inprekorr Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ RASSISMUS IN DEN USA September/Oktober 5/2016 Ausgabe 5/2016 USA Dossier BREXIT UND KRISE DER EU Die mit dem ‚Ja‘ zum Brexit zum Ausdruck gelangte institutionelle Krise der EU und die Herausforderungen an die Linke werden in diesem Dossier diskutiert. 4 Ein Dossier mit 5 Beiträgen Türkei EIN ZWEIFACHER STAATSSTREICH Die Hintergründe des gescheiterten Putschversuches und des autoritären Transformationsprozesses der Türkei unter „Sultan“ Erdoğan und seiner AKP und die Perspektiven der revolutionären Linken. 21 Von Emre Öngün GEGEN DAS „DUOPOL“ VON DEMOCRATS UND REPUBLICANS. Dossier Ecuador RASSISMUS IN DEN USA DER FEMINISMUS IN ECUADOR 30 Stellungnahmen der mit der IV. Internationale verbundenen US-Organisationen Socialist Action und Solidarity zur Scheinalternative zwischen Trump und Clinton. Die schwarze Bevölkerung in den USA wird die Rassenunterdrückung nur beenden können, wenn sie die Herrschaft der Bourgeoisie beendet und den Kapitalismus stürzt. Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über den Feminismus in Ecuador. Zwei Strömungen der letzten 17 Jahre stehen im Zentrum. Socialist Action und Solidarity Ein Dossier mit 5 Beiträgen 33 44 Von Maria Isabel Altamirano, Tanya de la Torre, Alba Aguinaga I N H A LT Pakistan die Internationale BABA JAN – OPFER DER PAKISTANISCHEN KLASSENJUSTIZ Philippinen DER NEUE „STARKE MANN“ DER PHILIPPINEN SPANISCHER BÜRGERKRIEG 1936 BIS 1939 Unser Genosse Baba Jan von der Awami Workers Party (AWP) Pakistans und acht weitere Genossen wurden zu je 40 Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 000 Rupien verurteilt. Rodrigo Dutertes autoritärer NeoLiberalismus ist keine Antwort auf die Armut und den Machtmissbrauch auf den Philippinen. Der „starke Mann“ setzt vor allem auf Repression. Der Spanische Bürgerkrieg war nicht bloß ein Kampf zwischen Demokratie und Faschismus, sondern ein Krieg zwischen den unterdrückten und den herrschenden Klassen. Von Jan Malewski Von Alex de Jong 47 50 57 die Internationale mit 2 Beiträgen DOSSIER: BREXIT BREXIT UND KRISE DER EU Das Votum für den Austritt Großbritanniens aus der EU kam für die britische Bourgeoisie unerwartet und stürzt die britische Wirtschaft in einen Krisenmodus. Die Bank of England hat ihre Wachstumsprognose für 2017 – immerhin gehen 45 % der britischen Exporte in die EU und 55 % der Importe kommen von dort – von 2,3 % auf 0,8 % korrigiert und die Zinsen auf das historische Tief von 0,25 % gesenkt. Auch wenn durch die auf 15 % reduzierte Unternehmenssteuer Kapital angezogen werden soll, sind die kommenden Austrittsverhandlungen für die Unternehmen ein Hemmnis für langfristige Investitionen. Der Industrieverband CBI fordert nun von der Regierung, entsprechend vorteilhafte Bedingungen für den Vollzug des Austritts: Zugang zum Binnenmarkt und zu EUFördermitteln, Zugriff auf Arbeitskräfte aus der EU etc. auszuhandeln. Doch Schäuble und Konsorten bleiben hart und verweigern sich jeder Form des „Rosinenpickens“, weil sie Ansteckungsgefahr befürchten. Die mit dem Votum zum Ausdruck gelangte institutionelle Krise der EU und die Herausforderungen an die Linke, werden in den folgenden Beiträgen, ausgehend vom Brexit, diskutiert. Miwe Ein Dossier mit 5 Beiträgen Für Einheit und Solidarität in Europa, gegen Rassismus und Sozialdumping SEITE 5 4 Inprekorr 5/2016 GB und der Brexit: Dichtung und Wahrheit Für ein anderes Europa ohne Grenzen und Ausbeutung SEITE 7 SEITE 9 Nach dem Brexit – eine EU-Kritik von links SEITE 12 Die EU nach dem Brexit: Nur eine politische Krise? SEITE 14 DOSSIER: BREXIT FÜR EINHEIT 3. UND SOLIDARITÄT IN EUROPA, GEGEN RASSISMUS UND SOZIALDUMPING Büro der Vierten Internationale 1. Nach Griechenland und der Flüchtlingskrise bedeutet das Ergebnis des britischen Referendums eine weitere Steigerungsstufe in der EU-Krise. Eine deutliche Mehrheit der an der Abstimmung Teilnehmenden in England und Wales hat für den „Brexit“ gestimmt und dem gesamten Vereinten Königreich einen Austritt aufgezwungen, obwohl in Schottland und Nordirland das Gegenteil herauskam – ein Krisenfaktor innerhalb des britischen Staates, was möglicherweise zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum in Schottland führen wird. Der ausländerfeindliche Diskurs gegenüber osteuropäischen MigrantInnen, den die beiden Hauptwortführer der „Leave“-Kampagne, Boris Johnson (Konservative Partei) und Nigel Farage (UKIP), gleichermaßen strapazierten, beherrschte die Kampagne. So gelang es ihnen, den tief sitzenden sozialen Frust weiter Bevölkerungsteile – jener Schichten, die Sparmaßnahmen, Kündigungen oder dem Sozialabbau zum Opfer fielen – aufzufangen. Ihre Erbitterung wendete sich gegen die Eliten (in Westminster oder Brüssel). Leider drückt diese massenhafte Ablehnung der EU zurzeit keinen fortschrittlichen, gegen die Austeritätspolitik gerichteten Radikalismus aus, sondern eine Ablehnung europäischer ArbeitsmigrantInnen, die als Sündenböcke für Stellenabbau hinhalten müssen; darein mischt sich eine Ablehnung der Europäischen Union, die für die erlittenen Angriffe verantwortlich gemacht wird.Das führte zu öffentlichen Äußerungen von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, die seit den 1970er Jahren untragbar geworden waren, als u. a. die 2. Anti-Nazi League dazu beitrug, den Anstieg von rechtsradikalem Extremismus einzudämmen. Die Dynamiken, die zum Ruf nach einem britischen Referendum führten - insbesondere die Entwicklung der UKIP, bestärkt durch den euroskeptischen rechten Flügel der Tories -, bereiteten ein zur Austragung der Debatte in Großbritannien für die Linke ausgesprochen ungünstiges Terrain.Die Labour-Partei war hin- und hergerissen zwischen einer traditionellen EU-Ablehnung - wie vor dem letzten Referendum 1975 - und Druck aus Gewerkschaftskreisen und anderen Kräften, die argumentierten, die EU-Politik sei ein Schutz gegen die schlimmsten neoliberalen Exzesse. Dazu kam der Wunsch, die gegen Immigranten gerichtete rechte Ausländerfeindlichkeit der „Leave“-Kampagne zurückzuweisen.Stimmen aus Labour zugunsten des Austritts wurden von den Medien stärker aufgegriffen als die von der Partei offiziell vertretene „Remain“-Haltung. Trotzdem unterstützten nur 37 % der Labour-WählerInnen den Austritt. Die dominante „Remain“-Kampagne schien eine Sache der Eliten, der arroganten City zu sein, die mit der Angst vor einer drohenden Katastrophe im Fall einer Mehrheit für den Austritt spielte, während Millionen britischer ArbeiterInnen bereits die Erfahrung einer sozialen Katastrophe gemacht hatten, die von denselben Leuten verursacht worden war wie denen, die für den Verbleib in der EU plädierten. In dieser Situation ist es unvermeidbar, dass die linken Kampagnen – Another Europe Is Possible (AEIP) für den Verbleib und Left Leave (Lexit) für einen Austritt – auf wenig Gehör stießen.Dennoch erhielt AEIP starke Unterstützung von Schatten-Finanzminister John McDonnell, der Führung der Grünen Partei und vielen linken GewerkschafterInnen, darunter Matt Wrack, dem Generalsekretär der Gewerkschaft der Feuerwehrleute FBU sowie Tausenden AktivistInnen im ganzen Land. Das Abstimmungsergebnis bedeutet für alle ArbeiterInnen und Studierenden aus EU-Ländern, allen voran aus Osteuropa, dass ihre materielle Lage in Großbritannien ausgesprochen unsicher geworden ist. Viele fühlen sich durch Ausdrücke der Fremdenfeindlichkeit, die während des Wahlkampfs aufgeheizt wurde, verletzbar.Bereits ist es zu physischen Angriffe auf MigrantInnen – insbesondere aus Polen – gekommen. Ähnlich werden auch das Stellenangebot und die Kaufkraft aller britischen ArbeiterInnen unter den Folgen der Währungsmanöver rund um das britische Pfund und alle 4. 5. 6. Inprekorr 5/2016 5 DOSSIER: BREXIT von der EU möglicherweise ergriffenen Maßnahmen leiden.Das Austrittsvotum wird also alles andere als ein Teil einer fortschrittlichen Zurückweisung des Austeritätskurses und der kapitalistischen Politik sein, sondern die konservative Regierung in eine noch reaktionärere Richtung führen. Ihr steht eine Labour-Partei gegenüber, die vom Referendum und den scharfen Angriffen des rechten Labour-Flügels auf die Führungsrolle von Jeremy Corbyn geschwächt ist. Umso wichtiger sind die Initiativen, die unmittelbar nach dem Referendum in Großbritannien ergriffen worden sind, um Solidarität mit allen ArbeitsmigrantInnen zu zeigen, sehr wichtig, sie sollten fortgesetzt und ausgeweitet werden.Ungeachtet der Meinungsunterschiede über das Referendum besteht die Aufgabe nun darin, die breitestmögliche Einheit gegen die Sparpolitik und in Solidarität mit den MigrantInnen zu bilden und sich der Kampagne des rechten Labour-Flügels gegen Corbyn und die Linke zu widersetzen. Der Brexit schwächt die EU strukturell und hat eine Führungskrise mit unvorhersehbaren Folgen an der Spitze ausgelöst.Es vergeht kein Monat, ohne dass den herrschenden Klassen die Folgen der diktierten Sparpolitik verdeutlicht würden: die Befürwortung einer Rebellion durch das griechische Volk im Januar und Juli 2015, die starke Mobilisierung in Frankreich gegen Angriffe auf das Arbeitsrecht und zuletzt massive Verluste von Matteo Renzi bei den Kommunalwahlen in Italien. Der völlige Mangel an Demokratie im Funktionieren der Europäischen Union, die sich anstauende soziale Verzweiflung angesichts der Angriffe rechter wie linker Regierungen kommt überall dort, wo die Wählerschaft die Möglichkeit hat, zum Ausdruck. Die Europäische Union baut in allen Ländern den sozialen Schutz und die Sozialgesetzgebung ab und drängt EU-weit auf den Wettbewerb aller gegen alle sowie Prekarisierung. Leider spielt die Arbeiterbewegung in Europa, allen voran der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), nicht die Rolle eines Bollwerks und einer Waffe für internationale Solidarität und die Verteidigung sozialer Rechte.Es gibt bislang noch keine europaweite fortschrittliche Dynamik, diese Frustration umzuwandeln und die kapitalistische Austeritätspolitik generell herauszufordern. Die EU ist eine bürgerliche Institution, die wir nicht für reformierbar halten und die tatsächlich zerstört werden müsste, um eine neue Grundlage für 7. 8. 9. 10. 6 Inprekorr 5/2016 innereuropäische Zusammenarbeit auf der Basis der Solidarität zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen. Um diese Krise der Europäischen Union in einen Vorteil für die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu münzen, bräuchte es einen Grad an politischem Zusammenhalt und gesellschaftlichem Gewicht der antikapitalistischen Kräfte, der europaweit vollkommen neu aufgebaut werden muss. In dieser Situation stehen vielfältige Aufgaben an: Auf europäischer Ebene sollten wir alle Initiativen (Madrid-Konferenz etc.) ermutigen, die den von der EU durchgesetzten Austeritätskurs bekämpfen, wobei klar die Verantwortung der nationalen Bourgeoisien auf nationalstaatlicher Ebene zu betonen ist und das Ausspielen der ArbeiterInnen verschiedener Länder gegeneinander zu kritisieren und eine Harmonisierung der sozialen Rechte und Löhne nach oben zu fordern ist; die Zahlung von illegitimen öffentlichen Schulden und undemokratischen Verträgen wie TTIP und CETA gemeinsam bekämpfen; die Solidarität mit den Kämpfen von Bevölkerungen, die sich konkret gegen die von der Troika diktierte Politik wehren (Griechenland, Portugal usw.), bekanntmachen und organisieren; unsere Anstrengungen in Solidarität mit den MigrantInnen und ihren Forderungen nach Niederlassungsrechten, Arbeit und Sozialleistungen in der EU, für die Öffnung der Grenzen und die Stärkung unserer Beziehungen zu Migrantenorganisationen verstärken; die Diskussion in der radikalen europäischen Linken über Perspektiven für den Auf bau eines neuen– eines antikapitalistischen, antirassistischen, ökosozialistischen und feministischen – Europa fördern und bereichern. 11. 12. DOSSIER: BREXIT GB UND DER BREXIT: DICHTUNG UND WAHRHEIT Nicht nur gingen die Positionierungen der linken Organisationen vor dem Referendum weit auseinander. Auch in der Bewertung des Ausgangs der Abstimmung sind sich die Linken alles andere als einig. Phil Hearse Die politische Linke und die KommentatorInnen aus dem Mitte-Links-Spektrum haben eine Unmenge an Einschätzungen und Analysen hervorgebracht. Einige davon sind vernünftig, andere sind voller Halbwahrheiten und ein paar sind auch reine Phantasieprodukte. Es soll mit den Phantasiegeschichten in dieser Debatte begonnen werden: „Ein Sieg über die Austeritätspolitik und den Neoliberalismus“, so lautete die erste Reaktion auf der Website der Socialist Workers Party. Eine solche Bilanz ist komplett falsch. Selbst dann, wenn die Abstimmung hauptsächlich als ein Ergebnis eines Aufstandes der ArbeiterInnenklasse, die die Schnauze voll hat von völliger Missachtung und Überausbeutung, angesehen wird, übersieht die These, der Ausgang des Referendums sei ein Sieg über den Neoliberalismus, den zentralen politischen Inhalt, dass der Brexit aufgrund einer massenhaften Feindschaft gegenüber Einwanderern hat siegen können. Darunter findet sich auch viel rassistisches oder mindestens fremdenfeindliches Verhalten. Mit anderen Worten sind Millionen von ArbeiterInnen, die unter Armut und wachsender sozialer Ungleichheit leiden und unter miserablen Bedingungen leben, ohne einen Ausweg daraus zu sehen, im Laufe der Kampagne (und viele sicher auch schon lange vorher) zu der absolut falschen Schlussfolgerung verleitet worden, dass eine Politik des Einwanderungsstopps helfen könnte, selber die „Kontrolle“ zu erhalten und die eigenen Probleme zu lösen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Machtverschiebung zugunsten von Michael Gove und Boris Johnson bedeutet eine politische Wende nach rechts, die zu einer Verdopplung der Angriffe auf die Lohnabhängigen führen wird. Die ArbeiterInnenklasse und die ärmeren Schichten der Mittelklasse werden häufig zu einer Unterstützung von PolitikerInnen fehlgeleitet, die komplett gegensätzlich zu ihren eigenen Interessen stehen. Dies insbesondere durch die penetrante Wiederholung der neoliberalen Lügen in den Massenmedien. Das zeigt sich an der Massenunterstützung der Tea Party in den USA, die von den MilliardärInnen geführt und organisiert wird, wie auch an der Gefolgschaft für Donald Trump. Auch auf den Front National in Frankreich unter seiner Führerin Marine Le Pen trifft dies zu. Ebenso auf viele der übrigen Rechtsparteien in Europa und anderswo. Die stellvertretende Generalsekretärin der Socialist Party, Hannah Sell, teilt die Fehleinschätzung in diesem Punkt: „Gleichzeitig ist es völlig falsch, zu unterstellen, dass die Stimme für den Austritt im Wesentlichen einen rechtsradikalen oder rassistischen Kern hätte. Natürlich haben einige derjenigen, die für den Austritt gestimmt haben, dies aus rassistischen oder nationalistischen Gründen getan. Dennoch ist der grundsätzliche Wesenszug des Entscheids für den Austritt ein Aufstand der ArbeiterInnenklasse. Die ArbeiterInnenbewegung ist niemals zu hundert Prozent „rein“ und völlig frei von reaktionären Kräften und Unterströmungen. Es ist die Aufgabe der SozialistInnen, die vorrangige Botschaft zu erkennen – und das ist in diesem Fall ein rebellisches Wahlverhalten gegen das Establishment.“ Es ist bezeichnend, wie ausweichend der Begriff „Aufstand der ArbeiterInnenklasse“ ist. Er umgeht die präzise politische Charakterisierung des Brexit-Entscheids (und das ist mit Sicherheit „vorrangig“) und versteckt sich hinter angeblich soziologischen Fakten; es ist aber ein Zeichen chronischer politischer Fehleinschätzung. Neben den Erklärungen der radikalen Linken gibt es bei den linksliberalen KommentatorInnen einige interessante Einschätzungen, die mit groben Vereinfachungen bezüglich des Klassencharakters und des politischen Inhalts der Abstimmung über „Remain“ oder Brexit kombiniert werden. Im Guardian zitiert John Harris eine Frau aus Manchester wie folgt: „Wenn du viel Geld hast, stimmst du für ‚in‘, wenn du wenig Geld hast, stimmst du für ‚out’.“ John Harris selbst wiederholt diese Vereinfachung nicht, aber offensichtlich findet er das meiste daran richtig. Faktisch ist dies also eine Simplifizierung. Es sei daran erinnert, dass über 16 Millionen Menschen für „Remain“ gestimmt haben, darunter große Teile der Inprekorr 5/2016 7 DOSSIER: BREXIT ArbeiterInnenklasse und von Labour-UnterstützerInnen. Alle Großstädte mit Ausnahme von Birmingham haben für den Verbleib gestimmt. Es ist falsch zu sagen, das sei deswegen, weil die Zentren dieser Städte von einer Masse an Wohlhabenden und KleinbürgerInnen bevölkert seien. Es glaubt zum Beispiel niemand, dass der Sieg von Saddiq Khan bei den Bürgermeisterwahlen zustande kam, weil in London großflächig die reiche Bevölkerung für ihn gestimmt hat, im Gegenteil. Und auch auf die „Remain“Mehrheit in den Innenstadtbereichen von London trifft dies nicht zu. Im Gegenteil, auch die Innenstadtbezirke von London, die mehrheitlich von ArbeiterInnen und multikulturell geprägt sind, stimmten für den Verbleib. Multikulturalismus ist dabei oft ein Schlüsselfaktor. Anders in Sunderland zum Beispiel, wo nur wenige MigrantInnen leben. Hier stimmten 60 Prozent für den Brexit. Die einzigen Londoner ArbeiterInnenbezirke, die für den Brexit gestimmt haben, waren Barking, Dagenham und Havering. In Barking und Havering lebt vor allem die weiße ArbeiterInnenklasse, die stark unter dem wirtschaftlichen Niedergang und der Verarmung gelitten hat. In beiden Bezirken erzielt die radikale Rechte seit langem bedeutende Erfolge. Es gibt auch einen anderen BrexitBezirk mit großer, aber mehr gemischter ArbeiterInnenbevölkerung: Hillingdon. Das ist ein seit langem von den Tories geprägter Bezirk und aktuell der Wahlkreis von Boris Johnson. In Haringey aber, mit seinen heruntergekommenen Gegenden stimmten 79 Prozent für den Verbleib. Das ist deshalb, weil Haringey stark multiethnisch und multikulturell geprägt ist. Es muss hier dazu gesagt werden, dass das Bild der ArbeiterInnenklasse aufgrund der teilweisen Verunglimpfungen der Innenstädte ein wenig verworren ist. Viele junge ArbeiterInnen haben heutzutage einen Uni-Abschluss und arbeiten (in der Regel schlecht bezahlt) am Schreibtisch. Sie wohnen oft auch in den Innenstädten und haben überwiegend für den Verbleib gestimmt. Das sind keine Neureichen, die sich auf Kosten der traditionellen ArbeiterInnenklasse im Norden und in den Midlands bereichert haben. Damit beginnt sich das Bild zu vervollständigen. Ganz sicher haben bedeutende Teile der (vor allem weißen) ArbeiterInnenklasse, wie von John Harris oder Aditya Chakrobbati richtig beobachtet, für den Brexit gestimmt. Sie gehören zu den ärmsten und am meisten entfremdeten Schichten. Aber Armut und Entfremdung sind nicht der einzige Grund für das Stimmverhalten. Andere kulturelle 8 Inprekorr 5/2016 und politische Faktoren kommen hinzu. Vor erst das Alter: Es gibt ein fast perfektes Abbild des Alters bei dem Stimmverhalten. Die 18 bis 25-Jährigen haben massiv für den Verbleib gestimmt, die über 65-Jährigen für den Brexit. Viele junge Leute wurden auch nicht ins Wahlregister aufgenommen, weil sie eine prekäre Wohnsituation haben. Die alten Menschen gehen dagegen eher zur Wahl, und das begünstigt immer konservative Haltungen. Zweitens hat eine Untersuchung, die gestern veröffentlicht wurde, gezeigt, dass die Menschen, die eine linke Weltsicht haben, für „Remain“ stimmten, während die mit einer eher rechten oder konservativen Gesinnung für „Leave“ votierten. Dabei gab es eine Ausnahme bezüglich der Einschätzung von „Globalisierung“ und „Kapitalismus“. Die Hälfte sowohl der “Remain“- als auch der „Leave“-Stimmen sehen den Kapitalismus als etwas Negatives. Alle anderen Kategorien wie Einwanderung, Feminismus, Ökologiebewegung und Multikulturalismus wurden bei den Brexit-WählerInnen überwiegend negativ eingeordnet. Der Multikulturalismus wurde zu 71 Prozent von den „Leave“-WählerInnen negativ bewertet. Möglicherweise ist eine solche Untersuchung etwas vereinfachend, aber ich bezweifle, dass die Ergebnisse dadurch sehr stark verfälscht werden. Drittens bildet das Stimmverhalten auch die Regionen ab, in denen die UKIP eine bedeutende WählerInnenbasis hat oder die Rechte traditionell stark ist. Diese Basis hat sich in der letzten Zeit noch ausgeweitet, etwa in Südwales. Die Deindustrialisierung und der Niedergang der ArbeiterInnenbewegung, manchmal in Verbindung mit einem demographischen Niedergang, weil die jungen Leute abgewandert sind, haben Labour und die Linke stark geschwächt. Das ist alles andere als neu. Ich habe bereits in einem Artikel von 2009 ausgeführt: „Wenn der Erfolg der UKIP auch auf einer langfristigen reaktionären, fremdenfeindlichen Kampagne der Massenmedien auf baut, so wurde er auch von ebenso langfristig wirkenden sozialen und politischen Faktoren begünstigt. Allen voran durch die Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung durch die Thatcher-Regierung und ihrer Nachfolger. Die hatten gravierende strukturelle Auswirkungen. Die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaftsbewegung sind nicht mehr so wie in den 1970er Jahren. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften geht zurück und ebenso sind die großen Kraftzentren der ArbeiterInnenklasse – in den Bergwerken, dem Anlagen- und Maschinenbau, den Autofabriken und anderswo – verschwunden. Der Neoliberalismus hat die Spaltungen der ArbeiterInnenklasse DOSSIER: BREXIT vertieft und sowohl zu Zentren der Neureichen als auch der langfristig Armen geführt. Die Schwäche der Analysen von John Harris und Aditya Chakrobbati liegt darin, dass sie die Rolle der sozialen und ökonomischen Faktoren bei den „Leave“-WählerInnen übertreiben und die politischen und ideologischen Faktoren unterbewerten. Es mag vielleicht stimmen, wenn John Harris sagt, dass viele der „Leave“-WählerInnen, die er überall im Land getroffen hat, keine offenen RassistInnen sind. Aber das ist nicht der Punkt. Wichtig ist, dass diese Leute hinter eine fremdenfeindliche und Anti-MigrationsStimmung versammelt werden konnten, die irrational und vergiftend ist. Sie bettet sich ein in eine europaweite Hysterie gegenüber dem Ansturm von MigrantInnen auf Europa, aus Ländern, die unter der Verantwortung des Westens destabilisiert wurden. und in eine Flut der Islamophobie. Die Menschen mögen gute Gründe haben, von der EU die Schnauze voll zu haben. Aber das ist nicht der Grund, warum der Brexit erfolgreich war. Der Brexit konnte gewinnen, weil die Flut an Lügen, die über die Einwanderung von den rechten PolitikerInnen, Zeitungen und Fernsehen verbreitet wurden, nicht zurückgedrängt werden konnte. Es ist allerdings ebenso sicher, dass die Niederlage der „Remain“-Kampagne nicht im Versagen von Jeremy Corbyn begründet ist. Die Kampagne von Jeremy war sicher nicht brillant, aber es ist auch schwer, Wirkung zu erzielen, wenn die Massenmedien dich ignorieren und sich auf die zwei Flügel der Tory-Partei fokussieren. Der Misstrauensantrag in der Labour-Fraktion, eingebracht von Margaret Hodge und Ann Coffey, vor vorhersehbar. Was dagegen nicht vorhergesehen werden konnte, ist, dass zum Zeitpunkt dieses Artikels bereits 140 000 Menschen die Petition unterzeichnet haben, die sich gegen diesen Misstrauensantrag richtet. Die Versuche, Jeremy Corbyn loszuwerden, werden weiterhin hart umkämpft sein. Dass sich Polly Toynbee den Anti-Corbyn Anträgen anschloss, war vorhersehbar. Aber das Blairite- und Anti-Corbyn-Lager ist mit einem unlösbaren Widerspruch konfrontiert, dem sie sich nicht stellen wollen. Die Ablösung großer Teile ihrer früheren UnterstützerInnen von der Labour-Party ist nicht auf den Vorsitzenden Jeremy Corbyn zurückzuführen, sondern ist ein Ergebnis der Zeit von Tony Blair als Premierminister und dem von seiner Labour Party verfolgten Neoliberalismus, der unvermeidlich zu wachsender Armut und Ausgrenzung führt. Sie möchten die Zeit gerne zurückdrehen, um ihren Blair wiederzubeleben oder eine britische Hillary Clinton . Ihre Antwort auf das, was geschehen ist, ist die Forderung, dass Labour noch weiter nach rechts rückt. Die Linke muss sich jetzt selbstverständlich um Kampagnen und harte Kämpfe vereinen, die sich bei einer neuen Tory-Regierung ergeben. Es ist auch erforderlich, dass eine tiefer gehende strategische Diskussion über die Kette an Niederlagen für die Linke beginnt, um sich auch international für eine lange Periode der politischen Reaktion neu aufzustellen. 25. June 2016 Quelle: „UK & Brexit: Fact and Fiction about the Referendum“ aus: www.europe-solidaire.org/spip.php?article38303 Übersetzung: Thies Gleiss FÜR EIN ANDERES EUROPA OHNE GRENZEN UND AUSBEUTUNG Verantwortlich für die gegenwärtigen Krisen ist das Europa der Banken und Konzerne. Dennoch wäre es blauäugig, einen Ausweg in der Wiederkehr nationaler Souveränität zu suchen, die ein gemeinsames Interesse zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten unterstellt. Die Antwort kann nur in einem Europa und einer Welt ohne Grenzen bestehen, die von den heute Ausgebeuteten selbst regiert wird. Galia Trépère Die Freizügigkeit für Personen im Schengenraum ist ein Nebenprodukt des freien Warenverkehrs, an dessen Inprekorr 5/2016 9 DOSSIER: BREXIT Abschaffung die europäischen Kapitalisten kaum Interesse haben dürften. Genauso wenig dürfte ihnen am Austritt Großbritanniens, das ohnehin schon außerhalb der Eurozone und des Schengenraums steht, aus der EU gelegen sein. Genau dies dürfte aber passieren, wenn die Brexiteers das Referendum gewinnen [was ja inzwischen eingetreten ist], das Cameron seinerzeit aus wahltaktischen Gründen versprochen hatte. Gegen das Erstarken der extremen Rechten … Bereits heute gibt es in Europa eine starke Tendenz zur nationalen Abschottung und Schließung der Grenzen, die zum einen Folge der Flüchtlingskrise und zum anderen des Drucks ist, den die rechtsextremen Parteien – einschließlich faschistischer oder faschistoider Gruppierungen wie die Goldene Morgenröte in Griechenland und Jobbik in Ungarn – ausüben. In ihnen kommt – in pervertierter, rassistischer und fremdenfeindlicher Form – der Protest von Teilen der Bevölkerung gegen die Austeritätspolitik der herkömmlichen Parteien zum Ausdruck. Während der Front national in Frankreich und die UKIP in Großbritannien erst noch an die Pforten der Macht klopfen, haben sich Andere dort bereits etabliert – etwa die Fidesz von Victor Orban, die seit 2010 regiert und notabene Mitglied der EVP ist, oder seit vergangenem Oktober die PIS von Jaroslaw Kaczynski in Polen. In Österreich ist der Präsidentschaftskandidat der FPÖ, die bereits zwischen 2000 und 2007 Koalitionspartner in der Regierung gewesen ist, nur knapp gescheitert [, zumindest bis zur Wahlwiederholung am 2. Oktober]. Die Grenzbarrieren und Polizeikontrollen, mit denen die EU bislang die Einwanderungs- und Flüchtlingsbewegung über Abkommen mit den Anrainerstaaten der EU auf Abstand halten wollte, haben sich angesichts des massenhaften Andrangs an den Grenzen als wirkungslos erwiesen. Die jetzige Stärkung der Außengrenzen der EU führt zwangsläufig auch dazu, die Binnengrenzen zwischen den EU-Ländern wieder stärker zu kontrollieren. Auch die demokratischen Rechte folgen dieser Logik. Natürlich ist es den Spitzen der Bourgeoisie angenehmer, ihre Herrschaft über ein Land durch ein demokratisches statt ein Polizeiregime zu sichern und die Mehrheit der Bevölkerung dabei hinter sich zu haben, statt Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Aber genau dies findet in Frankreich seit der Verhängung des Ausnahmezustands und der Repression gegen die Anti-Arbeitsgesetz-Bewegung statt, wo die demokratischen Rechte, bspw. das 10 Inprekorr 5/2016 Demonstrationsrecht zunehmend eingeschränkt werden und sich Polizeigewalt häuft. Die Regierungen bereiten der extremen Rechten den Boden, wenn sie gegen diejenigen vorgehen, die gegen die zunehmend ungerechte, aber staatlich geschützte kapitalistische Ordnung protestieren, und MigrantInnen und Flüchtlinge menschenunwürdig behandeln, wie dies in Calais oder gegen die Roma passiert. Indem man sie kriminalisiert, ihnen die Verantwortung für die schlechte Behandlung in die Schuhe schiebt und sie der übrigen Bevölkerung gegenüber als unerwünscht stigmatisiert, gießt man Wasser auf die Mühlen der reaktionären Demagogen und der extremen Rechten, die die Ausländer zu Sündenböcken machen. … helfen nur offene Grenzen und Niederlassungsfreiheit! Weder Barrieren und Mauern noch verstärkte Grenzkontrollen können verhindern, dass Millionen von Menschen, die nicht mehr in ihren von Kriegen und Elend zerstörten Ländern leben können oder durch die Folgen des Klimawandels vertrieben werden, neue Routen finden, auf denen sie in die reichsten Länder der Erde, darunter die europäischen, gelangen. Dies auch dann, wenn sie auf ihrer gefährlichen Flucht zu Land und zu Wasser ihr Leben riskieren und schreckliche Leiden dabei erdulden müssen und unter elenden Bedingungen in Flüchtlingscamps und unter Gewahrsam gehalten werden. Wenn man diese katastrophalen Zustände wirklich beenden und zu deren Lösung beitragen will, dann muss man die Grenzen öffnen und Reise- sowie Niederlassungsfreiheit gewähren. Dies ist auch der einzige politische Weg, um gegen die extreme Rechte, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorzugehen. Die Regierungen rechtfertigen häufig ihre repressive Politik gegenüber den Flüchtlingen mit dem Einfluss der extremen Rechten auf die öffentliche Meinung. Umgekehrt wird ein Schuh draus, nämlich dass sie die öffentliche Meinung in diese Richtung lenken, indem sie die Politik der extremen Rechten kopieren. Was hindert die Regierungen daran, die Grenzen zu öffnen und die Elends- und Kriegsflüchtlinge menschenwürdig aufzunehmen und ihnen Wohnung und Arbeit anzubieten? Dasselbe, was sie daran hindert, das Elend hierzulande, die Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu beenden – die Profitgier ihrer Auftraggeber in den multinationalen Konzernen und Banken nämlich, die eine Politik einfordern, mit der die öffentlichen Gelder in DOSSIER: BREXIT Unternehmenssubventionen statt in sozial notwendige und nützliche Projekte fließen. Statt eines Europa der Kapitalisten … Die EU ist außerstande, mit dieser Logik zu brechen, da sie – anders, als ihre „Gründerväter“ glauben machen wollen – nicht aus dem Willen der Völker zur Zusammenarbeit entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den USA auf den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich gegen deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren wollen. Die europäischen Kapitalisten haben die Welt im Lauf des 20. Jahrhunderts zweimal in Schutt und Asche gelegt, um ihre Rivalität auszutragen. Dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg „friedlich“ geworden sind, lag nur daran, dass sie durch den US-Imperialismus eindeutig beherrscht wurden. Der wiederum hatte selbst starkes Interesse – zum Wohle der eigenen Exportwirtschaft – an einem uneingeschränkten Warenverkehr zwischen den europäischen Ländern, ohne dass exorbitant hohe Zölle und Steuern darauf drücken, wie sie bis Ende der 60er Jahre üblich waren. Die europäische Integration wurde in der Folge als ein Instrument der besitzenden Klassen und ihrer mächtigsten und reichsten Fraktionen vorangetrieben, um die Lasten der wirtschaftlichen Konkurrenz, die sie mit ihresgleichen auf der ganzen Welt ausfechten, den Lohnabhängigen und der Bevölkerung im jeweils eigenen Land aufzuhalsen, indem sie im Zuge der Globalisierung die Arbeitskräfte weltweit gegeneinander konkurrieren lassen. Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der Lage, ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei dient, den Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit dem „nationalen“ Kapital haben. Die verschiedenen Krisen, die die EU erlebt hat, haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der Kräfteverhältnisse, die von den reichsten und mächtigsten Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt werden. Und es sind die ärmsten Länder in der Peripherie, Spanien, Italien oder Griechenland, auf deren Rücken die reichen die Last der Flüchtlingsströme abwälzen. Das Europa der EZB und des Euro ist nichts anderes als das Europa der Kapitalisten. Die EU-Führer haben noch nie entlang der Interessen der Bevölkerung gedacht und gehandelt. Ihr Handeln wird bestimmt von ihrem Machterhalt und der Wahrung der Interessen der Besitzenden. Diese wiederum greifen den Lebensstandard der Bevölkerung an, um noch mehr Reichtum zu scheffeln. … eines der ArbeiterInnen und Völker! Die Zuspitzung der Lage und das Scheitern der europäischen Staaten und der EU einerseits und das Verlangen nach Fortschritt und Demokratie andererseits können ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein anderes Europa, nämlich das der Völker und ArbeiterInnen notwendig ist. In der Gesellschaft stehen sich zwei Grundtendenzen gegenüber: Auf der einen Seite geht es um Verteidigung der kollektiven Interessen und Solidarität, auf der anderen herrscht die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, was letztlich dazu dient, die Interessen von Minderheiten und deren Privilegien zu verteidigen. Ohne die Solidarität und materielle Hilfe aus der Bevölkerung und das Engagement tausender freiwilliger Helfer könnten die Flüchtlinge nicht überleben, ebenso wenig wie ohne die gegenseitige Solidarität untereinander. Damit aber diese Solidarität wirklich zu einer starken Kraft wird, muss sie von den AktivistInnen und ArbeiterInnen als integraler Bestandteil ihres Kampfes um die eigenen Interessen gegenüber Kapital und Regierung verstanden werden. Dazu gehören auch ein Bewusstsein über die parasitäre Rolle der besitzenden Klassen und die Überzeugung, die Gesellschaft aus eigener Kraft lenken zu können. Ob EinwandererIn oder Flüchtling der ersten, zweiten oder zehnten Generation – alle sind wir ProletarierInnen, die kein Vaterland haben und nur eine Grenze kennen, nämlich die zwischen den Klassen. Von all den Krisen, die die europäische Integration erschüttert haben, ist zweifellos diejenige am schwerwiegendsten, die aus deren Unvermögen resultiert, dem dramatischen Schicksal von Millionen von Frauen, Männern und Kindern, die vor Krieg und Elend fliehen, auch nur die geringste Abhilfe schaffen zu können. Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen der jeweiligen „nationalen“ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits. Im Zeitalter der Globalisierung und der multinationalen Konzerne sind es zweifellos die Zauberlehrlinge der fremdenfeindlichen und rassistischen Demagogie, die die nationale Rückbesinnung propagieren. Das Beispiel Inprekorr 5/2016 11 DOSSIER: BREXIT einiger Länder zeigt jedoch, dass dies nicht das Privileg allein der extremen Rechten ist. Alle reichen Länder der Erde, die letztlich für die ökonomische Rückständigkeit und die Verelendung der übrigen Welt sowie für die Kriege im Nahen Osten und in Afrika verantwortlich sind, verschließen ihre Türen vor den Flüchtlingen, für deren Fluchtursachen sie selbst verantwortlich sind. Europa könnte eine ganz andere Rolle spielen, wenn es nicht das kapitalistische Europa der EZB, der Multis und Banken wäre. Darum wird es u. a. in den kommenden Klassenkämpfen gehen, nämlich ein anderes Europa zu schaffen, das selbst ohne Grenzen ist und dazu beiträgt, eine Welt ohne Grenzen zu schaffen – ein Europa des Friedens und Fortschritts. Auch dies lehrt uns die gegenwärtige Krise. Aus: l’Anticapitaliste, la revue mensuelle du NPA Juni 2016 Übersetzung: MiWe NACH DEM BREXIT – EINE EU-KRITIK VON LINKS In der Kampagne vor dem Referendum konnten die Rechten weitgehend den Ton bestimmen. Aber das Brexit-Votum offenbart wie kaum ein anderes Ereignis die tiefe Krise der EU und gibt der Linken eine gute Chance, offensiver gegen die EU-Institutionen anzugehen. Socialistisk Arbejderpolitik (SAP) Im Ausgang des Referendums zum Ausstieg Großbritanniens kommt der Protest der Arbeiterklasse gegen die herrschenden Klassen in der EU zum Ausdruck. Die Linke sollte dies zum Anlass nehmen, uns an vorderster Front gegen die EU zu wenden, die als Drehscheibe für Soziald12 Inprekorr 5/2016 umping und Aufweichung der steuerfinanzierten sozialen Sicherungssysteme und der demokratischen Rechte fungiert, alle Ansätze, mit der neoliberalen Politik Schluss zu machen, unterbindet und außerstande ist, auf die Klimakatastrophe zu reagieren. Wenn sich nicht die Linke an die Spitze dieser Auseinandersetzung stellt – auf einer antirassistischen und internationalistischen Basis – dann werden mehr oder weniger rassistische Kräfte auf der extremen Rechten davon profitieren. Der Mehrheitsentscheid für den Brexit hat die europäische Bourgeoisie aus der Spur geworfen. Zwar erleben wir seit Jahren einen massiven Widerstand unter der Bevölkerung verschiedener Länder gegen die Entwicklung der EU, was wiederholt in den jeweiligen Referenden zur europäischen Frage zum Ausdruck kam, aber wir haben uns daran gewöhnt, dass die Maschinerie ohne Rücksicht auf den demokratischen Willen der Völker weiterläuft. Insofern ist es bezeichnend, dass jetzt Cameron dafür kritisiert wird, dass er mit dem EU-Prozess „gespielt“ habe, indem er den Verbleib in der EU einem demokratischen Votum unterzogen hat. Mit Blick auf die Demokratie ist der Umstand, dass mit dem Brexit dieser Prozess – wenn auch nur in einem Land – kurzgeschlossen werden konnte, ein gewaltiger Erfolg, so wie jede Krise der EU stets einen Sieg für die Arbeiterklasse darstellt. Soziale Frage vs. Rassismus Dafür, dass sich die englische Arbeiterklasse massenhaft gegen die EU ausgesprochen hat, gibt es hingegen eher soziale als demokratische Gründe. Denn die EU ist – wie in den anderen Mitgliedsländern – Symbol und zugleich wesentlicher Handlungsträger der massiven neoliberalen Pressionen, mit denen die Sparpolitik und die explodierende ökonomische Ungleichheit durchgesetzt werden sollen. Die hohe Zahl von ArbeitsimmigrantInnen aus Osteuropa und die starke Arbeitslosigkeit drücken erheblich auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen, zumal seit Thatcher die vormals starke Gewerkschaftsbewegung erheblich geschwächt ist. Hinzu kommt, dass die Tory-Regierung das steuerfinanzierte soziale Sicherungssystem abgebaut hat, bspw. durch hohe Studiengebühren, und sich dabei stets auf die Freizügigkeit der Lohnabhängigen innerhalb der EU beruft. In der Kampagne zum britischen Referendum konnten die fremdenfeindlichen Kräfte der Rechtspopulisten weitgehend die Tagesordnung bestimmen. Statt vereint die kapitalistische und unternehmerhörige EU zu bekämpfen, DOSSIER: BREXIT deren arbeiterfeindliche Politik die Lohnabhängigen der Länder zugunsten des Kapitals gegeneinander ausspielt, hat ein großer Teil der Arbeiterbewegung und der Linken dieses Problem heruntergespielt und für den Verbleib in der EU geworben. Ausschlaggebend war bei einigen ausgerechnet die Befürchtung, sie könnten durch den Aufruf zum EU-Austritt einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Agenda das Wort reden und die Arbeitsplätze der Arbeitsimmigranten gefährden. Am Ende jedoch wurde die Brexit-Kampagne durch die fremdenfeindliche UKIP dominiert, die sich nun als der große Gewinner des Referendums fühlen darf. Für eine linke Offensive! Doch lassen wir die Vergangenheit ruhen. Jetzt geht es darum, eine Antwort auf die Krise der EU zu finden. Sollen wir uns angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig die nationalistischen und fremdenfeindlichen Parteien in den meisten Ländern die Opposition zur EU anführen, zurücklehnen und auf bessere Zeiten warten? Oder sollen wir weiter und noch intensiver gegen die EU als Institution kompromisslos kämpfen und die jetzt dargebotene Gelegenheit nutzen, um dieses Herzstück der neoliberalen Angriffe auf die Arbeiterklasse auseinanderfallen zu lassen? Zweifellos müssen wir uns für die zweite Variante entscheiden. Sich raus halten war noch nie eine erfolgreiche Strategie, die extreme Rechte daran zu hindern, nach der Macht zu greifen. Wenn die Linke nicht das System bekämpft und eine plausible Alternative anbietet, überlässt sie die berechtigte Wut und den Widerstand der Propaganda der extremen Rechten und riskiert gar, als indirekter Fürsprecher dieses verrotteten Systems dazustehen. Und wenn dann das System zusammenbricht, sind es die rechten Kräfte, die die Oberhand haben. Dasselbe gilt für die gegenwärtige Lage: Wenn die Linke nicht unmissverständlich für die Zerschlagung der EU des Großkapitals eintritt, dann werden UKIP, Le Pen, Af D, Dänische Volkspartei und Konsorten von den Protesten profitieren und am Ende damit gar durchkommen. Eine linke Alternative zur EU Demnach muss es für die gesamte europäische Linke vordringlich sein, an vorderster Stelle gegen die EU als Institution zu kämpfen wie auch gegen deren Politik: Die Entscheidungen der EU müssen auf allen Gebieten abgeschafft und abgelehnt werden. Stattdessen müssen die Mitgliedsstaaten Gesetze gegen Sozialdumping erlassen, ihre steuerfinanzierten sozialen Sicherungssysteme verteidigen, die von der EU aufgezwungenen Spar- und Privatisierungsmaßnahmen stoppen, Umweltschutzmaßnahmen ergreifen, den Klimawandel stoppen, indem sie die Produktionsmittel vergesellschaften etc. Forderungen im Sinne der internationalen Solidarität und des Antirassismus müssen in den Vordergrund rücken, da die Bekämpfung des Sozialdumpings nicht bedeutet, gegen die ArbeitsimmigrantInnen zu kämpfen, sondern vielmehr für Tarifverträge und Gesetze, mit denen die UnternehmerInnen an deren Unterbezahlung und Überausausbeutung gehindert werden. Die Länder Europas müssen die Flüchtlinge selbstverständlich aufnehmen und die Kosten dafür auf die Reichen abwälzen, statt sie der Sozialversicherung aufzubürden. Wir treten für einen Bruch mit der EU ein, die auf der neoliberalen Doktrin des Lissabonner Vertrags gründet. Hierbei sind auch Referenden ein nützliches Instrument, um die gegenwärtigen europäischen Institutionen zu zerschlagen. Wir treten für eine andere Form der europäischen Kooperation ein, wo die demokratisch getroffenen Beschlüsse der Mitgliedsländer respektiert werden, einschließlich derer zur eigenen Wirtschaftspolitik. Diese Kooperation betrifft auch Umweltpolitik, Klimawandel, Aufnahme der Flüchtlinge, Unternehmensbesteuerung etc. und gründet auf zwischenstaatlichen Minimalabkommen, über die selbstverständlich hinaus gegangen werden kann. Natürlich müssen diese Forderungen in den Parlamenten dargelegt werden, aber an vorderster Stelle gilt es, unverzüglich eine Bewegung aufzubauen, die dafür eintritt. Solche Bewegungen müssen in allen Ländern entstehen, auf der Basis internationaler Zusammenarbeit und grenzübergreifender Solidarität für ein alternatives Programm zu Europa. Erste vielversprechende Ansätze gab es bereits in der Flüchtlingssolidarität, im Kampf gegen den Klimawandel oder bei bestimmten gewerkschaftlichen Ansätzen. Der legitime Widerstand der Völker gegen die kapitalistische EU, der sich unter verschiedenen Aspekten von Nord bis Süd ausbreitet, darf nicht den Parteien der fremdenfeindlichen Rechten überlassen bleiben, da diese in keiner Weise die Interessen der Arbeiterklasse vertreten, sondern deren Gegenteil. Glücklicherweise gibt es Anzeichen, dass auch die Linke im übrigen Europa ihre Illusionen über die Reformierbarkeit der EU verliert und zunehmend erkennt, dass ein „Plan B“ erforderlich ist, Inprekorr 5/2016 13 DOSSIER: BREXIT nämlich eine Alternative, sobald der Austritt aus der EU ansteht. Die europäische Linke muss ihre Stelle als Avantgarde im Kampf gegen die kapitalistische und neoliberale Maschinerie mit dem Namen EU wiederfinden. Kopenhagen, 2. Juli 2016 Erklärung des Exekutivkomitees der SAP, dänische Sektion der IV. Internationale Übersetzung: MiWe DIE EU NACH DEM BREXIT – IN EINER POLITISCHEN KRISE ODER IN EINER UNLÖSBAREN STRUKTURKRISE? Das Brexit-Votum ist für Linke ganz bestimmt kein Grund zum Jubeln. Weder können wir an der Motivation der übergroßen Mehrheit der Brexit-BefürworterInnen1 noch an dem politischen Ergebnis anknüpfen: Die Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme werden zunehmen, der Zuzug von Arbeitskräften aus Osteuropa und von Flüchtlingen wird weiter erschwert, die rassistische Spaltung der Klasse wird sich vertiefen … ganz zu schweigen von dem durch das Votum begünstigten Aufschwung rassistischer Kräfte in anderen EU-Ländern. Jakob Schäfer Selbst für diejenigen, die (wie wir) die EU als eine Institution im Interesse des Kapitals ablehnen und sich eine Schwä14 Inprekorr 5/2016 chung dieser Macht wünschen – wie verheerend die EU wirkt, haben am dramatischsten die Menschen in Griechenland zu spüren bekommen –, gibt es keinen Grund zum Feiern. Aber auch den Herrschenden in Europa kommt diese Entwicklung höchst ungelegen. Zwar können KapitalistInnen in Großbritannien die zu erwartende Vertiefung der Spaltung unter den abhängig Beschäftigten für sich nutzen, aber viel gewichtiger sind die jetzt befürchteten Behinderungen für den Warenverkehr. Nicht grundlos hatten sich mehr als 80% der Mitglieder des britischen Industriellenverbandes CBI (Confederation of British Industry) gegen den Brexit ausgesprochen.2 Ganz aktuell können wir hinzufügen: Der CBI stützt die von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC (PricewaterhouseCoopers) erstellte Analyse, nach der die britische Wirtschaft durch den Brexit bis 2020 (kumuliert) einen Verlust von ca. 100 Mrd. £ erleiden wird.3 Und für den Finanzsektor sieht die Sache erst recht nicht rosig aus, denn es bahnt sich eine Neuaufteilung der Finanzmärkte in Europa an. Die City, genauer die im gesamten Königreich ansässigen Banken, brauchen ausländische Anlagen, wenn sie weiterhin 8% zum BIP der britischen Wirtschaft beitragen sollen.4 Da nun aber das Pfund schon abwerten musste und weiter unter Druck stehen wird, stellt sich die Frage, welchen Sinn es macht, dort Gelder anzulegen. (Ein Großteil der Bankgeschäfte allerdings bleibt vom Brexit relativ unberührt, vor allem der Derivaten-und Devisenhandel, in dem die City weltweit führend ist.) Sicher sind die unmittelbar wirtschaftlichen Überlegungen nicht für alle Teile des Bürgertums die einzige Richtschnur für ihr Handeln. Das britische Bürgertum (mindestens, was ihre politischen Vertreter angeht) war und ist gespalten. Aber: Es stellt sich doch die Frage, ob – für die längerfristigen Interessen der bürgerliche Klasse – dieser „Betriebsunfall“ auf dem Weg zu einer weiteren Integration des europäischen Kapitals vermeidbar war oder ob es für diese offen ausgebrochene Krise nicht doch tiefer liegende Gründe gibt. Brexit: Ausdruck einer politischen Krise? Ganz zweifellos waren die parteiegoistischen Motive der britischen Konservativen (verstärkt durch persönliche Karriereplanungen) der Auslöser dafür, dass sie ihr Heil in einem Referendum suchten. Hierüber wollten sie sich als Regierende absichern, angesichts der größer werdenden Zweifel und auch strikter Ablehnung in großen Teilen der Bevölkerung. Die Gegnerschaft zu „Europa“ wurde DOSSIER: BREXIT allerdings – nicht erst seit gestern – vor allem mit chauvinistischen Begründungen vorangetrieben. Der Nährboden für diese Bestrebungen: Eine wachsende Zahl von Menschen wurde und wird – nicht nur als Ergebnis von Thatchers Deindustrialisierungspolitik – abgehängt.5 Die Krise 2007 ff – wie auch der Blick nach Südeuropa – wurde von vielen Menschen (mangels einer starken glaubwürdigen linken Alternative) in traditionell chauvinistischer Weise verarbeitet. Sie schlussfolgerten: „Das wollen wir auf keinen Fall und wir wollen nicht noch mehr Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte aus Osteuropa (vor allem aus Polen); und wir wollen nicht noch mehr Flüchtlinge. Wir wollen, dass die Grenzen dichtgemacht werden!“ So erscheint zwar die Politik der EU wie auch der Troika als ein wesentliches Element für die Zuspitzung der EU-Ablehnung in den letzten Jahren. Der politökonomische und institutionelle Hintergrund für das Ausbrechen der offenen Krise liegt aber in der Struktur dieses Gebildes. Galia Trépère (siehe den Artikel in dieser Inprekorr) hat das gut dargelegt. Wir verweisen auf ihren Beitrag und wollen an dieser Stelle nur kurz zitieren: „Es ist der Bourgeoisie der europäischen Länder zwar gelungen, einen einheitlichen Markt, einen Binnenraum mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und eine Einheitswährung zu schaffen, hingegen waren sie nicht dazu in der Lage, ihren Nationalstaat aufzugeben, der ihnen großenteils ihre Privilegien garantiert und ihnen zugleich dabei dient, den Lohnabhängigen im jeweiligen Land vorzumachen, dass sie ein gemeinsames Interesse mit dem ‚nationalen‘ Kapital eint. Die verschiedenen Krisen, die die EU erlebt hat, haben offenbart, dass es keine wirklich gemeinsame europäische Politik gibt, sondern allenfalls Kompromisse entlang der Kräfteverhältnisse, die von den reichsten und mächtigsten Staaten, voran Deutschland und Frankreich, durchgesetzt werden. […] Der Ursprung all dieser Krisen liegt in der Grundstruktur der EU, nämlich im Widerspruch zwischen der Tendenz zur Erweiterung der EU und der Überwindung der nationalen Grenzen einerseits und den Eigeninteressen der jeweiligen ‚nationalen‘ Bourgeoisie, die zur Aufrechterhaltung der Nationalstaaten führen, andererseits.“6 Mit anderen Worten: Es liegt gerade nicht an den jeweils Regierenden, dass die EU Glaubwürdigkeitsprobleme hat und bei der weiteren Integration nicht mehr vorankommt. Die in Maastricht und Lissabon verkündeten Ziele – nämlich als geeinte Wirtschaftsmacht den anderen Mächten die Stirn zu bieten – rücken in immer weitere Ferne. Wenn das Kapital sich heute so sehr „transnationalisiert“ und der Nationalstaat demzufolge eigentlich der Vergangenheit angehört: Wieso gelingt es nicht, über die Wirtschafts- und Währungsunion hinauszukommen und eine europäische Wirtschaftsmacht zu etablieren? Dazu bräuchte es einen Bundesstaat. Die Frage ist, warum es dazu nicht kam und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nicht kommen kann. Dazu ein kurzer Blick auf aktuelle Strukturtendenzen des Kapitals. Nationales oder transnationales Kapital Ohne jeglichen Zweifel schreitet die Konzentration und Zentralisation des Kapitals länderübergreifend voran.7 Welches ist die Basis für die politökonomischen Grundsatzentscheidungen der Herrschenden? Ernest Mandel schreibt: „Von Natur aus duldet das Kapital in seiner Expansion keinerlei geographische Schranken.“8 Aber Mandel hebt auch hervor: „Das Kapital hat die Neigung, internationale Expansion mit der Herausbildung und Konsolidierung nationaler Märkte zu kombinieren.“9 Das Ganze geht auch heute nicht ohne den Einsatz politischer Macht, weshalb Mandel auch schreibt, dass „sowohl das Verhältnis zwischen nationaler und internationaler Expansion als auch das zwischen kapitalistischen Entwicklungsgesetzen und bewußter Benutzung der Staatsgewalt zu ökonomischen Zwecken eine neue Dimension [annimmt].“10 Und weiter: „Die allgemeine Aufteilung der Welt unter imperialistische Großmächte, selbst eine Folge der Einengung der kapitalistischen Konkurrenz auf dem Innenmarkt, kulminiert in einer Verschärfung der internationalen Kapitalkonkurrenz auf dem Weltmarkt, in interimperialistischer Konkurrenz und in einer Tendenz zur periodischen Neuverteilung dieses Weltmarktes, auch mittels Waffengewalt, d. h. imperialistischen Kriegen.“11 Mandel fügt hinzu: „Im Spätkapitalismus wird der internationale Konzern die bestimmende Organisationsform des Großkapitals…. [Der tiefere Grund dafür liegt darin, dass] das Wachstum der Produktivkräfte den Rahmen des Nationalstaates durchstößt, d. h. daß die Mindestgrenze der Rentabilität, mit der gewisse Waren erzeugt werden können, Serien erfordert, die den Absatzmarkt verschiedener Länder umschließen.“12 Wie vollzieht sich nun die internationale Konzentration und Zentralisation des Kapitals konkret, wo liegt die Verfügungsgewalt und wie sieht dann das Verhältnis zu dem einen oder anderen Staat aus? Winfried Wolf schreibt: „Es ist kein Zufall, dass Inprekorr 5/2016 15 DOSSIER: BREXIT Großbritannien an EADS nicht beteiligt wurde und dass der britische Rüstungsriese BAE inzwischen stärker in den USA als in Europa verankert ist. Erst aufgrund des Fehlens eines ‚europäischen Kapitals‘ konnte es diesen ‚Riss‘ in der britischen Kapitalistenklasse und in derselben eine Minderheitsfraktion geben, die für den Brexit eintrat.“13 W. Wolf nennt als einen entscheidenden Grund dafür, dass es zu keiner europäischen Bourgeoisie gekommen ist: die „nationalen Beharrungstendenzen aller großen nationalen Bourgeoisien im Allgemeinen und in dem Dominanzstreben der herrschenden Klasse in Deutschland im Besonderen. […] Zweitens ist eine solche EU gescheitert, weil der entscheidende jüngere Schritt zur kapitalistischen Vereinheitlichung, die Einheitswährung, zur internen Spaltung der EU führte und auf deutliche ‚nationale‘ Widerstände stößt.“14 Zur Erläuterung: Vollkommen unabhängig vom Willen der einen oder der anderen Regierung hat die Einführung der Einheitswährung für so unterschiedliche nationale Volkswirtschaften wie die des Euroraums aus strukturellen Gründen katastrophale Folgen: Die schwächeren Volkswirtschaften können ihre Industrie nicht mehr durch Abwertungen schützen. Am Anfang profitierten diese Länder von den gesunkenen Kreditzinsen. Aber schon nach wenigen Jahren wurden sie niederkonkurriert und können sich nicht mehr wehren. Die Kluft in der EU wurde also allein schon deswegen größer, statt kleiner. Mit der Stringenz nüchterner politökonomischer Analyse schrieb Mandel bereits 1972: „Aber eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Handelspolitik, eine gemeinsame Steuerpolitik, eine gemeinsame Politik von strukturändernden öffentlichen Arbeiten ist ohne eine Bundesregierung mit Steuerhoheit, Finanzhoheit und eine die Autorität garantierende exekutierende Repressionsgewalt, d. h. ohne einen gemeinsamen Staat, auf die Dauer unmöglich.“15 Genau in dieser Falle steckt nun die EU, zuvörderst die Eurozone. Einen Bundesstaat auf europäischer Ebene zu bilden, ist vor allem aus den Gründen der gewaltigen wirtschaftlichen Ungleichheit unmöglich. Die Kosten einer Angleichung auf ein für die Menschen akzeptables Lebensniveau sind nicht zu stemmen, von den sonstigen Schwierigkeiten, die dann auf der institutionellen Ebene, der kulturellen (sprachlichen) und politischen Ebene entstünden, ganz abgesehen.16 Würde ein Anlauf in diese Richtung unternommen – mit der zu befürchtenden dramatischen Angleichung der Lebensverhältnisse nach unten – dann käme es in kürzester Zeit zu neuen Austritts16 Inprekorr 5/2016 referenden (Niederlande, Frankreich usw.). Es wäre das endgültige Aus für die EU. So kann die EU über einen gemeinsamen Markt nicht hinauskommen. Und wenn der Euro beibehalten wird, können die Probleme in keinem Fall kleiner werden. Das Beispiel Griechenland wird sich zwangsläufig wiederholen, und zwar völlig unabhängig davon, wer in Berlin Finanzminister ist. So könnte schon Italien der nächste Fall sein. Dort sind die Banken so marode (sie sitzen auf faulen Krediten von deutlich mehr als 360 Mrd. €17), dass ohne die Beschränkungen durch die EU der italienische Staat schon längst eingegriffen hätte (es sind nämlich zu viele Kleinsparer betroffen, was bei einem Run auf die Banken zu einem totalen Zusammenbruch des Finanzsektors führen kann, mit Auswirkungen weit über Italien hinaus). Die EU will diese Intervention aber (noch) nicht erlauben, weil dies „Schule machen würde“. Die Auflagen der EU sind nicht nur eine Folge davon, dass sie aus politischen Gründen gegenüber der aufgebrachten Öffentlichkeit hoch und heilig versprochen hat, dass der Bankenfreikauf von 2008/09 sich nicht wiederholen wird. Der objektive Grund: Die Mittel der öffentlichen Haushalte sind heute stark eingeengt, schließlich wurde mit den damaligen Bankenrettungsprogrammen die Krise in die Staatshaushalte vieler Länder (und damit indirekt auch in die EU als Gesamtgebilde) geholt. Letztlich stellt sich für das in Europa fungierende Kapital das Problem, wie es Ernest Mandel beschrieb, als er über die damalige EWG ausführte: „Genauso wie innerhalb dieser internationalen Konzerne keinerlei Hegemonie geduldet wird, so kann auch die dieser Form des Kapitals kongruente Staatsform auf die Dauer weder die Vormacht eines einzigen bürgerlichen Nationalstaates gegenüber anderen noch die lose Konföderation souveräner Nationalstaaten sein, sondern nur ein durch Übertragung entscheidender Souveränitätsrechte gekennzeichneter supranationaler Bundesstaat.“18 Und genau hier liegt die Crux der EU im 21. Jahrhundert: Für eine solche Übertragung der Souveränitätsrechte gäbe es folgende Lösungsansätze: Entweder sie wird mit Schwert und Feuer durchgesetzt, vergleichbar der deutschen Reichsgründung 1871. Dies ist aber unter den heutigen Bedingungen der fortgeschrittenen Internationalisierung der Produktion wie auch des Absatzes auf dem Boden der imperialistischen Mächte keine Erfolg versprechende Perspektive. Die Rückschläge für die Profitaussichten auf Jahre und Jahrzehnte hinaus wären zu gravierend, von den mangelnden militärischen und erst recht DOSSIER: BREXIT politischen Erfolgsaussichten eines solchen Abenteuers im 21. Jahrhundert mal ganz abgesehen. Die zweite Möglichkeit bestünde in einer wirtschaftlichen Dynamik, die alle betroffenen Länder – quasi „freiwillig“ – mitziehen lassen würde. Aber genau diese Dynamik existiert nicht und ist angesichts der stagnativen bis stellenweise sogar rezessiven Phase der derzeitigen langen Welle des Kapitalismus auch überhaupt nicht absehbar. Auf dieser Grundlage kann also die bisherige relative Dominanz des deutschen Bürgertums (oder auch des hauptsächlich in Deutschland basierten Großkapitals) nicht zu einer alles beherrschenden absoluten Dominanz ausgebaut werden. Dies wäre dann möglich, wenn die deutsche Wirtschaft beispielsweise dreiviertel des EU-BIP ausmachen würde (heute sind es aber gerade mal 27%) oder wenn die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Europa über längere Zeiträume hohe Zuwachsraten aufweisen könnte. Heute ist aber das Gegenteil der Fall: Die wirtschaftliche Ungleichheit in den einzelnen Ländern ist so groß, dass eine Angleichung der Verhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist, und zwar nicht nur wegen der gewaltigen Transfers an Wirtschaftsressourcen, die nötig wären, um eine funktionierende Nationalökonomie auf europäischer Ebene zu schaffen, was übrigens auch die Herausbildung einer europaweit sich ausgleichenden Profitrate voraussetzen würde. Heute wächst sogar die Kluft zwischen Deutschland, den Niederlanden und Österreich auf der einen Seite und den anderen Ländern des „Kerneuropas“ (etwa Frankreich und Italien) auf der anderen Seite. Dies wird auch noch dadurch gefördert, dass der deutsche Staat von dem Schuldendienst der anderen Länder profitiert, denn deutsche Staatsanleihen zu kaufen, bringt den Käufern zurzeit nur Negativzinsen und dem deutschen Finanzminister tatsächliche Einsparungen. In wirtschaftlich unsicheren Zeiten profitieren immer die „sicheren Häfen“, was also die Kluft nur vergrößern kann und vergrößern wird.19 Machtblöcke und transnationale Konzerne Zu diesen Schwierigkeiten gesellt sich eine weitere hinzu: Im internationalen Kampf um Einflusssphären, Zugriffsrechte auf bestimmte Rohstoffe usw. spielen die internationalen Machtblöcke nach wie vor eine bedeutende Rolle. Die über Jahrzehnte existierende Tripolarität (Nordamerika, Europa, Japan) hat sich aber stark verändert: Eine Reihe von Schwellenländern (BRICS) spielt inzwischen auf der internationalen Bühne eine gewisse Rolle und kann gewissen Konzernen aus den alten imperialistischen Mächten durchaus Konkurrenz machen. Vor allem China baut seine Machtstellung sehr zielstrebig aus (Landkauf in Afrika, Kauf von Rohstoffquellen und Infrastruktureinrichtungen in allen Teilen der Welt, staatlich gesteuerter Kauf von Hochtechnologie – Kuka ist nur das letzte Beispiel – usw.). Inzwischen wird diese Machtpolitik sogar militärisch abgesichert (s. die Besetzung sowie Schaffung von „künstlichen“ Inseln im südchinesischen Meer). Die USA stehen heute ökonomisch schwächer da als noch in den 1970er Jahren und bauen deswegen noch mehr auf ihre militärische Überlegenheit wie auch wieder verstärkt auf die Rolle ihrer Leitwährung. Kurz: Die EU konnte die Einbußen in der ökonomischen Dominanz der USA aufgrund ihrer strukturellen Probleme nicht nutzen. Sie ist zwar ein wichtiger Absatzmarkt, aber als gemeinsam handelnder Faktor heute tendenziell eher wieder von abnehmender Bedeutung. Das drückt sich nicht nur in der sinkenden Bedeutung des Euro als Reservewährung aus. Auch militärisch sind die EU-Kapazitäten (im Vergleich zu den Großmächten) bescheiden. So bleibt die EU weiterhin stark an die USA angelehnt. Eine von den USA unabhängige – oder ihr gar widerstreitende – Politik ist ihr aufgrund der nicht lösbaren Strukturprobleme nicht möglich. Die USA werden kein Interesse daran entwickeln, dass die EU zerfällt, aber als ernsthafter, „herausfordernder“ machtpolitischer Konkurrent ist die EU zweite Liga. Bestimmte Kapitale – nämlich diejenigen, die in einem bestimmten Block (erst recht in einer bestimmten Nation) ihre Eigentümerbasis haben – setzen aber auf eine enge Unterstützung „ihres“ Blocks oder „ihrer“ Nation. Dies umso mehr, als in Zeiten weltwirtschaftlicher Krisen die Unterstützung durch den Staat heute eine größere Rolle spielt als etwa im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus den Erfahrungen nach dem Auslaufen der expansiven Phase der kapitalistischen Entwicklung nach dem II. Weltkrieg schlussfolgerte Mandel: „Die einzige Prognose, die man aus dieser Erfahrung ableiten kann, ist, daß multinationale Konzerne nicht nur eines Staates, sondern besonders eines stärkeren Staates als des ‚klassischen Nationalstaates‘ bedürfen, um die ihre riesigen Kapitalien periodisch bedrohenden Wirtschafts- und Gesellschaftswidersprüche wenigstens teilweise überwinden zu können.“20 In Mandels Analyse sind multinationale Konzerne, die gegenüber der Staatsmacht „indifferent sind“, eher als eine Inprekorr 5/2016 17 DOSSIER: BREXIT Zwischenform (als eine Übergangsform) anzusehen. Denn früher oder später bemühen sich auch diejenigen Konzerne, die eine multinationale Eigentümerbasis haben, um die „Benutzung der Staatsgewalt zum Zweck der Verteidigung der eigenen Interessen gegen Konkurrenten.“21 Gerade das Scheitern der Herausbildung eines europäischen Bundesstaates ist für EU-beheimatete Konzerne eine gewisse Ernüchterung. Die Rückendeckung, die sie sich möglicherweise noch vor 15 oder 20 Jahren von einer zusammengewachsenen EU erhofften, ist im Konkurrenzkampf mit außereuropäischem Kapital nur begrenzt zu erwarten. Dass diese Konzerne allerdings auf innereuropäischer Ebene sehr wohl die Unterstützung der EU-Institutionen haben – vor allem, wenn es um weitere Privatisierungen, Sozialabbau, Abbau von Gewerkschaftsrechten usw. geht –, muss an dieser Stelle sicher nicht extra hervorgehoben werden. Die Tatsache, dass die EU auf absehbare Zeit nicht über die Ansätze eines Protostaates hinauskommt, hat zur Folge: a. dass sie das internationale Kräfteverhältnis nicht zu ihren Gunsten (und damit zugunsten des hauptsächlich europäisch beheimateten Kapitals) verändern kann; b. dass die Krise der EU als politökonomisches Projekt und die Selbstbeschäftigung der EU-Institutionen zwangsläufig andauern werden, ganz gleich, wer gerade im geschäftsführenden Ausschuss zur Umsetzung der Kapitalinteressen (d. h. vor allem in den Regierungen Kerneuropas) sitzt. c. Je nachdem, wie sich dieser geschäftsführende Ausschuss anstellt, kann dies die Austrittsbestrebungen in anderen Ländern fördern, was die Krise noch verschärfen würde. Sie wird sich auch ohne weitere Referenden dann verschärfen, wenn rechtsextreme Parteien Zulauf bekommen. Auch die Fortsetzung der Erpressungspolitik gegenüber Griechenland (tendenziell auch gegenüber Portugal) wird die Wogen des politischen Unmuts nicht gerade glätten. Diese erschwerten Bedingungen sind natürlich dem Kapital wie auch den Regierenden bekannt. Es ist deswegen damit zu rechnen, dass in nächster Zeit verstärkt der Wunsch nach einer Konzentration auf ein Kerneuropa bzw. auf ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ vorangetrieben wird. Allerdings wird eine solche Option aus politischen Gründen (die Grundlagenverträge müssten neu ausgehandelt werden) kaum zu realisieren sein, und zwar allein schon deswegen, weil beispielsweise Polen und andere osteuropäische Länder bei Laune gehalten werden 18 Inprekorr 5/2016 sollen (sie spielen in der Einkreisungspolitik gegenüber Russland eine wichtige Rolle). Welche Perspektiven des Widerstands und der Entwicklung eines Gegenmodells? Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, dass die EU nicht einfach nur falsch oder schlecht regiert wird und eine Reihe von Demokratiedefiziten hat. Dieses kapitalistische Projekt hat beispielsweise die Personenfreizügigkeit nur als ein Beiwerk eingeführt, denn auf dem Weg einer weiteren Integration mussten auch die Arbeitskräfte frei sein, durften also keinen regionalen (oder gar vorkapitalistischen) Einschränkungen unterworfen bleiben. Die Menschen „mitnehmen“ war somit nicht nur politisch wichtig, es entspricht auch kapitalistischer Vernunft. Wenn nun in der nüchternen Analyse die EU kein Projekt im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung ist und sie auch nicht in unserem Sinne reformierbar ist, so ist sie natürlich noch lange nicht für die Mehrheit der Menschen „erledigt“, jedenfalls ganz bestimmt nicht in den Kernländern. Selbst in Griechenland wird die EU immer noch von großen Teilen der Bevölkerung nicht grundsätzlich abgelehnt, weil mit dieser Institution gewisse Errungenschaften (vor allem die Reisefreiheit, der Aufschwung in den frühen 2000er Jahren, der Touristenstrom usw.) verbunden werden. Es wird deshalb in keinem Fall reichen, die EU zu kritisieren und ihr ein alternatives Wunschmodell gegenüberzustellen. Klar muss sein – erst recht nach dem vorwiegend fremdenfeindlich motivierten Brexit-Votum –, dass wir (bzw. die linken Kräfte in Europa) keine Bewegung für ein anderes Europa erschaffen können, mehr oder weniger aus dem Nichts. Dafür gibt es heute keine ausreichende Basis. Solche Initiativen von linken Kreisen hängen faktisch in der Luft. Wir sind darauf angewiesen, dass Widerstandsbewegungen entstehen, die sich nicht einfach nur gegen die „EU-Bürokratie“ oder dergleichen richten. Und nur an solchen Bewegungen können wir positiv anknüpfen, die sich nicht gegen Einwanderungen usw. richten, sondern auf grenzüberschreitende Solidarität bauen. Solche Bewegungen sind heute absolute „Mangelware“, selbst im gewerkschaftlichen Bereich, wo Widerstand gegen die Politik von Konzernen mehr denn je angesagt ist. Auch der Widerstand etwa gegen die Stellenabbaumaßnahmen von Alstom (heute General Electric) ist ein mühsames Geschäft und kommt schon auf der nationalen Ebene über kleinere DOSSIER: BREXIT Aktionen kaum hinaus (nicht überall gibt es eine solche Basis für Widerstand wie in Mannheim). Dessen ungeachtet ist es sinnvoll und wichtig, sich über einige Grundlagen zu verständigen, weil ein rein defensiver Kampf ohne klare Vorstellung der künftigen, auch der weit in der Zukunft liegenden Ziele schnell in eine Sackgasse geraten kann. 1. Der Schwerpunkt unserer Aktivitäten gegen die Politik der EU (bzw. der Troika) kann nicht auf der Propaganda für die sozialistischen Staaten von Europa liegen (abgesehen davon, dass für unser Fernziel auch diese letztlich nur ein Zwischenstadium darstellen können; alle sozialen wie politischen Grenzen müssen im Interesse einer humanen Gesellschaft überwunden werden). Die Bemühungen müssen sich auf die Unterstützung von defensiven Kämpfen konzentrieren (offensive sind ja leider vorläufig unrealistisch). 2. In diesen Kämpfen allerdings ist unsere Argumentation keine zweitrangige Angelegenheit. Sie muss nicht nur nachvollziehbar sein, sie muss auch lang fristig in sich schlüssig sein. So sollten wir nicht für einen Ausbau der Demokratie in den EU-Institutionen argumentieren, denn dies würde die Illusion fördern, dass wir die EU grundsätzlich für in unserem Sinne als reformierbar erachten. Schließlich kann die EU aus den genannten strukturellen Gründen niemals zu einer sozialen Union werden. 3. Auch kann eine Forderung nach einer Ausdehnung der Kompetenzen des Europaparlaments für uns keine in sich schlüssige und zukunftweisende Argumentation eröffnen. Das Europaparlament wird nicht dadurch zu einem Instrument der Demokratie von unten, dass wir ihm mehr Kompetenzen verschaffen. Hier stellt sich schon die Frage: Kompetenzen wofür und um welche Interessen durchzusetzen? Etwa mehr Kompetenzen dafür, dass es mit den Tausenden Lobby-Verbänden direkter verhandeln darf? Das EU-Parlament kann nicht losgelöst vom Gesamtprojekt der kapitalistischen EU und den Funktionsweisen eines bürgerlichen Parlaments gesehen werden. 