 verhaftet,. Er arbeitete
1939/40 als Sekretär für das sog. „Londoner Büro“ linkssozialistischer Organisationen und entfernte sich später von der
POUM und der Arbeiterbewegung.
8 Marceau Pivert (1895–1958), französischer Linkssozialist.
9 Nach dem Wahlsieg der „Front Populaire“ (Volksfront) aus
Sozialisten, Kommunisten und (kleinbürgerlichen) Radikalsozialisten im 1936 und einer Welle von spontanen Streiks
wurde eine Regierung der Volksfront mit dem Léon Blum
(1872–1950) als Ministerpräsidenten, sie bestand von Juni
1936 bis Juni 1937. Auf Druck der Rechten, der RadikalSozialisten und Großbritanniens nahm sie Abstand von
zunächst geplanter Hilfe für die republikanische Regierung
im Nachbarland.
10 Joaquim Maurín (1896–1973), katalanischer Publizist und
marxistischer Politiker. War zunächst Mitglied der anarchosyndikalistischen CNT, kam über die Solidarität mit der
russischen Revolution zur kommunistischen Bewegung. Er
brach 1930 mit den Führungen von PCE und Komintern und
gründete die Massenorganisation „Bloc Obrer i Camperol“
(BOC), deren Vorsitzende er 1931 wurde, befürwortete
1935 den Zusammenschluss von BOC und ICE zur POUM,
galt zusammen mit A. Nin als führender Repräsentant der
POUM.
11 Georges Vereeken (1896–1978), belgischer Trotzkist.
12 Andreu Nin war im August/September 1936 Mitglied des
„Consell d’Economia de Catalunya“ und von Ende September bis Mitte Dezember 1936 Minister für Justiz in der
katalanischen Regionalregierung.
13 Narcís Molins i Fàbrega (1901–1962) – katalanischer Journalist und marxistischer Politiker, schloss sich der FCCB und
dem BOC an und arbeitete als Redakteur ihrer Zeitungen
L’Hora und La Batalla. Wurde 1935 in das Zentralkomitee der
POUM gewählt, arbeitete 1936/37 für den Pressedienst der
Generalitat, dann als Chefredakteur von La Batalla, floh Ende
1937 nach Paris und betrieb mit V. Serge eine Kampagne
gegen die Verleumdungen der POUM.
14 Raymond Molinier (1904–1994) – französischer Trotzkist.
15 Generalitat – katalanische Regionalregierung, wurde im
August 1931 in der zweiten spanischen Republik eingeführt,
im April 1934 nach der gescheiterten Proklamation eines
katalanischen Staats durch den Präsidenten Lluís Companys
(1882–1940) suspendiert, wurde nach dem Wahlsieg der
Volksfront im Februar 1936 wieder eingeführt und wieder
von L. Companys, Politiker der kleinbürgerlichen Partei
„Esquerra Republicana de Catalunya“ (ERC) geleitet.
16 Hans David Freund (1912–1937), fuhr im September im
Auftrag des IS nach Madrid, bemühte sich 1937 Barcelona
um Einigung zwischen den beiden kleinen „bolschewistischleninistischen“ Gruppen und hielt Kontakt zu anarchistischen
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Kreisen, die Kritik an der Regierungsbeteiligung der CNTFAI übten. Nach den Mai-Tagen konnte er sich drei Monate
lang verstecken, verschwand im August, wurde wahrscheinlich in einem „Privatgefängnis“ des sowjetischen NKWD
ermordet.
17 Grandizo Munis (1912–1989), einer der Mitbegründer der
spanischen linksoppositionellen Organisation, unterstützte
1934/35 Trotzkis Position, die spanischen kommunistischen
Linksoppositionellen sollten in die PSOE eintreten, gründete 1936 die SBL und gab im April 1937 die Zeitung La Voz
Leninista heraus.
18 Erwin Wolf (1902–1937), tschechischer Trotzkist, arbeitete
als Sekretär für Leo Trotzki.
