- The world of Sweven

Inhaltsverzeichnis
01 Prolog
02 Wir sind der Grund, wir sind der Anfang
03 Wir sind die Summe unserer Schützlinge
04 Auf, dass unsere Seelen wieder dasselbe Lied singen
05 Manchmal muss man erst fallen, um zu fliegen
06 It’s the light in our eyes that touches the soul of everything else
07 Erkenntnis ist der Weg und das Ziel
08 Deine andere Hälfte
09 Du bist mein Schatten über meiner rechten Hand
10 Wenn dein Funke entfacht wird
11 Codename Guardian
12 You are the light in my eyes - help me see
13 Pat
14 Unsere dunkle Seite
15 Eine unerwartete Wendung
16 Beende, was du begonnen
17 You are the light of my life
18 Du bist das Licht meines Lebens
19 Versteckte dein Licht nicht vor der Welt - denn das ist es, was dich besonders macht
20 Wenn unsere Seelen dasselbe Lied singen
21 Liebe kann man nicht erzwingen - sie ist keine Gruppenrichtlinie
22 Male die Zukunft nicht mit den Farben der Vergangenheit
23 Türen öffnen sich und Türen schließen sich
24 Das Licht der Seele bleibt unvergessen
25 Vertrauen muss man sich erarbeiten
26 Cold Rain - Hot Love
27 Common Difficulties
28 Ein Silberstreif am Firmament
29 Die Schönheit der Unendlichkeit
30 Sie - und der goldene Regen
31 Christmas Shopping
32 Family
33 Famiglia
34 Weihnachten
35 Ein neues Leben
36 Thanatos
37 Der Beginn einer Reise
38 Epilog - Hoffnung in einer hoffnungslosen Welt
39 Danksagungen/Anhang
Sweven
Impressum:
Text: © Copyright by Isabella Kniest, 9184 St. Jakob im Rosental, Österreich
Cover: © Copyright by Isabella Kniest
E-Mail: [email protected]
1. Auflage 2015
Alle genannten Liedtexte unterliegen den angeführten Urhebern im Anhang des
Buches.
Nun, hier noch der übliche rechtliche Mist:
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind
frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder
Ereignissen sind rein zufällig.
Markennamen, die von der Autorin benutzt wurden, sind Eigentum ihrer jeweiligen
Inhaber und wurden rein zu schriftstellerischen Zwecken benutzt.
Weitere Informationen entnehmen sie bitte dem Anhang und den Danksagungen am
Ende des Buches.
Ich sagte es früher schon und ich sage es jetzt auch wieder: Wir haben zu viele
unwichtige Gesetze! Macht schärfere Gesetze bei Kindesmissbrauch, Mord- und
Totschlag, Vergewaltigungen und Stalkern - aber bitte verschont uns mit diesem
verfluchten jede-verdammte-Aussage-einer-berühmten-Person-ist-geschützt-Mist. Ich darf
niemanden zitieren, ich darf keinen Menschen fotografieren, ohne ihn vorher um
Erlaubnis gefragt zu haben. Alter, irgendwann muss es auch mal gut sein. Was ist mit
künstlerischer Freiheit?
Nun, genug gejammert. Jetzt kann es losgehen!
Ach ja, there will be smut.
Für
My guiding light
My root and my ground
Frau Prof. Mag. Baumann - Sie haben mir die Augen geöffnet. Ich hoffe, wir sehen uns,
alsbald ich meine letzte Reise antreten werde
Theo - Du hattest recht: zu fühlen ist das größte Geschenk
Meine Mama - Du bist die beste Mutter, die sich ein Kind wünschen kann
Meinen Stiefvater - Ich weiß, du hasst es, wenn ich dich so nenne, doch würde ich »Vater«
schreiben, bedeutet das doch, ich würde es demjenigen widmen, den ich bloß mit einem
Roundkick begrüßen würde - du bist der beste Kumpel, den man sich wünschen kann
Majdi - Du bist die beste Oma der Welt
Slim Man - Ihre Lieder haben mir geholfen, mich an eine längst vergessene Seite in mir
zu erinnern
Martina - Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann.
