faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag/Montag, 1./2./3. Oktober 2016, Nr. 230 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen 1955 wurde das Russell-Einstein-Manifest veröffentlicht. Es zeigt, dass ein Atomwaffenverbot für Frieden nicht ausreicht Sehnsucht nach Pulverdampf: Die niederländische Staatsanwaltschaft liefert wieder Munition für mediale Kriegstreiber Das Turkvolk der Chakassen hat eine reiche Geschichte. Doch seine Kultur befindet sich auf dem Rückzug. Von Alexandre Sladkevich Zwischen Trommel und Heißmangel. Eine Begegnung der anderen Art im »Waschtreff. Von Dietrich zur Nedden W ir müssen 2017 in den Medien des Westens mit einer Welle antikommunistischer Geschichtsfälschungen rechnen: Die russische Oktoberrevolution jährt sich zum 100. Mal, der Tod Ihres Vaters, Ernesto »Che« Guevara, zum 50. Mal. Schon zum 90. Geburtstag Fidel Castros hat Der Spiegel in einer Sondernummer die alte Fabel wieder aufgewärmt, dass sich Fidel und Che »entzweit« hätten. Das wird vor allem an der Kritik festgemacht, die Ihr Vater gegenüber der Sowjetunion geäußert hat. Sie sind solche Entstellungen gewohnt, beschäftigt Sie das trotzdem? Als sich Fidel und mein Vater in Mexiko kennenlernten, schloss mein Vater sich der Expedition nach Kuba unter der Bedingung an, dass ihm, wenn die Revolution siegen und er den Krieg überleben würde, die Möglichkeit gelassen werde, seinen eigenen Weg zu gehen. Nach dem Guerillakrieg wurde mein Vater eine der wichtigsten Personen für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in Kuba. Dann legte Fidel ihm eine Bitte um Hilfe vor, die von einer kongolesischen Befreiungsbewegung an Kuba gerichtet worden war. Bekanntlich ist daraus die Entsendung einer von meinem Vater geleiteten Truppe kubanischer Freiwilliger in den Kongo geworden. Als er aus der Öffentlichkeit verschwand, fingen westliche Politiker und Medien sofort an, Spekulationen über einen angeblichen Streit zu verbreiten. Wie die von uns inzwischen veröffentlichten Dokumente belegen, hat mein Vater in diesen für ihn schwierigen Monaten permanent Rücksprache mit Fidel gehalten, der die Truppe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt hat. Haben Sie jemals mit Fidel Castro über die angebliche Distanzierung gesprochen? Mein Vater wollte nicht nach Kuba zurückkehren, weil er sich offiziell vom kubanischen Volk verabschiedet hatte (In seinem Abschiedsbrief hatte Che die kubanische Staatsangehörigkeit abgelegt REUTERS/BERNARDO MONTOYA »Ich bin mit außergewöhnlichen Menschen aufgewachsen« Gespräch Mit Aleida Guevara March. Über die Aufgaben der europäischen Linken, die Auswirkungen der US-Blockade auf das Gesundheitswesen in Kuba und die Revolutionärinnen, die sie geprägt haben und Havanna von jeder Verantwortung für seine Aktivitäten freigesprochen; jW). Er ist dann doch im Geheimen zurückgekommen, weil Fidel ihn davon überzeugen konnte. Wie sein Tagebuch außerdem zeigt, ist mein Vater in Bolivien bis zuletzt mit »Manila«, das war ja das Codewort für Kuba, in Kontakt geblieben. In einer bekannten Rede in Algier am 24. Februar 1965 hatte mein Vater tatsächlich eine Kritik den sozialistischen Ländern gegenüber formuliert, weil diese den Befreiungsbewegungen nicht genügend Aleida Guevara March … ist die Tochter von Ernesto »Che« Guevara und Aleida March. Sie ist Ärztin am William-Soler-Kinderkrankenhaus in Havanna, unterrichtet an der Escuela Latinoamericana de Medicina und an einer Grundschule. Sie hat als Kinderärztin in Angola, Ecuador und Nicaragua gearbeitet und beteiligt sich als Mitglied der KP Kubas oft an Veranstaltungen im Ausland. Unterstützung zukommen ließen. Was er dort gesagt hat, entsprach der Überzeugung aller in der kubanischen Parteiführung damals, wie Fidel mir später bestätigt hat. Ihre Mutter Aleida March leitet das »Centro de Estudios Che Guevara«, das die Akten mit Materialien zum Leben Ihres Vaters pflegt. Sie wird jetzt 80 Jahre alt. Sind weitere Veröffentlichungen geplant? Meine Mutter ist noch immer sehr aktiv. Bis jetzt sind in Zusammenarbeit mit den Verlagen Ocean Sur und Ocean Press etwa 16 Titel veröffentlicht