Fall 13: 50-jähriger Patient mit Durst und Heißhunger Ein 50-jähriger Patient sucht Sie in Ihrer Allgemeinarztpraxis auf. Seit einigen Monaten fühle er sich seinem Beruf als Geschäftsreisender und den damit verbundenen Belastungen nicht mehr gewachsen. Er müsse sich oft ausruhen, schlafe viel und fühle sich trotzdem meist schwach und nur eingeschränkt leistungsfähig. Außerdem habe er in den letzten Monaten 4 kg abgenommen, ohne dass er dies beabsichtigt habe. Er schwitze viel und habe daher ständig Durst. Mehrmals seien ihm „Schwächezustände“ aufgefallen, in denen er sehr unruhig sei und Heißhunger verspüre. Wenn er den Heißhunger gestillt habe, seien Schwäche und Unruhe wieder vorbei. Bei der Untersuchung sehen Sie einen adipösen Mann (BMI 27 kg/m2) in leicht reduziertem Allgemeinzustand. Der Patient hat bisher keine Medikamente eingenommen. Der Blutdruck beträgt 140/90 mmHg, die Herzfrequenz liegt bei 84/min. Die wiederholte Messung der Nüchternblutzuckerspiegel ergibt Werte zwischen 150 und 160 mg/dl, weitere Laborparameter sind nicht pathologisch verändert. Sie stellen die Diagnose eines Diabetes mellitus Typ II. Trotz verordneter Diätvorschriften und körperlicher Bewegung bleiben die Blutzuckerwerte pathologisch erhöht. Sie entscheiden sich für eine Therapie mit einem Sulfonylharnstoffderivat. Erläutern Sie den Wirkmechanismus der Sulfonylharnstoffe! pankreatisch: Förderung der Insulin-Inkretion aus den B-Zellen des Pankreas durch Blockade eines ATP-abhängigen Kaliumkanals -> Kalium-Ausstrom sinkt -> Depolarisation der B-Zelle -> Einstrom von Calcium durch spannungsabhängige Calciumkanäle => Exozytose von Insulinspeichervesikeln extrapankreatisch (bisher nicht bewiesen): hepatische Glucoseproduktion sinkt -> Downregulierung des Insulinrezeptors vermindert -> Sensibilität der Insulinrezeptoren steigt Nennen Sie unerwünschte Wirkungen einer Therapie mit Sulfonylharnstoffen! - Hypoglykämien - Gewichtszunahme - gastrointestinale Störungen - allergische und toxische Hautreaktionen - toxische Leberschädigung mit Hepatitis und Cholestase - Blutbildveränderungen (z.B. Thrombozytopenie, Leukopenie, Agranulozytose) - Hyponatriämie durch Wasserretention - Alkoholunverträglichkeit (Antabus®-Syndrom) - strumigene Wirkung durch Hemmung der Schilddrüsenhormonsynthese Welche weiteren Antidiabetika kennen Sie? Wie wirken diese auf das Körpergewicht? keine Zunahme des Körpergewichts: - Biguanide (z.B. Metformin®) - alpha-Glukosidasehemmer (z.B. Acarbose®) - Gliptine (z.B. Sitagliptin®) Zunahme des Körpergewichts: - Glitazone (z.B. Pioglitazon®) - Insulin Abnahme des Körpergewichts: - GLP-1-Analoga (z.B. Exenatid®) Welche Maßnahmen eignen sich zur Behandlung einer Hypoglykämie? leichte Hypoglykämie: Fruchtsaftgetränk, 4 Plättchen Dextrose schwere Hypoglykämie: 40-100 ml Glucose 40% i.v. und/oder Glucagon 1 mg s.c. oder i.m. (falls kein i.v.