Magazin franziska barth (2) 0714 »Keine kaltherzige Behörde«: Das Jobcenter verweist auf die Verantwortung der Stadt Leipzig ist so gut wie pleite. Dennoch muss es soziale Gelder an seine hilfebedürftigen Bürger zahlen. Dazu gehören auch die Kosten der Unterkunft (KdU); hilfebedürftige Bürger sind Leistungsbezieher nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Dabei bestimmt der Gesetzgeber, wie viel von der Kaltmiete eines Hartz-IV-Empfängers übernommen wird. Das Sozialdezernat Leipzig setzte 2012 dafür 4,48 Euro pro Quadratmeter fest. Leipzigs Mietspiegel von 5,09 Euro, mehr als 10.000 KdU-bedingte Umzüge und eine Klage des Leipziger Sozialgerichts gegen seine Heimatstadt lassen vermuten, dass das Sozialdezernat falschliegt. Von Charlotte Schulze 030 Film 036 Musik 042 Theater 050 Spiel 055 Literatur 056 Kunst 060 Termine 072 E s ging jetzt nicht darum, was ein Richter sagen würde, sondern ob man obdachlos wird. Mir ist Essen auch wichtiger, da scheiß ich auf die Stadtwerke.« Hitzige Worte in einer heißen Diskussion, gesprochen an einem Montagabend in der Libelle. Dort trifft sich wöchentlich die Erwerbsloseninitiative Leipzig und Betroffene suchen Rat, wenn das Jobcenter Leipzig die Leistung kürzt, schlecht berät oder man sich nicht im Dschungel des SGB II zurechtfindet. Das Thema Kosten der Unterkunft ist auch heute präsent. Lars Müller, Mitglied und Berater der Erwerbsloseninitiative, weiß, wie ALG-II-Bezieher vom Jobcenter damit konfrontiert werden: »Meist kommt getrennt vom Leistungsbescheid die Aufforderung: ›Ihre Wohnung ist nicht angemessen. Bitte senken Sie die Kosten.‹« Was ist eine angemessene Wohnung? Wie senkt man welche Kosten? Auf die zweite Frage gibt das Jobcenter seinen Kunden eine Antwort. Sie sollen ihre Vermieter um eine Verringerung der Kaltmiete bitten oder sich einen Untermieter zulegen. Ganz einfach. Dass das Jobcenter bei einem Untermieter nach zwölf Monaten eine Bedarfsgemeinschaft unterstellt, was weitere ALG-II-Kürzungen nach sich ziehen könnte, wird in seinem Schreiben nicht erwähnt. Sollte es innerhalb von sechs Monaten nicht gelingen, diese Forderungen umzusetzen, zahlt das Jobcenter ab dem siebenten nur noch Mietzuschüsse von 4,48 Euro pro Quadratmeter. Den Rest müssen die Betroffenen, sofern sie nicht umziehen, von ihrem Regelsatz drauflegen. Genau da trifft Gesetzestext auf Realität. Ein Hartz-IV-Empfänger hat Anspruch auf einen bestimmten Regelsatz. Davon etwas für seine Unterkunftskosten abzuzwacken, steht nicht in seiner Pflicht. Es ist sogar rechtswidrig, wenn dies von ihm direkt oder indirekt seitens einer Behörde, zum Beispiel des Jobcenters, verlangt wird. Die Kosten der Unterkunft sind ein Posten, der von den Kommunen getragen werden muss. Das wissen viele nicht. Ebenso, dass der Eckwert von 4,48 Euro auf einem sogenannten schlüssigen Konzept beruhen muss, welches die Stadt bisher nicht liefern konnte. Der Leistungsempfänger kann somit die ihm fehlenden Beträge einklagen. Dies befand das Sozialgericht (SG) Leipzig. »Schlüssig« wäre das Konzept für die Richter, wenn der Eckwert auf allen Mieten der Kommune Leipzig fußen und dem realen Angebot auf dem Wohnungsmarkt angepasst werden würde, anstatt nur die momentanen Mieten von Hartz-IV-Empfängern zu berücksichtigen. Im Magazin 