worden. Daneben auch Berichte von Konferenzen, in denen der Gegenwartsbezug verschiedener Aspekte aus dem Leben meines Vaters diskutiert wurden. Es sind mehrere Veröffentlichungen in Vorbereitung, darunter ein Buch über Ches Reisen nach Afrika. Es sind auch andere Persönlichkeiten der kubanischen Revolution Solidarität Ein Gespräch mit Aleida Guevara March. Über die Aufgaben der europäischen Linken, die Auswirkungen der US-Blockade und die Revolutionärinnen, die sie geprägt haben. Außerdem: Sehnsucht nach Pulverdampf. Schwarzer Kanal von Reinhard Lauterbach n Fortsetzung auf Seite zwei ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SA./SO./MO., 1./2./3. OKTOBER 2016 · NR. 230 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Hinterfragen Harmonieren Herausfordern Helfen 3 5 7 12 Interview mit Hans Modrow. Der Alles kann, nichts muss: IG Metall frühere DDR-Ministerpräsident diskutiert unverbindlich über besuchte die VR China und Korea Positionen zur Bundestagswahl Frauenstreik in Polen. Opposition plant Vor 80 Jahren wurde die Gründung Großprotest gegen verschärftes der Internationalen Brigaden Abtreibungsrecht beschlossen. Von Werner Abel 26 Jahre »Deutsche Einheit« Waffenfunde bei Neonazis mehr als verdoppelt HENNING KAISER DPA/LNW Reife Leistung Wiesbaden. Die Zahl der bei extrem Rechten beschlagnahmten Waffen ist 2015 einem Medienbericht zufolge auf einen Höchststand gestiegen. Laut Focus stellte die Polizei bei Neonazis 1.947 Waffen sicher, fast 125 Prozent mehr als im Jahr zuvor (868 Waffen). Das Magazin beruft sich auf eine Analyse des Bundeskriminalamts (BKA). Eine BKA-Sprecherin bestätigte am Freitag die Existenz des Berichtes. Als besonders dramatisch beurteilen die Ermittler den Fund von 562 Spreng- und Brandvorrichtungen – mehr als doppelt so viele wie 2014. Etliche solcher Brandsätze seien bei Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte benutzt worden. In 42 Fällen seien Menschen attackiert worden. (dpa/jW) CSU und Sachsens CDU entdecken zum Jahrestag des Anschlusses der DDR die »Kraftquelle Patriotismus«. Von Michael Merz PICTURE ALLIANCE/CHROMORANGE »Solidarität überbeansprucht wird«. Dies ist also der nächste Tabubruch nach den jüngsten Entgleisungen sächsischer Bundestagsabgeordneter, die mit der AfD koalieren oder im Naziduktus eine »Umvolkung« ausgemacht haben wollen. Matthias Rößler (CDU) ist stolz auf das Vollbrachte, denn der Wisch »hat Arbeit gemacht«. Schon 2005 forderte der Landtagspräsident »nationale Wallungen« der Sachsen ein. Nun kann er das für alle Bundesbürger tun, denn »75 Prozent der Deutschen halten Leitkultur für wichtig«, will er in Erfahrung gebracht haben. Fragt man Michael Kretschmer, Generalsekretär der Sachsen-CDU, warum es solch eines Aufrufs zum Patriotismus bedarf, antwortet er: »Weil ein großer Teil des politischen Spektrums immer noch ein Problem damit hat.« Rößler weiß zu berichten, dass das einfache Volk bereits viel »unverkrampfter als die politische und mediale Elite« mit Beflaggung und Vaterlandstolz umgehe. Insofern hätten Sachsen-CDU und CSU ein »drängendes Problem offensiv angepackt«. Es gibt ja auch sonst nichts zu tun. Dass immer noch eklatante Unterschiede zwischen Ost und West in den Lebensverhältnissen existieren, wird mit Hurrapatriotismus kaschiert. Der Jahresbericht zur »Deutschen Einheit« besagt unter anderem, dass die Erwerbslosenquote im Osten konstant fast doppelt so hoch ist wie im Westen. Die Armutsrisikoquote liegt in den Neubundesländern um sieben Prozentpunkte über dem westdeutschen Niveau. Die Tarifbindung ist im Osten gering, die Renten und Löhne sind deutlich niedriger, die Vermögen der Haushalte entsprechen 44 Prozent derer im Westen. Ländliche Gebiete leiden unter Abwanderung und Überalterung. Bedingt durch ihre Kleinteiligkeit wird die ostdeutsche Wirtschaft wohl nie gleichwertig sein. 26 Jahre nach dem Anschluss der DDR wurde auch im Bundestag zur »Einheit« debattiert. Dabei ging es vornehmlich um den erfolgreichen Westexport »Rechtsextremismus« und seine Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft. Dass rechte Gewalt auch in den Altbundesländern