19 Niederländische Sektion der Bewegung für die IV. Internationale – die 1935 gegründete „Revolutionair Socialistische
Arbeiders Partij“ (RSAP) mit rund 3700 Mitgliedern und
Henk Sneevliet (1883–1942) als Sekretär. Die RSAP sprach
sich für eine neue Internationale und (wie die POUM) gegen
die Taktik des „Entrismus“ in die sozialdemokratischen
Organisationen aus.
20 Victor Serge (1890–1947), belgisch-russischer Revolutionär,
Journalist und Schriftsteller.
21 Kurt Landau (1903–1937), österreichisch-deutscher
antistalinistischer Kommunist, arbeitete an La Batalla und
deutschsprachigen Sendungen von Radio POUM mit, fand
im Juni 1937 Zuflucht in der CNT-Zentrale in Barcelona, im
September 1937 entführt, seither verschollen.
22 Juillet ( Juli), französischsprachige Zeitschrift der POUM,
von der eine einzige Ausgabe erschien.
Reiner Tosstorff
Die POUM in der spanischen
Revolution
2., erweiterte Auflage 2016
184 Seiten, EUR 19,80
ISBN 978-3-89900-118-1
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Freiheit für Baba Jan!
Internationale Solidarität gefordert!
Die Awami Workers Party ruft weltweit dazu auf, ihre
Forderungen an die pakistanische Regierung und die
Behörden von Gilgit-Baltistan zu unterstützen:
„ Sofortige Freilassung von Baba Jan und den elf
weiteren Gefangenen, die am 25. September 2014
zu Unrecht verurteilt wurden, sowie Aufhebung der
lebenslangen Haftstrafen, die durch ein Sondergericht
in Gilgit-Baltistan verhängt und durch das oberste
Appellationsgericht im Juni 2016 bestätigt worden
sind!
„ Veröffentlichung des gerichtlichen Ermittlungsergebnisses über die Morde an den Demonstranten
in Aliabad im August 2011 und Strafverfolgung der
verantwortlichen Polizeibeamten!
„ Abschaffung der drakonischen Gesetze, die in
Gilgit-Baltistan erlassen worden sind, und besonders
des Anti-Terror-Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit, da es sich auf eine Region erstreckt, die nicht der
pakistanischen Gesetzgebung unterliegt und deren
Bevölkerung ihrer politischen Grundrechte beraubt
sind, einschließlich ihrer Vertretung im pakistanischen Parlament und des Appellationsrechts vor dem
Obersten Gerichtshof in Pakistan!
„ Abschaffung der neokolonialen, zentralistischen
Herrschaft über Gilgit-Baltistan und Einführung
wirklich autonomer Vollmachten und einer autonomen Regierung für die dortige Bevölkerung sowie
Abschaffung des pakistanischen Ministeriums für
Kaschmir und der Ratsversammlung von Gilgit-Baltistan zugunsten einer autonomen Versammlung mit
gleichen Rechten!
„ Gewährung der demokratischen und verfassungsgemäßen Grundrechte für die Bevölkerung von
Gilgit-Baltistan und Schaffung eines unabhängigen
Justizsystems mit tatsächlich unabhängigen Richtern,
die aufgrund ihrer Verdienste berufen und nicht von
der Exekutive ernannt werden!
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Diese Petition ergeht an:
„ Mr. Mian Nawaz Sharif, Premierminister, Prime
Minister House, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 922
1596; Tel.: +92 51 920 6111; Mail: secretary@cabinet.
gov.pk oder [email protected]
„ Erster Minister von Gilgit Baltistan, Chief
Minister’s Secretariat, Gilgit, Tel.: +92-5811-920573;
Fax: +92 5811 50-201, Mail: [email protected].
pk
„ Richter Tahir Shahbaz, Registrar, Supreme Court
of Pakistan, Constitution Avenue, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 9213452; Mail: mail@supreme.
court.gov.pk
„ Bundesjustizminister, Ministry of Law, Justice and
Human Rights, Old US Aid building, Ata Turk Avenue, G-5, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 9204108 ;
Mail: [email protected]
„ Durchschrift an: Awami Workers Party, Mail:
[email protected]
Übersetzung: MiWe
„