0714 Die Sache mit den vier Euro achtundvierzig vergangenen Jahr lenkte die Stadt ein, indem sie die 4,48 Euro mit den bestehenden Angebotsmieten abglich – jedoch erhöhte sie ihn nicht. »Wir haben geguckt, welche Wohnungen sind tatsächlich für diesen Preis verfügbar – und das Ergebnis war, dass es jedem Leipziger möglich ist, zu diesem Preis im gesamten Stadtgebiet Wohnungen anzumieten«, präsentiert Stefan Adams, Abteilungsleiter der Sozialen Wohnhilfen im Sozialamt, das Ergebnis seines Einlenkens. Dass sich der Großteil davon in Grünau und Volkmarsdorf befindet, sagt er nicht, findet aber, dass »Ghettoisierung ein Problem aller deutschen Städte« sei. Es geht der Behörde wohl eher um den Beweis, dass sie den Bezug zur Lebensrealität ihrer Bürger nicht verloren hat, und um Harmonie mit dem Leipziger Sozialgericht: »Wir haben jetzt den ersten Schritt gemacht und gezeigt: Die Eckdaten von 2013 sind so vollkommen in Ordnung, nur bei der Art der Herleitung müssen wir gucken, dass es die vielen Kammern des Sozialgerichts auch akzeptieren«, so Adams. Aber das wird so bald nicht geschehen. Nachdem das SG Leipzig 2012 das schlüssige und aktuell geltende Konzept der Stadt abschmetterte und dessen Fundament, den Paragraphen 22 des Zweiten Sozialgesetzbuches, für verfassungswidrig erklärte, klagt es momentan vor dem Landessozialgericht in Chemnitz gegen seine Heimatstadt. Ein Ergebnis, und damit ein Präzedenzfall, wird 2015 erwartet. In der Zwischenzeit müssen sich 27 Sozialrichter mit 11.000 Klagen bezüglich KdU und Hartz IV arrangieren. Der Großteil dieser Klagen wird im Eilverfahren geurteilt und da kein schlüssiges Konzept vorhanden ist, gewinnen die Kläger vor Gericht. »Die Fälle, die vorm Sozialgericht von der Stadt verloren werden, sind von den Kosten her wesentlich geringer als anständige Unterkünfte. Das ist das Kalkül der Stadt«, meint die linke Stadträtin Naomi-Pia Witte. Adams hält dagegen: »Dass wir jetzt sagen, wir sind pleite und deshalb bekommen die Leute nicht, was ihnen zusteht? Nein, das machen wir nicht, ganz klares Nein!« Sozialbürgermeister Thomas Fabian kommentiert die Urteile des Sozialgerichts so: »Es sind Versäumnisse des Gesetzgebers an dieser Stelle zu konstatieren, die die Gerichte auf dem Rücken der Kommunen austragen.« Oder die Stadt auf dem des Bürgers? Ein bewilligtes Eilverfahren bedeutet nämlich nichts anderes, als dass eine Räumungsklage aufgrund von Mietrückständen erhoben wurde; die kommt nach einem oder zwei Monaten ohne Mietzahlung. Dazu kommen 21 Tage Wartezeit, denn so lange dauert ein Eilverfahren am Sozialgericht – und die psychische Belastung der Betroffenen aufgrund der Angst, die Wohnung zu verlieren. Das Jobcenter Leipzig könnte dem in seiner bera- Die Stadt Leipzig spart an den Mietzuschüssen für ALG-II-Empfänger. Folge ist eine kaum zu bewältigende Klagewelle tenden Funktion als Behörde entgegenwirken und den Menschen sagen, dass sie Widerspruch einlegen und vor einem Sozialgericht ihre Mietzuschüsse einklagen können. Aber das tut es in der Regel nicht. In einer Zielvereinbarung aus dem Jahr 2012 gibt die Stadt Leipzig dem Jobcenter vor, die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung »so gering wie möglich« zu halten. 