Bruno - Der große Mann mit dem großen Herz
Gianluca - Der größte und wichtigste Kampf tobt immer noch in uns selbst
Barbara - Gabriel mag Querköpfe, deshalb passt er auf uns auf
Elisabeth - Sie strahlen mindestens genauso hell, wie ich
All die anderen, die mich inspiriert haben, deren Namen ich bezüglich des Zu-naheTretens nicht erwähnen möchte
All die Geschichten, die niemals ihren Weg aufs Papier gefunden haben
All die großartigen Fanfictions (manchmal sogar der Smut)
Und für alle Leser, die sich entschlossen haben, meinen Schund zu lesen
Danke
Sind es nicht die Tagträume,
die uns erst das Gefühl geben,
die Protagonisten in unserem Leben zu sein?
Ich (Isabella Kniest) 2015
01 Prolog
Wenn ich hier auf dieser Holzbank sitze und unsere hektische Welt beobachte, fühle
ich mich wie ein stiller Zuschauer meines eigenen Lebens.
Ich betrachte mein Leben, wie es an mir vorbeizieht - so wie die Massen an
gestressten Menschen an mir vorbeiziehen.
All die gehetzten Menschen um mich, die noch schnell etwas erledigen müssen.
Die von einem Termin zum anderen jagen und ihre Umwelt schon lange nicht mehr
wahrnehmen. Was geht in ihren Köpfen vor sich? Welche unsinnigen Gedanken
geistern durch ihren Verstand?
Sind es ähnliche Gedanken, wie die meinen? Fragen nach dem Sinn des Lebens, ob
der Existenz einer höheren Macht, eines Schicksals, oder doch bloß die Causa:
Welches Hashtagspiel taucht heute im Twitternetzwerk auf?
Ich bin ein guter Beobachter, ihre Augen jedoch verraten mir nichts. Und das Licht
in ihnen ist größtenteils bereits erloschen.
Dieses unschätzbare Seelenlicht, welches das Herz des jeweils anderen berührt,
welches uns einzigartig macht. Das Licht, welches uns von einem Schlag auf den
anderen verwandeln kann.
Richte ich meinen Blick jedoch in die Augen der strömenden Massen hier vor mir,
erkenne ich bloß Leere und Arroganz. Ich sehe weder Wärme noch Einzigartigkeit
oder Verbundenheit. Da ist einfach keine Menschlichkeit. Keine Empathie, kein
Respekt.
Obgleich mich diese Erkenntnis jedes Mal aufs Neue schockiert, bin ich ihnen zum
Dank verpflichtet. Schließlich sind es eben diese strömenden Massen, die meinen
Blick von meinem eigenen kümmerlichen Leben weg auf die der ihren lenkt.
Denn die schmerzliche Wahrheit ist - ich unterscheide mich nicht mehr von ihnen.
Auch mein Licht ist erloschen - durch Hass, Ignoranz und Gefühllosigkeit derer, die
nicht mit sich selbst ins Reine kommen.
Einzig die so selten gewordenen Seelenlichter sind es, die - wenn auch bloß für
einen kurzen Moment - mein eigenes abermals zu entfachen vermögen.
Diese kostbaren Sekunden sind es, wofür ich noch weiterkämpfe, weshalb ich
hierher komme, weshalb ich noch atme - und er weiß es nicht einmal.
Er - das hellste Seelenlicht, das mir jemals begegnet ist.
Somit sitze ich hier - wartend auf ihn und hoffend, dass das erdrückende Gefühl
der Leere und Einsamkeit womöglich während des nächsten Jahres verschwinden
wird - oder durch einen Blick in seine wunderschönen Augen.
The path that led to you
Was full of twists and turns of fate
Looking back on every step
It had to be that way
If either you or I
Chose a different road
Or looked the other way
At any point in time
This love would never be
Just because in the past
We’ve never had a love that seemed to last
The reason why
Is clear to me
Because this love right now was
Meant to Be
Midnight in your arms
The first time you were close to me
It felt so warm and right
Just the way it’s supposed to be
And at the crack of dawn
I woke up from a dream
And looked and you were gone
Was it just a dream?
