S. Patel: Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis - H-Net

Sheila Patel. Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis: Die Tagebücher der Maria Esterházy-Galántha (1809–
1861). Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2015. 438 S. ISBN 978-3-593-43049-2.
Reviewed by Christiane Raffaela Bub
Published on H-Soz-u-Kult (September, 2016)
S. Patel: Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis
(Hrsg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln 2012, S. 31–71. der Gräfin wider, die im
und durch das Verfassen der Tagebücher entstanden sei.
Der Mehrwert der Studie liegt vor allem in der langen
Dauer und dem breiten Themenspektrum, das dem Leser
in den Tagebüchern begegnet.
Die vorliegende Untersuchung – eine gekürzte und
überarbeitete Version der 2013 eingereichten Dissertation Sheila Patels – ergänzt einen weiteren Stein im noch
sehr unvollständigen Mosaik adeliger Frauengeschichte
des 19. Jahrhunderts. Durch die Verknüpfung von Genderforschung und Adelsgeschichte verbindet die Studie
zwei Forschungszweige, deren thematische Relevanz in
den letzten Jahren deutlich zu Tage getreten ist. Für das
19. Jahrhundert zuletzt: Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Sarah Romeyke, Preußens Töchter. Die Stiftskinder von
Heiligengrabe 1847–1945, Berlin 2015; Johanna Singer,
Arme adelige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen 2016.
Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schluss
in vier thematische Kapitel, die prominente Aspekte des
Lebens der Gräfin nachzeichnen: Während sich die Kapitel zwei bis vier den Beziehungen, dem Alltag und
der Kindererziehung Marias widmen, befasst sich Kapitel
fünf mit politischen Themen.
In der Einleitung umreißt Patel zunächst das doppelte
Erkenntnisinteresse der Arbeit: Dieses bestehe zum einen in der Rekonstruktion adeliger Lebenswelten, zum
anderen in der Analyse adeliger Schreibpraxis unter Berücksichtigung von Mustern und Traditionen, die Aus”
kunft geben können über Prozesse der Selbstkonstitution“ (S. 10) sowie über Vorstellungen und Wahrnehmungen, welche die Verfasserin von sich selbst, ihrer Zeit und
ihrem Umfeld hatte. Dabei knüpft die Studie an die vieldiskutierte Debatte um ein Konzept der Adeligkeit“ Vgl.
”
die Zusammenfassungen in Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945,
München 2014; Charlotte Tacke, Es kommt also darauf
”
an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ Adel‘ und Adeligkeit‘
’
’
in der modernen Gesellschaft, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 91–123; Heinz Reif, Der Adel im lan”
gen 19. Jahrhundert“. Alte und neue Wege der Adelsfor-
Die Studie verfolgt das Ziel, am Beispiel der Tagebücher der Gräfin Maria Esterházy-Galántha, geborene
Plettenberg-Mietingen (1809–1861), weiblicher Schreibpraxis im 19. Jahrhundert nachzuspüren. Sie verfasste
über 37 Jahre lang zwölf Tagebücher, die zum Teil parallel geführt wurden. Zu unterscheiden sind die Jugend”
tagebücher“ (1824–1833), das große Tagebuch“ (1836–
”
1845), die Tagebücher 1845–1848 und 1853–1861 sowie
ein Notizenbuch für allerhand“ (1846–1853), ein Wirt”
”
schaftstagebuch“ (1849–1861) und das Kindertagebuch“
”
(1844–1861). In den Selbstzeugnissen spiegle sich die
autobiographische Person“ Patel, S. 42 nach Elke Hart”
mann / Gabriele Jancke, Roupens Erinnerungen eines
armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog. Konzepte und Kategorien der SelbstzeugnisForschung zwischen Universalität und Partikularität,
in: Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser
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schung, in: Gabriele B. Clemens / Malte König / Marco
Meriggi (Hrsg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert,
Berlin 2011, S. 19–37. an, das nur verkürzt zur Darstellung kommt. Des Weiteren verweist Patel auf die Bedeutung der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Geschlechterkonzeptionen und ihre Wirkung auf adelige Frauen.
Im Anschluss an Monika Kubrova Monika Kubrova, Vom
guten Leben.