-Zugang möglich) Kommentar Definition: Orale Antidiabetika sind Substanzen mit blutzuckersenkender Wirkung. Hierzu zählen Sulfonylharnstoffe, Biguanide, alpha-Glukosidasehemmer, Glinide, Gliptine, GLP-1-Analoga und Glitazone. Typische Wirkstoffe: Sulfonylharnstoffe sind von den Sulfonamiden abgeleitet. Glibenclamid ist die am häufigsten eingesetzte Substanz. Weitere Vertreter sind Tolbutamid, Glibornurid, Gliquidon und Glimepirid. Wirkmechanismus: Sulfonylharnstoffe bewirken eine Sensibilisierung der pankreatischen B-Zellen gegenüber physiologischen Inkretionsreizen. Wirkung: Sulfonylharnstoffe senken die Blutglucosekonzentration unter der Voraussetzung, dass Insulin produziert wird. D.h. sie sind bei fehlender Insulinproduktion (Typ-1-Diabetes-mellitus) unwirksam. Unerwünschte Wirkungen: Glibenclamid wirkt stark blutzuckersenkend, ist aber schlecht steuerbar. Dies birgt die Gefahr von Hypoglykämien vor allem bei vermehrtem Glucoseverbrauch (z.B. ungewohnte körperliche Arbeit) oder verminderter Kohlenhydrataufnahme (z.B. Nahrungskarenz bei Infektionen). Glimepirid löst auf Grund einer schnellen und kurzen Insulinfreisetzung seltener Hypoglykämien aus. Wechselwirkungen: Cumarine, Sulfonamide und NSAR, die stark an Proteine gebunden werden, können die Sulfonylharnstoffe aus der Plasmaproteinbindung verdrängen und somit deren Wirkung verstärken. Die gleichzeitige Anwendung von beta-Rezeptor-Antagonisten, die die glucosemobilisierende Wirkung von Adrenalin unterbinden, birgt die Gefahr protrahierter Hypoglykämien mit eventuell tödlichem Ausgang. Glucocorticoide, Diuretika, Schilddrüsenhormone, Kontrazeptiva und Sympathomimetika vermindern die Wirksamkeit der Sulfonylharnstoffe. Indikationen: Sulfonylharnstoffe sind bei normalgewichtigen Typ-II-Diabetikern indiziert, können aber auch bei leicht Übergewichtigen eingesetzt werden, wenn eine Änderung der Lebensführung nicht erfolgreich ist oder nicht durchgesetzt werden kann und Kontraindikationen für die Gabe von Metformin bestehen. Eine Kombination mit anderen Antidiabetika oder Insulin ist prinzipiell möglich. Inzwischen wird allerdings das Biguanid Metformin generell als Medikament erster Wahl eingesetzt. Kontraindikationen sind Diabetes mellitus Typ I, Azidose, diabetisches Präkoma oder Koma, Infektionen, Leber- oder Niereninsuffizienz, Schilddrüsenerkrankungen, Narkosen, Operationen, Sulfonamidallergie sowie Schwangerschaft und Stillzeit. Bei verstärkter Adipositas (Grad I, BMI: 30-40 kg/m2) besteht eine relative Kontraindikation. Pharmakinetik: Die pharmakologischen Charakteristika sind bei der Auswahl eines Sulfonylharnstoffes für die Therapie zu berücksichtigen. Die Sulfonylharnstoffe werden nach oraler Gabe gut resorbiert. Im Plasma sind sie meist an Proteine gebunden (z.B. Glibenclamid zu 99%). Tolbutamid, ein Sulfonylharnstoffderivat der ersten Generation, ist schwach wirksam. Daher müssen vergleichsweise hohe Dosen gegeben werden. Glibenclamid ist am stärksten wirksam, hat jedoch eine geringere therapeutische Breite als Tolbutamid. Wirkstoff Tagesdosis HWZ renale / biläre Ausscheidung Tolbutamid 500 – 1000 mg 5h 90 / 10 % Glibenclamid 3,5 – 10,5 mg 2–5h 50 / 50 % Glibornurid 12,5 – 75 mg 8h 65 / 36 % Glimepirid 1 – 6 mg 5–6h 62 / 38 % Dosierung und Pharmakokinetik einiger Sulfonylharnstoffe. Applikationsform: Sulfonylharnstoffe werden in Tablettenform verabreicht; die Tagesdosis ist abhängig von der jeweiligen Wirksamkeit. Insbesondere Glibenclamid bedarf einer vorsichtigen Dosierung. Oft ist nach Eintreten der optimalen Wirkung innerhalb von wenigen Tagen eine Dosisreduktion nötig.
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