4. Unsere Vorstellungen eines anderen Europas, für das wir bei unserem Eingreifen in diese Kämpfe argumentieren, müssen im Kern auf Folgendem auf bauen und für Nicht-Linke nachvollziehbar erläutert werden: a. Die entscheidende Kraft für die Durchsetzung eines anderen, eines solidarischen, zukunftssicheren, friedlichen und ökologisch ausgerichteten Europas ist die Klasse der Lohnabhängigen. Die Gewerkschaften müssen für diese Ziele gewonnen werden, Abwehrkämpfe gegen die Politik der Konzerne müssen international geführt werden. b. Dieses andere, zukunftsweisende Europa kann nur dann den Interessen der großen Mehrheit gerecht werden, wenn das Kapital enteignet wird. Das stellt unvermeidbar die Machtfrage. Innerhalb des kapitalistischen Systems ist eine gerechte und von gesellschaftlicher Unterdrückung freie Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung nicht möglich. Es braucht eine demokratisch geplante Wirtschaft. Eine Fortexistenz von Kapital ist damit unvereinbar, genauso wie es innerhalb des Kapitalismus keine partizipative und kooperative Wirtschaftsweise geben kann. c. Politisch kann eine solche andere Gesellschaftsordnung nicht mit den bürgerlichen Machtinstrumenten bewerkstelligt werden, also mit einer abgehobenen Regierung, die von einem nicht abwählbaren Parlament für vier oder mehr Jahre bestimmt wird. Die beste bisher bekannte Form der politischen Partizipation und gemeinschaftlicher Machtausübung (d. h. Entscheidungsgewalt in gesellschaftlichen Fragen) ist die Rätestruktur. Dort ist auf der jeweils für diese Fragen relevanten Ebene nach offener und demokratischer Debatte zu entscheiden. d. Eine Etappentheorie, nach der wir zuerst eine „demokratischere EU“ schaffen und dann weiter kommen, beruht auf purer Illusion, einer gefährlichen Illusion, weil sie von den entscheidenden Fragen ablenkt und zwangsläufig in eine Sackgasse führen muss. e. Und in keinem Fall kann eine Linke, die sich nicht selbst ad absurdum führen will, den entscheidenden Fragen ausweichen und etwa populistischen Bestrebungen anheimfallen, wie dies beispielsweise Sahra Wagenknecht schon zum wiederholten Mal in der Flüchtlingsfrage gemacht hat. Dies kann nur Verwirrung stiften und uns inhaltlich und argumentativ schwächen. Von solchen Irrungen muss eine sich selbst ernst nehmende Linke öffentlich distanzieren.22 Für den Auf bau von revolutionären Kräften, die sowohl am Auf bau einer breiten, möglichst internationalen Widerstandsfront beteiligt sind, als auch in der politischen Ausarbeitung zukunftsweisender Perspektiven engagiert sind, bleibt noch viel zu tun. 1. 8. 2016 1 Phil Hearse hat sicherlich Recht, wenn er schreibt: „[The] political content is that Brexit won because of mass hostility to immigration. Much of that is racist or at least xenophobic.” http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article38303 2 S. Costas Lapavitsas in seinem Beitrag „Warum Brexit?“ in Lunapark21, Heft 34 (Sommer 2016) Inprekorr 5/2016 19 DOSSIER: BREXIT 3 http://news.cbi.org.uk/news/leaving-eu-would-cause-aserious-shock-to-uk-economy-new-pwc-analysis/ 4 Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert unter 5%. 5 Christian Bunke hat diese Entwicklung recht anschaulich zusammengefasst: „Die soziale Lage arbeitender Menschen in Großbritannien“, in Lunapark21, Nr. 34, S. 44 ff 6 Weiter führt sie aus: „Die EU ist außerstande, mit dieser Logik zu brechen, da sie – anders, als ihre „Gründerväter“ glauben machen wollen – nicht aus dem Willen der Völker zur Zusammenarbeit entstanden ist, sondern als ein Wirtschaftsbündnis zwischen den Kapitalisten dieser Länder, die von den USA auf den zweiten Rang verwiesen worden sind und sich gegen deren und der asiatischen Konkurrenz erwehren wollen.“ 7 Siehe dazu auch Kapitel 10 in Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt (suhrkamp) 1972 8 ebenda, S. 289; Mandel verweist hier zusätzlich auf Marx, MEW 25, 345 f. 9 ebenda, S. 290 10 ebenda, S. 290 11 ebenda 12 ebenda, S. 294 13 „Die Troika auf den Champs-Élysées!“, Lunapark21 Nr. 34, S. 6 14 ebenda 15 Mandel, a. a. O. S. 305 16 Die überschlägige Rechnung des Autors für die erforderlichen Summen für eine auch nur annähernde Angleichung der Lebensverhältnisse in der EU-28 (künftig 27) geht in die Richtung von mindestens 3 % des jährlichen BIP der Kernländer über einen Zeitraum von ca. 10 Jahren. Das sind unvorstellbare Summen und würde – wenn es zu keiner Konfiszierung der Profite und zu keiner Enteignung des Kapitals führen soll, zu einem beispiellosen Reallohnabbau und zur Vernichtung der sozialen Sicherungssysteme führen, kurz zu einer Senkung des Lebensstandards in D, F usw. um ca. 50 %! 17 Spiegel online v. 12.7.2016: „Zusammengenommen hat Italiens Finanzbranche Kredite von insgesamt 360 Milliarden Euro in ihren Bilanzen, die, freundlich gesagt, ‚problematisch‘ sind. Das sind rund 20 Prozent aller ausgegebenen Kredite. Von diesen gelten bis zu 200 Milliarden als ‚wahrscheinlich unwiederbringlich‘, wie Branchenprofis es ausdrücken.“ 18 Mandel, a. a. O. S. 304 19 Schon 2014 brauchte der Bundeshaushalt aufgrund der Euro-Krise und dem Run auf sichere Anleihen im Vergleich zu 2008 29,61 Mrd. € weniger Zinsen zahlen. Inzwischen hat sich diese Entwicklung so weit fortgesetzt, dass in den Monaten März, Mai und Juni 2016 der Bund über seine Kredite (Staatsanleihen) mehr Geld einnimmt, als er dafür zahlen musste. Er „verdiente“ im zweiten Quartal 2016 mit seinem Schuldenmachen sage und schreibe 1,5 Mrd. €. Spiegelonline, 1. 8. 2016 20 Mandel, a. a. O. S. 307 21 ebenda, S. 306 22 Die Erklärung der AKL vom 26. 7. (Thies Gleiss) ist wohltuend, genauso wie die anderer Mitglieder der Partei (Van Aken, Pflüger usw.). Wir sollten aber nicht vergessen, 20 Inprekorr 5/2016 dass dies kein einmaliger Ausrutscher Sahra Wagenknechts ist. Zu ihren (und Lafontaines) populistischen Äußerungen schrieb der Autor im Zusammenhang mit der Verschärfung der Politik gegenüber Flüchtlingen nach der Silvesternacht von Köln: „Solange also diese vom Imperialismus beherrschte Weltunordnung existiert, verbietet es sich unserer Ansicht nach auch für eine Politikerin der Partei Die Linke, sich in der Form zu äußern wie Sahra Wagenknecht (ähnlich auch Lafontaine) sich gegenüber dem Spiegel äußerte: ‚Wir können nicht jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen.‘ (Spiegel online 12. 12. 2015). Damit wird letztlich (wenn auch ungewollt) nur die Politik der RassistInnen bedient.“ TÜRKEI EIN ZWEIFACHER STAATSSTREICH Der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli liefert dem Staatspräsidenten Erdo˘gan die Handhabe, seinen in den Monaten zuvor begonnenen „zivilen Staatsstreich“ zu akzentuieren und den autoritären Umbau des Regimes voranzutreiben. Welche Möglichkeiten hat die türkische Linke angesichts der dramatischen Folgen, die den unterdrückten Schichten der türkischen Gesellschaft und besonders der kurdischen Minderheit drohen, sich aber auch auf die syrische Revolution auswirken? Emre Öngün Der versuchte Staatsstreich in der Nacht vom 15. Juli wirft viele Fragen auf, nicht nur über die Urheber, sondern auch über den seither laufenden politischen Umbruch des Landes. Noch während der Putschversuch lief und als es um Mitternacht offensichtlich wurde, dass die Putschisten außer den gezeigten keine weiteren Ressourcen hatten, bestimmte Unglaube die ersten Reaktionen: Glaubten denn diese Militärs ernsthaft, mit 1000–1500 Soldaten, zwei F-16 und einem Hubschrauber an die Macht gelangen zu können? In der Tat war es dann auch kein Staatsstreich der Armee sondern von Militärs, genauer einer Minderheit von Offizieren, dessen Scheitern nach wenigen Stunden erwiesen war. Dieser Unglaube angesichts des jämmerlichen Versuchs, bei dem nicht einmal die Regierungsmitglieder festgenommen werden konnten und der im Nachhinein geradezu absurd erscheint, hat zu der Annahme verleitet, dass das Ganze von Erdoğan, der vor Falschinformation nie zurückgeschreckt war, inszeniert war, um seine Macht im Land zu festigen. Diese Annahme stützte sich auch darauf, dass binnen weniger Tage mehrere Zehntausend Beamte suspendiert wurden, was auf vorgefertigte Listen hindeutet. Dennoch ist diese Hypothese wenig plausibel, da Erdoğan schon vor dem Putschversuch die Hebel in der Hand hielt, um die politische Landschaft aufzumischen, und – wie wir weiter unten sehen werden – bereits nach den Wahlen vom November 2015 damit begonnen hatte. Hinzu kommt, dass Fethullah Gülen in seiner Kolumne in der New York Times, die voller Unwahrheiten steckt, zwar den Putschversuch zu verurteilen behauptet, zugleich aber nicht einmal versucht, die Theorie von der Inszenierung zu stützen. Dabei hätte er zweifellos Beweise für diese Theorie, die ihm nur nützen könnte, auf den Tisch gelegt, wenn er sie denn gehabt hätte. Wie aber soll man dann diesen Putschversuch erklären und die Verantwortlichen benennen? Welche Rolle spielt dabei die Bruderschaft Inprekorr 5/2016 21 TÜRKEI von Gülen, dem Ex-Verbündeten von Erdoğan, der nach seinem öffentlichen Bruch 2013 zu seinem Gegner geworden ist? Die erste mögliche Erklärung lautet: Die Putschisten, hauptsächlich Gülenisten, die die Armee infiltriert haben, hätten lieber alles auf eine Karte gesetzt, da sie befürchten mussten, dass der Hohe Militärrat – eine gemeinsame Instanz von Militärführung und Regierung, die besonders über Beförderungen entscheidet – sie bei seiner nächsten Sitzung Ende August rausgesäubert hätte. Aber auch wenn sich die Putschisten in die Enge getrieben sahen und sich obendrein noch ziemlich dämlich angestellt haben, lässt sich dennoch nicht begreifen, wie sie sich in ein derart offensichtlich zum Scheitern verurteiltes Projekt versteigen konnten, ohne sich das geringste Hintertürchen offen zu lassen. Ebenso unklar ist, wie gerademal eine Hundertschaft von Soldaten mit der Besetzung der ersten Brücke über den Bosporus – quasi als öffentlicher Auftakt zum Putsch – beginnen konnten, während mehrere tausend Soldaten, deren Kommandant sich als einer der ersten vom Putschversuch distanzierte, in Istanbul stationiert waren. Wo blieb das Erste Korps, das in Ankara stationiert ist, während der dort laufenden Zusammenstöße und der symbolischen Besetzung des Hauptquartiers der Streitkräfte? Und wo waren die vielen anderen F-16 der türkischen Armee, als die Putschisten mehrere Stunden nach Beginn des Putschversuchs in Torschlusspanik das Parlament mit den dort versammelten 100 Abgeordneten von oben bombardierten? Die offizielle Version der AKP lautet: „Es war eine kleine Minderheit unter den Militärs, die diese Taten verübt hat, und das Volk hat sich gewehrt und die Demokratie gerettet,“ (eine These, auf die wir noch zu sprechen kommen). Abgesehen davon, dass dabei die Rolle der Polizei als Hochburg der AKP außen vor bleibt, lässt diese ERKLÄRUNG VON YENIYOL, DER TÜRKISCHEN SEKTION DER IV. INTERNATIONALE Gegen den Staatsstreich des Militärs und den aus dem Serail* letzten Wahlen, als die AKP fast 50 Prozent der Stimmen für sich organisieren wir die Front der Demokratie, bauen wir die Klas- verbuchte, läuft eine vernünftigere Interpretation darauf hin- senpolitik auf! aus, zu sagen, dass die Pro-Gülen-Kräfte, denen groß angelegte „Säuberungsaktionen“ drohten, noch schnell die Initiative zu ei- In der Nacht des 15. Juli wurden wir plötzlich Zeugen des Ab- nem überstürzten Staatsstreich ergriffen haben. laufs eines Staatsstreichs mit all seinen Unsicherheiten: dem an- Wenn wir auch noch etwas zuwarten müssen, um genauere fänglichen Zögern, den jeweiligen Initiativen der aktiven Lager Informationen über die Motive, die Akteure und den Kenntnis- und der Brutalität. Man wird sich an die in dieser blutigen Nacht stand der Geheimdienste über das Projekt zu haben, so ist es ablaufenden Kämpfe zwischen Soldaten und Polizisten, die Be- schon jetzt offensichtlich, dass die Konsequenz dieser Ereignisse setzung der Medien, die Bilder von massakrierten Zivilisten und in einer Verstärkung des islamisch-autoritären Charakters des gelynchten Soldaten, sowie – als Höhepunkt – die Bomben auf Erdoğan-Regimes liegen wird. das Parlament erinnern. Dies scheint einer der letzten Akte des Einen Tag, nachdem die Unterstützer des Regimes die „De- Machtkampfes zwischen der AKP und der von Gülen geführten mokratie“ mit Rufen wie „Allahu ekber“ (türk. Ausspr. für arab. Glaubensgemeinschaft in einem Staat zu sein, den die beiden ‚akbar‘), „Recep Tayyip Erdoğan“ und „wir wollen die Todesstra- (vormaligen) Komplizen zusammen aufgebaut haben. fe“ „gerettet“ haben, sind die Amtsenthebungen von Tausen- Die Hypothesen über eine Verschwörung, wonach dieser den von Richtern und Staatsanwälten und die Verhaftung von Putschversuch von Erdoğan selbst inszeniert wurde, um seine hohen Beamten Zeichen dafür, dass man den Staatsapparat neu- diktatorischen Ambitionen zu befriedigen, sind auf ein breites erlich – und diesmal endgültig – säubern möchte. Echo gestoßen. Dies wegen der Tatsache, dass seit den Wahlen Die Aufrufe der staatlichen Organe und aus den Mosche- vom 7. Juni 2015 das Erdoğan-Regime nicht gezögert hat, Cha- en an die Menschen, auf die Straße zu gehen und das Regime os und eine bürgerkriegsähnliche Lage zu provozieren, weil der gegen den Putsch zu verteidigen, haben bereits am zweiten Putsch rasch niedergeschlagen wurde und weil Mitglieder der Abend auch zu Angriffen gegen Syrer und zu Spannungen in den Regierung mit neuem Image in den Medien aufgetaucht sind. Wohnvierteln der Alewiten geführt, was das gefährliche Niveau Unter Bedingungen einer Konsolidierung des Regimes bei den der zahlreichen Gegensätze in der türkischen Gesellschaft an- 22 Inprekorr 5/2016 TÜRKEI Interpretation offen, warum nicht die große Mehrheit der Armee gegen die Putschisten eingesetzt wurde. Damit hätte dieser Aufstandsversuch sehr viel schneller und einfacher im Keim erstickt werden können. Tatsächlich war es so, dass die türkische Armee keinerlei Rolle in der Abwehr des Putsches gespielt hat, sondern ganz überwiegend und gegen alle Logik der große Abwesende bei den Kampfhandlungen war. Wahrscheinlich werden wir auch in absehbarer Zeit keine harten Fakten zu diesem Putschversuch liefern können. Aber gegen einen Irrtum sollten wir gefeit sein, nämlich den „Kemalismus“ ins Spiel bringen zu wollen, in der Annahme, dieser entspräche einer umschriebenen ideologischen Strömung innerhalb der Gesellschaft oder der Armee oder einer Eigengruppe innerhalb der Militärhierarchie. Denn bereits lange vor dem Putsch gab es – begünstigt von dem Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bru- derschaft – innerhalb der Armee, der Verwaltung etc. eine Annäherung zwischen „republikanisch-etatistischen“ Sektoren, die von der Gülen-Bruderschaft ins Abseits gestellt worden waren, und dem herrschenden Regime. Erleichtert wurde diese Annäherung durch die Kriegspolitik gegenüber den Kurden und das gemeinsame nationalistische Grundverständnis (das übrigens auch von der Gülen-Bruderschaft geteilt wird). Dass ein Besessener wie Do÷u Perinçek, Karikatur eines „militaristisch-nationalistischen Ultra-Kemalisten“ auf dem AKP-Sender Akit-TV Anfang des Jahres verbreiten durfte, dass „dies die schönste Zeit in seinem Leben“ sei und dabei Lobeshymnen auf das herrschende Regime vergoss, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Verfasstheit dieser Person sondern auf eine sich anbahnende Allianz. Auch wenn er keine eindeutigen Beweise liefert, sind die Thesen, die der linke türkische Journalist Ahmet ùık, einer der besten Kenner der Gülen-Bewegung, in einem zeigt. Wir haben keinerlei Zweifel, dass Erdoğan – der jede Kritik Politik zu reduzieren versucht, nur das Regime stärken, das auf am Regime als Terrorismus brandmarkt und behauptet, Hoch- blutige Art und Weise nicht nur Putsche niederschlägt, sondern schulen, Journalisten, Beamte, Mitglieder kurdischer oder sozi- alles, was sich ihm im Namen des „Willens der Nation“ in den alistischer Organisationen seien Putschisten, die man verhaften Weg stellt; und das auch nicht zögert, sogar Scharia- oder fa- müsse – den Putschversuch ausnützen wird, um noch härtere schistische Kräfte einzubinden, die wir seit dem 15. Juli am Werk Angriffe gegen jede Form von Opposition zu fahren. sehen. Wir können sicher sein, dass der 15. Juli 2016 mittelfristig Es muss dringend eine vereinte Front der demokratischen einer der Gründungsmythen des Regimes sein wird – ein Putsch, und für den Frieden eintretenden Kräfte aufgebaut werden, um der vom Volk, das auf die Panzer stieg, verhindert wurde, statt sich gegen die Angriffe auf die Arbeitenden, die ethnischen und eines Putschversuchs ohne Basis, ohne Führung und ohne Un- religiösen Minderheiten, die Frauen und die LGBTI durch ein terstützung von außen, der daher zum Scheitern verurteilt war. Regime, das die absolute Macht in Politik, Justiz, beim Mili- Alle Organisationen der radikalen Linken und alle im Par- tär und in der Wirtschaft anstrebt, zur Wehr zu setzen. Gleich, lament vertretenen Parteien haben erklärt, dass sie gegen den ob wir es mit dem Staat eines islamisch-kapitalistischen Blocks Putsch sind. Auch für uns ist es eine wichtige Aufgabe, sich im oder der Option einer blutigen Militärdiktatur zu tun haben – Bewusstsein gegen den Putsch auszusprechen, dass die Arbei- der Weg liegt im geduldigen Aufbau einer gesellschaftlichen tenden und Unterdrückten aus Interventionen des Militärs, die Opposition von unten, die der Arbeiterklasse einen zentralen die demokratischen Rechte und Freiheiten aufheben, nichts zu Platz einräumt. gewinnen haben. Darüber hinaus erklären wir unsere Gegnerschaft gegen die Staatsstreiche von Erdoğan, der Wahlergebnis- Wir befinden uns auf einem düsteren Weg. Zuversicht und Widerstand sollen unser Licht sein! se nicht anerkennt, wenn es um den Erhalt seiner Macht geht, der Kurdistan in ein Ruinenfeld verwandelt, um die Stimmen der Na- 16. Juli 2016 tionalisten zu gewinnen, der Streiks verbietet, weil sie angeblich „eine Bedrohung der Nation“ darstellen, und der die Vertretung * AK Saray (Weißer Palast) heißt der Amtssitz von „Sultan“ Erdoğan in des kurdischen Volkes zu zerstören sucht. Anspielung auf den Namen der von ihm gegründeten AK-P. Heute kann eine Opposition, die sich nicht der Logik „ent- Übersetzung: PBK weder Staatsstreich oder Erdoğan“ entzieht, worauf die AKP die Inprekorr 5/2016 23 TÜRKEI Interview mit der Deutschen Welle in dessen türkischsprachigem Programm geäußert hat, durchaus interessant. Ihm zufolge waren Nicht-Gülenisten aus den traditionelleren Schichten der Armee und die Gülenisten – geeint durch ihre gemeinsame Gegnerschaft zu Erdoğan – in den Putschversuch verwickelt. Diese Allianz sei jedoch während des Staatsstreichs zerbrochen und Teile der Einen hätten die Anderen verraten. Dadurch seien die Gülenisten, aber nicht nur sie, ins offene Messer gelaufen. Damit wäre erklärt, warum die Putschisten überhaupt losgeschlagen haben, nämlich weil sie auf sehr viel mehr Unterstützung gezählt hatten. Weiter meint der Journalist, dass die Regierung über das Vorhaben und dessen Ablauf im Bilde gewesen wäre, wenn auch vielleicht nur ganz kurzfristig. Er weist darauf hin, dass Pressemitteilungen zufolge die ersten verdächtigen Truppenbewegungen bereits am Nachmittag stattgefunden hatten und dass der Chef des Generalstabs bereits zwischen 17 und 18 Uhr in Geiselhaft hätte genommen werden sollen. Die Regierung sei während des laufenden Putsches tätig geworden, um mit Teilen der Putschisten zu verhandeln und den Rest zu isolieren. Damit hätte sie den Putschversuch zum Scheitern gebracht und risikolos die eigene Basis in Polizei und Zivilbevölkerung mobilisieren können. Unter diesen Umständen, nämlich nach erfolgreichen Verhandlungen, hätten Teile der Armee, einschließlich der noch kurz davor mit den Putschisten sympathisierenden, kapiert, dass sie besser still halten sollten. Was die umgehende Veröffentlichung der schwarzen Listen angeht, muss man A. ùık völlig Recht geben, dass diese wahrscheinlich schon sehr lange vorgelegen hatten und die Regierung nur die Gunst der Stunde genutzt hatte, um davon Gebrauch zu machen. Erdoğan vs. Gülen: Krieg unter Gleichgesinnten In der Nacht vom 15. Juli standen sich also zwei Lager gegenüber, die zumindest im Wesentlichen bis vor wenigen Jahren noch verbündet waren. Genauer gesagt stammen die Bewegung von Fethullah Gülen und Milli Görüú (Nationale Sicht), die wichtigste politische Formation des Islamismus, aus der auch Recep Tayyip Erdoğan stammt, ursprünglich aus demselben Milieu, auch wenn sie Konkurrenten waren. Ihre Wurzeln liegen im Kleinbürgertum Anatoliens, das sie aber in den 60er Jahren hinter sich gelassen haben, um sich dem „Kampf gegen den Kommunismus“ zu widmen. Das politische Klima nach dem Militärputsch von 1980, geprägt von sunnitischem Islamismus und neoliberaler Wirtschaftspolitik (die sie 24 Inprekorr 5/2016 beide verfechten), kam ihnen zugute, so dass sie schließlich 2002 als tragende Partner einer Koalition an die Macht gelangten. Beide Strömungen vertreten eine konservative, kapitalistische, etatistische und nationale Version des Islams. Ihre Differenzen liegen im strategischen Bereich. Die Milli Görüú hat sich seit jeher auf die Politik konzentriert. Ihr Auf bau begann mit der Wahl von Necmettin Erbakan als unabhängiger Abgeordneter von Konya in Zentralanatolien. Zuvor war Erbakan Präsident der Handelskammer gewesen und damit quasi genuiner Vertreter des anatolischen Kleinbürgertums. Seine erste Parteigründung war die Nationale Ordnungspartei MNP, die er mit der Unterstützung des konservativ-sufistischen Naqschbandi-Ordens ins Leben rief. Mit diesen verschiedenen Parteigründungen erfüllte sich die raison d’être von Milli Görüú Nebenher wurden Verbände und Stiftungen gegründet, aber Schwerpunkt blieb stets die Partei, die sich in den 70er Jahren als Juniorpartner in Regierungskoalitionen behaupten konnte. Fethullah Gülen verfolgte einen anderen Weg, indem er sich zunächst in einem Krämerviertel von Izmir als Prediger in der Nurculuk-Bewegung betätigte. Mit zunehmendem Einfluss gründete Gülen seine eigene Bewegung, die sich niemals direkt politisch betätigte, sondern ihren Schwerpunkt auf die Gründung von Schulen für Kinder aus Elendsvierteln oder armen Landregionen legte. Die Bruderschaft gewährte ihren Jüngern eine qualifizierte Ausbildung, weswegen diese ihnen auch nach der Ergreifung eines Berufs – zumeist im Staatsdienst – weiter verbunden blieben. Gülen legte stets und unter allen jeweiligen Regierungen größten Wert auf die Pflege seiner Netzwerke und Entourage. Den Militärputsch 1980 begrüßte er aufs Wärmste und nutzte die Liberalisierung des Schulwesens, um sein Netz von Privatschulen weiter auszubauen. Während der Staat und seine Schergen in den 90er Jahren ihren Krieg gegen die PKK intensivierten, erlebten Milli Görüú und Gülen einen steilen Aufstieg. Der ehemalige Bürgermeister von Istanbul und Führer der „Erneuerer“ in Milli Görüú, Erdoğan, löste sich Anfang des Jahrtausends von seinem Mentor Erbakan, um eine politische Lauf bahn einzuschlagen, die über die bisherigen muslimischen Kreise hinausreichte. Als seine Partei an die Regierung gelangte, musste sich Erdoğan nach Bündnispartnern umtun. Uraz Aydin schreibt hierzu, dass er sich mit Gülen verbündete, „um die republikanisch-laizistische Hegemonie im Staatsapparat zu bekämpfen und die Armee unter Kontrolle zu bringen. TÜRKEI Die Prozesse, die 2007–2010 gegen Militärs (darunter der ehemalige Generalstabschef ) wegen Verschwörung zum Staatsstreich geführt wurden, beruhten nahezu ausschließlich auf falschen Beweisstücken aus der Machenschaft der gülenistischen Polizei.“ Allerdings verschlechterten sich Anfang dieses Jahrzehnts die Beziehungen zwischen Erdoğan und Gülen (der sich vorsichtshalber in die USA absetzte), weil sich dessen Bruderschaft immer mehr im Staate breit machte und darüber hinaus Profite aus öffentlichen Bauauftragsvergaben und den Privatschulen schöpfte. Ab 2014 wuchs sich die Opposition zu einer eindeutigen Konfrontation mit der Bruderschaft aus, die im Internet kompromittierende Aufzeichnungen über Erdoğan und seine Entourage verbreitete, derweil die Regierung mit Säuberungen in Justizapparat und besonders Polizei zurückschlug. Dadurch verlor die Gülen-Bruderschaft an Einfluss und der Putschversuch war offensichtlich der letzte Akt dieser Auseinandersetzung, die sich eindeutig zugunsten Erdoğans gedreht hat. Gülens Niederlage ist darauf zurückzuführen, dass er nie über eine politische Massenbasis über seine direkten Anhänger hinaus verfügt hat. An den 2014 von dieser Bewegung organisierten Versammlungen nahmen nur wenige teil, da keine einzige relevante politische oder soziale Schicht auch nur einen Finger für diesen kapitalistischen und nationalistischen Verein rühren wollte, der früher bedenkenlos alle Gegner seines einstigen Spezels Erdoğan verfolgt hatte. Mit anderen Worten hat die politische Instrumentalisierung der Massen über die Netzwerkerei gesiegt. Erdoğans Fußtruppen Als sich zeigte, dass den Putschisten die Luft ausging und die Hardliner unter ihnen sich mit den regimetreuen Polizisten schlugen, rief Erdoğan das „Volk“ zum Widerstand gegen den Staatsstreich auf. Dieser Aufruf wurde über die Mobilfunkanbieter und die Moscheen, die in der Türkei staatliche Institutionen sind, verbreitet. Daraufhin gingen erhebliche Menschenmengen auf die Straße und begaben sich zu den von den Militärputschisten gehaltenen Stellungen. Nach und nach mussten die Militärs ihre Positionen räumen: die Brücken über den Bosporus, die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt (in der eine Sprecherin unter Zwang die Erklärung der Putschisten verlesen hatte), den Flughafen, die Polizeistationen, den Kızılay-Platz in Ankara etc. Dadurch gab es sicherlich ein paar zusätzliche Opfer unter den Polizisten und Zivilisten, die von Soldaten erschossen wurden, die offenbar blind den Anweisungen der Vorgesetzten gehorchten, ohne über ihren Einsatz genau Bescheid zu wissen. Beispielsweise berichtete der Vater eines von den Gegendemonstranten auf einer Bosporusbrücke gelynchten Soldaten – einfacher Gefreiter in der Kantine einer Militärschule – dass der Kommandant seinem Sohn erzählt hätte, dass sie ins Manöver gingen. Von den ersten Verhaftungswellen, die sich gegen unmittelbar Beteiligte am Putschversuch richteten, waren überproportional viele Offiziere der Bereitschaftspolizei und – in geringerem Ausmaß – der Marine und Luftwaffe betroffen, im Gegensatz zu den zahlenmäßig größten Bodentruppen. Gleich in der Nacht wurde die offizielle Version des Regimes verbreitett: „Es war eine kleine Minderheit unter den Militärs, die diese Taten verübt hat, und das Volk hat sich gewehrt und die Demokratie gerettet“. Wie die Genossen von Sosyalist Demokrasi için Yeniyol, der türkischen Sektion der IV. Internationale, sagen, „können wir sicher sein, dass der 15. Juli 2016 mittelfristig einer der Gründungsmythen des Regimes sein wird“ (s. Kasten S. 22). Diese offizielle Version birgt ein Körnchen Wahrheit, übertreibt aber auch in zweierlei Hinsicht im Sinne einer Propaganda für die AKP. Der eine Punkt betrifft die oben erwähnte Zurückhaltung seitens der nicht beteiligten Mehrheit der Armee, die weiter im Dunklen bleibt. Der zweite betrifft das sog. „Volk“. Zweifellos gingen Teile der Bevölkerung gegen den Staatsstreich auf die Straße und manche von ihnen haben in der Tat ihr Leben dabei riskiert und verloren. Aber so, wie der Staatsstreich keine soziale oder politische Basis hatte (alle Parlamentsparteien haben ihn spontan verurteilt), so war es nicht „das Volk“, das auf die Straße ging, sondern bestimmte Teile davon. Quantitativ war diese Mobilisierung des Volkes denn auch in keiner Weise vergleichbar bspw. mit der in Venezuela anlässlich des versuchten Staatsstreichs gegen Chávez 2002. Und politisch ging sie hauptsächlich von AKP-Anhängern aus, selbst wenn darunter einige Fahnen der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP zu sehen waren. Das autoritäre Regime macht mobil Dass der Staatsstreich von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, wurde erst im Nachhinein klar. Insofern bedurfte es schon eines hohen Maßes an Überzeugung und Mut, in der Putschnacht auf die Straße zu gehen und sich den Panzern entgegen zu stellen. Dies ist sicher bemerInprekorr 5/2016 25 TÜRKEI kenswert, kann aber keinen ernsthaften Beobachter der Türkei wirklich verwundern, da man Erdoğan eine reale Basis in der Bevölkerung nicht absprechen kann. Ebenso unstrittig ist, dass die Putschisten eine unmittelbare Bedrohung für die demokratischen Rechte darstellten und man ihnen entgegen treten musste. Nichtsdestotrotz darf man die Reaktion von Teilen der Bevölkerung auf den Putsch hin nicht mit einem demokratischen Impetus verwechseln. Dies versteht sich von selbst, wenn man schaut, wer da auf die Straße gegangen ist. Die Mobilisierung der Bevölkerung wurde von vorne bis hinten vom Erdoğan-Regime gesteuert und blieb somit strikt in dessen Grenzen: Nicht um die Demokratisierung des Regimes wurde gestritten, sondern um dessen Erhalt. Insofern richtete sich der zunächst den Putschisten entgegen gebrachte Hass in den Tagen danach auch schnell gegen die – reale oder eingebildete – Opposition des Regimes schlechthin. Die da nachts und in den Tagen danach auf die Straße gegangen waren, waren sicherlich nicht in der Mehrheit „Faschisten“, sondern Männer (Frauen waren in der Tat kaum vertreten) „aus dem einfachen Volk“, die die Wählerbasis der AKP repräsentieren. Dennoch wurden sie gelenkt – nicht nur in der globalen Ausrichtung aus der Ferne seitens der Regierung, sondern auch vor Ort, und zwar von eingefleischten Reaktionären – mitunter gar IS-Anhängern – die mit dem Regime verbunden sind. Dies gilt auch für die Aufläufe, die sich in den Folgetagen gegen die Bewohner von Minderheitenvierteln richteten, etwa in Malatya gegen die Aleviten im Stadtteil Paúaköúkü oder in Istanbul-Gazi. Und erst recht gilt dies für die späteren Jubelveranstaltungen „zum Ruhme Erdoğans“. Stellvertretend für die Augenzeugen dieses Mobs sei hier die Journalistin Laura-Maï Gaveriaux zitiert, die für Le Monde diplomatique einen bemerkenswerten Artikel über den Wandel des türkischen Regimes verfasst hat1. „Ich frage einen Jugendlichen, der den Wolfsgruß zeigt2 , was dies zu bedeuten habe. Dass wir gewonnen haben. Gegen wen? Gegen die Ratten. Wer sind die Ratten? Die USA, der Iran. Vor allem die Kurden. Die Kurden oder die PKK? Das ist doch dasselbe. Ein Baby ist doch nicht Mitglied der PKK! Aber später wird es das sein.“ 26 Inprekorr 5/2016 Um zu verstehen, was seit dem Putschversuch gang und gäbe ist, muss man die Ereignisse über die Zeit hinweg betrachten. Leo Trotzki schrieb über den Aufstieg der Nazis in Deutschland: „Wenn einer der Feinde mir täglich mit kleinen Giftportionen zusetzt, der zweite aber aus der Ecke hervorschießen will, so schlage ich vor allem diesem zweiten Feinde den Revolver aus der Hand, denn das gibt mir die Möglichkeit, mit dem ersten Feinde fertig zu werden. Das heißt aber nicht, daß Gift im Vergleich zum Revolver ein »kleineres Übel« ist.“3 Auf die Türkei übertragen, heißt dies, dass die Putschisten diejenigen mit dem Revolver sind und die AKP der Giftmischer. In der Putschnacht wäre die richtige Losung gewesen: „Zunächst den Staatsstreich abwehren, anschließend Erdoğan“, aber am Tag danach war dies überholt. Im Falle der Türkei muss Trotzkis Metapher um zweierlei ergänzt werden: Derjenige, der mit dem Revolver schießen will, ist bereits zuvor vom Giftmischer entwaffnet worden und sitzt im Knast; und der Giftmischer benutzt letale Dosen und nicht kleine Portionen. Fakt ist, dass der Putsch, noch während er lief, schon komplett erledigt war. Die Ereignisse in der Türkei sind daher nicht die bloße Umkehr der traumatischen Erfahrungen in Ägypten, also nicht die Version mit einem Happyend, in dem ein türkischer as-Sisi von der Machtergreifung abgehalten worden wäre und ein türkischer Mursi (Erdoğan) – selbst wenn er ein kapitalistischer und konservativer Politiker ist – ein parlamentarisches und demokratisches Regime garantiert, das es in Ägypten nicht mehr gibt. Erdoğan ist nicht Mursi, da seine Macht im Staate nach 14 Jahren unvergleichlich stärker ist als bei Mursi. Und die türkischen Putschisten verfügten längst nicht über die Mittel wie weiland as-Sisi, Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee. Die Reaktion marschiert Der Putschversuch war bereits Geschichte, als die Machthaber am Morgen des 16. Juli zu Massenverhaftungen und Suspendierungen im Staatsdienst griffen und somit die bereits vor dem Putsch angelaufenen Säuberungen und damit den autoritären Wandel des Regimes forcierten. Denn dass dieses Regime, selbst nach den – unzulänglichen – bürgerlich-parlamentarischen Maßstäben demokratisch wäre, lässt sich schwerlich behaupten. Dass dort Wahlen abgehalten werden, aus denen die AKP siegreich hervorging, ist für sich kein Beweis, sondern nährt die Illusion einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. TÜRKEI Dahinter stehen willkürliche Verhaftungen, vom Staat tolerierte Attentate der Fundamentalisten gegen Oppositionelle, von der Polizei getötete Demonstranten, vom Staat zerstörte kurdische Siedlungen und ermordete Bewohner, antikurdische Pogrome, Einkerkerung gewählter kurdischer Amtsträger etc. Auch wenn in Westeuropa in den vergangenen Jahren ebenfalls die parlamentarische Demokratie zunehmend ausgehöhlt und die demokratischen Rechte immer mehr beschnitten werden, etwa in Frankreich mit seinem Ausnahmezustand und dem „Anti-Terror-Kampf “, lässt sich die Situation dort kaum mit der Türkei vergleichen. Hier ist diese Entwicklung ungleich weiter fortgeschritten. Zudem vollzieht sich in der Türkei ein rascher Wandel hin zu einem autoritären und potentiell faschistoiden Regime auf einer nationalistisch-fundamentalistischen Grundlage, wonach nur der ein Recht hat, der von türkischer Nationalität und sunnitischen Glaubens ist. Bereits vor dem Putschversuch hatte ich diesen Umbau des Regimes mit Unterstützung der Opposition aus CHP und MHP in einem Artikel als zivilen Staatsstreich bezeichnet: „Eine qualifizierte Zweidrittel-Mehrheit hat den vorläufigen Artikel 20 der Verfassung abgesegnet, in dem die parlamentarische Immunität von Abgeordneten aufgehoben wird, gegen die aktuell ermittelt wird. Entscheidend ist dabei das Stichwort „vorläufig“, das klar macht, gegen wen sich diese Änderung richtet, nämlich gegen die HDP. Zwar gehören nur 51 der insgesamt 137 betroffenen Abgeordneten der HDP an, aber von den 667 laufenden Gerichtsverfahren richten sich 405 gegen die 51 der HDP, die insgesamt 58 Parlamentarier stellt. Diese Absicht, die HDP aus dem Parlament zu säubern und zu kriminalisieren, wird auch von Erdoğan und seiner Regierung nicht verheimlicht.