[5] Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Dies., Selbstzeugnis und Person, S. 1–19. folgt
die Autorin der These, das bürgerliche Ordnungsmodell
der polaren Geschlechtscharaktere“ habe in den Erinne”
rungen adeliger Frauen nur geringen Einfluss auf deren
Handlungs- und Sichtweisen gehabt, weil sich diese stärker über ihren Stand als über ihr Geschlecht definierten
(S. 15, S. 35).
gehörte das Führen eines Tagebuchs zum guten Ton adeliger Erziehung, bot der Verfasserin später aber auch die
Möglichkeit, Erinnerungen für sich und ihre Kinder festzuhalten. Neben der eigenen Positionierung innerhalb
adeliger Kreise diente das Tagebuch mitunter zur Reflexion oder als Gegenüber, dem geheime Gedanken anvertraut werden konnten. Des Weiteren sei den Tagebüchern
der Gräfin Esterházy zu entnehmen, dass sie Merkwürdigkeiten, Spaß und Unterhaltung – und somit nicht die
Pflicht – dazu veranlassten, Tagebucheinträge zu verfassen. Durch ihre hohe Schreibroutine fand jedoch zumindest bis 1848 auch das nicht Besondere“ (S. 38) Eingang
”
in die Aufzeichnungen.
Das zweite Kapitel stellt die Liebesbeziehungen der
Gräfin und ihre verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerke in den Fokus. Bei der Wahl des Ehepartners hätten nach Patel sowohl heiratsstrategische Interessen der Familie als auch gegenseitige Zuneigung eine Rolle gespielt. Die Tagebücher ermöglichen Einblicke
in die subjektive Wahrnehmung dieser spannungsvollen
Situation, welche die Jugendjahre Marias prägten. Diese verliebte sich mit 19 Jahren erstmals in ihren Cousin Wilderich von Ketteler, eine Heirat lehnte die Familie
jedoch ab. Erst mit der Werbung Nicolas Esterházys erklärten sich beide Seiten einverstanden. Auch Verwandte und Freunde finden in den Selbstzeugnissen Erwähnung, werden aber trotz guter Beziehungen meist nur
bei besonderen Anlässe näher beschrieben. Beziehungen
zu hochrangigen Persönlichkeiten widmete Maria Esterházy mehr Aufmerksamkeit. Die Bedeutung, die sie ihrer
eigenen Stellung innerhalb der adeligen Gesellschaft beimaß, trete hier wie auch im nachfolgenden Kapitel deutlich hervor.
Neben Fragen, die Textproduktion und Schreibsituation betreffen, seien vor allem die Analysekategorien
der Erfahrung und Erinnerung zu berücksichtigen sowie, im Zusammenhang mit geäußerten Emotionen, der
methodische Zugriff der kulturellen Mehrfachzugehö”
rigkeit“[6]. Die Tagebücher seien nicht im luftleeren
Raum entstanden, sondern in Auseinandersetzung mit
verschiedenen Gegenübern und in bestimmten kulturell,
sozial und personell geprägten Situationen, die sich auf
die Konstitution des Subjekts auswirkten. Zu beobachten sei demnach die schreibende Person“ (S. 43, S. 392),
”
die in einer bestimmten Situation handle, Schreibstrategien im Hinblick auf potenzielle Leser entwickle sowie
spezifische Inhalte auswähle und gestalte.
In der Einleitung schließt sich ein kurzes Lebensportrait der adeligen Verfasserin sowie eine ausführliche Besprechung der einzelnen Tagebücher und weiterer Quellen an. Zur besseren Kontextualisierung zieht Patel autobiographische Schriften anderer Adeliger heran, verwendet darüber hinaus auch Gedichtbände Marias, Briefe der
Familie und Zeitungsartikel. Besonders interessant erscheinen die Abschnitte zur Schreibmotivation und zum
Schreibverhalten: Von 1824 bis 1848 verfasste die Gräfin
fast täglich Tagebucheinträge, später nur noch wöchentlich oder sogar monatlich. Die Auswahl des Berichteten
änderte sich dadurch ebenso wie ihr Fokus, der sich in
den späteren Tagebüchern auch auf politische Ereignisse
ausweitete.
Das dritte Kapitel greift verschiedene Facetten des
Alltags auf, wie Marias Besitz Nordkirchen, die von ihr
beschriebene Wohnkultur, aber auch Alltagsabläufe, Feste, das Hofleben und Reisen. Die Alltagsbeschreibungen
bieten interessante Einblicke in das gesellschaftliche Leben adeliger Kreise, die damit einhergehenden Verpflichtungen und sozialen Netzwerke, in die das Haus Esterházy eingebunden war. Aus der schriftlich niedergelegten räumlichen Gestaltung des höfischen Lebens könne auch auf die symbolische Verortung und den Status
der adeligen Teilnehmer geschlossen werden. Bürgerliche Bekanntschaften finden in diesem Rahmen keine Erwähnung und auch während ihrer Reisen habe Maria
Sozialfremdes“ (S. 220) größtenteils ausgeblendet. Die
”
Freundschaften zu bürgerlichen Lehrern und die Teilnahme von nicht-adeligen Dorfbewohnern am Abendessen
im familiären Kreis zeigen jedoch, ebenso wie bestehen-
Die Schreibmotivation, die nur im Kindertagebuch
explizite Erwähnung findet, setze sich je nach Zeit und
Ausrichtung aus verschiedenen Motiven zusammen. So
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de Geschäftsverhältnisse mit Bürgerlichen, keine strikte
Abgeschlossenheit.
mann. Ihre Ausführungen zeigen, dass sie Adel national dachte, woraus multiple Zugehörigkeiten entstanden.