27 Richter müssen 11.000 Klagen bearbeiten Martin Richter vom Jobcenter Leipzig erklärt: »Wir sind ganz klar gebunden an die Richtlinien der Stadt Leipzig, die des Sozialamts, und an die müssen wir uns auch halten.« Laut Richter ist das Jobcenter »keine kaltherzige Behörde« und er räumt mögliches menschliches Fehlverhalten ein. Ein Luxus, den sich ALG-II-Bezieher kaum leisten können. Versäumt man einen Termin, werden Sanktionen ausgesprochen. »Bei einem zweiten Fehltritt werden auch die Kosten der Unterkunft gestrichen«, sagt Inge Hannemann, ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin aus Hamburg. Dass Mitarbeiter des Jobcenters ihre Kunden darauf hinweisen, eine Leistungskürzung würde sich auf eine Rechtswidrigkeit stützen, »setzt schon sehr viel Zivilcourage voraus«, kommentiert der Rechtsanwalt Dirk Feiertag. Auch er kritisiert die Herleitung der KdU und vermutet, dass Zahlen geschönt wurden: »Ich werfe der Stadt Leipzig vor, dass von Herrn Jung vorgegeben wurde, wie viel es die Stadt Leipzig kosten darf, wie hoch die Werte sein dürfen und danach wurde die Statistik ausgewertet.« Das führt zurück zu Stefan Adams, der Existenzen durch zu niedrige Unterkunftskosten nicht bedroht sieht. In einer »Untersuchung der Angebotsmieten von 2013« rechnen er und die Stadt es vor. Darin und in der städtischen Bürgerumfrage 2012 steht, dass 37 Prozent der Haushalte in Leipzig umziehen werden und davon nur 6 Prozent als Umzugsgrund angeben, die Mietobergrenze für ALG-IIund Sozialhilfeempfänger überschritten zu haben. Das klingt nach wenig. Die 6 Prozent entstammen einer Untersuchung von 1.406 Haushalten, die Stadt wendet diese Prozentzahl auf alle 311.900 Leipziger Haushalte an. Rechnet man damit durch die Statistiken der Stadt, finden sich am Ende mindestens 10.000 Leipziger Frauen, Männer, Kinder und Rentner, die sich gezwungen sahen umzuziehen, da ihre Unterkunftskosten die Richtlinien der Stadt überstiegen. Insgesamt beziehen mehr als 45.000 Leipziger Haushalte Kosten der Unterkunft. All diese Menschen sind von Zwangsumzügen bedroht. Natürlich bekommen nicht alle zu wenig Zuschuss und viele decken ihre Miete durch eigene Zuzahlungen. »Das ist eigentlich ein Skandal. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der größte Sozialbetrug der Stadt von der Stadt Leipzig selbst begangen wird, weil 10.000 Haushalte in Leipzig aktuell nicht die vollen KdU bekommen«, empört sich Rechtsanwalt Feiertag, der bei der Wahl 2013 für den OBM-Posten kandidierte. Für das Leipziger Sozialgericht, Stadträtin Witte und Feiertag gelten alle Wohnungen als angemessen, die nicht im krassen Gegensatz zu den bisherigen Lebensverhältnissen stehen. »Es geht selten oder nie um größere Beträge. Die Leute haben nicht in Luxuswohnungen gewohnt«, begründet Witte. Eine genaue Definition der Angemessenheit wird es vor dem Urteil des Chemnitzer Sozialgerichts 2015 nicht geben. Bis dahin gilt für Sozialamts-Abteilungsleiter Adams: »Die Menschen sind verpflichtet, notfalls auch mal umzuziehen, und dafür hat der Gesetzgeber eine Frist eingeräumt – sechs Monate.« Recherche: Lisa Kettwig, Friederike Schicht, Charlotte Schulze, Karolina Skrobol »Verpflichtung, auch mal umzuziehen«: Stefan Adams vom Sozialamt Termine 072 Kunst 060 Literatur 056 Spiel 055 Theater 050 Musik 042 Film 036 031
© Copyright 2024 ExpyDoc