“4 […] Seit dem 16. Juli finden umfangreiche Säuberungen im Staatsapparat statt: Zehntausende Beamte wurden suspendiert und betroffen sind nicht nur Mitglieder des Gülen-Netzwerks sonders bspw. auch die „Akademiker für den Frieden“. Aus dem Schuldienst wurden über 20.000 LehrerInnen entfernt und nahezu ein Fünftel der höheren Justizbeamten wurde entlassen. Alle Beamten wurden aus dem Urlaub zurückbeordert, HochschullehrerInnen dürfen das Land nicht verlassen bzw. wurden aus dem Ausland zurückgerufen und zahlreiche Organisationen wurden aufgelöst. […] Zahlreiche Fälle von Folterungen wurden berichtet und die Regierung gibt kund, dass sie sich den Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe nicht verschließen könne und dass die „Verrä- ter“ auf eigenen Friedhöfen ohne würdiges Begräbnis bestattet würden.5 Die AKP-Führung ließ wissen, dass sie den Notstand nach französischem Vorbild verhängt habe, was auf die Inspirationskraft von Hollande und Valls schließen lässt. Zusätzlich jedoch darf der Polizeigewahrsam auf bis zu 30 Tagen verlängert werden. Wenn wir uns erinnern, dass 2002 die AKP nach ihrem Regierungsantritt den Notstand im türkischen Teil Kurdistans aufgehoben hat und ihn jetzt für das ganze Land verhängt, dann sehen wir, welche Entwicklung diese Partei genommen hat. Außenpolitischer Kurswechsel Bereits vor dem Putschversuch hatte das Erdoğan-Regime einen außenpolitischen Schwenk vollzogen und eine Aussöhnung mit Israel, das nunmehr als unverzichtbarer Bündnispartner angesehen wird, und Russland angestrebt. Im Zuge der „Normalisierung“ der Verhältnisse distanzierte sich Erdoğan auch im Nachhinein von der Entsendung der Mavi Marmara nach Gaza im Jahr 2010, die von der israelischen Armee aufgebracht wurde, wobei neun türkische Besatzungsmitglieder getötet wurden. Dieser Kurswechsel ist kaum verwunderlich, da das Streben nach einer subimperialistischen Position in der Region kaum vereinbar ist mit der Unterstützung eines antiimperialistischen Kampfes, schon gar nicht, wenn er die Befreiung Palästinas zum Ziel hat. Zugleich kam nach dem Putschversuch die Wiederannäherung zwischen Putin und Erdoğan in Gang [und ist inzwischen offiziell besiegelt, AdÜ]. Ende Juni hatte sich Erdoğan erfolgreich bei Putin für die Tötung eines russischen Bomberpiloten durch die türkische Luftwaffe entschuldigt und über die regimetreue Presse verbreiten lassen, dass die verantwortlichen Piloten dem gülenistischen Netzwerk angehört hätten. Dabei hatte seinerzeit der damalige und inzwischen in Ungnade gefallene Premierminister Davuto÷ lu bestätigt, die Order dazu erteilt zu haben … um jetzt, sieben Monate später, durch den jetzigen Vizepremier dementiert zu werden. Im Zuge dieses Kurswechsels hat Erdoğan offensichtlich auch in seiner Syrienpolitik einen Schwenk vollzogen und seine Gegnerschaft zu Assad, die niemals demokratisch begründet, sondern eher gegen die Kurden und auf wirtschaftliche Vorteile gerichtet war, ad acta gelegt. Jedenfalls legt dies ein Interview nahe, das der ehemalige Vizeadmiral Cem Gürdeniz der regierungstreuen Hürriyet am 24. Juli gegeben hat. Gürdeniz war 2011 auf Betreiben des Gülen-Netzwerks aus der Armee entlassen Inprekorr 5/2016 27 TÜRKEI und nach dessen Zerwürfnis mit der AKP rehabilitiert worden. Als selbsternannter „Kemalist“ (was zeigt, wie beliebig dieser Begriff inzwischen gebraucht wird) hält er die gegenwärtigen Spannungen in der Armee für die Fortsetzung einer schon immer vorhandenen Differenz zwischen NATO-Anhängern – darunter die Gülenisten – und einer eurasischen Fraktion. Er plädiert für mehr Distanz zum „neuen Rom“ und freut sich, dass Erdoğan dies auch so sieht. Wörtlich formuliert Gürdeniz dies so: „Als der Kemalismus als Fundament der Armee durch manipulierte Urteile (der gülenistischen Richter) zerstört wurde, ist dort ein Vakuum entstanden. Und der Putsch hat gezeigt, dass der Islam dieses Vakuum nicht füllen kann, denn Gülen war Islamist und hat trotzdem einer islamistischen Regierung den Krieg erklärt. Daher müssen wir nun zusammenstehen und zu den Gründungsprinzipien der Republik zurückfinden.“ Konstitutiver Bestandteil dieser „Gründungsprinzipien“ der türkischen Republik und ihrer imperialen Logik ist die Auslöschung der Kurden. Dazu passt auch der Schlusssatz des Interviews: „In dem Moment, wo ein solcher (nämlich ein kurdischer oder von PKK-orientierten Kurden geführter) Staat mit Zugang zum Meer entstünde, wäre die strategische Bedeutung der Türkei vorbei. […] Die Konsequenzen wären nicht nur für uns, sondern auch für Russland und den Iran nicht hinnehmbar.“ Was immer man von diesem Szenario halten mag, weisen diese Worte auf die rote Linie hin, die der Nationalismus den türkischen Machthabern jedweder Couleur vorgibt: die Schaffung eines autonomen kurdischen Gebietes unter Einfluss der PKK an den Grenzen der Türkei ist eine Option, die Erdoğan „um jeden Preis“ verhindern würde. Dennoch sollte man die diversen Anti-NATO-Statements und die eindeutige Wiederannäherung zwischen Russland und der Türkei nicht auf die Goldwaage legen, da Erdoğans Neuausrichtung nur bedingt möglich ist. Da die Türkei in den globalen Kapitalismus eingebunden und seit Jahrzehnten mit den westlichen Großmächten eng verbunden ist, während Russland nur begrenzte Möglichkeiten bietet, kann dieses auf keinen Fall die westlichen Länder als Wirtschafts- oder militärischer Partner ersetzen. Insofern dient diese Neujustierung dem Regime wahrscheinlich eher innenpolitischen Zwecken. Vor allem darf dabei nicht übersehen werden, dass der „eurasische“ Flügel der Armee wegen seiner vorsichtigen 28 Inprekorr 5/2016 Annäherung an Russland keinesfalls als antiimperialistisch gelten kann, bloß weil er sich dem Atlantikbündnis und Gülen widersetzt. Die Differenzen zielen ausschließlich auf die Stärkung der Türkei als subimperialistische Macht und auf ihre wirtschaftliche Expansion. Das „Kurdenproblem“ Vor diesem Hintergrund muss das noch immer schwärende „Kurdenproblem“ in der Türkei gesehen werden. Erdoğans Politik scheint sich hierin nicht zu ändern und die tödlichen Gefechte zwischen Armee und PKK dauern an. Hierbei spielt der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien natürlich eine große Rolle. Die mit der PKK verbundenen Demokratischen Kräfte Syriens SDF führen gegen die Dschihadisten einen (auch unter der Zivilbevölkerung) verlustreichen Kampf bei Manbidsch mit der Unterstützung der Westmächte, namentlich der USA. Seitens der SDF geht es darum, ein autonomes, zusammenhängendes kurdisches Gebiet unter Einfluss der PKK zu schaffen – eine Horrorvorstellung für die türkischen Nationalisten. Die Forderung der Kurden nach Autonomie sowohl in der Türkei als auch in Syrien ist natürlich absolut legitim, rechtfertigt aber keineswegs das gewaltsame Vorgehen gegen die nichtkurdische Bevölkerung und schon gar nicht ein Stillhalteabkommen gegenüber Assad. Riza Altun, verantwortlich für die „Außenpolitik“ der PKK, fand kürzlich in einem Interview mit der libanesischen Tageszeitung As Safir lobende Worte für das Assad-Regime wegen „dessen entgegenkommender Unterstützung in der Vergangenheit“ – eine geschichtsvergessene Interpretation, die verschweigt, wie Assad noch vor wenigen Jahren im Verein mit Erdoğan die PKK und ihre Partner verfolgt hat. In diesem Interview kritisiert Altun die Art und Weise, wie Rojava errichtet wurde, als einseitigen Akt – was freilich damals nicht ohne Billigung der PKK-Führung möglich gewesen wäre. Er geht sogar so weit, den Namen „Rojava“ (kurdisch für „Westen“ als Bezeichnung für das syrische Kurdistan) zu hinterfragen, weil dies eine bloß kurdische Identität impliziert, und spricht sich stattdessen für die Bezeichnung als „Unionsstaat Nordsyriens“ aus.6 Diese Wortklauberei deutet darauf hin, dass ein Verwaltungsgebiet unter PKK-Einfluss geschaffen werden soll, das mit dem Assad-Regime so weit als möglich vereinbar ist, selbst wenn dabei die formale Bezeichnung als vorwiegend kurdisches Gebiet verloren ginge. Dies diskreditiert erheblich die bisherige Position eines „freien und demokratischen Rojava innerhalb eines demokrati- TÜRKEI schen Syriens“, da sich ein radikaldemokratisches Konzept unmöglich mit einem diktatorischen Mörderregime wie dem von Assad vereinbaren lässt. Eine solche Position ist völlig blind gegenüber der Frage der syrischen Revolution und dem Leid der Bevölkerung von Aleppo. Diese kurzsichtige „Realpolitik“ wird in absehbarer Zeit auf die Kurden Syriens und der Türkei zurückfallen. Denn wer garantiert, dass der US-Imperialismus weiterhin an der Unterstützung der SDF interessiert sein wird? Und was kann die ohne diese Unterstützung ausrichten? Was passiert, wenn Assad auch die letzten revolutionären Widerstandsnester zerstört hat und wieder auf Erdoğan zugeht, der seinerseits sich mit Putin und dem Iran zwischenzeitlich versöhnt haben wird? Bittere Zeiten für die Linke Ein wirklicher Friedensprozess in der Türkei ist nicht absehbar. Die HDP bleibt weiterhin ostentativ von allen Gesprächen zwischen den Parteien nach dem Putsch ausgeschlossen. Dass sich die Front gegen die PKK vorübergehend „beruhigt“ hat, liegt an der fälligen Umstrukturierung der Armee und keineswegs an einem politischen Richtungswechsel. Uraz Aydin meint, dass Erdoğan eine Politik der nationalen Union auf dem Rücken der HDP betreibt, weil die Staatsmacht geschwächt ist und „er die republikanischkemalistischen Kräfte und die MHP einbinden muss, um die kaltgestellten Gülenisten zu ersetzen. Insofern werden auch die 2007 – 2010 wegen „Umsturzplänen“ kaltgestellten Militärs wieder rehabilitiert, um die gülenistischen Offiziere zu ersetzen.“ Symbolisch für diese Burgfriedenspolitik war die Massenkundgebung am 7. August „für Demokratie und die Märtyrer“, an der Erdoğan und der Generalstabschef, aber auch die beiden handzahmen Oppositionsparteien CHP und MHP teilnahmen. Als Motto wurde ein „zweiter Unabhängigkeitskrieg“ ausgerufen, eine offensichtliche Drohung an alle, die außerhalb dieses Dunstkreises stehen und als nationale Fremdkörper gelten (HDP, revolutionäre Linke etc.) Dies stellt die radikale Linke vor zweierlei Herausforderungen. Unmittelbare Aufgabe ist die Bildung einer demokratischen Einheitsfront mit der HDP und darüber hinaus mit allen politischen und sozialen Sektoren, die dafür infrage kommen. Dabei muss es vorrangig um die demokratischen Rechte und die Wiederherstellung eines Friedensprozesses gehen. Dies ist ein notweniger Zwischenschritt, um den türkischen Kapitalismus zu schwächen. Zugleich jedoch darf man nicht die Massen abschreiben, die derzeit hinter der AKP stehen. Diese Herausforderung wird allerdings nur längerfristig zu bewältigen sein, da sie unter starkem Einfluss des reaktionären Apparats der AKP stehen und nur schwer zugänglich sind. Eines der Mittel hierfür sind erfolgreiche betriebliche Mobilisierungen, die aber für sich nicht ausreichen, da sie kaum über die lokalen Grenzen hinaus wirken und insofern kaum als Anreiz für eine unabhängige bspw. gewerkschaftliche Organisierung dienen. Insofern wäre die erfolgreiche Bewältigung des ersten – politischen – Schrittes auch hierfür hilfreich und könnte eine offen klassenkämpferische Offensive ermöglichen. Die kurzfristigen Mobilisierungen für Demokratie und gegen Putschversuche, bspw. seitens der HDP am 23. Juli oder am Folgetag seitens der CHP – mit allerdings weit darüber hinaus reichender Beteiligung unabhängiger und linker Kräfte und zudem ein Fanal, sich die Straße zurückzuerobern, statt sie den reaktionären Aufmärschen der AKP zu überlassen – zeigen, dass ein Potential für eine demokratische Einheitsfront vorhanden ist und dies auch nottut. Der Weg dorthin wird allerdings dornenreich sein. Aus: http://www.contretemps.eu/interventions/turquieautopsie-double-coup-état Übersetzung: MiWe 1 https://www.monde-diplomatique.fr/2016/07/GAVERIAUX/55960 2 Graue Wölfe ist die Bezeichnung für die Mitglieder der rechtsextremen MHP. 3 Leo Trotzki Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied der KPD, vom 8. Dezember 1931 4 ESSF (article 38703), Turquie : le coup d’Etat d’Erdoğan et ses conséquences – Un régime en transformation. 5 Unter den Verhafteten waren 149 Generäle und Admirale, 282 Polizeioffiziere und 1559 Richter und Staatsanwälte. Hingegen wurden 1200 Soldaten wieder freigelassen, weil sie von den Putschisten instrumentalisiert worden seien. Im Rahmen des Ausnahmezustands wurden 35 Gesundheitseinrichtungen, 1043 Privatschulen, 1229 Stiftungen, 19 Gewerkschaftsverbände und 15 Universitäten geschlossen bzw. aufgelöst, weil sie dem Gülen-Netzwerk angehört haben sollen. Desgleichen 45 Zeitungen, 16 Fernsehketten, 3 Presseagenturen, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und 29 Verlagshäuser. 6 http://assafir.com/Article/1/504826 Inprekorr 5/2016 29 USA „Die Partei Eisenhowers und Reagans wurde von einem korrupten Demagogen gekapert, der nicht nur die Ideale seines Landes verrät, sondern auch seine grundlegenden nationalen Interessen. Es droht ein globales Desaster.“, sorgt sich B.-H. Lévy um die Zukunft der Weltherrschaft des Kapitals. Von diesen Sorgen sind wir weit entfernt, zumal Clinton kaum ein geringeres Desaster darstellt. Im Folgenden zwei Standpunkte der beiden Strömungen der IV. Internationale in den USA zu den anstehenden Wahlen: der Wahlaufruf von Socialist Action zugunsten ihrer Eigenkandidatur sowie der Wahlaufruf von Solidarity zugunsten der linksbürgerlichen Green Party. DEINE STIMME FÜR SOCIALIST ACTION Socialist Action führt eine landesweite Kampagne, um für die Wahl ihres Parteisekretärs Jeff Mackler zum US-Präsidenten und von Karen Schraufnagel zur Vizepräsidentin zu werben. Jeff Mackler engagiert sich seit vielen Jahrzehnten auf Seiten der Arbeiterbewegung für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz und gegen die Kriege und Interventionen des US-Imperialismus. Vom Vietnamkrieg bis heute hat er unzählige Massenkundgebungen gegen die US-Kriege organisiert und moderiert. Er war Mitbegründer der Umweltinitiative Northern California Climate Mobilization und ist führender Aktivist bei den Protesten gegen den Klimawandel in der Bay Area von San Francisco. Er war jahrzehntelang in der Lehrergewerkschaft aktiv, u. a. als gewählter Gewerkschaftssekretär in seinem Heimatort Hayward, Kalifornien. Daneben leitet er eine landesweite Initiative zur Freilassung des politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal und verfasste eine Vielzahl von Werken zur Geschichte der Arbeiter- und der Bürgerrechtsbewegung sowie zu anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Themen. Für Socialist Action kandidierte er 2006 zu den Senatswahlen in Kalifornien. Karen Schraufnagel ist Mitglied der Nationalen Leitung von Socialist Action und lokale Leiterin in Minnesota-St. Paul. Dort ist sie in der antirassistischen Bewegung, in der Umwelt- und Anti-Kriegsbewegung sowie in der antizionistischen BDS-Kampagne aktiv. Die sozialistische Wahlplattform von Socialist Action umfasst eine breitgefächerte Kritik an der kapitalhörigen Politik der anderen Parteien. Einige ihrer Kernforderungen sind: 30 Inprekorr 5/2016 Rasche und komplette Umstellung auf erneuerbare Energien zur Bekämpfung des Klimawandels Qualifizierte Ersatzarbeitsplätze für die Beschäftigten in den dadurch wegfallenden Branchen Für ein staatlich finanziertes und allgemein zugängliches Gesundheits- und Erziehungswesen auf hohem Niveau Abschaffung aller rassistischen, sexistischen und homophoben Gesetze und Praktiken Bezahlbaren Wohnraum und tariflich entlohnte Arbeitsplätze für Alle Tariflich abgesicherter Mindestlohn von 15$ als erster Schritt zu einem auskömmlichen Lohnstandard Abschaffung der Rüstungsindustrie und Schluss mit den US-Interventionen Rückwirkende Legalisierung und gleiche Rechte für alle ImmigrantInnen Für eine Arbeiterpartei als Ausdruck einer demokratischen, breiten und wirklich klassenkämpferischen Arbeiterbewegung Für eine Arbeiterregierung unter antikapitalistischen und sozialistischen Vorzeichen Kämpft mit uns und unseren KandidatInnen für die Arbeiterklasse und gegen die beiden Großparteien des US-Kapitalismus! Übersetzung: MiWe USA FÜR JILL STEIN UND EINE UNABHÄNGIGE POLITIK Nationales Komitee von Solidarity Bernie Sanders Kampagne für eine „politische Revolution“ erleuchtete den Vorwahlkampf wie ein Meteor den Abendhimmel. Entgegen der landläufigen Meinung, dass er auf blitzen und schnell verblassen würde, blieb Sanders ein Problem für die Demokratische Parteimaschine während der ganzen Vorwahlen. Er übertraf alle Erwartungen, gewann 23 Vorwahlen und Parteikonferenzen, sammelte den erstaunlichen Betrag von 222 Millionen Dollar fast ausschließlich aus kleinen Spenden und sicherte sich über 1800 Delegierte. Sanders und seine Anhängerschaft versprachen, bis zum Parteitag von Philadelphia weiterzumachen und dafür zu kämpfen, einen „progressiven Pflock“ in das Wahlprogramm der Partei einzuschlagen. Aber mit der lang erwarteten (und letztlich unvermeidlichen) Nominierung von Hillary Clinton als Präsidentschaftskandidatin ist Bernie Sanders eingeknickt, um nun „alles zu tun, um Donald Trump zu besiegen“. Die Sanders-Kampagne verkörperte immer einen Widerspruch. Innerhalb des Rahmens eines starren ZweiParteien-Systems gab die Bewerbung um die demokratische Nominierung einem bekennenden „demokratischen Sozialisten“ Zugang zu den Stimmzetteln und einen Platz in den Debatten. Doch es bedeutete auch, wie Sanders von Anfang an offen gesagt hat, dass er die von der Partei am Ende nominierte Person unterstützen würde, und es gab nie einen Zweifel darüber, wer das sein würde. Trotzdem verstehen wir, warum viele seiner Anhänger enttäuscht sind; dies ist kein überraschendes Ergebnis, und es stellt sich die Frage: „Was nun?“ Wie viele andere auf der Linken begrüßte Solidarity die Energie und die Hoffnung auf Veränderung, die die Sanders-Kampagne auslöste. Falls Du Solidarity nicht kennst – wir sind eine sozialistische, feministische, antirassistische Organisation. Unsere Mitglieder in einer Reihe von Gewerkschaften und Städten haben sich am „Labor for Bernie“-Projekt beteiligt, das wir als ein wichtiges Werkzeug sehen, um politische Diskussionen zur Sache der Gewerkschaftsmitglieder und nicht der Führung zu machen. Nun ist es aber eine bittere Tatsache, dass der Schwung und die Kreativität des Vorwahlkampfes den Weg frei machen für ein schäbiges Rennen zwischen dem zynischen Unternehmer-Zentrismus von Hillary Clinton und dem widerlichen rassistischen Wirtschaftsnationalismus von Donald Trump. Im derzeitigen besonders bösartigen Klima ist es für uns von wesentlicher Bedeutung, alle Kraft auf die Verteidigung von „Black Lives Matter“ (BLM) gegen die rassistischen Schmähungen und Angriffe der Rechten zu richten. Die Angriffe auf die BLM sind praktisch eine Lizenz für weitere Gewalt und Morde gegen afroamerikanische Menschen und Gemeinschaften. Sicher ist ein Teil der Strategie, die „politische Revolution“ fortzusetzen, die Bewegungen aktiv zu halten – die Kämpfe für rassische und reproduktive Gerechtigkeit, der Kampf für 15 $ Mindestlohn, Solidarität mit Eingewanderten und Widerstand gegen Homophobie, Transphobie und Islamophobie. Die wichtigen Errungenschaften des LGBTQ-Kampfes müssen verteidigt und ausgebaut werden. Trotz aller Anstrengungen der Unterstützerinnen und Unterstützer von Sanders findet sich im Wahlprogramm der Demokraten fast nichts davon. Der Antragsausschuss hat die Resolutionen abgewiesen, das Transpazifische Freihandelsabkommen TPP (das bei der Bevölkerungsmehrheit verhasst ist) abzulehnen, das Fracking zu beenden (sogar auf Bundesland!) und die palästinensische Bevölkerung im Kampf gegen die israelische Besatzung zu unterstützen. Es gab keinen Grund, etwas anderes von einer Partei des Kapitals und des Imperialismus zu erwarten. Um diese Niederlagen hübsch darzustellen wurde viel von der „fortschrittlichsten Plattform der Demokraten aller Zeiten“ geredet. Aber um es klar zu sagen, das meiste davon – außer vielleicht der schrittweisen Erhöhung des Mindestlohns – besteht aus vagen Allgemeinheiten, die schnell vergessen sein werden. Wenn man meint, dass eine bessere Alternative möglich ist, braucht eine Bewegung für eine „politische Revolution“ auch einen Ausdruck auf Wahlebene. Bei Inprekorr 5/2016 31 USA dieser Wahl ist der beste Ausdruck auf nationaler Ebene für das, wofür wir alle kämpfen, die Kampagne der Grünen Partei für Jill Stein. Solidarity unterstützt diese Kampagne als eine Möglichkeit, die „politische Revolution“ in 2016 zu unterstützen. Wenn man nicht nur bis zum Wahltermin im November schaut, sondern auch darüber hinaus, dann muss man – und das gilt vor allem für die Unterstützerinnen und Unterstützer von Bernie Sanders, die die Sackgasse der Option Hillary Clinton ablehnen – ins Auge fassen, dass es mehr als einen anderen Kandidaten braucht: Es braucht eine andere Partei. Hillary Clinton hat die Demokratische Partei nicht gekapert. Sie repräsentiert genau das, was die Demokratische Partei wirklich ist: Wall-Street-Connections, Militarismus und all das. Es gab keine Möglichkeit, dass Bernie Sanders der Kandidat der Demokraten werden würde. Diese Realität erklärt, warum die Unterstützung für Jill Stein wächst. Ebenso wie lokale unabhängige politische Organisationen, Kampagnen und Wahlinitiativen. Wir rufen auf für eine Stimme für Jill Stein, aber wichtiger als eine einmalige „Proteststimme“ ist eine solide unabhängige politische Organisation. Das wird ein langer Weg sein und es gibt keine Zauberformel zur Schaffung einer auf die Arbeiterklasse ausgerichteten Partei in den Vereinigten Staaten, die die Stimme der sozialen Bewegungen sein kann. Aber schon jetzt sollte eines klar sein: die Falle, immer wieder für ein „kleineres Übel“ nach dem anderen zu stimmen, das doch nur Unternehmerpolitik verkörpert, wird uns nur schlechtere und nutzlosere Alternativen übrig lassen. Die Demokratische Partei will die Stimmen der Sanders-Unterstützenden, aber nicht ihre Forderungen, die Banken zu brechen, die Superdelegierten loszuwerden, das TPP zu versenken und endlich die obszöne einseitige Unterstützung der USA für Israels Krieg gegen das palästinensische Volk zu beenden. „Wählen und Klappe halten“, ist die Botschaft der Clinton-Kampagne an die SandersBasis. Es muss einen besseren Weg geben, sonst werden wir nie etwas anderes sehen als die miserable alternativlose Politik des „Duopols“ der Unternehmerparteien. Wer eine „politische Revolution“ will, die über leere Versprechungen hinausgeht, für den ist jetzt der Zeitpunktgekommen, um mit den kapitalistischen Parteien zu brechen. Bei der Jill-Stein-Kampagne heißt es dazu: „Eine Bewegung für Demokratie und Gerechtigkeit läuft um den Planeten von Occupy Wall Street über den arabischen Frühling bis zur „Black Lives Matter“-Bewe32 Inprekorr 5/2016 gung. Die Menschen erheben sich, um den neoliberalen Angriff zu stoppen; sie fordern ein Amerika und eine Welt, die für alle da sind. Während unsere Bewegung wichtige Siege erringt – vor allem für existenzsichernde Löhne und gegen fossile Energien – hat die wirtschaftliche Elite ihren Griff nur noch mehr verschärft. Die Menschen erkennen, dass, wenn wir die verrottete Wirtschaft, das verrottete System rassischer Ungerechtigkeit, das verrottete Energiesystem usw. in Ordnung bringen wollen, dass wir dann auch das verrottete politische System reparieren müssen …“ Jill Steins „Power to the People“-Programm spiegelt viel von der Innenpolitik der Sanders-Kampagne wider: Einkommensgleichheit, Klimagerechtigkeit, kostenlose öffentliche Hochschulbildung, Medicare für alle, Rechte für Immigrantinnen und Immigranten, Gerechtigkeit für alle Rassen und ein Ende der Masseneinkerkerung. In anderen Bereichen geht Stein viel weiter als Sanders: für die Streichung der studentischen Schulden, volle öffentliche Wahlkampffinanzierung und die Schaffung öffentlicher Banken. Die Woge der Unterstützung für Donald Trump wurde durch die wirtschaftliche Misere des NAFTA und der Deregulierung der Wall Street ausgelöst – eine Politik, die von beiden Clintons gefördert wurde. Der neoliberale Clintonism hat auch den Aufstieg von Trump verursacht. Die Uhr tickt – für den nächsten Zusammenbruch der Wall Street, für die Kernschmelze des Klimas, die expandierenden Kriege, das Abgleiten zu Faschismus, nuklearer Konfrontation und vielem mehr. Dies ist die Zeit, mit Mut für unsere Überzeugungen einzustehen, solange wir noch können. Vergesst das kleinere Übel. Kämpft für das größere Gute – als würde unser Leben davon abhängen, denn das tut es. Die Unternehmerparteien werden das für uns nicht klären. Wir sind die, auf die wir gewartet haben.“ Dem stimmen wir voll zu und dies begründet einmal mehr, warum heute die Zeit für den Auf bau unabhängiger Politik ist. 19. Juli 2016 Quelle: https://www.solidarity-us.org/site/node/4736 Übersetzung: Björn Mertens DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA RASSISMUS IN DEN USA Auch 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und der formalen Gleichstellung der Schwarzen in den USA prägt die rassistische Diskriminierung deren Alltag. Nachfolgend ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung dieser Unterdrückung und der Stationen der Gegenwehr in den vergangenen 100 Jahren. Ein Dossier mit 5 Beiträgen USA – Klassensolidarität gegen rassistische Gewalt US-Arbeiterbewegung und Rassismus (1930/40) SEITE 34 SEITE 35 Die Bürgerrechtsbewegung Wege der Befreiung Abschwung nach den 70ern SEITE35 SEITE 39 SEITE 42 Inprekorr 5/2016 33 DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA USA – KLASSENSOLIDARITÄT GEGEN RASSISTISCHE GEWALT Dass die Schwarzen von Hillary Clinton nicht mehr zu erwarten haben als von Trump zeigt bspw. die Strafrechtsreform von 1994 unter Bill Clinton, die am Anfang der großen Inhaftierungswelle vorwiegend Schwarzer stand. Yvan Lemaitre Den US-Börsen geht es prächtig: Die Indices von Dow Jones und Standard & Poor’s 500 erreichen Rekordmarken, gepuscht von den Geldhäusern JP Morgan Chase, Citigroup und Goldman Sachs. Unterdessen preist die US-Regierung als Erfolg, 287 000 Arbeitsplätze geschaffen zu haben – 112 000 mehr als erwartet –, die vorwiegend aus Gelegenheitsjobs im Dienstleistungsgewerbe, v. a. in Gastronomie, Freizeitindustrie, Gesundheitswesen und IT bestehen. Die Arbeitslosenquote hingegen ist offiziell von 4,7 % auf 4,9 % der erwerbsfähigen Bevölkerung gestiegen und einer von sieben US-Amerikanern lebt in Armut, 40 % davon als „working poor“. Die Profite nähren sich also aus Prekarität, Armut und wachsender Ungleichheit, sodass sogar der IWF in seinem Jahresbericht über die US-Wirtschaft anmahnt, dass „dringender Handlungsbedarf “ auf diesem Gebiet besteht. Polizeigewalt und Rassismus Von dieser sozialen Verelendung in den USA sind in erster Linie die Schwarzen betroffen. Zugleich nehmen Rassismus und Polizeigewalt zu .Der Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation NAACP (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen) meint: „Ein junger Schwarzer hat ein einundzwanzigmal so hohes Risiko, durch Polizeigewalt zu sterben, wie ein Weißer. Die Zahl der inhaftierten Schwarzen steigt sprunghaft und liefert damit einen entlarvenden Ausdruck für Unrecht und Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft gegenüber den Schwarzen. Genau diese rassistische Polizeigewalt steckt hinter den 34 Inprekorr 5/2016 Tötungen in Dallas, wo fünf Polizisten bei einer Protestversammlung erschossen wurden, die sich gegen die Polizeimorde an Schwarzen richtete, bei denen einer bei einer Straßenkontrolle vor den Augen seiner Frau und Tochter erschossen wurde und der andere, als er bei seiner Verhaftung am Boden lag. Auch hinter den Anschlägen von Baton Rouge in Louisiana steckt derselbe Mechanismus, der dazu geführt hat, dass seit Anfang des Jahres 500 Personen von der Polizei getötet worden sind. Seit dem Mord an dem jungen Schwarzen Michael Brown vor zwei Jahren in Ferguson nimmt der organisierte Protest unter der afroamerikanischen Bevölkerung zu. Die „Black lives matter“-Bewegung (BLM) erfasst inzwischen das ganze Land. Auch nach dem Anschlag in Dallas gehen die Proteste gegen die Polizeigewalt weiter – trotz aller Repression mit bisher über 200 Verhaftungen. Wahlzirkus Nach kurzer Unterbrechung infolge der Ereignisse sind Trump und Clinton rasch zur Tagesordnung zurückgekehrt und betreiben wieder ihren Wahlkampfzirkus. […] Die Trauer war rasch verflogen. Trump, der zu einer “starken Führung, zu Liebe und Mitgefühl” aufgerufen und “die zu große Spaltung des Landes, in dem die Spannungen zwischen den Rassen schlimmer statt besser werden” beklagt hatte, hat inzwischen seinen Vizekandidaten ausgerufen. Mike Pence, Gouverneur von Indiana, steht der evangelikalen Rechten nahe. Als erbitterter Abtreibungsgegner hat er kürzlich ein Gesetz verabschieden lassen, wonach der Schwangerschaftsabbruch im Falle einer Missbildung des Fötus verboten ist. Im Vorjahr hatte er bereits die Rechte der LGBT beschnitten, als er ein Gesetz durchbrachte, durch das es Handel und Gastronomie erlaubt wird, Homosexuelle aus religiösen Gründen nicht zu bedienen. Bei den Demokraten hat sich Sanders hinter Clinton gestellt, „um Trump zu verhindern“, der schlagfertig zurückkeilte: „Wenn Bernie Sanders die Lügnerin Hillary unterstützt, ist dies, wie wenn ‚Occupy Wall Street‘ Goldman Sachs aufwartet.“ Dieser Hieb sitzt leider an der richtigen Stelle, denn die Lohnabhängigen, die Schwarzen und die einfachen Leute haben von diesem Wahlzirkus nichts zu erwarten. Die BLM-Bewegung weist den ausgebeuteten und beherrschten Klassen den richtigen Weg: „Organisiert Euch, nehmt Eure Geschicke in die eigenen Hände und schafft Euch eine eigene Partei!“ DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA US-ARBEITERBEWEGUNG UND RASSISMUS (1930/40) Die Zweite industrielle Revolution führte zur Integration der Schwarzen in die US-Arbeiterklasse und – mit wechselndem Ausgang – auch in deren Organisationen. Xavier Guessou Der US-Kapitalismus erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen tiefen Umbruch: Durch massenhaften Einsatz ungelernter Arbeitskräfte für eine in viele simple Einzelschritte zerlegte Tätigkeit konnte Ford 1925 an einem einzigen Tag so viele Autos produzieren lassen wie im gesamten Jahr 1908. Eine neue Arbeiterklasse entstand, die aus Hunderttausenden an- oder ungelernter ArbeiterInnen bestand und in den Massenfabriken der Automobil- oder Stahlindustrie etc. tätig war und wo die Schwarzen inzwischen eine bedeutende Minderheit repräsentierten. Die Arbeiterbewegung war jedoch weitgehend rassistisch geprägt. Die meisten Gewerkschaften des Gewerkschaftsbundes AFL waren nur daran interessiert, die – nahezu ausschließlich weißen – Facharbeiter zu organisieren. Schwarze wurden gar nicht aufgenommen oder sogar gegen deren Anstellung gekämpft. Als mit der Weltkrise 1929 ein Jahrzehnt hoher Profite zu Ende ging und viele alte Gewissheiten infrage gerieten, stieß auch ein klassenkämpferischer Antirassismus auf offene Ohren. Die KPUSA der 30er Jahre Nach 1928 befasste sich die Kommunistische Partei der USA (KPUSA) zunehmend mit dem Problem der Rassendiskriminierung. Da die Schwarzen überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen waren und die KP die Priorität auf den Aufbau von Arbeitslosenkomitees setzte, konnte sie sich in den Schwarzenghettos verankern. Daneben gründete sie die „International Labor Defense“ als Zweig der Internationalen Roten Hilfe, die sich vehement gegen Lynchjustiz einsetzt und die Schwarzen als „Gefangene des Klassenkriegs“ sieht. Insofern kam auch eine umgehende Reaktion, als im März 1931 neun junge Schwarze in Alabama unter der falschen Anschuldigung, zwei weiße Frauen vergewaltigt zu haben, verhaftet und stante pede zum Tode verurteilt wurden. Durch eine weltweite Verteidigungskampagne konnten die sog. „Scottsboro boys“ vor der Hinrichtung bewahrt werden, büßten teilweise jedoch jahrelange Gefängnisstrafen ab. Dadurch stieg das Renommée der KPUSA unter weiten Teilen der schwarzen Gemeinde, da ihre GenossInnen offensichtlich auch durch Festnahmen und Polizeigewalt sich nicht davon abhalten ließen, für die Schwarzen einzutreten. Zudem war damit der Beweis erbracht, dass breite Aktionen und die Einheit zwischen weiß und schwarz fruchteten. Auf Initiative der KP wurde die Landarbeitergewerkschaft Sharecroppers’ Union (SCU) gegründet, die nahezu 10 000 Mitglieder in der Region Alabama umfasste. Bekannt wurde die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von SCU-Mitgliedern und der Staatsmacht, die einen überschuldeten Bauern von seinem Land vertreiben wollte. Trotz offizieller Rassentrennung und extremer Repression schaffte es die KPUSA, in Alabama eine weitgehend aus Schwarzen bestehende Gliederung aufzubauen, die 1934 aus 1000 Mitgliedern bestand. In der ersten Hälfte der 1930er Jahre war sie durchgängig antirassistisch ausgerichtet und bekämpfte gleichermaßen die italienische Intervention in Äthiopien wie die Rassendiskriminierung im Profisport etc. Auch wenn ihre Politik damals sektiererisch war, gelang es ihr dennoch, den Schwarzen ein eigenes politisches Organ zu verschaffen, in dem sich auch die schwarzen Arbeiterinnen wiederfinden konnten, die wie Claudia Jones ihre dreifache Unterdrückung theoretisierten und bekämpften. Im Zuge der Hinwendung zur Volksfrontpolitik weichte die KP ihre antirassistischen Positionen auf, um sich ihren neuen Verbündeten anzudienen. Dass sie nicht mehr bedingungslos die Kolonialvölker unterstützte, ein Bündnis mit der Gewerkschaftsbürokratie anstrebte und Wahlkampf für Roosevelt unter nationalistischen Vorzeichen betrieb, nahm der antirassistischen, letztlich auch klassenkämpferischen Ausrichtung der KP alle Schärfe: Indem sie aufhörte, revolutionär zu sein, setzte sie ihren Antirassismus aufs Spiel. Die kurze Blüte der CIO Ab 1934 kam es zu massiven Kämpfen der Arbeiterklasse. Mit drei siegreichen Streiks unter antikapitalistischer Führung (Toledo, San Francisco und Minneapolis, letzteInprekorr 5/2016 35 DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA rer unter trotzkistischer Dominanz) wurde deutlich, dass Proteste zum Erfolg führen können: Mithilfe unerschrockener Führer begannen die Arbeiter, sich selbst zu organisieren und sich sogar bewaffnet gegen die Nationalgarde zu verteidigen. Im Gefolge dieser Streiks entstand ein neuer Gewerkschaftsverband: der CIO (Congress of Industrial Organizations). Teile der Gewerkschaftsbürokratie – voran John Lewis, der Führer des Bergarbeiterverbandes UMW – hatten erkannt, dass eine Konkurrenzgewerkschaft unter revolutionärer Führung entstehen könnte, wenn nicht vorbeugend „Industriegewerkschaften“ geschaffen würden, in denen alle Arbeiter einer Industrie ungeachtet ihrer Qualifikation und somit auch ihrer Hautfarbe organisiert sind. Da die Unternehmer das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung schlichtweg nicht zuließen, musste sich der CIO mittels massenhafter Mobilisierungen, die wie „antirassistische Kreuzzüge“ anmuteten, durchsetzen. In der Automobilindustrie wurde Ford als letzter Arbeitgeber durch einen Streik in die Knie gezwungen, nachdem zuvor in ganz Detroit eine Massenkampagne geführt worden war, wo die Gewerkschaft Dutzende schwarzer Aktivisten rekrutierte, die in den Ghettos intervenieren sollten. Selbst vor den Toren der Ford-Werke am Rouge River hielten schwarze Prediger Ansprachen an die Arbeiter. Eben aufgrund dieser antirassistischen Kampagne verlief der Streik letztlich erfolgreich. In der Stahlindustrie führte die gewerkschaftliche Organisierungskampagne dazu, dass Ende der 1930er Jahre in manchen Regionen die Rassentrennung vollkommen aufgehoben wurde – etwa in Schwimmbädern, Kinos oder Restaurants. Die Stoßtrupps des CIO, der 1938 aus der AFL ausgeschlossen wurde, bestanden aus Mitgliedern des UMW. Der hatte es seit 1890 geschafft, eine Organisation aufzubauen, die mit einer Kampagne für die Rechte der Schwarzen in der Lage war, der Rassentrennung im Süden die Stirn zu bieten und zahlreiche Schwarze für führende Positionen der lokalen Gewerkschaftsstrukturen zu rekrutieren. Viele sagten sich daher: Wenn wir es geschafft haben, die Unternehmer in die Knie zu zwingen und unser Koalitionsrecht gegenüber Roosevelt und seinen bewaffneten Truppen durchzusetzen, warum sollten wir dann nicht versuchen, unsere eigene