Der ab den 1850er-Jahren verstärkt spürbare preußischösterreichische Dualismus führte dadurch teilweise zu
widerstreitenden Loyalitäten, da sich die Gräfin beiden
Monarchien eng verbunden fühlte.
Das vierte Kapitel handelt von Marias Leben mit
ihren Söhnen und der Erziehungspraxis im Hause
Esterházy-Galántha. Auch hier hätten sich materielle Interessen und emotionale Beziehungen innerhalb der Familie wechselseitig ergänzt – durch die Zuneigung zwischen Eltern und Kindern sei der Familienzusammenhalt sogar nachhaltig gefördert worden, was die Abgrenzung gegenüber Bürgerlichen begünstigte. Im Kindertagebuch legte die Mutter Portraits ihrer drei Söhne an, beschrieb Entwicklungen, Talente und Tagesabläufe sowie
den liebevollen Umgang miteinander. Vor allem ein ausgeprägter anti-demokratischer Patriotismus wurde von
der Mutter wohlwollend vermerkt. Interessant erscheint
der Umgang mit dem erstgeborenen, psychisch kranken
Sohn Paul, dessen Leiden die Gräfin nie direkt anspricht.
Trotz der Tatsache, dass zumindest die beiden nachgeborenen Söhne den Besitz ihrer Eltern erben sollten, förderte Maria eine vielseitige Ausbildung – ihre zukünftigen
Wege schienen aufgrund der unruhigen politischen Lage
nicht abschließend vorbestimmt.
Zuletzt greift Patel als Ausblick das Testament Maria Esterházys auf, in dem diese ihr Erbe regelte und verschiedene Versionen einer möglichen Zukunft entwarf.
Trotz des Ziels, sich selbst als typische Repräsentan”
tin des hohen Adels“ (S. 399) darzustellen, zeige gerade
die verwendete Schreibstrategie individuelle Züge, beispielsweise im Umgang mit dem kranken Paul oder im
nachträglichen Glattstreichen einer zuvor verworrenen
Liebesgeschichte.
Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit Patels um
eine lesenswerte und detailreiche Studie, die ein großes
Themenspektrum abdeckt und der Stimme Marias Esterházys viel Raum gibt. Wünschenswert wäre gewesen,
die Frage nach dem spezifisch adeligen bzw. weiblichen
der Schreibpraxis stärker zu gewichten. Zwar werden
Das fünfte Kapitel rückt politische Themen in den Selbstzeugnisse männlicher Autoren und adeliger FrauMittelpunkt und folgt deren chronologischer Abfolge. en vergleichend herangezogen, auf sich daraus ergebenVor allem die 1848/49er Revolution, von der sie sich un- de Schlussfolgerungen wird aber größtenteils verzichtet.
mittelbar betroffen sah, reflektierte die Gräfin auf emo- Der Vergleich mit Selbstzeugnissen bürgerlicher Frauen
hätte an dieser Stelle weitere interessante Akzente settionale Weise, stellte diese doch persönliche Besitzinterzen können. Störend erscheinen pauschalisierende Uressen in Frage, schürte ihre Angst vor Armut und betraf direkte Bekannte und Verwandte. Deutlich trete hier teile über ’den Adel‘, die im Kontrast zu sonst sehr difdie altkonservative, monarchietreue Haltung Maria Es- ferenzierten Wertungen stehen. Auch eine konkrete, abterházys hervor. Klare Position bezog sie gegen den ge- schließende Stellungnahme zu den angesprochenen Forsamten ungarischen Adel, den sie als verderbt“ und schungskontroversen erfolgt leider nicht. Dies schmälert
”
aber nicht das Verdienst der Autorin, eine inhaltlich und
roh“ (S. 349) bezeichnete – ausgenommen ihren Ehe”
analytisch tiefgreifende Studie vorgelegt zu haben.
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Citation: Christiane Raffaela Bub. Review of Patel, Sheila, Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis: Die Tagebücher der Maria Esterházy-Galántha (1809–1861). H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. September, 2016.
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