gang und gäbe ist, spielte keine Rolle. Bezeichnend: Erst am Donnerstag abend wurde der Bürgermeister von Oersdorf in Schleswig-Holstein mit einem Knüppel bewusstlos geschlagen, vermutlich, weil er Flüchtlinge in seinem Ort unterbringen will. »Aus Knüppel wird Hammer, aus Hammer wird Axt«, drohten Unbekannte dann am Freitag morgen per E-Mail. 2.600 Polizeibeamte machen derweil die Bockwurstmeile der Einheitsfeierlichkeiten in Dresden zur Hochsicherheitszone. Nachdem am Anfang der Woche zwei Sprengstoffanschläge – auf eine Moschee und das Kongresszentrum – verübt wurden, ist am Donnerstag noch eine Bombenattrappe in der Stadt aufgetaucht. Siehe Seite 8 Platzhirsch oder Pennystock Deutsche Bank weiter in Turbulenzen. Hedgefonds fliehen, Aktienkurs zeitweise unter zehn Euro D ie Deutsche Bank wankt. Was bislang unmöglich schien, wird Realität: Das größte heimische Geldhaus gerät immer stärker in Turbulenzen, täglich gibt es für den Platzhirsch aus Frankfurt am Main neue Hiobsbotschaften. Am Freitag wurde bekannt, dass sich mehrere Hedgefonds von dem Institut zurückgezogen haben. Der Börsenkurs ging auf Talfahrt, die Aktie verbilligte sich zwischenzeitlich auf weniger als zehn Euro. In den USA gelten unter fünf Dollar bewertete Aktien als Ramschware, sogenannte Pennystocks. Die Führung schaltet auf Wagenburgmentalität. Vorstandschef John Cryan rief die Mitarbeiter in einer E-Mail auf, Vertrauen in das Unternehmen zu bewahren. Am Markt seien »Kräfte« unterwegs, die dieses schwächen wollten. »Einige wenige Hedgefondskunden« hätten die Bank verlassen, schrieb der Topmanager. Das sor ge aber »zu Unrecht« für Unruhe, denn die Deutsche Bank habe mehr als 20 Millionen Kunden. Laut Nachrichtenagentur AFP sollen zehn Hedgefonds ihre Beteiligung ganz oder teilweise zurückgezogen haben. Auch die »Ungewissheit über den Ausgang des Rechtsverfahrens in den USA sei kein Grund für diesen Druck auf unseren Aktienkurs«, so Cryan weiter. Das US-Justizministerium hat wegen Geschäften mit faulen Hypo- thekenpapieren eine Strafe von 14 Milliarden Dollar (12,5 Milliarden Euro) gefordert – die Deutsche Bank hält dies für viel zu hoch. Wohl auch, weil die Rücklagen für Rechtsstreitigkeiten »nur« etwa 5,5 Milliarden Euro betragen. In Berlin hieß es am Freitag aus den Reihen der Bundesregierung: »Wir geben keinerlei Auskunft zu irgendwelchen Spekulationen über die Deutsche Bank.« (AFP/jW) Siehe Seite 9 Vorstand der Linkspartei bremst die Fraktionsspitze BERND SETTNIK/DPA Ü beraus pathetisch wurde Johannes Singhammer (CSU) am Freitag vormittag: »Vor 26 Jahren ist Deutschland auf der Sonnenseite angekommen«, verkündete er. Gemeinsam mit der sächsischen CDU präsentierte der Bayer in Berlin einen »Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur«, der vor schwarz-rot-goldener Inbrunst nur so trieft. Es versteht sich von selbst, dass der auf zwei Seiten manifestierte Rechtsruck nicht mit Parteichefin Angela Merkel (CDU) abgestimmt wurde und die Intention dahinter durchtriebener ist als die von Singhammer propagierte »besondere nachbarschaftliche Verbundenheit« der Sachsen und Bayern. Da geht es um »Deutsch als Sprache des öffentlichen Lebens« oder das »abendländische Wertefundament«. Als notwendige »Kraftquellen« nennen die Verfasser »Heimat und Patriotismus«. Sie warnen vor Einwanderung, die das Gerechtigkeitsempfinden verletze, weil Berlin. Die Leitung der Linkspartei bremst die Ambitionen ihrer Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch (Foto), auf die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl. »Wir stehen am Anfang eines Prozesses. Es werden verschiedene Modelle diskutiert. Die Entscheidung liegt bei der Partei«, heißt es in einem einstimmig vom geschäftsführenden Vorstand der Partei am Freitag verabschiedeten Beschluss. Hintergrund der Erklärung ist eine Andeutung von Wagenknecht und Bartsch, für eine Doppelspitze bei der Bundestagswahl 2017 zur Verfügung zu stehen. (Reuters/jW) wird herausgegeben von 1.874 Genossinnen und Genossen (Stand 20.9.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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