Arbeiterpartei aufzubauen und für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die Arbeiter bestimmen? Insofern entstand parallel zum Auf bau des CIO eine Massenbewegung für den Auf bau einer Arbeiterpartei in bewusster Abgrenzung zu den Republikanern und Demokraten. Nur mit Mühe gelang es der Gewerkschafts36 Inprekorr 5/2016 bürokratie, dies mit aktiver Beihilfe der KP abzuwiegeln, die 1940 im CIO 40 % der Führungskader stellte. Aber auch wenn sich die KP in den Gewerkschaftsapparat integriert und ihre eigenen Betriebszellen nach 1938 aufgelöst hatte, blieb an der Basis eine antirassistische und klassenkämpferische Tradition auch über die eigenen Reihen hinaus bestehen. Allein 1940 schlossen sich 500 000 schwarze Arbeiter dem CIO an. Mit Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg entstand ein erheblicher Anpassungsdruck an das System auf die Führungen beider Gewerkschaften. Die Teamster von Minneapolis und deren gewerkschaftliche Vertretung aus den Reihen der trotzkistischen SWP wurden 1941 wegen ihrer Opposition gegen den imperialistischen Krieg vor Gericht gestellt und im Namen des „Smith Act“, eines Gesetzes zur Beschneidung der Meinungsfreiheit, zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt – unter dem beifälligen Nicken der KPUSA. Obwohl beide Gewerkschaftsführungen den Verzicht auf Streiks während des Krieges (No strike pledge) erklärt hatten, wuchs der Widerstand gegen die Kriegsgewinnler. Die Bergarbeiter unter dem aus der CIO-Führung ausgeschlossenem John Lewis führten 1943 etliche erfolgreiche Streiks. Allenthalben kam es zu wilden Streiks in sämtlichen Großindustrien, die bis Kriegsende weiter zunahmen. Die KP hingegen profilierte sich damals als Vorreiter der Burgfriedenspolitik: Sie verteidigte den „No strike pledge“ und sogar den Akkordlohn und protestierte nicht einmal gegen die Internierung japanischstämmiger US-Amerikaner in Konzentrationslagern. Zu jener Zeit legte die KP-Führung auch die Rassenfrage im Namen der „antifaschistischen“ Allianz zwischen USA und der UdSSR ad acta. Die Schwarzen hatten aber inzwischen genug Selbstvertrauen, um aus eigener Kraft weiter zu kämpfen. Da ihr Anteil an der Industriearbeiterschaft inzwischen stark gestiegen war und sie auch als US-Soldaten im Krieg kämpften, protestierten sie jetzt auch gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz und in der Armee. Der sozialistische Gewerkschafter A. Philip Randolph drohte mit einem Protestmarsch gegen die Rassentrennung auf Washington, weswegen Roosevelt Maßnahmen ergriff, die nach dem Krieg unter dem wachsenden Druck der Schwarzen zur Aufhebung der Rassentrennung in der Armee führten. Rollback in der McCarthy-Ära In den Jahren 1945/46 erlebten die USA die bisher größte Streikwelle: 3 470 000 Streikende 1945 und 4 600 000 in DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA 1946. Wurde der Aufstieg der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg noch erstickt, waren diesmal die Streiks überwiegend erfolgreich. Beim Streik bei General Motors forderten die Streikenden gar von den Unternehmern die Offenlegung der Geschäftsbücher. Aber ab 1946 ging die Bourgeoisie massiv zum Gegenangriff über. Die antikommunistische Paranoia unter McCarthy führte nicht nur zu Säuberungswellen unter Künstlern und Intellektuellen sondern auch dazu, dass nahezu die gesamte radikale Vorhut der Arbeiterbewegung zerschlagen wurde: Tausende verloren ihre Arbeitsstelle oder wurden ins Gefängnis geworfen. Im CIO führte eine Massensäuberung dazu, dass 1949/50 eine Million Mitglieder ausgeschlossen wurden. Davon hat sich die US-Arbeiterbewegung, die fortan unter der unangefochtenen Fuchtel prokapitalistischer Reaktionäre stand, nie mehr erholt. Nachdem die klassenkämpferische Strömung, die zugleich auch die Speerspitze im antirassistischen Kampf war, zerschlagen war, führten die Arbeitskämpfe der Nachkriegszeit im Unterschied zu den 30er Jahren nicht mehr zu einer politischen Radikalisierung. Das reaktionäre Klima engte den Spielraum der schwarzen Arbeiter ein, die durch ein diskriminierendes Schema der Betriebszugehörigkeit in unterqualifizierte Jobs gedrängt wurden, ohne dass seitens der Gewerkschaftsführungen dagegen vorgegangen wurde. Trotzdem gab es unter einzelnen Gewerkschaften auch in dieser Zeit Widerstand, besonders im Süden. Beispiele hierfür waren die radikale Bergarbeitergewerkschaft Mine Mill, die Landarbeitergewerkschaft FTA und die UPWA in den Schlachthöfen: Sie waren in der Lage, gegen die diskriminierenden Praktiken der Unternehmer zu protestieren, Kampagnen gegen den gesellschaftlichen Rassismus zu führen und trotz der Rassentrennung gemeinsame Freizeitunternehmungen zwischen Schwarz und Weiß zu organisieren etc. In der FTA gab es sogar schwarze Gewerkschaftsführer – eine absolute Ausnahme damals. Auch wenn viele dieser Ansätze antirassistischer Tätigkeit unter den Arbeitern zerschlagen wurden, haben sie doch ein Erbe hinterlassen, das uns weist, dass durch klassenkämpferische Politik der Rassismus auch unter den schwierigsten Bedingungen zurückgedrängt werden kann. Übersetzung: MiWe DIE BÜRGERRECHTSBEWEGUNG Von den ersten Sklavenaufständen über die Bürgerrechtsbewegung bis hin zur Revolte in den Ghettos liefert die Geschichte der schwarzen Bevölkerung in den USA ein reiches Feld an Erfahrungen, Projekten und Lehrbeispielen. Galia Trépère They said if you was white should be all right If you was brown stick around But as you black, oh brother Get back, get back, get back (Refrain eines Volksliedes aus dem Süden der USA) Das United States Census Bureau der Bundesregierung der Vereinigten Staaten und die Einzelstaaten legten fest, welcher Rasse jemand angehörte. In Georgia wurde jede Person mit einem farbigen Vorfahren, gleich welcher Generation, selbst als farbig eingestuft. Und ob jemand als Weißer oder Nicht-Weißer galt, hatte grundlegende Auswirkungen, besonders in den 29 Staaten, in denen die Rassentrennung existierte. Schwarze konnten bspw. nicht dort wohnen, wo sie wollten. Die Gemeindeverordnungen, die vor Gericht rechtsverbindlich waren, verboten ihnen den Zugang zu bestimmten Wohnvierteln und wenn sie es jemals wagten, sich in Wohngegenden der Weißen niederzulassen, wurden sie eingeschüchtert, bedroht und terrorisiert. Auf der Arbeit waren sie die letzten, die eingestellt, und die ersten, die entlassen wurden. Meist waren sie arbeitslos, verrichteten Schwerstarbeit in Arbeitslagern oder waren als Gesinde angestellt – 45 % der Hausangestellten waren Schwarze. Selbst während des Zweiten Weltkriegs, als die Waffenindustrie händeringend nach Arbeitskräften suchte, waren nur 3 % der Arbeiter dort Schwarze. In 14 Bundesstaaten durften Schwarze nicht dieselben Zugabteile, Wartesäle, Restaurants oder Hotels benutzen wie die Weißen. Nur in 18 von 48 war Rassentrennung in öffentlichen Stätten verboten – ein Gesetz, das allerdings Inprekorr 5/2016 37 DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA nur selten zur Anwendung kam. In 29 von 48 Staaten war es illegal, dass Angehörige verschiedener Rassen untereinander heirateten und Kinder bekamen. Es kam vor, dass Ehen annulliert wurden, weil einer der beiden Partner angeblich ein Sechzehntel schwarzes Blut in den Adern hatte. Die Schwarzen standen nicht nur unter dauernder Beobachtung seitens der Behörden sondern auch der weißen Rassisten. Wie sehr die Bevölkerung von der rassistischen Pest durchdrungen war, zeigt die damalige Stärke des Ku Klux Klans, der in seiner Hochzeit 1925 sechs Millionen Mitglieder hatte und mit 40 000 TeilnehmerInnen nach Washington vor das Kapitol zog. Nach einem Abflauen in den 30er Jahren kam es während des McCarthyismus der Nachkriegsjahre zu einem Wiederaufschwung. Anfang der 60er Jahre konnte er in manchen Städten der Südstaaten ungestraft aufmarschieren und sich öffentlich zu Morden an Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung bekennen. Die Kampagne gegen Rassentrennung Rosa Parks erhielt nach ihrem Tod 2005 ein Staatsbegräbnis. Als sie sich freilich am 1. Dezember 1955 im Alter von 43 weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen zu räumen, war sie noch dafür festgenommen worden. Dies war damals der Auftakt zur Bürgerrechtsbewegung. Als Zeichen des Protestes organisierten schwarze AktivistInnen einen Busboykott, was einen Umsatzeinbruch von 60 % zur Folge hatte. Nach mehrmonatigem Kampf und Terrormaßnahmen des KKK entschied das Bundesbezirksgericht schließlich am 4. Juni 1956, dass die Segregationspraxis in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Alabama illegal sei. Bis zum Ende des Jahres wurde in 21 weiteren Städten im Süden nach vergleichbaren Boykottmaßnahmen die Rassentrennung im Transportwesen aufgehoben. Einer der prägenden Figuren dieser Bewegung war Martin Luther King, damals Prediger in Montgomery. Er gehörte 1957 zu den Gründungsvätern der Southern Christian Leadership Conference (SCLC). Junge StudentInnen, die 1961 das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) gründeten, führten Sitzstreiks (Sit-ins) durch, um Plätze, Bars, Restaurants oder Geschäfte zu besetzen, die für Schwarze verboten waren. Andere Aktionen gegen die Rassentrennung in den Überlandbussen, sobald diese die Nordstaaten verließen, wurden vom Congress of Racial Equality (CORE) organisiert und von jungen weißen und schwarzen AktivistInnen aus dem Norden durchgeführt, die sich „Freedom Riders“ nannten. Große Aufmerksamkeit wurde ihnen 38 Inprekorr 5/2016 zuteil, als die New York Times 1961 ein Titelphoto von einem dieser Busse veröffentlichte, der von Rassisten zur Explosion gebracht worden war. Die Rassentrennung galt auch für öffentliche Schulen und Universitäten trotz gegenteiligen Beschlusses durch den Obersten Gerichtshof von 1954 (Causa Brown). In Little Rock, Arkansas, befahl 1957 der rassistische Gouverneur Orval Faubus der ihm unterstellten Nationalgarde, neun schwarzen Studenten den Zutritt zur Universität zu verwehren. Sie wurden von den Garden und der weißen Bevölkerung weggedrängt und beleidigt, aber sie wichen nicht. Als sie dann auf Geheiß der Bundesverwaltung unter militärischem Geleit zur Universität zugelassen wurden, exmatrikulierten sich weiße StudentInnen und später wurde die Universität seitens der Stadtverwaltung sogar geschlossen. Im Juni 1963 postierte sich sogar der Gouverneur von Alabama, George Wallace, höchstselbst vor dem Portal der Universität von Alabama, um zwei schwarzen Studenten den Zutritt zu versperren. Dort, wo es um kommerzielle Interessen ging, etwa in Bussen, Restaurants oder Bars, waren diese Kampagnen erfolgreich. Viel schwieriger war es, die Gleichberechtigung in den Schulen durchzusetzen. Noch schwerer, aber entscheidend war der Kampf um das bedingungslose Wahlrecht. Er begann, nachdem im „Gesetz über die Bürgerrechte“ vom 2. Juli 1964 in den ganzen USA die Rassentrennung an öffentlichen Stellen und in den Schulen verboten worden war. Mit diesem Gesetz wurde auch die Benachteiligung bei der Arbeitsplatzsuche verboten, vom Wahlrecht jedoch war keine Rede. Die Kampagne für das Wahlrecht Das Wahlrecht konnte von den lokalen Behörden gewährt, beschränkt oder verwehrt werden und war oft an Steuerzahlungen gekoppelt. Die größte Hürde jedoch war, dass Wahlen in den Augen des KKK eine „Angelegenheit der Weißen“ waren und die Schwarzen, die wählen wollten, schikaniert oder gar ermordet wurden. Dort, wo die Schwarzen die Bevölkerungsmehrheit stellten, waren die Hürden zur Einschreibung in die Wahlregister am höchsten. In der Stadt Selma in Alabama waren über 50 % der Einwohner Schwarze, insgesamt 15 000. Davon waren nur 383 auf den Wählerlisten registriert. In Mississippi durften nur 6,4 % wählen. Als der SNCC in diesem Staat die Einschreibung der Schwarzen in die Wählerlisten durchsetzen wollte, wurden im Lauf des Sommers 1964 insgesamt 35 Kirchen angesteckt, 30 Gebäude in die Luft gesprengt, 80 Menschen DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA verprügelt und mindestens sechs umgebracht. Nachdem in Selma am 18. Februar 1965 ein junger Aktivist von den Bullen totgeprügelt worden war, rief der SCLC zu einem Marsch nach Montgomery, der Hauptstadt von Alabama, auf, um den Gouverneur Wallace zur Rede zu stellen. Martin Luther King unterstützte den Marsch, nahm aber nicht am Auftakt am 7. März 1965 teil. An diesem Tag begaben sich 600 Marschierer auf die Edmund-PettusBrücke, benannt nach einem Südstaaten-General und Führungsfigur des KKK in Alabama. Ihnen gegenüber standen 150 bewaffnete und teils berittene Zivilisten und Polizisten. Sie trugen Gasmasken, Schlagstöcke, Peitschen oder Elektroknüppel, die zum Viehtrieb verwendet wurden. Hinzu kamen zahlreiche weiße Schaulustige aus der Stadt. Die Marschierer wurden unvermittelt mit Pferden und Tränengas malträtiert und am Ende standen 90 Verletzte. Die Szenerie wurde von Presse und Fernsehen aufgezeichnet und am selben Abend über ABC gesendet: eine viertel Stunde lang Schreie und Knüppelschläge ohne Kommentar. Daraufhin kehrte Luther King nach Selma zurück und schwor, dass der Marsch fortgeführt würde. Landesweite Aufrufe ergingen und fast 1000 Menschen schickten sich an, die Brücke erneut zu überqueren. Auf richterlichen Beschluss wurde der Marsch bis auf Weiteres untersagt. Als er dann trotzdem am 9. März stattfand, wurde er erneut auf halber Strecke beendet – diesmal auf Geheiß von Luther King zur Deeskalation. […] Nachdem am 15. März die richterliche Genehmigung erfolgt war und Präsident Johnson ein Gesetz zum Wahlrecht vor dem Kongress und im Fernsehen angekündigt hatte, machten sich am 21. März 3600 Marschierer unter dem Schutz der Nationalgarde auf nach Montgomery und erreichten ihr Ziel nach vier Tagen. Am Folgetag sprach Luther King vor 25 000 DemonstrantInnen vor dem State Capitol Building in Montgomery und am selben Tag legte Johnson dem Kongress das neue Gesetz vor, das mit übergroßer Mehrheit in beiden Kammern angenommen und am 6. August 1965 von Johnson ratifiziert wurde. Zwischen 1965 und 1968 schrieben sich im tiefsten Süden 740 000 neue afro-amerikanische WählerInnen ein. Der zentrale Bestandteil der rassistischen Jim-CrowGesetze war damit erledigt und mit ihm die fast 70 Jahre dauernde Rassentrennung. Unter leichter Kürzung übersetzt von MiWe WEGE DER BEFREIUNG Im Laufe der Revolution der Schwarzen in den Jahren 1955 bis 1970 entstanden viele Organisationen, die sich von bereits bestehenden scharf abgrenzten. Auch wenn es zu heftigen Debatten und harscher Kritik kam, ging es doch stets darum, Wege zur Emanzipation des afroamerikanischen Volkes zu finden. Galia Trépère Vor der Bürgerrechtsbewegung Eine der ältesten und einflussreichsten Organisationen der Schwarzen war die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die 1909, als den Schwarzen gewaltsam die Rassentrennung auferlegt werden sollte, von W.E.B. Du Bois und anderen jungen schwarzen Intellektuellen gegründet wurde. Die NAACP bekämpfte alle Formen der Diskriminierung, führte juristische Auseinandersetzungen und verteidigte die Schwarzen, die Opfer von Gewalttaten geworden waren. Ende des Zweiten Weltkriegs zählte sie über 540 000 Mitglieder, darunter auch Rosa Parks, die wie viele andere aus der Bürgerrechtsbewegung kam. Während die NAACP für die Integration der Schwarzen eintrat, träumte Marcus Garvey – ein 1887 in Jamaica geborener Drucker und späterer Journalist – nach dem Ersten Weltkrieg von einem „Königreich Afrika“, das es zu erobern galt. Er wurde damit ungeheuer populär und konnte 1920/21 mehrere Millionen Anhänger hinter sich scharen. Man mag sich wundern, dass eine solche Utopie derart erfolgreich war, aber was er darin zum Ausdruck brachte, war der Stolz der schwarzen Bevölkerung auf ihre Herkunft und die Überzeugung, dass von den Weißen ohnehin nichts zu erwarten war. Während Garvey die NAACP bekämpfte, brach Du Bois, der sich der marxistischen und kommunistischen Idee zugewandt hatte, mit der NAACP, als diese sich weigerte, einen Aufruf des afroamerikanischen Volkes an die Vereinten Nationen zu richten, und trat für den Panafrikanismus und die Vereinigung der Afroamerikaner mit den gegen den Kolonialismus kämpfenden Afrikanern ein. Inprekorr 5/2016 39 DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA Elijah Muhammed, der die „Nation of Islam“ anführte, vertrat wie Garvey die Ansicht, dass Gott ein Schwarzer sei, propagierte jedoch den Islam in bewusster Abgrenzung vom christlichen Protestantismus als Religion der Sklavenhalter. In dieser Organisation erwarb Malcolm Little seine ersten Sporen als Redner und Organisator, nachdem er seine Jahre im Gefängnis mit Lektüre und Studien zugebracht hatte. Sein Vater, ein Prediger, war 1925 von einem Kommando des Ku Klux Klan bedroht worden, weil er Anhänger von Marcus Garvey war. Als sich Malcolm den Black Muslims zuwandte, legte er folglich auch seinen Sklavennamen ab und nannte sich Malcolm X. Verbindendes und Trennendes Von Beginn an war die Bürgerrechtsbewegung mit dem Namen von Martin Luther King verbunden, der zur Zeit des Bus-Boykotts in Montgomery 1955 dort Prediger war. Damals war er 26 Jahre alt und blieb bis zu seiner Ermordung am 4. April 1968 mit dieser Bewegung verbunden. Er bekannte sich zur Gewaltlosigkeit, was zweifellos religiös begründet war, genauso sehr aber auch taktische Gründe hatte. Daniel Guérin schrieb dazu: „Martin Luther King verwahrte sich dagegen, Pazifist zu sein, und bestand vielmehr auf den konkreten und positiven Aspekten wie auch dem Idealismus seiner Kampfmethoden. Seine Gewaltlosigkeit war nicht Ausdruck der Feigheit, sondern seines Verständnisses von militantem Engagement und er war in hohem Maße aktiv und nicht passiv. […] Für eine Minderheit, wie sie die Afroamerikaner darstellen, die unbewaffnet oder gemessen an ihrem Gegner ungleich schlechter bewaffnet sind, war Gewalt in den Augen von Luther King eine waghalsige Taktik, sowohl im Offiziellen wie auch im Privaten. Außerdem war sie für ihn nicht opportun, da damit der Teil der öffentlichen Meinung abgeschreckt würde, der zur Empörung über einen Gegner neigt, der zu Lynchjustiz, Terror, Mord und Massakern selbst an Kindern greift.“1 Er wurde dafür hart kritisiert von Malcolm X, der ihm vorwarf, ein „Onkel Tom“ zu sein, der sich von den weißen Machthabern instrumentalisieren ließ, als er am 28. August 1963 vor 250 000 Teilnehmern beim Marsch auf Washington sprach. Er warf ihm vor, mit Kennedy verhandelt und diesem ermöglicht zu haben, den Marsch für sich zu reklamieren und sich als Partner im Kampf der Schwarzen zu präsentieren, während der Staat nichts gegen die Rassisten unternahm. Bei anderen Anlässen wurde er auch von den jungen AktivistInnen des ‚Student Nonviolent Coordinating 40 Inprekorr 5/2016 Committee‘ (SNCC) kritisiert, von denen einige später führende Mitglieder der Black Panthers wurden, wie Eldridge Cleaver, Stockely Carmichael oder Huey Newton. Trotzdem erwies Cleaver King nach dessen Ermordung seine Achtung und erinnerte an „die wütenden Reaktionen, die er erntete, als er das Ende der US-Bombardements in Nordvietnam, Verhandlungen mit der FNL und die Aufnahme der VR China in die UN forderte. […] Letzten Endes kann gut sein, dass King trotz alledem Amerika geprägt und im Innersten getroffen hat und dass wir unseren revolutionären Kampf deswegen gewinnen können, weil er so weit gegangen ist.“2 In der Bürgerrechtsbewegung entwickelten diese Aktivisten unter dem Einfluss von Malcom X die Losung der „Black Power“ und gründeten die „Black Panthers“. Malcolm X Malcolm X hatte bei den jungen Aufständischen in den Ghettos großes Prestige erlangt, da er ihnen den Stolz darauf, Schwarze zu sein, vermittelte sowie das Gefühl ihrer Würde und die Bereitschaft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, statt in die Kriminalität abzugleiten. Er gab dem Hass Ausdruck, den sie gegen die Rassisten und Weißen empfanden, und prangerte die Prinzipien der Gewaltlosigkeit an, die von Martin Luther King eingefordert wurden. „Es gibt keine Revolution, in der man die andere Wange hinhält. Eine gewaltfreie Revolution gibt es nicht.“ Die Black Muslims forderten einen schwarzen Staat. Insofern kam für sie nicht infrage, an der Bürgerrechtsbewegung teilzunehmen, deren Ziel in ihren Augen darin bestand, von den Weißen akzeptiert zu werden. „Wir wollen, dass unser Volk, dessen Eltern und Großeltern Nachfahren von Sklaven sind, auf diesem oder einem anderen Kontinent einen eigenen Staat gründen oder ein Territorium errichten können, das ihnen gehört. Wir glauben, dass unsere früheren Sklavenhalter uns dies schuldig sind.“3 Wie alle anderen Organisationen der Schwarzen auch erhielten die Black Muslims nach dem Zweiten Weltkrieg enormen Zulauf. Sie reklamierten 150 000 Mitglieder für sich und waren in 82 Städten vertreten. Sie – und besonders Malcolm X – stießen auf außerordentliches Gehör und unter den schwarzen Jugendlichen war besonders populär, dass sie einen eigenen Ordnerdienst, den „Fruit of Islam“, zu ihrer Selbstverteidigung unterhielten. Aber Malcolm X’ Mitgliedschaft wurde von Elijah Muhammed ausgesetzt, als er Kennedys Ermordung mit den Worten kommentierte:„Chickens came home to roost DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA (was so viel bedeutet wie „die vergangenen Fehler haben sich gerächt“). Danach war er isoliert und ohne Organisation, aber weiterhin sehr populär. Er reiste mehrfach nach Afrika und gewann die Überzeugung, dass die Kolonialvölker und das afroamerikanische Volk einen gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus führen müssen. Nach seinem Bruch mit den Black Muslims gab er deren sektiererische Haltung auf und suchte nach Wegen der Zusammenarbeit zwischen der Bürgerrechtsbewegung und weißen Sympathisanten. Bei einem Meeting am 21. Februar 1965 wurde er im Alter von 40 Jahren von Mitgliedern der Black Muslims – wahrscheinlich unter Zutun des FBI – ermordet. Black Power und die Black Panthers Die Ideen von Malcolm X verfingen unter den jungen Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung. Ihre Losungen: „Freedom now“ und ab 1966 „Black Power“ waren Ausdruck des Aufbegehrens unter der schwarzen Jugend und ihrer Ungeduld. „Black Power“ bedeutete, dass die Schwarzen eine Macht bilden, ihre Städte und Wohnviertel selbst kontrollieren und nur auf sich selbst und nicht auf das vermeintliche Wohlwollen der Weißen vertrauen sollten. Insofern musste auch eine unabhängige Partei der Schwarzen gegründet werden. Dies wurde dann die Black Panther Party (BPP), die von Huey Newton, Eldridge Cleaver und dann Stockely Carmichael gegründet wurde. Da sie davon überzeugt waren, dem Repressionsapparat des weißen Staates gegenüber treten zu müssen, wie dies während der Aufstände auch der Fall war, propagierten sie die Selbstverteidigung und gründeten, unter Berufung auf den zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung über das Tragen von Waffen, bewaffnete Milizen in den schwarzen Vierteln. Die BPP versuchte, in allen Richtungen aktiv zu sein: Verankerung in den Ghettos, spektakuläre Guerilla-Aktionen oder Theoriebildung. Ein weiterer Schwerpunkt war die Knastarbeit, wo viele Jugendliche wegen Beteiligung an den Aufständen einsaßen. Aber aufgrund der scharfen Repression, die sie erlitt, blieb ihr gar nicht die Zeit, ihre ganzen Kapazitäten zu entfalten. Viele Mitglieder wurden ermordet oder ins Exil gezwungen. eine unabhängige Partei zu schaffen, und der Unterordnung aller kommunistischen Parteien unter die Schwenks der stalinistischen Politik. Stattdessen suchten sie einen Ausweg auf Seiten der politischen Kräfte, die die antikolonialistischen Revolutionen führten, da ihnen ein gemeinsamer Feind gegenüberstand: der Kolonialismus und der US-Imperialismus. Aber aus demselben Grund, weswegen die Kolonialländer keine wirkliche Unabhängigkeit erlangen konnten, ohne den Sturz des Kapitalismus zu betreiben, wird die schwarze Bevölkerung in den USA die Rassenunterdrückung nur beenden können, wenn sie die Herrschaft der Bourgeoisie beendet und den Kapitalismus stürzt. Denn die Rassenunterdrückung kann ohne soziale Ungleichheit und Ausbeutung nicht bestehen. Rassismus allein beschreibt nicht die reale Totalität der sozialen Ungleichheit, sondern ist nur ein komplementärer Bestandteil davon. Die Ausbeuterklassen machen sich ihn zunutze, um eine noch größere Ausbeutung zu rechtfertigen, die Ausgebeuteten gegeneinander auszuspielen und die Illusion einer Interessengleichheit zu erzeugen, die angeblich aus derselben Hautfarbe, andernorts aus derselben nationalen Zugehörigkeit rührt. Der Aufstand der Afroamerikaner war in sich außerordentlich subversiv, da er die weltweit stärkste imperialistische Macht geschwächt hat, indem er ihre demokratische Legitimation infrage gestellt hat. Insofern hat er viel dazu beigetragen, dass auch die weiße Jugend rebelliert hat und die USA den Vietnamkrieg verloren haben. Aber er hätte eine ungleich glanzvollere Rolle spielen können, wenn er in der weißen Arbeiterklasse einen Bündnispartner gefunden hätte. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass alle Versuche, schwarze und weiße ArbeiterInnen zu vereinen, von den Herrschenden in den USA stets erbittert bekämpft worden sind, bis hin zu Pogromen seitens des KKK oder anderer. Diese handelten im Interesse der Herrschenden, da denen bewusst war, dass ihre Existenz auf dem Spiel steht. Wir können darauf hoffen, dass unter den neuen Bedingungen, die die wirtschaftliche Entwicklung und die Revolution der Schwarzen geschaffen haben, etwa dem viel höheren Anteil schwarzer Lohnabhängiger am US-Proletariat, diese Einheit zustande kommen wird. Übersetzung unter geringen Änderungen MiWe Vorläufige Bilanz Die AktivistInnen und Organisationen der Revolution der Schwarzen hatten kaum die Mittel, um die damaligen Grenzen zu überwinden, nämlich das Fehlen einer wahrhaft sozialistischen und internationalistischen Perspektive infolge der Probleme der US-amerikanischen Arbeiterbewegung, 1 Daniel Guérin, De l’oncle Tom aux Panthères, éditions 10/18, S. 204 2 Zitiert nach Guérin, S. 208 3 Punkt 4 des Muslim-Programms Inprekorr 5/2016 41 DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA ABSCHWUNG NACH DEN 70ERN Die frühen 70er Jahre markierten den Höhepunkt von Black Power, waren aber zugleich der Auftakt zu einem lang anhaltenden Niedergang der afroamerikanischen Bewegung, der von Repression, Wirtschaftskrise und Einführung einer systematischen Gefängnishaft gezeichnet ist. Mit dem Verfall der Kräfteverhältnisse ging auch ein politischer Abstieg einher, wo nicht mehr eine Perspektive für die gesamte schwarze Gemeinde, sondern das Streben nach individuellen Auswegen im Vordergrund steht. Stan Miller Unter den Strategien, mit denen sich die herrschende Klasse in den USA die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung gesichert hat, spielte die Peitsche stets eine viel größere Rolle als das Zuckerbrot. Konnte die Bürgerrechtsbewegung noch Gesetzesänderungen erzwingen, steht die afroamerikanische Bewegung seither unter Dauerbeschuss des Staates. Zerschlagung der afroamerikanischen Organisationen Seit seiner Gründung verfolgt das FBI stets ein Ziel, nämlich die Überwachung „aufrührerischer“ Bewegungen (Sozialisten, Kommunisten oder schwarze Nationalisten). Dafür wurden verschiedene „Programme“ zur Gegenaufklärung ins Leben gerufen, wie etwa das COINTELPRO (COunter INTELligence PROgram) von 1956 bis 1971. J. Edgar Hoover, notorischer Antikommunist und unbedingter Verfechter der Rassentrennung, leitete das FBI seit dessen Gründung 1924 bis zu seinem Tod 1972. Nach zahlreichen Skandalen und dank der hartnäckigen Arbeit des investigativen Journalismus ist es inzwischen möglich, die Methoden und das Ausmaß des repressiven Systems zu erfassen, das aus Mord, Einschleusung von Agents provocateurs, gezieltem Drogenumschlag in den Schwarzenghettos etc. bestand. Ein Beispiel für die direkte und blutige Verwicklung des FBI war die Ermordung des Chicagoer Führers der Black Panther Party Fred Hampton am 4. Dezember 1969 42 Inprekorr 5/2016 durch Bundesbeamte anhand von Indizien, die von einem eingeschleusten Informanten stammten. Daneben wurden bezahlte Provokateure in die Bewegungen eingeschleust, um sie zu überwachen, aber auch um Spaltungen und innere Querelen zu provozieren. Es wurden an „wohlgesonnene“ Zeitungen gezielte Informationen über Strafregister oder außereheliche Affären von führenden Mitgliedern der Bewegung gestreut. Oder die Polizei provozierte durch Schikanen sog. „Ungehorsam“, der dann erbarmungslos erstickt wurde. Die bekanntesten unter den Organisationen der Schwarzen wie die BPP oder die DRUM (Dodge Revolutionary Union Movement) waren auf ein derartiges repressives Vorgehen nicht gefasst. Hinzu kam, dass die martialische Strategie der BPP und ihr Mangel an innerer Demokratie dem FBI die Arbeit erleichterten. Die „direkten Aktionen“ lieferten dem FBI den notwendigen Vorwand für das gewaltsame Vorgehen und die Binnenstruktur, die von „charismatischen“ Führungsfiguren abhing, erleichterte die Desorganisation der Gruppe, wenn die Führer im Gefängnis oder im Exil saßen oder tot waren. Wohl spielte das FBI dabei die Hauptrolle, aber jede andere lokale, bundesstaatliche oder nationale Sicherheitsoder nachrichtendienstliche Agentur bediente sich derselben Methoden. So finanzierte die CIA in den 80er Jahren die antisandinistischen Contras in Nicaragua durch den Handel mit Kokain in den Schwarzenghettos, wie 1998 letztlich eingestanden wurde. Warum griff die US-Bourgeoisie auf eine derartige Repression zurück? Eben weil sie in der damaligen Zeit (Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre) genauso außerordentlich um die Stabilität ihres Herrschaftssystems fürchten musste. Auf internationaler Ebene war nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 und dem Scheitern aller konterrevolutionärer Versuche sowie der Niederlage in Vietnam mit dem Rückzug der US-Truppen 1973 die US-Vormachtstellung seit dem Zweiten Weltkrieg angeschlagen: Ein kleines, isoliertes Land hatte die mächtigste Armee der Welt bezwungen. Die Niederlage in Vietnam war zugleich das Ergebnis der größten Antikriegsbewegung der Weltgeschichte: Massendemonstrationen in den USA, aber auch „direkte Aktionen“ und Fahnenflucht, ganz abgesehen von Protesten unter den Soldaten, besonders den schwarzen, selbst. Fast ein Jahrhundert lang hatte die Rassentrennung nach dem Sezessionskrieg 1861–1865 die Herrschaft über die Schwarzen unter Fach und Dach gehalten. Mit der Bürgerrechtsbewegung und ihren Massenmobilisierungen und erzwungenen Gesetzesänderungen jedoch wurde das Verlangen nach der seit Ewigkeiten versprochenen Gleichheit unter DOSSIER: R A SSISMUS IN DEN USA den Schwarzen wieder geweckt. Und Black Power bedeutete die Zuspitzung dieser Bedrohung und ihre Organisationen waren wohl zahlenmäßig bescheiden, aber trotzdem Ausdruck eines sehr viel tiefer gehenden Protests unter der gesamten schwarzen Bevölkerung. Nachdem sie in den frühen 70er Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde die afroamerikanische Bewegung durch die Repression nachhaltig geschwächt. Als die Wirtschaftskrise ausbrach und mit ihr Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau und die Schwarzen als Sündenböcke herhalten mussten, waren die radikalen afroamerikanischen Organisationen entweder nicht mehr existent oder nicht mehr dazu in der Lage, überhaupt noch Widerstand zu organisieren. Eine neue Variante der Unterdrückung Von der Wirtschaftskrise der 70er Jahre war gerade die schwarze Bevölkerung besonders betroffen, zumal sie auch den Vorwand lieferte, ein neues Repressionsinstrument zu etablieren: die massenhafte Inhaftierung von Schwarzen. Mit dem Niedergang ganzer Industrien waren die Afroamerikaner als erste von der Massenarbeitslosigkeit betroffen, da sie über die geringste Qualifikation verfügten und vorwiegend in den Industrieregionen lebten. Hinzu kamen die Trennung der Rassen nach Wohngebieten, wobei die Schwarzenviertel besonders vom Abbau der öffentlichen Dienste, gerade im öffentlichen Verkehrswesen, betroffen waren und dadurch noch mehr ghettoisiert und vom Wirtschaftsleben abgeschnitten wurden. Die Fabriken wurden nach China, Mexiko oder in die Südstaaten verlagert, wo die Gewerkschaftsrechte gering und die Konkurrenz zu immigrierten Niedriglöhnern aus Lateinamerika um die verbliebenen wenig qualifizierten Stellen besonders hoch ist. Unter Ronald Reagan, dem republikanischen Präsidenten von 1980 bis 1988 begann die systematische Zerstörung der in den 1930er Jahren erkämpften sozialen Errungenschaften. Um die Unterstützung der armen Weißen und die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, stellte er die Schwarzen als Hauptnutznießer dieses sozialen Sicherungssystems dar. Hinzu kam die Medienhetze, die nach dem Muster von Chiracs berühmter Rede über „den Lärm und Gestank“ der Immigranten, die übliche Falschpropaganda verbreiteten, etwa von der „welfare queen“, einer schwarzen Mutter zahlreicher Kinder, die angeblich Hunderttausende von Dollars an Sozialhilfe abkassierte. Zugleich wurde „der Kampf gegen die Drogen“ aufgenommen, will heißen, Menschen bereits beim ersten Delikt im Zusammenhang mit Drogen – zumeist bloßer Konsum – ins Gefängnis zu stecken – mitunter jahrelang. Obwohl 10 % der AmerikanerInnen mindestens einmal im Jahr Drogen konsumieren, kaprizieren sich Polizei und Justiz ganz vorrangig auf die Schwarzen, die festgenommen, durchsucht, verfolgt und eingeknastet werden. Die Zahl der Gefängnisinsassen in den USA ist sprunghaft angestiegen: Inzwischen sitzt ein Erwachsener von 100 im Knast und einer von 9 Afroamerikanern ist hinter Gittern oder unter Polizeiaufsicht. Die Ausrufung des „Drogenkriegs“ in den 80/90er Jahren zielte auf die verschärfte Stigmatisierung der Schwarzen als notorische Dealer, Junkies und Schmarotzer an der Sozialversicherung als Rechtfertigung für den Sozialabbau. Zugleich konnte damit ein anderes soziales Problem angegangen werden, das die herrschende Klasse umtrieb: In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit waren die Schwarzen als Arbeitskraft überflüssig und konnten gegen noch billigere Tagelöhner unter den MigrantInnen ausgetauscht werden. Indem man sie massenhaft wegsperrte, beseitigte man das Problem und signalisierte den Schwarzen obendrein, dass jede Form von Protest im Keim erstickt würde und dass selbst ihre formalen Rechte ausgehebelt würden. Diese Praxis gilt seither unverändert, gleich welche Partei an der Regierung ist. Der „Quotenneger“ Radikale Organisationen blieben von diesem allgemeinen Niedergang und der Repression nicht verschont und verstummten allmählich. Die Reformisten meldeten sich jetzt zu Wort und propagierten eine Art positive Diskriminierung mit Quotierung der Studienplätze und der verantwortungsvollen Positionen, damit auch eine Minderheit unter den Schwarzen an die Fleischtöpfe der Macht gelangen könne. Mögen die Schwarzen im Ganzen als Schmarotzer und Kriminelle behandelt werden, von offizieller Seite werden einzelne „Vorzeigeexemplare“ hervorgehoben, die sich in die Mittelschicht emporarbeiten konnten, aber gleichwohl dem in der US-Gesellschaft grassierenden Rassismus unterliegen. Die Kriminalisierung der breiten Masse der Schwarzen hingegen trifft kaum auf organisierten Widerstand. Obamas Wahl zum Präsidenten ist Folge der genannten Strategie und gewissermaßen der „Quotenneger“ schlechthin und soll demonstrieren, dass die Hautfarbe in den USA nicht mehr zählt. Wie die Realität jedoch beschaffen ist, wie sie die übergroße Mehrheit der Schwarzen tagtäglich erlebt, das zeigt eher die BlackLivesMatter-Bewegung Übersetzung: MiWe Inprekorr 5/2016 43 E C UA D O R DER FEMINISMUS IN ECUADOR Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick der Entwicklung des Feminismus in Ecuador während der letzten 17 Jahre. Im Zentrum stehen zwei Strömungen, die in dieser Zeit präsent waren: der liberale Feminismus und der „feminismo popular“1. Die Frage ist, inwieweit diese beiden Strömungen zu einem emanzipatorischen Prozess für die Frauen beitragen konnten. Maria Isabel Altamirano, Tanya de la Torre, Alba Aguinaga Die zwei Regierungsjahre von Lucio Gutiérrez (Januar 2003 bis April 2005) bedeuteten für die erste der beiden Strömungen, den liberalen Feminismus, eine Krisenzeit. Diese Strömung hatte sich in Ecuador ab den 1980er-Jahren entwickelt. Im Verlaufe der 1990er-Jahre war es ihr gelungen, eine starke Präsenz in den staatlichen Institutionen zu erreichen und zur Einführung neuer Gesetze beizutragen: 1993 das Gesetz gegen Gewalt an Frauen, 1994 das Gesetz zur kostenlosen Mutterschaft, 1997 das erste Quotengesetz und 1998 in der Verfassunggebenden Versammlung, als die kollektiven Rechte der indigenen und afroecuadorianischen Bevölkerung sowie jene der LGBT-Gruppen in die Verfassung aufgenommen wurden. Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stürzte der Neoliberalismus das Land jedoch in eine institutionelle und wirtschaftliche Krise. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als 1999 die Bankenkrise ausbrach und die Ersparnisse von Tausenden EcuadorianerInnen beschlagnahmt wurden. Dies löste eine Auswanderungswelle nach Europa und in die USA aus, an der sich auch ein hoher Prozentsatz von Frauen beteiligte. Das war der Kontext, in dem sich der feminismo popular entwickelte. Diese mit dem Kampf der sozialen Bewegungen verbundene feministische Strömung war in den 44 Inprekorr 5/2016 1990er-Jahren entstanden. Weiteren Auftrieb erhielt sie Ende des nachfolgenden Jahrzehnts unter dem Einfluss des Weltsozialforums (WSF) und des Weltmarschs der Frauen, die den Kampf der Frauen in einen weltweiten Zusammenhang stellen, nach dem Motto „eine andere Welt ist möglich“. So konnten die mit der indigenen Bewegung verbundenen Frauenorganisationen und die antineoliberalen Gruppen auf der politischen Bühne des Landes an Kraft gewinnen. In den Jahren zwischen 2003 und 2005 schwächten drei entscheidende Faktoren den institutionellen Feminismus: der Chauvinismus der Regierung von Lucio Gutiérrez, die politische Repräsentationskrise, die das Land durchmachte und die Schwierigkeiten des institutionellen Feminismus, die Rechte der Frauen über das hinaus durchzusetzen, was die Regierung jeweils zu akzeptieren gewillt war. Der feminismo popular hingegen erreichte im ganzen Land soziales Wachstum. Er hatte aber Schwierigkeiten, die politische Führung der Frauenbewegung zu übernehmen und ein Programm zu entwerfen, das über den institutionellen Rahmen hinausging. Seit 2007 und unter der Regierung von Correa entwickelt sich der institutionelle liberale Feminismus in Richtung eines fortschrittlichen liberalen Feminismus. Einerseits ist dies auf die Präsenz des feminismo popular zurückzuführen, der gewisse Stränge der Regierungspolitik wie zum Beispiel den Extraktivismus (Wirtschaft, die auf Rohstoffexport basiert) infrage stellt. Andererseits erklärt sich diese Entwicklung durch den Einfluss weiterer fortschrittlicher Kräfte, die die Sozialpolitik der Regierung unterstützen, etwa den „Gutschein für menschliche Entwicklung“, den Hausfrauen sowie bedürftige betagte und behinderte Personen erhalten. 2008 gelang es den Frauenorganisationen, ihren verschiedenen Anliegen in der Verfassungsgebenden Versammlung Gehör zu verschaffen, insbesondere in Form von Ergänzungsvorschlägen zu Bestimmungen in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Sexualität, Soziales, Kultur und Umwelt. So machte es die Verfassung von 2008 möglich, die kollektiven Rechte der Frauen zu stärken, aller- E C UA D O R dings mit der wichtigen Einschränkung, dass es im Bereich der sexuellen Rechte zu Rückschritten kam. Während der ecuadorianische Feminismus der 1990erJahre die Geschlechterfrage in den Mittelpunkt stellte, konzentrierte sich der Feminismus der Jahre nach 2008 vor allem auf die wirtschaftlichen Rechte – unter Vernachlässigung der gesetzlichen Regelungen zur Sexualität und Fortpflanzung. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die fortschrittlichen Bestimmungen der Verfassung von 2008 an Radikalität einbüßten, als die nachgeordneten Gesetze ausgearbeitet wurden. Es kam dabei zu einer Abschwächung der Fortschritte, die die Verfassung in den Bereichen Landumverteilung, Verstaatlichung des Wassers, Rechte der Natur, Nahrungssouveränität sowie soziale und solidarische Ökonomie gemacht hatte. Der feminismo popular setzte den Akzent auf die wirtschaftlichen Rechte und wies ein gewisses Wachstum auf. Zwischen 2008 und 2014 hatte er aber immer mehr Mühe, sich mit dem Staat zu einigen und dessen Unterstützung zu erhalten. So stießen die basisnahen Frauenorganisationen in diesen Jahren zwar auf wachsende Zustimmung, gleichzeitig sahen sich die sozialen AktivistInnen aber mit immer mehr Repression und Kriminalisierung konfrontiert. Hinzu kam die Anwendung des Strafgesetzbuches Código Orgánico Integral Penal (COIP), das den Vorschlag der straffreien Abtreibung nach Vergewaltigung nicht aufgenommen hatte – ein Rückschritt im Bereich der sexuellen und reproduktiven Rechte. ECUADOR Quito Fläche und Einwohner: Etwa 20% kleiner als Deutschland, aber nur 16 Mio. EinwohnerInnen. Nach Angaben der Indígena-Organisation CONAIE beträgt der Anteil der Indígenas bis zu 50 %; Mestizen machen ca. 40 % aus; Menschen mit europäischer Abstammung ca. 10–15 %, Afroecuadorianer etwa 5–10 %. Wirtschaft: E. gehört der OPEC an und exportiert 70 % seiner Ölförderung. Defekte Leitungen und rücksichtsloser Abbau führen zu großen Umweltschäden. Die Rechte der betroffenen Ureinwohner werden grob missachtet. Soziale Lage: Die oberen 20 % verfügen über 60 % des Nationaleinkommens, die untersten 40 % gerade mal über 12 %. E. ist mit 4760 $ Jahreseinkommen (Kaufkraftparität) das viert ärmste Land Lateinamerikas. 20% der Bevölkerung leben deswegen im Ausland (USA, Spanien). Politisches System: Stark zentralisiertes Präsidialsystem mit nur geringen Ansätzen einer Dezentralisierung Die Politik der Regierung Correa Die Kontrolle über den Körper und die Sexualität der Frau nimmt unter der Politik der Regierung Correa zu. Nach dem Strafgesetzbuch COIP zum Beispiel drohen sowohl den Frauen, die abtreiben, als auch den Personen, die den Abbruch durchführen, Gefängnisstrafen von zwei bis sechs Jahren. Dies, obwohl man weiß, dass Frauen ihr Leben riskieren, wenn sie eine Abtreibung im Geheimen durchführen lassen. Ein weiteres Beispiel, das man hier anführen kann, ist die „Nationale, bereichsübergreifende Strategie zur Familienplanung und Verhinderung von Jugendschwangerschaften (ENIPLA)“, die durch den „Ecuadorianischen Familienplan“ ersetzt wurde. Letzterer wird von einer Sprecherin der Organisation Opus Dei gesteuert, die dem Volk einen konservativ ausgerichteten Sexualunterricht vermitteln will. Die Politik der Regierung Correa bürdet den Frauen der unteren Schichten den größten Teil der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf. Denn diese Frauen sind in erster innerhalb der letzten zehn Jahre. Die traditionellen Parteien (PSC, PRE, ID) teilten sich jahrzehntelang die Macht im Verbund mit einer starken Stellung des Militärs. Dem stehen die Indígena-Dachorganisationen CONAIE und die mit ihr verbündete Partei Pachakutik gegenüber. Präsident Rafael Correa gehört der Partei Movimiento PAÍS (eine Sammelpartei, die sich mit dem Bolivarianismus identifiziert) an und stützte sich bei seinem Wahlsieg (Nov. 2006) u. a. auf CONAIE. Diese ist jedoch inzwischen sehr enttäuscht, weil die extraktivistische Politik kaum geschmälert fortgesetzt wird. Im Ausland hat Correa weiterhin den Ruf eines „linken“ Präsidenten, der zusammen mit den PräsidentInnen Venezuelas, Brasiliens, Boliviens und Chiles eine Linkswende in Lateinamerika symbolisierte. Inprekorr 5/2016 45 E C UA D O R Linie betroffen, wenn die Arbeitsintensität steigt, schlechte Arbeitsbedingungen zunehmen und die Zahl der informellen Beschäftigungsverhältnisse ohne soziale Absicherung (prekäre Anstellungen und Teilzeitarbeiten) immer größer wird. Für die unbezahlten Hausarbeiterinnen wurde zwar eine Sozialversicherung geschaffen, sie kommen aber weiterhin nicht in den Genuss aller Rechte. Außerdem wird dieses System durch die LohnempfängerInnen in der Familie finanziert und nicht durch den Staat – dies ungeachtet der Tatsache, dass die unbezahlte Arbeit 15% des BIP ausmacht (INEC, 2014). Der Mutterschaftsurlaub wurde um drei bezahlte Monate verlängert und beträgt nun neun Monate, jedoch ohne dass für die anderen sechs Monate ein Lohn bezahlt wird. Die Beamten unterstehen nicht mehr dem Arbeitsgesetz und profitieren nicht mehr von den Kollektivverhandlungen. All diese Massnahmen scheinen gutem Willen zu entspringen, doch in Tat und Wahrheit verhält es sich anders: Sie entsprechen dem Willen von Correa, dem Kapital möglichst gute Bedingungen zu bieten – zum Nachteil der Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Politik von Correa versucht auch, die sozialen Bewegungen zu kriminalisieren. Das geht zum Beispiel so weit, dass junge Frauen des Terrorismus angeklagt werden, weil sie politische Versammlungen abgehalten haben, oder Bäuerinnen juristisch verfolgt werden, weil sie gegen Bergbauprojekte oder den Extraktivismus protestieren und sich für die Pachamama (personifizierte Mutter Erde) einsetzen. Der Staat hat gelernt, sich des Feminismus zu bedienen. Er versucht, die Frauen in die herrschende soziale Struktur einzubinden, indem er ihnen minimale Freiheiten gewährt, gleichzeitig aber ihren Protest zum Schweigen bringt. Allerdings kann niemand abstreiten, dass sich die formelle Gleichstellung der Frauen in Bezug auf ihre politische Vertretung und gewisse Regierungsprogramme verbessert hat – auch wenn der größte Teil der ecuadorianischen Frauen unter den negativen Auswirkungen des produktivistischen Entwicklungsmodells der Regierung leidet. Der feminismo popular arbeitete mit den afroecuadorianischen und indigenen Frauen sowie den Mestizinnen an gemeinsamen Forderungen und Zielen und trug damit zur Annäherung der verschiedenen Frauengruppen bei. Das Auftauchen dieser neu entstandenen politischen Kraft, die gleichzeitig Nahrungssouveränität, eine Wirtschaft für das Leben, umfassende Frauenrechte, das Recht auf volle Teilhabe, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und 46 Inprekorr 5/2016 Entkriminalisierung der Abtreibung fordert, ermöglicht es, die feministische Revolution als gesellschaftliche Alternative zu präsentieren. Doch der Staat leistete in diesen Jahren großen Widerstand und machte den Auf bau von Frauenorganisationen sowohl innerhalb wie außerhalb der sozialen Bewegungen schwierig. Hinzu kommt, dass die komplexen Auseinandersetzungen mit den Sozialinstitutionen für die feministischen Frauen nicht einfach zu bewältigen sind. Zurzeit ist dem feminismo popular also kein großer Erfolg beschieden. Es ist ihm nicht gelungen, eine feministische Antwort zu liefern, die über den Rahmen der Institutionen und der Regierung hinausgeht. Trotzdem führen die Frauenorganisationen und Feministinnen ihre kritischen Interventionen weiter, insbesondere indem sie die chauvinistischen Haltungen des Staates anprangern, die Kämpfe der indigenen Frauen unterstützen, die ökologischen Forderungen in ihre Ansätze integrieren, gegen Geschlechtermorde an Frauen kämpfen und ein Gesetz gegen die Gewalt an Frauen fordern. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Frauenbewegung – wie andere soziale Bewegungen auch – eine Krise durchläuft, die sich sowohl durch die Aufsplitterung als auch durch die Institutionalisierung ihrer Forderungen ausdrückt. Demobilisierung und Demoralisierung sind die Folgen. Wenn wir keine andere Form als die Institutionalisierung der Frauenforderungen finden, werden wir nicht vorankommen. Daran muss ein kritischer und emanzipatorischer Feminismus heute arbeiten. Maria Isabel Altamirano Solarte, Tanya De la Torre Ortega und Alba Margarita Aguinaga Barragán, Soziologinnen und Feministinnen, sind Aktivistinnen der feministischen Nationalversammlung Asamblea de Mujeres Populares y Diversas del Ecuador (AMPDE). Übersetzung: A. W. 1 s.v.w. Feminismus von unten od. Feminismus der nicht herrschenden Klassen [Anm. d. Red.] PA K I S TA N BABA JAN – OPFER DER PAKISTANISCHEN KLASSENJUSTIZ Unser Genosse Baba Jan, stellvertretender Vorsitzender der Awami Workers Party (AWP) Pakistans und deren Führer in Gilgit-Baltistan, wurde vom obersten Appellationsgericht dieser von Pakistan besetzten und verwalteten Region am 8. Juni 2016 zu 40 Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 500 000 Rupien verurteilt. Mit ihm zusammen wurden acht weitere Genossen zur gleichen Strafe verurteilt: Iftikhar Hussain, Aleem, Irfan Ali, Shukurullah Baig, Sarfraz, Rasheed, Musa und Sher Khan. Jan Malewski Anders als die Schwere der Strafe vermuten lässt, haben Baba Jan und seine Genossen keinen bewaffneten Kampf gegen den Staat geführt. Sie haben lediglich ihre Stimme erhoben, um auf das Schicksal Tausender Menschen im Tal von Hunza, die nach einer Naturkatastrophe im Januar 2010 umgesiedelt wurden, aufmerksam zu machen und gegen die herrschende Korruption und die gewaltsame Unterdrückung der Gegenwehr der betroffenen Bevölkerung im August 2011 zu protestieren. In einem Bericht der asiatischen Menschenrechtskommission vom 16. Juni heißt es dazu: „Der Zeitpunkt des Urteils weckt Zweifel, dass es dabei unparteiisch und gerecht zugegangen ist. Baba Jan kandidierte im Wahlkreis Hunza-6 zu den für den 28. Mai vorgesehenen Teilwahlen zur gesetzgebenden Versammlung in Gilgit-Baltistan. Drei Tage vor dem Urteilsspruch hatte das Wahlkampfteam, dem die regionale Führung der AWP angehört, eine Massenkundgebung zur Wahlunterstützung organisiert, an der zahlreiche Menschen, auch Frauen und Jugendliche teilnahmen. Am selben Tag forderte Zafar Iqbal von der Pakistanischen Volkspartei PPP, der Vorgänger der gegenwärtigen Regionalregierung unter der Muslimliga PML-N, das oberste Appellationsgericht auf, die Kandidatur von Baba Jan wegen dessen Verurteilung durch ein Antiterrorgericht zu untersagen. Zafar Iqbal ist bekanntlich seinem Konkurrenten von der PML-N, der aus einer der traditionell führenden Familie dieser Region stammt, freundschaftlich verbunden. Obwohl Baba Jan von der vorigen Berufungsinstanz freigesprochen worden war, entschied dieses Gericht daraufhin, die Wahl zu verschieben, bis über den Einspruch des Gouverneurs gegen diesen Freispruch entschieden worden sei. Dies verwundert insofern, als die Wahlkommission Baba Jans Kandidatur ausdrücklich zugelassen hatte. Mit dem Urteil des obersten Appellationsgerichts wird Baba Jans Wahlkampagne in flagranter Weise sabotiert und die politische Konkurrenz von der herrschenden PML-N bevorzugt. Baba Jan wird dafür bestraft, dass er die Interessen der Arbeiterklasse in Gilgit-Baltistan vertritt. […] Die Justiz, die eigentlich für Gleichheit vor dem Gesetz sorgen sollte, lässt einen Verstoß gegen die Menschenrechte zu. Wie soll die Bevölkerung von einer Institution Gerechtigkeit erwarten, die selbst weder gerecht noch unabhängig ist?“1 Baba Jan und seine Genossen wurden aufgrund des sog. „Antiterrorgesetzes“ inhaftiert. Dieses wurde 1997 verabschiedet und seither mehrfach modifiziert. Dabei gelten alle möglichen Taten als terroristisch, wie etwa das „Stiften von Unruhe unter der Bevölkerung“. Aziz Siddiqui von der Menschenrechtskommission in Pakistan fasste dies 2012 so zusammen: „Dies dient als Rezept, um aus Unschuldigen Verdächtige zu machen und aus Verdächtigen Schuldige, selbst über den Tod hinaus. Das Gesetz erlegt gewissermaßen die Schuld auf.“ Die Katastrophe gebiert Korruption … Begonnen hat die Strafverfolgung von Baba Jan und seinen Genossen im Winter 2010 im Hunza-Tal in Gilgit-Baltistan, einer Region, die formal nicht zu Pakistan gehört, de facto jedoch von Islamabad kontrolliert wird. Die pakistanische Regierung verweigert dieser Region die offizielle Anerkennung als Teil des Landes und setzt vielmehr auf den Anschluss im Rahmen eines Referendums über Kaschmir, einer seit Inprekorr 5/2016 47 PA K I S TA N dem Ende der britischen Kolonialherrschaft zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Nachbarregion, deren Bewohner nach einem nie umgesetzten UN-Beschluss über ihre künftige Zugehörigkeit abstimmen sollten. Da Gilgit-Baltistan mehrheitlich muslimisch ist, hofft der pakistanische Staat auf deren Stimmen, um bei einem möglichen Referendum die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten kippen zu können. Unterdessen verfügt die dortige Bevölkerung nicht über die gleichen verfassungsmäßigen Rechte wie der Zentralstaat und stellt auch keine Abgeordneten im Parlament, sondern verfügt nur über eine autonome gesetzgebende Versammlung mit faktisch bloß konsultativer Funktion und eine Regierung, die mehrheitlich von Islamabad benannt wird. Auch die Richter und Gerichtspräsidenten werden vom pakistanischen Premier benannt. Als Grenzregion zu China verfügt sie über strategische Bedeutung. Zudem ist das Hunza-Tal die wichtigste Verbindung nach China und der geplante Wirtschaftskorridor CPEC – ein 46 Milliarden Dollar teures Projekt – weckt Begehrlichkeiten unter der ohnehin korrupten Verwaltung. Der faktische Kolonialstatus der Region gewährt ihr dabei Straflosigkeit. Am 4. Januar 2010 blockierte ein gewaltiger Erdrutsch den Fluss Hunza, der sich zu einem See aufstaute, der die Dörfer bedroht. Zwanzig Menschen kamen dabei ums Leben, Felder und Plantagen wurden überschwemmt. Baba Jan, der damals Mitglied der Labour Party Pakistan (LPP)2 war, startete eine landesweite Aufklärungskampagne über die dortige Situation und wies darauf hin, dass ganze Dörfer vom Untergang bedroht seien, wenn nicht umgehend Hilfe seitens der Regierung und humanitärer Stellen geleistet würde. Seine Warnungen verhallten ungehört. Die chinesische Regierung, die 2008 eine ähnliche Situation erfolgreich bewältigt hatte, bot vergeblich ihre Hilfe an. Stattdessen ging der Auftrag an eine Baugesellschaft der pakistanischen Armee, die zusagte, das Geröll umgehend zu beseitigen. Passiert ist seither wenig, sodass sich der Fluss weiter und bis zu einer Länge von 23 km aufstaute und vier Dörfer unter sich begrub. Etwa 1000 Menschen verloren dadurch ihre Heimstatt und 25.000 waren von der Kommunikation mit dem Rest des Landes abgeschnitten, von denen mehrere Hundert noch immer in Lagern hausen. … und Repression Nach dreimonatigen Protesten erhielt die Bevölkerung des Tales eine Zusage der Regierung über finanzielle Entschä48 Inprekorr 5/2016 digung der am meisten betroffenen Familien. Ein Viertel unter ihnen ging dann jedoch leer aus, da das Geld wahrscheinlich von korrupten Beamten unterschlagen wurde. Daraufhin blockierten im August 2011 einige dieser betroffenen Familien die wichtigste Verbindungsstraße zwischen Pakistan und China. Als die Polizei die Ansammlung auflösen wollte, wurden zwei Protestteilnehmer erschossen. Dies führte zu gewaltsamen Aufständen der Bevölkerung im ganzen Tal und zur mehrtägigen Besetzung der Stadt Aliabad. Um die Situation zu beruhigen, versprach die Behörde eine Strafverfolgung der beteiligten Polizisten und finanzielle Entschädigung. Parallel dazu ging sie gegen die „Anstifter“ vor, um die Ereignisse totzuschweigen. Mehrere von ihnen wurden verhaftet und unter dem Vorwurf des Terrorismus ins Gefängnis geworfen und gefoltert – darunter Baba Jan. Unterdessen verliefen die Ermittlungen gegen die am Tod der beiden Demonstranten verantwortlichen Polizisten im Sande. Im Gefängnis setzte sich Baba Jan für bessere Haftbedingungen und die Aufhebung der administrativ verordneten Trennung zwischen schiitischen und sunnitischen Häftlingen ein und überzeugte sie, gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen. Die Gefängnisleitung isolierte daraufhin Baba Jan und vier weitere Genossen und folterte sie. Infolge einer weltweiten Solidaritätskampagne, an der sich Intellektuelle wie Noam Chomsky und Tariq Ali beteiligten, wurde Baba Jan im Oktober 2012 schließlich freigelassen, wohingegen andere Genossen weiter in Haft blieben. Draußen nahm Baba Jan, inzwischen Leitungsmitglied der neu gebildeten AWP, wieder den Kampf für die Rechte der Bevölkerung von Gilgit-Baltistan auf und mobilisierte gegen Preiserhöhungen für Getreide und gegen die Privatisierung der Bodenschätze und deren Verkauf an chinesische Investoren. Die korrupte Verwaltung schlug zurück: Im September 2014 wurden Baba Jan und elf weitere Genossen wegen dreierlei Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Aufstand in Aliabad zu 71 Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei ließ das Gericht die Polizeimorde, die zu dem Aufstand geführt hatten, völlig außer Acht. Andere Angeklagte, die der PML-N angehörten, wurden freigesprochen. Baba Jan, der sich noch auf freiem Fuß befand, stellte sich den Behörden und ist seither inhaftiert. Im April 2015 hob ein anderes Gericht zwei der drei Anschuldigungen gegen Baba Jan auf. Im Mai 2015 kündigte dieser seine Kandidatur für die gesetzgebende PA K I S TA N Versammlung von Gilgit-Baltistan auf der Liste der AWP an. Dies stieß auf eine überwältigende Resonanz unter der Bevölkerung im Tal: Tausende Anhänger gingen auf die Straßen und schwenkten die Fahnen der AWP, darunter viele Frauen – ein Novum in dieser patriarchalischen Region, in der Frauen von der Politik ferngehalten werden und kaum wählen dürfen. Finanziert wurde die Wahlkampagne allein aus den Mitteln der Anhänger, wohingegen sein Rivale, Mir Ghazanfar Ali, ein Vertreter der herrschenden Partei und Mitglied der ehemaligen Königsfamilie, die die Region seit fast 1000 Jahren unter der Knute hält, aus dem Vermögen schöpfen konnte und die Unterstützung der Medien genoss. Am Ende siegte dieser zwar, aber Baba Jan erreichte mit einem Drittel der Stimmen den zweiten Platz und lag damit vor den Kandidaten der traditionell herrschenden Parteien PPP und PTI. Nachdem Mir Ghazanfar Ali im April 2016 zum Gouverneur des Territoriums ernannt worden war, wurden Nachwahlen für den vakanten Parlamentssitz fällig. Gegen den Willen der Bürokratie ließ die Wahlkommission Baba Jans Kandidatur zu. Dass die Umfragen ihn an erster Stelle sahen, ließ das Establishment nicht ruhen: Die Wahlen wurden verschoben und Baba Jan in dem eingangs erwähnten Prozess verurteilt. Der Fall Baba Jan wirft ein Schlaglicht auf die neokolonialen und repressiven Herrschaftsverhältnisse in dieser Region. Aber trotz aller Brutalität gegen die Opposition wird sich die mit deren Hilfe dort entstandene Arbeiterbewegung nicht mundtot machen lassen. Die AWP hat im gesamten Land eine Massenkampagne ausgerufen, um die sofortige Freilassung der Verurteilten und die Aufklärung des tatsächlichen Hergangs der damaligen Ereignisse zu fordern. Dafür bedarf es auch einer internationalen Solidarität, denn nur eine weltweite Kampagne wird die pakistanische Regierung unter Druck setzen und zur Achtung der Menschenrechte zwingen können. Leo Trotzki Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931–1939 512 Seiten, gebunden Mit einem Beitrag von Reiner Tosstorff: „Die POUM – Achse einer neuen Internationale?“ Sub.-Preis bis 31.12.2016: 24,80 € ab 1. Januar 2017: 29,80 € ISBN 978-3-89 900-149-5 erscheint Juni 2016 Gekürzte Übersetzung: MiWe 1 http://www.humanrights.asia/news/urgent-appeals/ AHRC-UAU-012-2016 2 Die LPP war damals pakistanische Sektion der IV. Internationale und vereinigte sich später mit zwei weiteren Organisationen zur Awami Workers Party (AWP). Freiheit für Baba Jan! Internationale Solidarität gefordert! Aufruf auf Seite 68 Inprekorr 5/2016 49 PHILIPPINEN DER NEUE „STARKE MANN“ DER PHILIPPINEN Rodrigo Dutertes autoritärer Neo-Liberalismus ist keine Antwort auf die Armut und den Machtmissbrauch auf den Philippinen. Der „starke Mann“ setzt vor allem auf Repression, nicht nur gegen angebliche oder tatsächliche „Drogendealer“. Alex de Jong Rodrigo Dutertes Wahl zum philippinischen Präsidenten machte weltweit Schlagzeilen. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten. Beschrieben als „Außenseiter“ und „Eigenbrötler“, ist Duterte ein charismatisches Rätsel. Er ist bekannt für seine mit vulgären Ausdrücken gespickten Reden, seine frauenfeindlichen Scherze und verspricht, der Polizei bei der Ermordung von Verdächtigen freie Hand zu lassen. Aber er bezeichnet sich auch als Sozialisten und als ersten linken Präsidenten der Philippinen. Was bedeutet sein Erfolg? Hat sein Aufstieg irgendetwas mit dem Wandel zu tun, den er verspricht? Und was bedeutet das für die philippinische Linke? Oligarchie auf den Philippinen Um Dutertes Erfolg zu verstehen, müssen wir sein Selbstbildnis als Führer eines Volksaufstandes beiseitelassen und stattdessen ihn in den Kontext der philippinischen Ökonomie und Politik stellen. Die philippinische Wirtschaft stützt sich weitgehend auf Pachtverträge (Grundrente) und die relative Schwäche des Staates. Die unterentwickelte industrielle Basis der Philippinen und der verarmte landwirtschaftliche Sektor haben zur Folge, dass der Zins die größte Quelle von Reichtum ist. Kapitalisten konkurrieren untereinander um Einfluss auf den Staatsapparat oder übernehmen gar Teile von ihm, 50 Inprekorr 5/2016 um Märkte zu kontrollieren und Zugang zu Ressourcen zu erhalten. Zusammengenommen führen die Suche nach Zins und die Konkurrenz über die Kontrolle des Staates zu einer strukturellen Korruption, die ihrerseits institutionalisierte Straflosigkeit hervorbringt. Der philippinische Kapitalismus wird von einer herrschenden Klasse kontrolliert, die nach der Beschreibung von Alfred W. McCoy eine „Oligarchie“ ist. Diese besteht aus einer begrenzten Zahl von Familien – zusammengehalten durch Blutsbande und Heirat –, die die „politische Macht mit ökonomischem Besitz kombinieren, um die Geschicke der Nation zu lenken“. Eine kleine Anzahl dieser Familien, die mit Landwirtschaft anfingen, dominieren die philippinische Oligarchie seit kolonialer Zeit. Als Spanien Manila in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Handel öffnete, entstand ein kapitalistischer landwirtschaftlicher Sektor, der auf die internationalen Märkte ausgerichtet war. Spanien versuchte eine zentrale Bürokratie aufzubauen, um die philippinischen Eliten zu kontrollieren. Aber dies scheiterte kläglich und provozierte eine Rebellion, die erst mit der Machtübernahme durch die Vereinigten Staaten endete. Die Vereinigten Staaten führten ein gewisses Maß an lokaler Autonomie für die Regionen des Landes und Wahlen ein, die es den landbesitzenden Eliten ermöglichten, ihre politische Dominanz zu sichern. Laut McCoy schuf die PHILIPPINEN Politik der USA „eine neue Klasse von Provinzpolitikern und eine nationale Gesetzgebung, die es etablierten wie auch aufstrebenden Familien ermöglichten, staatliche Ressourcen zu privatisieren. Klientel-Beziehungen wurden zum Rückgrat der philippinischen Politik: Es gab vertikale Beziehungen zwischen reichen Land besitzenden Politikern, über weniger einflussreiche Familien in städtischen Gebieten bis hinunter zu den Dörfern. Politische Parteien etablierten sich als Zusammenschlüsse von Oberschichtfamilien und ihrer Klientel, die ihr Zentrum traditionell in Manila hatten. Die Marcos-Diktatur störte zunächst dieses Arrangement. Die Vereinigten Staaten unterstützten aber Marcos, weil sie davon ausgingen, dass ein starker zentralisierter Staat weniger nationalistische Bestrebungen gegen die US-Hegemonie entwickeln werde und dafür sorgen könne, dass die Philippinen ein stabiler Stützpfeiler des US-Imperialismus in SüdostAsien blieben. Aber dieser Versuch einer passiven Revolution schlug wegen der räuberischen Natur der herrschenden Clique großenteils fehl: Sie „privatisierte“ den philippinischen Staat in beispielloser Weise und brachten dabei die Bevölkerung noch mehr gegen sich auf. Nachdem Marcos 1986 gestürzt worden war, kehrten die Philippinen zu der oben beschriebenen „oligarchischen Demokratie“ zurück, allerdings mit einigen wichtigen Unterschieden. Das Marcos-Intermezzo hat das vorher existierende Zweiparteiensystem aufgebrochen und neue Akteure drängten sich in den Vordergrund. Eine ganze Reihe vor Parteien florierte. Aber wie zuvor kämpften diese Parteien nicht für kohärente politische Plattformen, sondern organisierten sie klientelistische Netzwerke zwischen Schutzherren und jeweiliger Klientel. Seit den 90er Jahren wurde dieses System nicht grundsätzlich bedroht, aber die Regierungen, die es hervorbrachte, waren sehr oft instabil, wurden von unten herausgefordert und waren zerrissen durch interne Streitigkeiten. Inzwischen haben eine wachsende Bevölkerung und der Staatsapparat die traditionellen Klientelbeziehungen stark verändert. Zunehmender Gebrauch von Gewalt und zerstreutere Formen von Klientelismus sind an die Stelle der eher paternalistischen Klientelbeziehungen getreten. Die Grenze zwischen dem persönlichen Eigentum der Politiker und öffentlichen Geldern ist dünn, da staatliche Stellen und Aufträge zu verteilen oder Stimmen zu kaufen sind. Je weiter von Manila entfernt, desto unverhohlener werden diese Praktiken. All das verteuert erfolgreiche Wahlkampagnen außerordentlich: Die Verbindungen eines Politikers mit Industriemagnaten und reichen Familien zählen mehr als der Inhalt von Plattformen. Die König machenden Familien mögen Hazendero-Wurzeln haben, aber sie haben inzwischen Kapital im Finanzwesen, dem Bergbau, dem Bauwesen und in anderen Teilen der Wirtschaft investiert. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die philippinischen Wahlgesetze persönliche oder Firmenspenden nicht begrenzen und Politiker ihre Unterstützer erst nach der Wahl offenlegen müssen. Die Volksmassen werden bei den Kampagnenspektakeln nicht vergessen: Politiker erreichen sie durch offenen Stimmenkauf, Geschenke, Bestechung und spektakuläre Kampagnenauftritte ohne viel inhaltliche Substanz. Versprechen werden fast nie gehalten: In diesem Wahlkampf sagte jeder Kandidat, dass er Vertragsarbeit abschaffen will. Allerdings sind die Chancen gering, dass sie dermaßen gegen die Interessen der Oligarchie vorgehen werden. Der bescheidene Diener Dutertes politische Karriere war erfolgreich aufgrund des oligarchischen Systems. Er ist mit den Familien Durano und Almendras verwandt, aus denen seit Jahrzehnten prominente Politiker in seiner Geburtsregion Cebu entstammen. Die Dutertes selbst, so schreibt Michael Cullinane in „Anarchy of Families“ (Familienanarchie), waren „seit Langem eine bedeutende Politikerfamilie in Danao“, einer Stadt in der Provinz Cebu. Dutertes Vater, Vicente G. Duterte, war Anwalt und Bürgermeister von Danao und als Nachfolger von Alejandro Almendras von 1959 bis 1965 Gouverneur der Danao-Provinz. Hier baute sein Sohn seine politische Basis auf. Nach der „People Power Revolution“ (Volksmachtrevolution) im Jahr 1986 wurde Rodrigo Duterte Vize-Bürgermeister von Davao City. Zwei Jahre später kandidierte er erfolgreich für das Bürgermeisteramt, eine Position, die er 10 Jahre lang hielt. Almendras, inzwischen ein reifer Politiker und Holzmagnat, sowie frühere Kumpels von Marcos, wie Manuel Garcia, Elias Lopez und Ricardo Limso, unterstützten Duterte bei seinen ersten Schritten in die Politik. Als Duterte die Begrenzung von drei Amtsperioden als Bürgermeister erreichte, wurde er Mitglied des Repräsentantenhauses. Drei Jahre später wurde er wieder Bürgermeister von Davao City. 2010 erreichte er wieder die Begrenzung; also wurde er Vize-Bürgermeister. Er tauschte die Position mit seiner Tochter, Sara Duterte-Carpio, die an seiner Stelle Bürgermeisterin wurde. In Davao City kultivierte Duterte sein Bild als bescheidener Diener des Volkes. Aber die Enthüllungen über seinen persönlichen Reichtum in der Vorwahl-Periode sollten nieInprekorr 5/2016 51 PHILIPPINEN manden überraschen. Als herauskam, dass Duterte ein nicht angegebenes Bankkonto in Höhe von 4 Millionen US-$ hatte, ging er einfach darüber hinweg und sagte, dass dies Geschenke von „reichen Freunden“ seien. Sein angegebener Reichtum nahm bemerkenswert zu: In den letzten 19 Jahren wuchs er mit einer jährlichen Rate von 132,6 Prozent. Wir sollten Duterte als einen überdurchschnittlichen „Mann fürs Grobe“ bewerten, eine nicht ungewöhnliche Figur in der philippinischen Politik. Der Politikwissenschaftler Patricio Abinales beschreibt in seiner Arbeit über Mindanao den „Mann fürs Grobe“ als regionalen Repräsentanten von in Manila basierten mächtigeren Akteuren. Solche Menschen sammeln Macht an durch Klientel-Netzwerke sowie mittels Kontrolle über wichtige Unternehmen und „am Wichtigsten von allem, mittels eines Monopols auf Nötigung und nackter Gewalt“. Nach dieser Analyse ist Rodrigo Duterte in Manila ein „Außenseiter“, der Repräsentant einer weniger mächtigen, provinzielleren Schicht der philippinischen Elite. Einige seiner Verbündeten, wie der für das Finanzministerium vorgesehene Carlos „Sonny“ Dominguez, gehören ebenfalls zu Clans aus Mindanao oder studierten mit Duterte. Aber nach den Wahlen schlossen sich andere Establishment-Parteien und Überläufer aus der noch amtierenden Regierung schnell Dutertes Koalition an. Sie waren sehr bemüht, ihren Zugriff auf Macht und öffentliche Ressourcen zu behalten. Linkes Geschwätz ignorierend ist das der klarste Weg, um Duterte zu verstehen: Es handelt sich um einen regionalen Boss, der es durch die Wahl zum Präsidenten geschafft hat, einen großen Coup zu landen und einen Teil der traditionellen hochrangigen Elite zur Seite zu drängen. Die bedeutendste Änderung, die seine Wahl verspricht, ist, dass ein Teil der Elite Manilas durch ein anderes, provinzielleres Segment der Oligarchie des Landes ersetzt wird. Geld und Mord Dutertes Lager schaffte es die Wahlen zu gewinnen, in dem es sich die Wut und Unzufriedenheit, die es in den verschiedenen sozialen Klassen gibt, zunutze machte. Ohne seine Basis in Davao City hätte er nicht gewinnen können. Davao City ist mit 1,45 Millionen Menschen auf 2444 Quadratkilometern relativ dünn besiedelt. Es ist ein kommerzielles Zentrum und die bei Weitem wichtigste Stadt auf Mindanao, der zweitgrößten Insel des philippinischen Archipels. Mindanaos Wirtschaft ist hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt und befindet sich an der Peripherie des philippinischen sozialen und politischen Lebens. Davao City 52 Inprekorr 5/2016 wird jetzt als Beispiel für „gute Regierung“ gepriesen, aber Mitte der 1980er Jahre war sie ein Schlachtfeld. Die Kommunistische Partei der Philippinen (CPP) und ihr bewaffneter Flügel, die New People’s Army (NPA – Neue Volksarmee) waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die NPA testete in Davao City städtische Kriegsführungstaktiken, um Methoden zu entwickeln, ihren ländlichen GuerillaKrieg in die Städte zu bringen. Aber als Duterte Bürgermeister wurde, war der CPPEinfluss in Davao City kollabiert. Die Regierung nutzte eine anti-kommunistische Miliz, Alsa Masa (Sich erhebende Massen), die sich zusammensetzte aus früheren Soldaten und Polizisten, örtlichen Gangstern, Überläufern der NPA und unterstützt von Militärkommandeuren und örtlichen Geschäftsleuten, um sie fernzuhalten. Sie schafften es, sich nicht nur die Untergrund-Linke und die Guerilla loszuwerden, sondern auch die legalen, offen arbeitenden linken Gruppen. Alsa Masa war hauptsächlich in der Amtszeit von Dutertes Vorgänger aktiv, aber laut einem Bericht von Erik Guyot vom Institute of Current World Affairs von 1988 unterstützte Duterte die anti-kommunistischen Milizen. Er gab ihnen mutmaßlich Geld und erklärte: „Der Friede und die Ordnung haben sich mit dem Auftauchen von Alsa Masas bedeutend verbessert“. Heutzutage wird Davao City als die „sicherste Stadt in Südostasien“ bezeichnet und Dutertes angeblicher Erfolg bei der Bekämpfung von Verbrechen hatte in seinem Präsidentschaftswahlkampf einen zentralen Stellenwert. Aber seine „harte Haltung gegen Verbrechen“ ist eine beschönigende Beschreibung: Während seiner Zeit als Bürgermeister ermordete eine Todesschwadron, bekannt unter dem Spitznamen „Davao Death Squad“ (Davao Todesschwadron) oder DDS , Hunderte von Menschen und wurde zum festen Bestandteil der Stadt. Wie Alsa Masa besteht die DDS aus früheren NPAKämpfern und örtlichen Kriminellen, die unter dem Schutz und mit der Kooperation der örtlichen Autoritäten handelt. Laut einem Bericht von Human Rights Watch „sagen örtliche Aktivisten, dass die Morde in Davao City an angeblichen Drogenhändlern, Kleinkriminellen und Straßenkindern durch die Todesschwadron irgendwann Mitte der 1990er Jahre begann.