Y. Kuiper ua (Hrsg.): Nobilities in Europe in the - H-Soz-Kult

Y. Kuiper u.a. (Hrsg.): Nobilities in Europe in the Twentieth Century
Kuiper, Yme; Bijleveld, Nikolaj; Dronkers,
Jaap (Hrsg.): Nobilities in Europe in the Twentieth Century. Reconversion Strategies, Memory Culture, and Elite Formation. Leuven: Peeters Publishers 2015. ISBN: 978-90-429-3227-2;
VIII, 357 S.
Rezensiert von: Monika Wienfort, Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal
Während sich der Aufschwung der Adelsgeschichte in der Moderne in Deutschland
bis auf wenige Ausnahmen auf das 19. Jahrhundert konzentriert, stellt die Forschung in
anderen europäischen Ländern, namentlich
in Frankreich und den Niederlanden, schon
seit längerem die Frage, ob und wie die Geschichte des Adels im 20. Jahrhundert, im
Kontext von Elitengeschichte einerseits und
Identitäts- und Erinnerungskulturgeschichte
andererseits, die Perspektiven einer transnationalen europäischen Zeitgeschichte ergänzen kann. Die niederländischen Herausgeber
des vorliegenden Sammelbandes gehen dabei vor allem von den Überlegungen aus,
die Monique de Saint Martin im Anschluss
an Pierre Bourdieu zum symbolischen Kapital des ehemaligen Herrschaftsstandes angestellt hat.1 Sie versammeln Beiträge über neun
kontinental- und nordeuropäische Länder, ergänzt durch zwei transnationale Studien zu
adligen Juden (Hubert Schijf) und zum Begriff der Rekonversion, also des Austausches
der Bourdieuschen Kapitalsorten, als Leitperspektive auf verschiedene europäische Adelsformationen, die allesamt als Kollektiv nicht
mehr zu den nationalen Eliten gehören (Monique de Saint Martin).
Angesichts des sehr disparaten Forschungsstandes verwundert es nicht, dass die
Beiträge heterogen ausfallen und insgesamt
eher als Bausteine einer zukünftigen transnationalen europäischen Adelsgeschichte
bewertet werden können. Dabei reichen
einige Beiträge (Viktor Karady über adlige
ungarische Studenten, Nikolaj Bijleveld über
den niederländischen Adel um 1900 und
Philipp Korom / Jaap Dronkers über adlige
Unternehmer und Manager im Habsburgerreich) in das lange 19. Jahrhundert zurück.
Thematisch liegt der Schwerpunkt weniger
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auf der Politik (Maria Malatesta über die Haltung italienischer Adliger zum Faschismus)
als auf Aspekten der kulturellen Identität
(Göran Norrby über die standesgemäße
Berufswahl schwedischer Adliger; Anna
Maria Äström über finnische Gutshäuser;
Michael Seelig über den geflüchteten und
vertriebenen ostelbischen Adel in den ersten
Jahrzehnten der Bundesrepublik; Silke Marburg über die Wettiner in Sachsen 1989, Paul
Janssens über die Wohnsitzentscheidungen
für Brüssel im kulturell geteilten Belgien).
Von einer Bilanz der historischen Adelsforschung zum 20. Jahrhundert ist man naturgemäß noch weit entfernt. In sämtlichen europäischen Ländern, die hier thematisiert werden, lassen sich Spuren von Adel finden, in
der Pariser mondänen Welt vor dem Zweiten
Weltkrieg (Alice Bravard) und selbst im sozialistischen Polen, wo sich die Szlachta oder genauer: einige ihrer Angehörigen als Teil der
patriotischen Intelligenz neu erfand (Longina
Jakubowska). Über die gesellschaftliche Relevanz der Befunde kann allerdings gestritten werden. Angesichts der Bedeutung der
Revolutionen von 1917 bis 1919 in Russland,
Deutschland und Österreich-Ungarn für die
Stellung des Adels scheint die Einbeziehung
der Welt vor 1914 für eine Geschichte des 20.
Jahrhunderts zunächst schwierig. Für Belgien, die Niederlande, Frankreich und die skandinavischen Länder fällt dagegen die Prüfung
auf Kontinuitäten positiver aus. Möglicherweise ließe sich die These vertreten, dass der
Adel in den europäischen Monarchien durch
seine historische Bindung an diese zumindest
über einige Jahrzehnte eine relativ größere gesellschaftliche Rolle spielen konnte, wobei es
sich von selbst versteht, dass hier nur von
einzelnen Adligen bzw. adligen Familien die
Rede sein kann, nicht von einem definierten
Adel als Stand. In einem verhältnismäßig kleinen Land wie den Niederlanden, in Belgien, Finnland oder Schweden lässt sich Adel
besser auch als Face-to-Face-Community vorstellen als in Frankreich oder Deutschland. In
Großbritannien und den Niederlanden könnten darüber hinaus bestimmte Schulen und
Universitäten als Sozialisationsorte der Eliten
eine Rolle spielen.
1 Monique
de Saint Martin, Der Adel. Soziologie eines
Standes, Konstanz 2003.
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Übrigens kommt eine geschlechtergeschichtliche Perspektive trotz mancher
Einzelbefunde insgesamt zu kurz, die sich
etwa an den vorliegenden Arbeiten zu adligen Frauen und Berufstätigkeit oder an der
Männlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte orientieren könnte. Interessant erscheint
die Beobachtung, dass in den letzten beiden
Jahrzehnten eine verstärkte Tendenz zur Formulierung eines adligen Selbstverständnisses
im privaten Vereinswesen nachweisbar ist.
Der schwindenden Sichtbarkeit des Adels als
Gruppe jenseits des immer noch wachsenden
Celebrity-Status der königlichen Familien
korrespondiert offenbar ein Bedürfnis nach
Vergemeinschaftung nach innen. Allerdings
dürfte dieses Verlangen kaum adelsspezifisch
sein, sondern dem generellen Trend der Suche nach Identität in einer globalisierten Welt
entspringen. Damit wäre der europäische
Adel im 21. Jahrhundert dann endgültig in
der Welt der Commoners angekommen.
HistLit 2016-2-084 / Monika Wienfort über
Kuiper, Yme; Bijleveld, Nikolaj; Dronkers,
Jaap (Hrsg.): Nobilities in Europe in the Twentieth Century. Reconversion Strategies, Memory
Culture, and Elite Formation. Leuven 2015, in:
H-Soz-Kult 06.05.2016.
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