“ Der Bericht zitiert die Coalition Against Summary Execution (CASE - Bündnis gegen kurzen Prozess) und das Tambayan Center for the Care of Abused Children (Tambayan – Zentrum für die Betreuung misshandelter Kinder), die behaupten, dass die Zahl von Morden durch Todesschwadronen in Davao City in der zweiten Hälfte der Jahre 2000 stark PHILIPPINEN angestiegen ist – anscheinend als Antwort auf die steigende Kriminalitätsrate infolge des Wachstums der Stadt. CASE dokumentiert 814 Morde durch Todesschwadronen in Davao City in der Zeit zwischen 1998 und Anfang 2009. Die Opfer waren städtische Arme, meist der Straßenkleinkriminalität verdächtig, wie Drogengebrauch, Kleinhandel mit Drogen oder Handy-Diebstahl. Duterte hat die Existenz der DDS bestritten, aber er machte klar, dass er die außergerichtliche Ermordung von Menschen unterstützt, die im Verdacht krimineller Handlungen stehen. Er hat sogar mit der Zahl von Leuten geprahlt, die er angeblich selbst getötet hat. Die Morde waren nicht unpopulär. Viele sehen in ihnen eine praktische Antwort auf ein ineffektives Justizsystem und korrupte Strafverfolgungsbehörden. Das glauben generell viele auf der philippinischen Rechten, die, als „Lösung“ für Verbrechen, polizeiliche Gewalttätigkeit einschließlich summarischer Hinrichtungen unterstützen. Über Davao hinaus genießt Duterte nationale Popularität als „Verbrechensbekämpfer“. Viele Filipinos, die der Arbeiterklasse angehören, glauben, dass das Verbrechen außer Kontrolle gerät; ein Eindruck der durch den Fokus der Medien auf sensationelle, besonders grauenvolle Fälle genährt wird. Aber nach einer Umfrage der Social Weather Stations (Soziale Wetterstationen) kommen Dutertes WählerInnen überproportional aus den reicheren Schichten der Bevölkerung, angezogen von seinem Versprechen, die Straßenkriminalität zu beseitigen. Sie sind willens, wachsende staatliche Gewalt zu akzeptieren und ignorieren die Tatsache, dass Davao City›s Sicherheit überwiegend fiktional ist – basierend auf manipulierten Statistiken und ohne Berücksichtigung der verletzlichsten EinwohnerInnen der Stadt. Sie hoffen, dass Duterte seine berichteten Erfolge auf nationaler Ebene wiederholen wird. Vielen seiner Bewunderer erscheint Duterte als patriarchalische Figur, die ihre Untertanen beschützt, aber auch bestraft. Sein Ruf als „Mann fürs Grobe“ zieht diejenigen Konservativen an, die glauben, dass das einzig Falsche an den bestehenden Regeln ist, dass sie nicht durchgesetzt werden. Seine Unterstützer beklagen den „Mangel der Filipinos an Disziplin“ und erwarten von ihm, dass er der Bevölkerung Respekt für Ordnung aufnötigt. Seine Vorschläge, eine landesweite Ausgangssperre zu verhängen, das Rauchen auf der Straße zu verbieten und den Verkauf von Alkoholika einzuschränken, gehen alle in diese Richtung. Die Tatsache, dass so viele reiche Filipinos Duterte unterstützen, mag überraschen. Es waren ja die Eliten, die hauptsächlich von der Regierung Aquino profitierten. Er setzte eine Politik durch, die von den wohlhabenderen Teilen der philippinischen Bevölkerung unterstützt wurde, erklärte den Kampf gegen die Korruption zur Priorität und war nach neo-liberalen Maßstäben erfolgreich. Das philippinische Bruttosozialprodukt wuchs während seiner Amtszeit mit Rekordzahlen. Gemessen an lokalen Standards war die Regierung Aquinos außerordentlich stabil und war weder von den Volksklassen noch von anderen Fraktionen der Oligarchie ernsthaften Bedrohungen ausgesetzt. Aber wohlhabende Filipinos unterstützten Dutertes Wahlkampf und lehnten Mar Roxas, den Kandidaten der amtierenden Regierung ab. Wie konnte die Glaubwürdigkeit der Regierung Aquinos derart in die Brüche gehen, dass Duterte die Wahlen mühelos gewinnen konnte? Eine der Antworten ist, dass Aquinos relative Erfolge Ungeduld erzeugten, die sich verstärkte, als er zunehmend als ineffektiver Führer angesehen wurde. Das heißt nicht, dass die Volksklassen Duterte nicht unterstützten. Der philippinische Soziologe und politische Aktivist Walden Bello bezeichnet Dutertes „Schimpfen auf Korruption und Armut, seine offene Verachtung für die Reichen – die er conos (Fotzen) nennt – und vor allem, dass er „als einer von uns“ daherkommt, als Magnet für ArbeiterInnen, die städtischen Armen, Bauern und Bäuerinnen und die unteren Mittelklassen“. Die Erfolge der Regierung Aquinos haben hauptsächlich den Wohlhabenden genutzt, und die Regierung erschien als arrogant und von gestern, als sie die Kritik der Volksklassen ignorierte. Roxas hatte ähnliche Schwächen. Als Nachkomme einer der angesehensten Familien des Landes (er ist der Enkel von Manuel Roxas, erster Präsident der unabhängigen philippinischen Republik) war er zu sehr mit der Regierung verbunden und erschien zu sehr als Karriere-Politiker und privilegierter Sohn der hohen Eliten, als dass er auf ein unzufriedenes Wahlvolk anziehend wirken konnte. In einer Debatte mit Roxas spielte Duterte seine „normaler Typ“-Personalität aus, in dem er sich über seinen Gegner lustig machte. Er sagte, dass er den Konflikt zwischen den Philippinen und China über Teile des Südchinesischen Meeres (oder des Westphilippinischen Meeres) beenden würde, in dem er persönlich eine philippinische Flagge auf den strittigen Atollen hissen werde. Als er die überraschte Reaktion seines Gegners sah, fügte er hinzu, dass er mit einem Jetski dorthin kommen würde. Dieses Außenseiterflair hat ihm immer gut getan. Die Unterstützung von Duterte ist besonders in seiner Heimatregion auf Mindanao sehr groß, weil seine Vorschläge direkt die Beschwerden der Menschen gegenüber Manila Inprekorr 5/2016 53 PHILIPPINEN ansprechen und ein Ende der seit Jahrzehnten andauernden Unruhen zu versprechen scheinen. Seine Vorschläge für ein mehr dezentralisiertes und föderales Regierungssystem sprechen direkt diejenigen an, die sich von einem, wie sie es nennen „imperialen Manila“ vernachlässigt und ausgebeutet fühlen. Darüber hinaus unterstützt er Autonomie für muslimische Filipinos. Die muslimischen Rebellen auf Mindanao haben sich schon lange von ihrem ursprünglichen Ziel einer Abspaltung verabschiedet und fordern jetzt Autonomie. Dutertes Gegnerschaft gegen militärische Operationen gegen sie zeigt, dass er ihren Beschwerden mehr Sympathien entgegenbringt als die traditionellen Oligarchen in Manila. Schlussendlich verspricht er, die Friedensgespräche mit der CPP wieder aufzunehmen. Die NPA-Aktivität konzentriert sich großenteils in Mindanao und nach Jahrzehnten des „bewaffneten Kampfes“ erkennen viele EinwohnerInnen, dass die Regierung den Aufstand nicht einfach durch noch mehr Soldaten aus der Welt schaffen kann. Aber die Mitglieder der hohen Elite Manilas - die den maoistischen Aufstand als Werk übler Ideologen sehen, die das dumme Bauernvolk manipulieren - glauben immer noch, dass der „gottlose Kommunismus“ zerschlagen werden muss. Die Leute glauben, dass Duterte mit den Maoisten Frieden schließen kann, weil er in den 1980er Jahren gute persönliche Beziehungen mit ihnen entwickelte. Trotz seiner Verbindungen zu früheren Kumpanen von Marcos waren seine politischen Verbündeten damals, unter anderen, Leoncio „Jun“ Evasco Jr, ein früherer CPP-Führer und Erasto „Nonoy“ Librado, Generalsekretär von Kilusang Mayo UnoMindanao, der mit dem „national-demokratischen“ Milieu verbundenen Gewerkschaftsbewegung. Er entwickelte eine „Leben-und-Leben-lassen“-Beziehung mit den Guerillas, in dem er militärische Operationen gegen NPA-Operationen in den Nachbar-Regionen von Davao nicht unterstützte. Die Kritik der legalen national-demokratischen Organisationen an Duterte waren relativ weich; sie betrachteten ihn eher als Verbündeten. Ein großer Teil der kritischen Forschungen zur DDS stammen nicht von den national-demokratischen Menschenrechtsgruppen, sondern von breiteren links-liberalen Gruppierungen. Duterte schafft die Balance zwischen der extremen Rechten des Landes und den Maoisten. Seit 2001 hat er Parteien des national-demokratischen Blocks unterstützt, während er gleichzeitig seiner Bewunderung für Ferdinand Marcos Ausdruck gab und für dessen Beerdigung auf dem Friedhof für Nationalhelden eintrat. 54 Inprekorr 5/2016 Viele der angeblichen Widersprüche von Duterte machen mehr Sinn, wenn man seinen regionalen Kontext berücksichtigt. Er kann ein philippinischer Nationalist sein und gleichzeitig eine dezentralisierte Regierung befürworten, für muslimische Autonomie eintreten und für Frieden mit der CPP werben. Seine seltsame Kombination von Machismus, Frauenfeindlichkeit und Unterstützung für HomoEhen macht Sinn, wenn man die lange Tradition einer sichtbaren aber streng abgegrenzten und nicht bedrohlich wirkenden Homosexualität in Mindanao berücksichtigt. Mix-und-Match Wahlen Duterte erklärte sich selbst zum Sozialisten und ersten linken Präsidenten der Philippinen – aber es gibt wenig Grund zu glauben, dass das mehr als Demagogie ist. Die Politik unter seiner Präsidentschaft scheint mehr vom Hergebrachten zu sein. Kaum als Wahlsieger bestätigt, machte Duterte schon klar, dass er die Hauptlinien von Aquinos Wirtschaftspolitik beibehalten wolle. Das Kapital hat positiv reagiert: Einige Tage nach den Wahlen berichtete Bloomberg, dass Duterte „die philippinischen Finanzmärkte durch seine Wandlung in einen wirtschaftsfreundlichen Führer neu belebt hat“. Seine ersten wirtschaftspolitischen Stellungnahmen sowie die Personalvorschläge für sein Kabinett (größtenteils Establishment-Personen, von denen viele schon an früheren Regierungen beteiligt waren), wurden vom Finanzgiganten JPMorgan begrüßt, der erklärte, dass „die Finanzmärkte das ausdrückliche Bekenntnis der zukünftigen Regierung zu der bisherigen makro-ökonomischen Politik begrüßen werden“. Tatsächlich scheint Duterte die philippinische Wirtschaft noch mehr als Aquino oder Roxas liberalisieren zu wollen. Er will die verfassungsmäßige Beschränkung ausländischer Eigentümer von philippinischen Firmen aufheben, mehr Sonderwirtschaftszonen einrichten und die Firmenbesteuerung senken. Die Linke, überwiegend nicht in der Lage, auf der Wahlebene, die von Klientelismus und Korruption dominiert ist, Fuß zu fassen, war nicht in der Lage, erfolgreich dagegen zu opponieren. Nach dem Fall der Marcos-Diktatur organisierten die Nationaldemokraten die Partido ng Bayan (Volkspartei), aber nach zwei enttäuschenden Wahlen, „löste sich die Partei selbst auf“. In den folgenden Jahren hat sich die Lage nicht verbessert. 2010 kandidierten 2 bekannte Nationaldemokraten – Satur Ocampo und Liza Maza – für den Senat, aber sie schafften es nicht unter die siegreichen 12 Kandidaten. Maza war Fünfundzwanzigster mit 3,6 Millionen Stimmen, während PHILIPPINEN Ocampo mit 3,3 Millionen Stimmen auf Platz 26 landete. 2016 kam der einzige national-demokratische Kandidat, Neri Colmenares, auf fast 6,5 Millionen Stimmen und damit auf Platz 20, erhielt aber keinen Sitz. Die philippinische Linke hatte bei sogenannten Partei-Listen-Wahlen größere Erfolge. Im Repräsentantenhaus sind 55 Sitze (20 %) für Parteilisten reserviert, gedacht, um die geographisch verstreuten und marginalisierten Gruppen zu repräsentieren, die anderweitig keine Stimme hätten. Filipinos können außer für spezifische Kandidaten noch für eine der Parteilisten stimmen. Die erste Partei-Listen-Wahl fand 1998 statt und die philippinische Linke zog wieder in den Kongress ein. Verschiedene sozialistische und sozial-demokratische Gruppen wie Sanlakas und Akbayan schafften es, Sitze zu gewinnen. Die Nationaldemokraten stiegen 2001 mit der Organisation Bayan Muna (Nation First, Nation Zuerst) wieder in die Wahlpolitik ein. Seit dieser Zeit haben sie andere linke Kräfte in den Partei-Listen-Wahlen überflügelt und haben Listen zugeschnitten auf unterschiedliche Sektoren organisiert. Aber die Linke kämpft auch hier. Die räuberische Elite hat entdeckt, dass das System benutzt werden kann, um Zugriff auf Staatsmittel zu erhalten und haben eigene Parteilisten aufgestellt. Tatsächlich haben einige der bei Wahlen erfolgreichsten Listen wenig mit den marginalisierten Gruppen zu tun, die sie angeblich repräsentieren. Stattdessen werden sie von Geschäftsleuten, früheren hochrangigen Funktionären und Mitgliedern politischer Familien genutzt, um gewählt zu werden. Ein Weg, den die Linke versucht hat, um die Hürden zu überwinden, die die Oligarchie aufgerichtet hat, sind Allianzen mit etablierten bürgerlichen Parteien. Aber diese Allianzen fordern, dass die Linke weitreichende politische Zugeständnisse macht. Das war der Weg, den Akbayan, ursprünglich als Bündnis verschiedener sozialistischer und sozial-demokratischer Gruppen gegründet, gegangen ist. Es war eine der erfolgreicheren linken Wahlformationen. Aber 2010 verbündete sie sich mit Benigno Aquino und seiner Liberal Party (Liberalen Partei). In der Regierungszeit Aquinos näherte sich Akbayan immer mehr der Regierung an und verpflichtete sich, den Regierungskandidaten für 2016 zu unterstützen – egal wer es wäre. Akbayans Allianz scheint sich bezahlt gemacht zu haben, zumindest für Ana Theresia Hontiveros, ihre Kandidatin für den Senat. Nachdem sie ihr linkes Profil abgemildert hatte und von einem liberalen Reformisten fast ununterscheidbar war, schaffte sie es endlich unter die zwölf GewinnerInnen. Aber Akbayan selbst fiel bei den Partei-Listen-Wahlen vom 5. (im Jahr 2013) auf den 13. Platz in den Wahlen. Unzufrieden mit der bedingungslosen Unterstützung seiner Partei für die Regierung und seine Liberal Party trat Akbayans bekanntester Vertreter, Walden Bello, 2015 von seinem Sitz im Kongress zurück. Bello kommentierte das schlechte Abschneiden seiner Partei in diesem Jahr wie folgt: „Ich will kein Salz in die Wunden streuen, aber da ich gefragt worden bin, denke ich, dass der Verlust von über zweihunderttausend Stimmen gegenüber 2013 und der Absturz vom fünften auf den dreizehnten Platz vermutlich der Identifizierung der Partei mit der Liberal Party geschuldet ist …“. Die Ergebnisse der national-demokratischen Bayan Muna waren ebenfalls enttäuschend. Die Partei startete 2001 mit Unterstützung durch die damalige Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo. „Die CPP hatte es offensichtlich geschafft, vom Macapagal-Arroyo Klan Unterstützung zu bekommen, die Bayan Muna dabei half, die größte Anzahl von Stimmen für die Parteiliste und die maximale Anzahl von Sitzen zu erhalten“, schrieb Dominique Caoutte 2004 in seiner damaligen Studie über die CPP. Aber dieses Jahr [2016] fiel Bayan Muna vom dritten auf den vierzehnten Platz. Der national-demokratische Block schließt regelmäßig Bündnisse mit bürgerlichen Politikern auf der Basis schriftlicher politischer Vereinbarungen. Aber niemand erwartet wirklich, dass sich die Politiker daran halten. Was zählt ist die transaktionale Natur der Vereinbarung: Die Nationaldemokraten liefern die Stimmen ihrer UnterstützerInnen im Gegenzug für Kampagnen-Ressourcen und Publizität. Die Allianzen gewinnen Kongress-Sitze, tragen aber wenig zum Aufbau einer unabhängigen sozialistischen Bewegung bei, weil sie die Linke an ihren Senior-Partner binden. Es führte auch zu völlig unerwarteten Allianzen wie 2010, als national-demokratische Kandidaten zusammen mit Ferdinand Roumaldez Marcos Jr. auftraten, dem stolzen Sohn des früheren Diktators, als dieser – übrigens erfolgreich – für einen Senatssitz kandidierte. Aber in diesem Jahr gab es ein interessantes Experiment, das einen anderen Weg vorwärts weisen kann. Nach seinem Verzicht auf den Kongress-Sitz kandidierte Walden Bello als Unabhängiger. Obwohl er sich selbst noch als Mitglied von Akbayan betrachtet, unterstützte die Partei seine Kandidatur nicht. Bello wies das Geld der Oligarchen zurück, lehnte die Unterstützung durch religiöse Führer ab und bildete keine Allianzen mit den etablierten Parteien. Stattdessen baute die Kampagne auf die Unterstützung durch soziale Bewegungen und fortschrittliche Gruppen. Die Anzahl von Stimmen, die Bello erhielt, war klein: gerade über eine Million. Aber Bellos unabhängige Kandidatur und fortschrittliche Plattform kann zum ersten Schritt auf dem Weg zu etwas Größerem werden. Inprekorr 5/2016 55 PHILIPPINEN Wie immer unterstützten die Untergrundstrukturen der National-Demokraten – nämlich die [maoistische] CPP und ihre diplomatische Front, die National Democratic Front of the Philippines (NDFP, National-Demokratische Front der Philippinen) offiziell keinen der Kandidaten und riefen auf zu „Revolution statt Wahlen“. Aber ein prominenter Maoist hatte einige nette Dinge über Duterte zu sagen. Jose Maria Sison, der Gründer der CPP und immer noch der Chef-Ideologe des philippinischen Maoismus, erklärte in Vorwahl-Interviews, dass eine Präsidentschaft Dutertes die beste Option für „nationale Einheit“ sei. Er drückte auch Optimismus aus über die Reformen, die die neue Regierung bringen könne. Zum ersten Mal in einer Präsidentschaftswahl-Kampagne sprachen Sison und Duterte einige Wochen vor der Wahl (über Skype) miteinander. Makabayan, die legale politische Allianz der NationalDemokraten, erklärte ihre Unterstützung für die Präsidentschaftskandidatin Grace Poe. Aber es gibt Medienberichte, nach denen Teile der Bewegung Duterte unterstützten. Peter Tiu Lavina, ein Sprecher Dutertes, kritisierte die national-demokratische Unterstützung für Poe und behauptete, „dass wenigstens ihre Organisationen in Mindanao, die verwurzelter sind, die eigennützige, kurzsichtige und opportunistische Haltung ihrer nationalen höheren Organe nicht teilten“. CPP-Einheiten verschafften Dutertes Ansehen als Friedensstifter einen weiteren Schub, als sie Kriegsgefangene ihm persönlich übergaben, während seine Wahlkampagne auf Hochtouren lief. Duterte behauptet, dass Sison, der seit den Jahrzehnten in den Niederlanden im Exil lebt, sich darauf freut, wieder heimzukommen, wenn die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden. Duterte hat der CPP auch einige Kabinettsposten angeboten, ein Angebot, das Sison als „großherzig“ bezeichnete. Luis Jalandoni von der NDFP sagte, dass der Vorschlag „ein großer Schritt in Richtung Einheit ist und die Ketten aus Unterdrückung und Ausbeutung entfernen wird“. Die NDFP hat sogar angedeutet, dass Duterte der „Hugo Chavez“ der Philippinen sein könne. Aber Dutertes Vorschläge bringen die CPP in eine schwierige Lage. Nach Jahren der Verbindungen zu den CPP-Einheiten auf Mindanao genießt er Sympathien bei ihnen. Wenn die Parteiführung seinem Wunsch nach Unterstützung nicht nachkommt, könnte Duterte versuchen, einen Keil zwischen sie und die Einheiten auf Mindanao zu treiben. Aber wenn die CPP sein Angebot annimmt, gerät sie in Gefahr als Apologet einer bürgerlichen Regierung zu enden. Sisons Vorschlag, dass die vorgeschlagenen Kabinettsposten 56 Inprekorr 5/2016 an qualifizierte „Patrioten“, die nicht notwendigerweise CPP-Mitglieder sind, vergeben werden, würde zu einer gewissen Distanz zwischen Partei und Regierung führen. Dutertes Plan, die Friedensgespräche wieder aufzunehmen, führt in eine ähnliche Klemme. Die CPP hat immer darauf bestanden, dass die bewaffnete Revolution der einzige Weg sei, um die Probleme des Landes zu lösen. Sie behauptet, dass ihre Guerilla-Armee kurz davor ist, den Krieg auf eine neue, höhere Ebene zu eskalieren. Die neue Regierung will jedoch, dass die Maoisten den bewaffneten Kampf aufgeben. Die Maoisten würden an Unterstützung verlieren, sollten sie das Verhandlungsangebot zurückweisen, aber sie brauchen Massenunterstützung, um die Regierung zu bedeutenden Zugeständnissen zu zwingen. Es ist bezeichnend, dass Duterte den National-Demokraten Posten im sozialen Bereich angeboten hat, während die zentralen Bereiche der Staatsmacht wie Finanzen und Militär in den Händen von Mitgliedern des Establishments verbleiben. Es ist vielleicht zu früh zu sagen, welche Art von „Revolution“ Duterte den Philippinen bringen wird. Sicher ist, dass die BürgerInnen sich auf Experimente mit einer drakonischen Recht-und-Ordnung-Politik einstellen müssen. Duterte hat gesagt, dass er die Todesstrafe wieder einführen will – durch Hängen. Seine Vergangenheit in Davao City zeigt, dass er sich um die Rechte von Verdächtigen wenig kümmert. Die ärmsten, verletzlichsten Teile der Gesellschaft werden einen hohen Preis zahlen. Die Polizeigewalt agiert bereits zügellos. Jetzt haben die Polizisten einen Präsidenten, der denkt, dass sie handeln können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Von außen betrachtet mag die Situation trostlos erscheinen. Die Präsidentschaft Dutertes wird die Probleme, die das Land plagen, wie Straflosigkeit, Armut und Ungleichheit nicht lösen. Das kann nur eine starke Linke. Die Philippinen haben schon eine mächtige Linke, aber sie ist verteilt auf eine große Zahl von politischen Gruppen, Bewegungen und sozialen Organisationen. Dieses soziale Gewicht in politische Repräsentation umzusetzen, ist schwierig, wie die letzten Wahlergebnisse zeigten. Aber der Aufbau einer unabhängigen, sozialistischen Linken ist längst überfällig und es gibt viele engagierte AktivistInnen, die das zu einer Realität machen können. Übersetzung: Wolfgang W. Die Internationale 58 REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION IM SPANISCHEN BÜRGERKRIEG Der Spanische Bürgerkrieg wird – selbst in der linken Öffentlichkeit – zumeist als Generalprobe der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Faschismus wahrgenommen. Übersehen wird dabei, dass dabei ein Klassenkrieg geführt wurde. D I E I N T E R N AT I O N A L E Der Spanische Bürgerkrieg wird – selbst in der linken Öffentlichkeit – zumeist als Generalprobe der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Faschismus wahrgenommen. Übersehen wird dabei, dass dabei ein Klassenkrieg geführt wurde, der sich weder in die Logik der verlogenen stalinistischen Volksfronttaktik noch in die der um Nichtintervention bemühten „demokratischen Mächte“ fügte. Anlässlich des 80. Jahrestags des Militärputsches im republikanischen Spanien versuchen wir mit zwei Texten – einem historischen Überblick über die Ereignisse und einer Darstellung des Disputs zwischen der Internationalen Kommunistischen Opposition und der linkssozialistischen POUM – dunkle Seite ein wenig zu erhellen. HISTORISCHES STICHWORT „SPANISCHER BÜRGERKRIEG 1936 BIS 1939“ REINER TOSSTORF I m Jahre 1931 wurde die jahrhundertealte Monarchie in Spanien gestürzt. Seit 1923 war sie mit einer Militärdiktatur unter dem General Miguel Primo de Rivera – sein Sohn José Antonio begründete dann 1933 die faschistische Falange, die zukünftige Staatspartei der Franco-Diktatur – verbunden worden. Die Zurückgebliebenheit des Landes hatte sie nicht beseitigen können. Noch immer war Spanien in weiten Teilen agrarisch geprägt. Auf dem Lande herrschte insbesondere im Süden Großgrundbesitz mit einem die meiste Zeit des Jahres arbeitslosen Landarbeiterproletariat vor. In anderen Teilen des Landes kämpften Pächter und Kleinbauern um bessere Bedingungen. So drängten viele in die Städte und vergrößerten dort das Arbeitslosenheer bei einer katastrophalen Wohnungssituation. In ähnlicher Weise war der Staat „zurückgeblieben“. Wahlen wurden jahrzehntelang systematisch verfälscht, das staatliche Bildungssystem war rudimentär, da noch 58 Inprekorr 5/2016 immer die katholische Kirche im Bildungssektor – wie auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen – einen wichtigen Platz einnahm. Zudem war die Monarchie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von aufkommenden Nationalitätenkonflikten gekennzeichnet. In Katalonien und im Baskenland mit anderen, nichtspanischen Sprachen und Kulturen wie mit eigenständigen historischen Traditionen, die aber zugleich die entwickeltsten Gebiete des Staates darstellten, bildeten sich aus Opposition gegen den von der Madrider Bürokratie betriebenen Zentralismus starke Nationalbewegungen. Und schließlich hatte die Monarchie das Land, nach dem Verlust seiner Kolonien in Amerika und in Asien, in ein neues Kolonialabenteuer in Nordafrika mit der Folge der Eroberung des nördlichen Teils von Marokko geführt. So unfähig, auch nur eines der grundlegenden Probleme zu lösen, hatte die Diktatur Primo de Riveras stattdessen zur Zunahme des gesellschaftlichen Widerstandes D I E I N T E R N AT I O N A L E geführt. Seine mächtigste Kraft bestand aus einer der stärksten Arbeiterbewegungen Europas, in der neben einer Sozialistischen Partei (PSOE) und ihrer Gewerkschaft (UGT) eine breite anarchistisch-syndikalistische Massenbewegung (CNT und FAI) einflussreich war. Das gab es sonst nirgendwo auf der Welt, während die Kommunisten (PCE) seit ihrer Entstehung Anfang der zwanziger Jahre nur eine Randexistenz führten und zugleich stark fraktioniert waren. Neben den nationalistischen Bewegungen im Baskenland und Katalonien mit ihrer kleinbürgerlichbäuerlichen Basis erhielt aber nun auch die republikanische Bewegung in Zentral- und Südspanien großen Zulauf, die die kleinen mittelständischen Schichten repräsentierte. Selbst starke konservativ eingestellte katholische Kreise hatten nun die Monarchie aufgegeben. Doch das Reformwerk der neuen Republik – zunächst dominiert von einem Bündnis der Sozialisten mit den republikanischen Parteien – blieb sehr schnell in Anfängen stecken. Die Agrarreform geriet ins Stocken, da hierfür grundlegend in das Privateigentum am Boden hätte eingegriffen werden müssen, um eine auch nur annähernd gerechte Verteilung des Landes zu erreichen. Die nichtspanischen Nationalitäten drängten nach mehr Eigenständigkeit. Die Katalanen hatten nur eine, wenn auch bescheidene Autonomie in Gestalt einer eigenen Regierung, der „Generalitat“, erreichen können. Dass sie sich damit zufrieden gaben, statt einer zunächst geforderten gleichberechtigten Föderation der Nationalitäten auf der iberischen Halbinsel, lag daran, dass Katalonien das Zentrum der Anarchisten darstellte, von denen sich auch die katalanischen Nationalisten mit ihrer sozialen Basis im Kleinbürgertum bedroht fühlten. Etwas verspätet, ab 1932, ließ auch die Weltwirtschaftskrise ihre Auswirkungen in Spanien verspüren. Die Arbeitslosigkeit stieg. All das führte zu einer Radikalisierung der Arbeiterbewegung. In der Sozialistische Partei bildete sich im Jahre 1933 ein starker linker Flügel, gestützt vor allem auf die Landarbeitergewerkschaft und die Jugendorganisation, der angesichts der Machtübernahme der Nazis in Deutschland das Ende des Reformismus konstatierte und nur noch einen revolutionären Ausweg sah. Das Bündnis von Republikanern und Sozialisten brach auseinander. Bei den Wahlen im November 1933 siegten die Parteien der Rechten, die eine spiegelbildliche Radikalisierung durchmachten, sich allerdings von der Entwicklung in Deutschland und Italien beflügelt sehen mussten und daran gingen, Reformen der Jahre zuvor rückgängig zu machen. Dagegen formierte sich ein Einheitsfrontbündnis der Lin- ken, die Arbeiterallianz (Alianza Obrera), die allerdings von Teilen der Anarchisten und zunächst auch von der KP boykottiert wurde, zu deren maßgeblichen Initiatoren aber die aus der Partei ausgeschlossenen oppositionellen kommunistischen, teilweise trotzkistisch beeinflussten Kräfte gehörten, die dann 1935 die POUM bilden sollten. Als es gegen den Regierungseintritt der ultrarechten katholischen Partei CEDA im Oktober 1934, die eine Art „Klerikalfaschismus“ vertrat, zu einem Aufstand kam, konnte dieser niedergeschlagen werden, da er nicht von allen Kräften der Arbeiterbewegung getragen war und regional zersplittert (v. a. im Norden, in Asturien) stattfand. Doch gelang es der Regierung nicht, den gesellschaftlichen Widerstand insgesamt zu vernichten. Nach einer Reihe von Korruptionsskandalen kam es im Februar 1936 zu Neuwahlen, die einem Wahlbündnis der Linken mit den Republikanern (für das sich später die Bezeichnung Volksfront einbürgerte), bei Unterstützung an den Wahlurnen durch die meisten Anarchisten, die Mehrheit brachte. Doch eingekeilt zwischen ihrer Wählerschaft und deren Willen, diesmal unwiderrufliche Reformen durchzusetzen, und der Entschlossenheit der Rechten, diesmal reinen Tisch zu machen, war die neue republikanische Regierung aktionsunfähig. Fast teilnahmslos sah sie zu, wie die Rechte eine Verschwörung organisierte. Am 17. Juli begann der Militärputsch, zu dessen Anführer schnell der General Francisco Franco, ein Veteran des Kolonialkriegs in Marokko, wurde. Zwar hatten die Putschisten zunächst große Niederlagen in den städtischen Zentren wie Barcelona, Madrid und Valencia erlitten. Ihre Hochburg war „Spanisch-Marokko“ mit seinen Kolonialtruppen. Hier rächte sich, dass Republikaner und Sozialisten nie Interesse an der Beseitigung dieser Kolonialherrschaft gehabt hatten. Doch die für die Republik günstige militärische Ausgangssituation änderte sich schnell: Die Putschisten gewannen in Hitler und Mussolini Bündnispartner, die ihnen umfangreiche Unterstützung an Waffen und sonstigem Kriegsmaterial sowie nicht zuletzt Soldaten zur Verfügung stellten. Besonders berüchtigt sollte die Legion Condor werden, in der die nach Spanien entsandten deutschen Luftwaffeneinheiten zusammengefasst waren. Dort wurden neue Flugzeuge erprobt und die Bombardierung von Städten eingeübt, für die die Vernichtung des baskischen Gernikas am 26. April 1937 eine Generalprobe darstellte. Ohne diese Hilfe hätte Franco nie siegen können. Während die Republik von einer starken politischen Zersplitterung gekennzeichnet war, waren die PutschisInprekorr 5/2016 59 D I E I N T E R N AT I O N A L E ten unter dem Oberbefehl Francos, der sich schnell die verschiedenen zivilen und militärischen Fraktionen der Rechten unterwarf, vereint. Zudem musste die Republik erleben, dass sie von den Westmächten, allen voran von Großbritannien, boykottiert wurde. Nach dem 19. Juli hatte sich auf ihrem Gebiet als Antwort auf den Putsch und darauf, dass in seinem Gefolge der Staatsapparat auseinandergebrochen war, eine soziale Revolution entwickelt. Industrie und Großgrundbesitz wurden von Gewerkschaften und Arbeiterkomitees übernommen, ein Prozess der Kollektivierung von unten. Anstelle der auseinandergefallenen Armee entstanden Arbeitermilizen. In dieser Situation zogen es die Westmächte, allen voran das um seine Investitionen in Spanien fürchtende konservativ regierte Großbritannien, aber in dessen Gefolge auch die französische Volksfrontregierung, vor, eine offen mit Nazi-Deutschland sympathisierende Herrschaft in Kauf zu nehmen. Sie erfanden dafür die Formel der „Nicht-Intervention“, ein internationales Abkommen, das jedwede Unterstützung von außen an eine der beiden Bürgerkriegsseiten, dabei Republik und Putschisten auf eine Ebene stellend, unterbinden und dadurch schnell ein Ende des Konflikts herbeiführen sollte. Doch weder Hitler noch Mussolini dachten auch nur für einen Moment, sich an das Abkommen zu halten, das sie bereitwillig unterschrieben hatten. Auch die Sowjetunion hatte sich in den ersten entscheidenden Wochen dazu bekannt, musste aber im September dessen Unterlaufen durch die faschistischen Mächte konstatieren und begann nun ihrerseits mit Unterstützungsmaßnahmen. So fand die Republik praktisch nur Hilfe bei ihr, doch zu Stalins politischen Bedingungen, die der Republik nicht den Sieg erbringen sollten. Allerdings im Wissen um die internationale Bedeutung dieses Kampfes waren bereits sofort nach Bekanntwerden des Putsches viele Freiwillige nach Spanien, zunächst ganz unorganisiert vor allem aus dem Nachbarland Frankreich, geeilt, darunter viele Flüchtlinge aus Deutschland und Italien. Oft wandten sie sich, die Grenze zu Katalonien überschreitend und auch aus politischer Sympathie, direkt an die in diesem Teil Spaniens wirkenden Kräfte der Anarchisten oder der POUM. Erst später, im September, organisierte dann auch die Kommunistische Internationale die zu einem mythischen Begriff gewordenen Internationalen Brigaden, die zwar die Mehrheit der internationalen Freiwilligen, aber eben nicht alle umfassen sollten. Im Sommer 1936 gelang es den Putschisten dank der ihnen zugekommenen Unterstützung, ihre verschiedenen Gebiete im Norden und im Süden des Landes zusammenzuschließen. Doch ihre Hoffnung, dann im November 60 Inprekorr 5/2016 die Hauptstadt zu erobern, scheiterte am Widerstand der Madrider Bevölkerung, wobei es auch zum erstmaligen Einsatz der Internationalen Brigaden kam. Bereits im September war es zur Bildung einer Volksfrontregierung unter dem linken Sozialisten Largo Caballero gekommen, der ab November auch die Anarchisten angehörten. Sie nahm die Zentralisierung des fragmentierten republikanischen Staats in Angriff und baute vor allem ein einheitliches Heer wieder auf. Dafür kam die Hilfe praktisch ausschließlich von der Sowjetunion als Versorger der Republik mit Waffen und Militärberatern. Doch all dies geschah auf Kosten der sozialen Revolution und sollte dadurch bald zu neuen politischen Spaltungen führen, da sich dadurch die Republik mit einem wesentlichen Teils ihrer sozialen Basis überwarf. Dies galt vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, für Katalonien, dem Gebiet mit der stärksten Arbeiterbewegung. Im Mai 1937 kam es in Barcelona zu bewaffneten Kämpfen, bei denen die Anarchisten und die POUM eine Niederlage erlitten. Eine neue Regierung unter dem rechten Sozialisten Juan Negrín, unterstützt von Teilen der Sozialisten, den Kommunisten und den Republikanern, wollte nun „Ordnung“ schaffen in der Hoffnung, daraufhin endlich die politische Bestätigung und die Hilfe der Westmächte zu erhalten. Eine Hoffnung, die nichts als trügen sollte. Doch gelangen der Republik zunächst einige militärische Erfolge: Schon im März 1937 war ein italienisches Expeditionskorps in Guadalajara geschlagen worden. Nach zahlreichen kleineren Rückschlägen vor allem in Norden (vom Baskenland bis Asturien), den die Republik verlor, war im Winter 1937/38 ein Überraschungsangriff auf die Stadt Teruel im Süden Aragóns erfolgreich. Es stellte sich aber als unmöglich heraus, daraus eine richtige Gegenoffensive zu entwickeln. Im Gegenteil, den Soldaten Francos gelang es bald, Teruel zurückzuerobern und von dort bis ans Mittelmeer vorzustoßen. Die Republik wurde geteilt, die Mitte und Teile des Südens von Madrid bis Valencia wurden von Katalonien abgetrennt. Ein erneuter Angriff im Sommer 1938, die Ebro-Offensive, bei der es den Republikanern gelang, diesen Fluss im Süden Kataloniens in einem Überraschungsangriff zu überqueren, blieb angesichts der faschistischen Materialüberlegenheit bald stecken. Es gelang der Republik, deren Versorgungslage immer katastrophaler wurde, nicht mehr, all ihre verbliebenen Kräfte zu mobilisieren. Die Westmächte, die ganz mit Nazi-Deutschland beschäftigt waren und sich bemühten, Hitlers Expansionsgelüste auf den Osten zu richten, opferten Ende September 1938 die Tschechoslowakei im Münchner Abkommen. Sie signa- D I E I N T E R N AT I O N A L E lisierten damit auch, dass sie am Schicksal der Republik kein Interesse mehr hatten. Im Januar 1939 wurde Katalonien besetzt. Das Schicksal der Republik war praktisch aussichtslos; im Februar wurde Franco von Frankreich und Großbritannien anerkannt. Ende März 1939 fiel das noch immer von der Republik gehaltene beträchtliche Zentralgebiet mit der Hauptstadt Madrid, nachdem es dort auch noch zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Kommunisten und einem Block der nichtkommunistischen Kräfte gekommen war. Am ersten April konnte Franco seinen Sieg proklamieren, fünf Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es begann eine vom Militär getragene Terrorherrschaft, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch Zehntausenden das Leben kosten sollte. Zwar säuberte Franco das Bild seiner Herrschaft ab 1945, nach der Niederlage Deutschlands und Italiens, von offener faschistischer Symbolik, was aber vor allem eine Fassadenreparatur darstellte. In den fünfziger Jahren verlor die Diktatur zwar langsam ihre Mobilisierungskraft angesichts eines in Spanien einsetzenden ökonomischen Wandels. Doch erst nach dem Tod Francos konnte sie beseitigt werden, deren Erbschaft aber durchaus in manchen Zügen noch die spanische Gesellschaft durchwirkt. Einige Literaturhinweise: Von den ‚klassischen‘ Gesamtdarstellung liegt auf Deutsch Pierre Broué – Émile Témime: Revolution und Krieg in Spanien, Frankfurt/M. 1968, vor, in dem auch ausführlich auf die soziale Revolution in der republikanischen Zone eingegangen wird. Die Darstellung des englischen Historikers Hugh Thomas wurde nur in der ersten Ausgabe übersetzt: Der spanische Bürgerkrieg, Berlin 1962. Die in den siebziger Jahren wesentlich erweiterte Fassung erschien dann nicht mehr auf Deutsch und liegt nur als englisches Taschenbuch vor: The Spanish Civil War, 3. Aufl., Harmondsworth 1977. Eine neuere Darstellung aus Großbritannien liegt dann aber wiederum auf Deutsch vor: Antony Beevor, Der Spanische Bürgerkrieg, München 2006. Geraffte Überblicksdarstellungen liefern Walther L Bernecker, Krieg in Spanien 1936 – 1939, 2. Aufl, Darmstadt 2005, und Carlos Collado Seidel, Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, 2. Aufl., München 2010. Ein Gesamtüberblick der deutschen Freiwilligen auf Seiten der Republik findet sich bei Patrik von Zur Mühlen, Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939, Bonn 1991. Für dieses Buch, das das Gesamtspektrum der deutschen Linken, von Sozialdemokraten über Kommunisten bis hin zu Anarchisten und Linkssozialisten bzw. oppositionellen Kommunisten, konnte der Verfasser allerdings in den achtziger Jahren viele Archive noch nicht auswerten, die seitdem erst zugänglich wurden, vor allem zu den Internationalen Brigaden. Leider gibt es aber auf Deutsch bisher von diesen noch keine Gesamtdarstellung, wie sie der französische Historiker Rémi Skoutelsky unternommen und dabei viele mit ihnen verbundene Mythen richtiggestellt hat (span: Novedad en el frente. Las Brigadas Internacionales en la Guerra Civil, Madrid 2006). Hinweise auf internationale Freiwillige bei den Anarchisten finden sich bei Heleno Saña, Die libertäre Revolution. Die Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg, Hamburg 2000, und zur POUM bei Reiner Tosstorff, Die POUM in der spanischen Revolution, 2., erweiterte Auflage, Köln 2016. Alle diese Bücher geben umfassende Angaben zu der kaum noch zu überblickenden historischen Literatur, die insbesondere seit dem Tod Francos natürlich vor allem auf spanisch erscheint und zu der Jahr um Jahr zahlreiche neue Arbeiten hinzukommen, ohne dass sich nicht doch noch immer wieder überraschende Lücken bei der Erforschung und Darstellung des Bürgerkriegs erweisen. Und all diese historischen Darstellungen werden zudem durch eine Vielzahl an Erlebnisberichten ergänzt, von literarischen Darstellungen erst gar nicht zu reden. Auch auf sie finden sich in der genannten Literatur weiterführende Hinweise. Aus: Werner Abel, Enrico Hilbert: Sie werden nicht durchkommen. Deutsche an der Seite der Spanischen Republik und der sozialistischen Revolution. Bd. 1, Verlag Edition AV, Lich/Hessen 2015 Inprekorr 5/2016 61 D I E I N T E R N AT I O N A L E DIE POUM UND DER TROTZKISMUS REINER TOSSTORF D ie Beziehungen zwischen der POUM (Arbeiterpartei der Marxistischen Einigung) und dem Trotzkismus nahmen einen völlig anderen Verlauf als die Beziehungen zu den unabhängigen revolutionären Gruppierungen. Die Beteiligung am Volksfrontbündnis bei den Wahlen im Februar 1936 hatte zum Bruch Trotzkis und des Internationalen Sekretariats der Internationalen Kommunistischen Liga mit den ehemaligen Mitgliedern der ICE1 geführt. Doch alle Versuche, aus den wenigen übrig gebliebenen Kontakten eine neue trotzkistische Organisation aufzubauen, hatten zu keinem Ergebnis geführt. Die ersten Nachrichten aus Spanien nach dem 19. Juli bestätigten für Trotzki die Verantwortung der Volksfront dafür, dass der Putsch ausbrechen konnte. Dies drückte auch eine Solidaritätserklärung mit dem Kampf der spanischen Arbeiter aus, den die Konferenz der Internationalen Kommunistischen Liga (IKL) verabschiedete; diese Konferenz der IKL, der internationalen trotzkistischen Organisation, fand vom 29. bis 31. Juli 1936 in Genf statt, auf ihr benannte die IKL sich offiziell in „Bewegung für die IV. Internationale“ um. In der Solidaritätserklärung wurde auf die POUM nicht eingegangen, sondern nur in allgemeiner Form die Bildung einer revolutionären Führung gefordert. Erst in einem ursprünglich nicht für die Veröffentlichung gedachten Brief an das Internationale Sekretariat (IS) vom 27. Juli kam Trotzki auf die POUM zurück und griff sie wegen ihrer Unterstützung der Volksfront bei der Parlamentswahl im Februar in scharfen Worten an. Doch 62 Inprekorr 5/2016 kurz darauf änderte er seine Meinung, als er Möglichkeiten für eine Wiederannäherung sah. Dies war eine direkte Folge der ersten Kontakte, die eine Delegation des IS unter Leitung seines Mitglieds Jean Rous 2 in Barcelona mit der POUM hatte und über deren Ergebnisse Trotzki von Rous durch ein Telegramm informiert wurde. Er antwortete mit einem Brief, den er auch Nin 3 zu zeigen bat. Darin erklärte er seine Bereitschaft, nach Katalonien zu kommen, wenn die POUM für ihn die Aufenthaltserlaubnis erreichen würde, und für La Batalla 4zu schreiben. Über die Möglichkeit, mit der POUM auch politisch zusammenzuarbeiten, schrieb er: „Was nun Nin, Andrade5 und die anderen angeht, so wäre es ein Verbrechen, wenn wir uns jetzt in diesem großen Kampf von Erinnerungen an die vergangene Periode leiten ließen. Wenn es auch im Programm und bei den Methoden Meinungsverschiedenheiten gibt, so dürfen doch diese Meinungsverschiedenheiten – selbst nach den gemachten Erfahrungen – keinesfalls eine aufrichtige und dauernde Wiederannäherung ausschließen. Das Weitere wird die Erfahrung bringen.“ Somit schien Trotzki jetzt Möglichkeiten zu sehen, um zu einer Wiederannäherung zu gelangen. Doch erreichte dieser Brief seinen Adressaten nicht. Es waren allerdings andere Dinge, die schließlich die Wiederannäherung verhinderten. Trotzki selbst wurde nur kurz darauf in seinem norwegischen Exil unter Quasi-Internierung gestellt und damit bis zu seiner Übersiedelung nach Mexiko Anfang 1937 jeder Möglichkeit beraubt, zur Entwicklung in Spanien Stellung zu nehmen. Doch mehr D I E I N T E R N AT I O N A L E als das waren es allgemeine politische Probleme, die der Wiederannäherung im Wege standen. Am 5. August waren die Vertreter des Internationalen Sekretariats in Barcelona als erste internationale Delegation überhaupt eingetroffen. Sie trafen dort auf Fosco6 . Durch seine Vermittlung sprachen sie mit dem Exekutivkomitee der POUM. Neben der Mitarbeit Trotzkis an La Batalla und dem Versuch, ihm die Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen, wurden die Entsendung von Freiwilligen und die materielle Unterstützung vereinbart. In diesen ersten Tagen waren die Beziehungen zwischen POUM und den Trotzkisten noch ungetrübt. Es schien sogar großes Interesse bei den ehemaligen ICE-Mitgliedern an einer erneuten Zusammenarbeit zu bestehen. Juan Andrade schrieb später: „Am Anfang unterhielten Nin und ich herzliche Beziehungen zu den Trotzkisten, die wir für die uns nächsten hielten.“ So wurde auf einer Veranstaltung der POUM am 6. August eine Grußadresse der Delegation verlesen, die anschließend in La Batalla wiedergegeben wurde. Inzwischen traf eine Reihe von trotzkistischen Freiwilligen für die POUM-Miliz ein. An der Aragón-Front war in deren Reihen die Internationale Kolonne Lenin gebildet worden, in der sie mit 23 Milizionären eine Mehrheit bildeten. Es konstituierte sich eine Bolschewistisch-Leninistische Gruppe. Am 18. August veröffentlichte La Batalla einen Brief der trotzkistischen Freiwilligen an der Aragón-Front, in dem es u. a. hieß: „Allein die POUM vertritt bei so großer Konfusion der traditionellen Parteien Losungen, die der Situation entsprechen und einen Klasseninhalt haben.“ Doch nur kurz darauf begannen sich die Beziehungen wieder abzukühlen. Verschiedene Ursachen waren dafür maßgebend. Zum einen trafen jetzt auch verstärkt Freiwillige aus dem Bereich des Londoner Büros ein. Ein direkter Ausdruck davon war die Zensur, die Gorkin7 am einzigen Trotzki-Text, den La Batalla veröffentlichte, ausübte und in dem er Trotzkis Kritik an der Unterstützung, die Pivert 8 der Regierung Blum 9 gab, herausstrich. Gorkin begründete dies später mit der Hilfe, die Pivert von seiner Position aus für die POUM gab. Auf jeden Fall führte es zu einer scharfen Reaktion von Rous gegen diese Zensur. Auf der anderen Seite veröffentlichte die Zeitung der französischen Trotzkisten, La lutte ouvrière, plötzlich Trotzkis Brief an das IS vom 27. Juli, in dem die Unterschrift der POUM unter das Wahlabkommen als Ver- brechen Mauríns10 und Nins bezeichnet wurde. Diese Veröffentlichung trug wesentlich zur Verschlechterung der Beziehungen bei, wie Fosco und Vereeken11 berichteten. Doch jenseits der dadurch hervorgerufenen persönlichen Betroffenheit bei den POUM-Mitgliedern ging es dabei natürlich um die politische Bewertung der Taktik der POUM durch Trotzki und die trotzkistische Bewegung, was sich in den folgenden Monaten vor allem mit dem Regierungseintritt12 und schließlich den Mai-Tagen 1937 noch zuspitzte. Zunächst aber gab es innerhalb der in Barcelona befindlichen Trotzkisten einen Konflikt über ihre Haltung zur POUM. Wortführer waren auf der einen Seite Fosco, auf der anderen Rous. Für Fosco hatte die trotzkistische Kritik an der Politik der POUM zwar nicht an Bedeutung verloren. Die POUM bildete aber für ihn in der konkreten Situation den Ansatz für eine revolutionäre Partei. Eine solche könne nicht im Leeren aufgebaut werden, war sein Argument. Er schlug deshalb den Eintritt vor, um ihre politische Entwicklung zu beeinflussen. Für Rous dagegen lief die Taktik der Trotzkisten auf eine ziemlich kurzfristige Spaltung der POUM hinaus. So unterbreitete er den ehemaligen Mitgliedern der ICE im Exekutivkomitee der POUM, Nin, Andrade und Molins13, den Vorschlag, eine Fraktion zu organisieren, was sie entschieden ablehnten. Der Konflikt zwischen Fosco und Rous verschärfte sich dadurch, dass Fosco zu einer Abspaltung von der französischen Sektion um Raymond Molinier14 tendierte. Dies führte schließlich zu seinem Ausschluss, worauf hin er seine eigene Gruppe organisierte, die aber nur aus wenigen Ausländern bestand und eine nur auf Französisch erscheinende Zeitschrift veröffentlichte. Gleichzeitig begann die Kritik an der aktuellen Politik der POUM. Lutte ouvrière veröffentlichte am 15. August einen Brief aus Barcelona (von Rous?), in dem der POUM „bürokratische Halsstarrigkeit einiger zentristischer Führer“ nachgesagt wurde. Eine Woche darauf, am 22. August, erschienen weitere Briefe, in denen insbesondere die Beteiligung der POUM am katalanischen Wirtschaftsrat als einem Instrument der Generalitat15 angegriffen wurde. Damit begann die offene Auseinandersetzung. Als Anfang September ein französischer Trotzkist an der Front fiel, ließ die POUM bei seiner Beerdigung die Fahne der IV. Internationale nicht zu. Den Delegierten des IS und der französischen trotzkistischen Organisation POI wurde der Zugang zu den Lokalen der POUM wegen Organisierung von Fraktionstätigkeit untersagt. Inprekorr 5/2016 63 D I E I N T E R N AT I O N A L E Den entscheidenden Bruchpunkt bildete dann die Beteiligung der POUM an der katalanischen Regierung. Hier war für Trotzki und die IV. Internationale wegen der direkten Teilnahme an einer Volksfrontregierung ein klarer Trennungsstrich zu ziehen. Dies wurde zum zentralen Punkt in den Auseinandersetzungen. Dennoch versuchte die Bolschewistisch-Leninistische Gruppe jetzt, um aus ihrer Isolierung herauszukommen, der POUM als Fraktion beizutreten. Nin antwortete ihnen am 13. November im Auftrage des Exekutivkomitees und lehnte jede Art von fraktioneller Tätigkeit ab. Sie könnten individuell beitreten, müssten sich aber von der „Verleumdungs- und Diffamierungskampagne“ der IV. Internationale distanzieren. Unter diesen Bedingungen war ein Beitritt natürlich nicht möglich. Kurz darauf benannte sich die Gruppe in „Sección bolchevique-leninista de España (IV Internacional) (SBL)“ um, wie Rous erklärte, um sich damit „auf die sofortige Bildung einer neuen Partei gegen die POUM“ zu orientieren. Ab Anfang 1937 gab sie ein hektographiertes Bulletin in mehreren Sprachen heraus. Anfang April 1937 erschien dann die erste Nummer einer Zeitung auf Spanisch unter dem Titel La voz leninista. Zahlenmäßig blieb sie aber unbedeutend. Alle organisatorischen Angaben sprechen von ca. 30 Mitgliedern, verteilt auf Gruppen in Barcelona, an der Front und zumindest zeitweise in Madrid. Der überwiegende Teil der Mitglieder vor allem in der ersten Zeit waren Ausländer. Die führenden Köpfe waren zum einen der deutsche Trotzkist Freund, der unter dem Pseudonym Moulin auftrat.16 Er war zunächst in Madrid gewesen, ging dann aber mit dem Beginn der Repression von dort nach Barcelona. Zum anderen kehrte nach Ausbruch des Bürgerkrieges Grandizo Munis17, ein Mitglied der ICE, der 1935 nach Mexiko gegangen war, wieder zurück und wurde einer der Wortführer der SBL. Es gelang der trotzkistischen Gruppe schließlich sogar, das eine oder andere Mitglied der POUM zu gewinnen, insbesondere in der Madrider Gruppe, die im Rahmen der Partei einen quasi-trotzkistischen Flügel bildete. Während der Mai-Tage, in denen die SBL eine intensive Tätigkeit entfaltete und dabei vor allem den Kontakt mit der anarchistischen Oppositionsgruppe „Amigos de Durruti“ suchte, fiel als einziges Mitglied der Gruppe der Andalusier Julio Cid, der zugleich aktives Mitglied der POUM war. Das Internationale Sekretariat äußerte jedoch Kritik an ihrer politischen Linie. Sie würde sektiererisch auftreten. Unter anderem könne man der POUM keine Be64 Inprekorr 5/2016 dingungen für einen Eintritt stellen, sondern müsse ihn sofort vollziehen, um dort revolutionäre Arbeit durchzuführen. Es entsandte deshalb im Mai Erwin Wolf.18 Dabei war das Verhalten gegenüber der POUM in der Bewegung für die IV. Internationale durchaus nicht unumstritten geblieben. Es entwickelte sich eine POUMnahe Tendenz, die insbesondere von der niederländischen Sektion19 getragen wurde, die über gute Beziehungen zur POUM verfügte und auch die Unterstützung von Victor Serge20 fand. Auf der Sitzung des Internationalen Büros der Bewegung für die IV. Internationale vom 12./13. Januar 1937 in Amsterdam prallten die Gegensätze aufeinander. Die Verteidiger der POUM blieben jedoch in der Minderheit. Im Gefolge dieser und anderer Auseinandersetzungen brachen die Niederländer mit der IV. Internationale. Eine Zwischenposition nahm eine Minderheit in der belgischen Sektion um Georges Vereecken ein. Er teilte zwar bestimmte Kritiken, so z. B. an der Regierungsbeteiligung, warf dem Internationalen Sekretariat aber eine sektiererische Politik mit der Bildung einer eigenständigen Sektion vor. Darüber kam es schließlich auch zu seinem Bruch mit der IV. Internationale. Ähnliche, aber weitaus unbedeutendere Tendenzen gab es auch in anderen Sektionen wie in den USA und in Frankreich. Unstrittig war aber innerhalb der Bewegung für die IV. Internationale der Wunsch, an der geplanten Konferenz in Barcelona teilzunehmen. Von ihr wurde auch ein anderer Verlauf als von dem Brüsseler Kongress erwartet. Eine Resolution des Büros der IV. Internationale drückte aus, dass der Grund dafür in der Organisierung der Konferenz in Barcelona durch die POUM liege. Die vorgesehene Tagesordnung habe einen Inhalt, der näher am Auf bau der IV. Internationale läge. Anfang Januar 1937 antwortete Gorkin im Namen der Leitung der POUM auf einen entsprechenden Brief zunächst einmal ausweichend. Erst in nächster Zeit werde über den Teilnehmerkreis entschieden. Dieses Ausweichen dürfte seinen Grund nicht nur in der heftigen Opposition der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), sondern auch im Widerstand des rechten Flügels der POUM gehabt haben, der sich auf dem ZK im Dezember gezeigt hatte. Die ständige Verschiebung der Konferenz brachte die Frage der Klärung nicht näher, bis sie sich schließlich durch die Repression gegen die POUM im Juni 1937 von selbst erledigte. Ebenfalls völlig selbstverständlich war für die trotzkistischen Organisationen, dass sie sich auch nach Maßgabe ihrer Kräfte gegen die stalinistische Verleumdungskampagne gegen die POUM wandten. D I E I N T E R N AT I O N A L E Die POUM hatte in dieser ganzen Zeit einen klaren Trennungsstrich gegenüber dem Trotzkismus gezogen. Zunächst erfolgte er auf organisatorischer Ebene: vom Verbot des Zutritts zu POUM-Lokalen für Rous und die Delegation Anfang September bis zur Ablehnung des Gesuchs um Beitritt. Anfang Oktober hörte auch Foscos Tätigkeit auf. Eine trotzkistische Fraktionsarbeit sollte nicht geduldet werden. Deshalb überwachte die POUM auch die ausländischen Trotzkisten. Ein ehemaliges Mitglied der SAP, Leutnant in der POUM-Miliz an der Aragón-Front und gleichzeitig Mitglied der JCI ( Juventud Comunista Ibérica, dem Jugendverband der POUM), der zur SBL übergetreten war, wurde aus der JCI ausgeschlossen, was eine Polemik zwischen den jeweiligen Zeitungen auslöste. Politische Abgrenzungen in den Zeitungen der POUM erfolgten erst spät. Sie begannen mit einem Kommentar in La Batalla zu einer Stellungnahme Trotzkis aus seinem mexikanischen Exil, die zunächst unkommentiert abgedruckt worden war und in der er sich u. a. kritisch zur Regierungsbeteiligung der POUM in Katalonien geäußert hatte. Die POUM habe, so antwortete man ihm, die Volksfront nicht unterstützt, sondern sie denunziert. Man sei in die Regierung eingetreten, weil sie eine revolutionäre Regierung mit einem revolutionären Programm gewesen sei. Im Übrigen würde Trotzki den Kampf schon verloren geben. Weitaus umfassender versuchte Kurt Landau 21 kurz nach dem Erscheinen der ersten Nummer von La voz leninista Stellung zu beziehen. Trotzki würde sein Verhalten in der Komintern – speziell 1923 – keiner Selbstkritik unterziehen und die Grundlagen der Sowjetunion idealisieren. Im Augenblick befinde er sich in einer ultralinken Phase, wo er mit Schemata operiere, statt die konkrete Realität zu analysieren wie z. B. bei den Bedingungen für den Regierungseintritt. Er gründe eine Internationale ohne die notwendigen Vorbedingungen. Sein Organisationsverständnis sei das von Lassalle, nicht das von Lenin. „Das sind nur einige der wichtigen Punkte, die uns von Trotzki und dem Trotzkismus trennen. Wir sind weder Trotzkisten noch Antitrotzkisten; wir sind einfach Marxisten, die den Trotzkismus verwerfen.“ Etwas systematischer versuchte sich Gorkin in zwei Artikeln mit dem Thema Trotzkismus zu befassen und kam dabei zu dem Schluss, dass das Sektierertum auf folgendem beruhe: „Die trotzkistische Opposition leidet an einem Entstehungsfehler: nichts anderes zu sein als eine antistalinistische Opposition. Eine negative, sektiereri- sche Opposition. Dieser Negativismus und dieses Sektierertum haben den Trotzkismus zur Unfähigkeit geführt, in der er sich befindet. Trotzki und die Trotzkisten haben das Terrain der Realität verlassen, um in den impotentesten Schematismus zu verfallen.“ Überraschend dabei war, dass sich die ehemaligen Trotzkisten der ICE in der POUM bei dieser Auseinandersetzung zurückhielten. Erst nach den Mai-Tagen antwortete Nin in einem Artikel für Juillet22 zum ersten (und einzigen) Mal und fasste darin seine Argumente zur Verteidigung der POUM-Politik systematisch zusammen. Er analysierte die Machtorgane in der spanischen Revolution und warf den Trotzkisten dabei den Versuch einer schematischen Übertragung der russischen Situation mit Sowjets und Doppelherrschaft vor. In Spanien sei die Situation jedoch vollständig verschieden gewesen. Die Gewerkschaften hätten eine gewaltige Rolle, nämlich die von politischen Organisationen, gespielt. Die Komitees, sowohl die örtlichen wie das Zentralkomitee der Milizen, seien bloße antifaschistische Organismen und keine Doppelherrschaftsorgane gewesen. Deshalb habe es auch keine Doppelherrschaft gegeben und somit habe man auch nicht das ZK der Milizen der Generalitat, der katalanischen Regierung, gegenüberstellen können. Im Weiteren führte er die Position der POUM zur Schaffung von revolutionären Machtorganen aus: Die Losung einer „Konstituierenden Versammlung von Komitees der Arbeiter, Bauern und Soldaten“. In der aktuellen Situation nach den Mai-Tagen seien es jetzt die Komitees zur Verteidigung der Revolution, aus denen revolutionäre Machtorgane entstehen könnten. Dies war der einzige Versuch von POUM-Seite überhaupt, systematisch den Argumenten der Trotzkisten die eigenen gegenüberzustellen, anstatt wie Gorkin und Landau – „sektiererisch, rein negativ, Trotzki als Lassalle“ – psychologisierend zu argumentieren. Es muss hier aber angemerkt werden, dass Nin dabei nicht nur eine fragwürdige Interpretation der Rolle der Komitees in den ersten Monaten lieferte: Warum gab es dann solche Konflikte um sie, wenn sie keine revolutionären Machtorgane waren? Auch äußerte er sich nicht zu den Arbeitermilizen, sondern widersprach damit durchaus seinen eigenen früheren Aussagen, wie z. B. der vom September 1936, als er auf einer Großkundgebung der POUM in Barcelona davon sprach, in Katalonien herrsche schon die Diktatur des Proletariats. Kurz darauf wurde Nin entführt und die gesamte Partei illegalisiert und verfolgt. Damit endeten auch die Inprekorr 5/2016 65 D I E I N T E R N AT I O N A L E letzten Hoffnungen für die POUM, über eine siegreiche Revolution in Spanien den Neuauf bau der revolutionären Arbeiterbewegung entscheidend zu beeinflussen. Eine direkte Auswirkung davon war eine Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen POUM und Trotzkismus. Dieser Beitrag ist auf Vorschlag des Verfassers seinem sehr viel umfangreicheren Essay „Die POUM: Achse einer neuen Internationale?“ entnommen worden, der als Nachwort zu der zweiten deutschsprachigen Ausgabe von Leo Trotzkis Schriften Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931‒1939 (Köln: Neuer ISP Verlag, 2016) veröffentlicht wurde. Hier sind die umfangreichen Fußnoten des Originals mit Nachweisen der zitierten oder erwähnten historischen Quellen entfernt und von der Inprekorr-Redaktion durch Kurzbiographien und Erläuterungen der nicht allgemein bekannten Personen, Periodika und einiger Ereignisse oder Institutionen ersetzt worden. 1 Izquierda Comunista de España (ICE, Linke Kommunisten) Der von den spanischen Bolschewiki-Leninisten unter Führung von Andrés Nin angenommene Name, bevor sie sich mit der Katalanischen Föderation zur POUM vereinigte. 2 Jean Rous (1908–1985), französischer Journalist, Rechtsanwalt und Politiker, trat 1934 der trotzkistischen „Ligue communiste“ bei, stand in den Jahren 1934 bis 1939 im Vertrauen von Leo Trotzki, bei dem er sich in Norwegen auf hielt, reiste im Auftrag des IS nach Spanien, 3 Andrés Nin (1892–1937), katalanischer marxistischer Politiker und Theoretiker, 1919 Sekretär des Nationalkomitees der CNT, wurde 1921 auf einem Plenum der CNT-Leitung in die Delegation gewählt, die zum dritten Kongress der Kommunistischen Internationale und Gründungskongress der Revolutionären Gewerkschafts-Internationale entsandt wurde. Er arbeitete für den Generalrat der RGI, während die CNT 1922 aus ihr austrat, und schloss sich 1926 der Linken Opposition an. Trotzki sowie die Mehrheit der mit seinem Namen verbundenen Bewegung und N. hatten ab 1932 zunehmende Meinungsverschiedenheiten. Nin betrieb 1934/35 die Vereinigung von BOC und ICE, wegen der Abwesenheit von J. Maurín ab Juli 1936 Generalsekretär der POUM. Er wurde von stalinistischen Agenten entführt, gefoltert und im Juni 1937 auf Anordnung von NKWD-General Alexander Orlow, in der Nähe von Madrid ermordet. 4 La Batalla, Tageszeitung der POUM, erschien von August 1936 bis Mai 1937 auf Spanisch in Barcelona. 5 Juan Andrade (1898–1981), spanischer Politiker und Publizist. 1920 Mitbegründer der Spanischen Kommunistischen Partei. Er trat ab 1927 für die Auffassungen der Linken Opposition ein, leitete 1931 bis 1934 die ICE-Zeitung Comunismo. 1935 Mitglied des Zentralkomitees der POUM, ab Juli 1936 im Exekutivkomitee der POUM, nach der Illegalisierung der POUM im Juni 1937 verhaftet und bis 1938 im Gefängnis. Er ging 1939 nach Frankreich ins Exil kehrte, wurde 1940 vom Vichy-Regime verhaftet und 1944 von 66 Inprekorr 5/2016 einem Résistance-Kommando unter Leitung des POUMLeitungsmitglieds Wilebaldo Solano befreit. 6 Fosco – Pseudonym von Nicola Di Bartolomeo (1901–1946), italienischer Trotzkist, war der italienische Delegierte in der Kommission, die Freiwillige auswählte, die in der Miliz der POUM kämpfen wollten. 7 Julián Gorkin (1901–1987), ab 1921 in der kommunistischen Föderation der Levante aktiv. Er trat 1933 dem BOC bei, 1935 Mitglied im ZK der POUM, leitete 1936/37 die La Batalla, nach den Mai-Tagen 1937 verhaftet,. Er arbeitete 1939/40 als Sekretär für das sog. „Londoner Büro“ linkssozialistischer Organisationen und entfernte sich später von der POUM und der Arbeiterbewegung. 8 Marceau Pivert (1895–1958), französischer Linkssozialist. 9 Nach dem Wahlsieg der „Front Populaire“ (Volksfront) aus Sozialisten, Kommunisten und (kleinbürgerlichen) Radikalsozialisten im 1936 und einer Welle von spontanen Streiks wurde eine Regierung der Volksfront mit dem Léon Blum (1872–1950) als Ministerpräsidenten, sie bestand von Juni 1936 bis Juni 1937. Auf Druck der Rechten, der RadikalSozialisten und Großbritanniens nahm sie Abstand von zunächst geplanter Hilfe für die republikanische Regierung im Nachbarland. 10 Joaquim Maurín (1896–1973), katalanischer Publizist und marxistischer Politiker. War zunächst Mitglied der anarchosyndikalistischen CNT, kam über die Solidarität mit der russischen Revolution zur kommunistischen Bewegung. Er brach 1930 mit den Führungen von PCE und Komintern und gründete die Massenorganisation „Bloc Obrer i Camperol“ (BOC), deren Vorsitzende er 1931 wurde, befürwortete 1935 den Zusammenschluss von BOC und ICE zur POUM, galt zusammen mit A. Nin als führender Repräsentant der POUM. 11 Georges Vereeken (1896–1978), belgischer Trotzkist. 12 Andreu Nin war im August/September 1936 Mitglied des „Consell d’Economia de Catalunya“ und von Ende September bis Mitte Dezember 1936 Minister für Justiz in der katalanischen Regionalregierung. 13 Narcís Molins i Fàbrega (1901–1962) – katalanischer Journalist und marxistischer Politiker, schloss sich der FCCB und dem BOC an und arbeitete als Redakteur ihrer Zeitungen L’Hora und La Batalla. Wurde 1935 in das Zentralkomitee der POUM gewählt, arbeitete 1936/37 für den Pressedienst der Generalitat, dann als Chefredakteur von La Batalla, floh Ende 1937 nach Paris und betrieb mit V. Serge eine Kampagne gegen die Verleumdungen der POUM. 14 Raymond Molinier (1904–1994) – französischer Trotzkist. 15 Generalitat – katalanische Regionalregierung, wurde im August 1931 in der zweiten spanischen Republik eingeführt, im April 1934 nach der gescheiterten Proklamation eines katalanischen Staats durch den Präsidenten Lluís Companys (1882–1940) suspendiert, wurde nach dem Wahlsieg der Volksfront im Februar 1936 wieder eingeführt und wieder von L. Companys, Politiker der kleinbürgerlichen Partei „Esquerra Republicana de Catalunya“ (ERC) geleitet. 16 Hans David Freund (1912–1937), fuhr im September im Auftrag des IS nach Madrid, bemühte sich 1937 Barcelona um Einigung zwischen den beiden kleinen „bolschewistischleninistischen“ Gruppen und hielt Kontakt zu anarchistischen D I E I N T E R N AT I O N A L E Kreisen, die Kritik an der Regierungsbeteiligung der CNTFAI übten. Nach den Mai-Tagen konnte er sich drei Monate lang verstecken, verschwand im August, wurde wahrscheinlich in einem „Privatgefängnis“ des sowjetischen NKWD ermordet. 17 Grandizo Munis (1912–1989), einer der Mitbegründer der spanischen linksoppositionellen Organisation, unterstützte 1934/35 Trotzkis Position, die spanischen kommunistischen Linksoppositionellen sollten in die PSOE eintreten, gründete 1936 die SBL und gab im April 1937 die Zeitung La Voz Leninista heraus. 18 Erwin Wolf (1902–1937), tschechischer Trotzkist, arbeitete als Sekretär für Leo Trotzki. 19 Niederländische Sektion der Bewegung für die IV. Internationale – die 1935 gegründete „Revolutionair Socialistische Arbeiders Partij“ (RSAP) mit rund 3700 Mitgliedern und Henk Sneevliet (1883–1942) als Sekretär. Die RSAP sprach sich für eine neue Internationale und (wie die POUM) gegen die Taktik des „Entrismus“ in die sozialdemokratischen Organisationen aus. 20 Victor Serge (1890–1947), belgisch-russischer Revolutionär, Journalist und Schriftsteller. 21 Kurt Landau (1903–1937), österreichisch-deutscher antistalinistischer Kommunist, arbeitete an La Batalla und deutschsprachigen Sendungen von Radio POUM mit, fand im Juni 1937 Zuflucht in der CNT-Zentrale in Barcelona, im September 1937 entführt, seither verschollen. 22 Juillet ( Juli), französischsprachige Zeitschrift der POUM, von der eine einzige Ausgabe erschien. Reiner Tosstorff Die POUM in der spanischen Revolution 2., erweiterte Auflage 2016 184 Seiten, EUR 19,80 ISBN 978-3-89900-118-1 Inprekorr 4/2016 67 D I E I N T E R N AT I O N A L E Freiheit für Baba Jan! Internationale Solidarität gefordert! Die Awami Workers Party ruft weltweit dazu auf, ihre Forderungen an die pakistanische Regierung und die Behörden von Gilgit-Baltistan zu unterstützen: Sofortige Freilassung von Baba Jan und den elf weiteren Gefangenen, die am 25. September 2014 zu Unrecht verurteilt wurden, sowie Aufhebung der lebenslangen Haftstrafen, die durch ein Sondergericht in Gilgit-Baltistan verhängt und durch das oberste Appellationsgericht im Juni 2016 bestätigt worden sind! Veröffentlichung des gerichtlichen Ermittlungsergebnisses über die Morde an den Demonstranten in Aliabad im August 2011 und Strafverfolgung der verantwortlichen Polizeibeamten! Abschaffung der drakonischen Gesetze, die in Gilgit-Baltistan erlassen worden sind, und besonders des Anti-Terror-Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit, da es sich auf eine Region erstreckt, die nicht der pakistanischen Gesetzgebung unterliegt und deren Bevölkerung ihrer politischen Grundrechte beraubt sind, einschließlich ihrer Vertretung im pakistanischen Parlament und des Appellationsrechts vor dem Obersten Gerichtshof in Pakistan! Abschaffung der neokolonialen, zentralistischen Herrschaft über Gilgit-Baltistan und Einführung wirklich autonomer Vollmachten und einer autonomen Regierung für die dortige Bevölkerung sowie Abschaffung des pakistanischen Ministeriums für Kaschmir und der Ratsversammlung von Gilgit-Baltistan zugunsten einer autonomen Versammlung mit gleichen Rechten! Gewährung der demokratischen und verfassungsgemäßen Grundrechte für die Bevölkerung von Gilgit-Baltistan und Schaffung eines unabhängigen Justizsystems mit tatsächlich unabhängigen Richtern, die aufgrund ihrer Verdienste berufen und nicht von der Exekutive ernannt werden! 68 Inprekorr 4/2016 Diese Petition ergeht an: Mr. Mian Nawaz Sharif, Premierminister, Prime Minister House, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 922 1596; Tel.: +92 51 920 6111; Mail: secretary@cabinet. gov.pk oder [email protected] Erster Minister von Gilgit Baltistan, Chief Minister’s Secretariat, Gilgit, Tel.: +92-5811-920573; Fax: +92 5811 50-201, Mail: [email protected]. pk Richter Tahir Shahbaz, Registrar, Supreme Court of Pakistan, Constitution Avenue, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 9213452; Mail: mail@supreme. court.gov.pk Bundesjustizminister, Ministry of Law, Justice and Human Rights, Old US Aid building, Ata Turk Avenue, G-5, Islamabad, Pakistan, Fax: +92 51 9204108 ; Mail: [email protected] Durchschrift an: Awami Workers Party, Mail: [email protected] Übersetzung: MiWe
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