Was it just a dream?
Just because in the past
We’ve never had a love that seemed to last
The reason why
Is clear to me
Because this love right now was
Meant to Be
Slim Man
02 Wir sind der Grund, wir sind der Anfang
»Endlich Urlaub!«
Ehrlich gesagt konnte ich es noch immer nicht glauben. Nach all den Missionen
und Jobs endlich ein wenig Ausspannen.
Bepackt mit einem Koffer, meinen Kamerarucksack und einer kleinen Reisetasche
ging ich, wie viele andere Urlauber, an Bord.
Normalerweise hätte ich jetzt bei Bastian, Gabriel oder Gadreel meine freie Zeit
verbracht, doch Mioko, der Wächter der Ewigkeit und Beschützer unseres
Multiversums, hatte es geschafft mich zu überreden, meinen Urlaub auf einem
Kreuzfahrtschiff zu verbringen.
Unser Gespräch ging mir nochmals durch den Sinn:
»Mach Urlaub, erhol dich«, hatte sie gedrängt. »Du weißt, dass du dir das verdient
hast!«
»Ich weiß nicht. Ich werde bestimmt seekrank, mein Zeugs wird wahrscheinlich
gestohlen und das Essen ist schlecht. Was soll ich dort alleine? Außerdem habe ich
Gadreel versprochen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Du weißt doch, welche
Sorgen ich mir um ihn mache! Außerdem wollte ich Bastian besuchen. Schauen, ob
die Spannungen zwischen ihm und seinem Vater nicht zurückgekehrt sind.«
»Bei Bastian ist gewiss alles in Ordnung. Du warst es schließlich, die die beiden
versühnt hat! Du kannst ruhig mehr von dir halten!«
Ich hatte damals doch gar nicht viel getan! Ein Schützling konnte sich nur ändern,
wenn er es selbst wollte. Aber davon wollte Mioko nie etwas wissen.
»Du glaubst meinen Worten nicht, hm? Na schön.« Sie schloss die Augen. Dies
bedeutete, dass sie einen kurzen Blick auf seine Welt warf. Nach ein paar Sekunden
nickte sie zufrieden. »Ja, da ist alles in bester Ordnung. Die beiden verstehen sich
nach wie vor wunderbar.«
»Und Gade? Was ist mit ihm?« Ich hatte die Angewohnheit, allen meinen
Bekannten und Schützlingen - und dazu zählten ebenfalls meine zwei Wächter Spitznamen zu geben. Entweder Abkürzungen oder komplett neue Namen. Das hatte
ich wohl ungewollt von meinem Stiefvater abgeschaut.
»Gadreel kann doch auf Taviss bleiben, solange du auf Urlaub bist. Wir werden gut
auf ihn schauen. Socialize more often, you know.« Dabei hatte sie mir ihr nur allzu
gut bekanntes verschwörerisches Lächeln gezeigt.
»Was weißt du, Mio?« Ich verschränkte die Arme, warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Sag’s mir. Und zitiere bitte nie mehr tumblr-Posts.«
Da sie jedoch keine Anstalten machte, mir eine andere Antwort, denn die eine in
Form eines breiten Grinsens zu geben, vermutete ich: »Werden wir samt Schiff in
eine andere Dimension geschleudert - à la Doctor Who? Oder muss ich wieder
irgendwelchen Leuten den Arsch retten?«
»Nichts dergleichen«, antwortete sie schließlich mit einem dermaßen breiten
Grinsen, welches mir beinahe Angst einjagte.
Zweifelnd blickte ich in ihre goldenen Augen. »Keine Katastrophen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nope.«
»Einfach nur Urlaub?«
»Mhmm«, bejate sie.
»Gutes Essen?«
»Mmhmmm.« Sie bekräftigte ihre Aussage mit einem leichten Nicken und
hochgezogenen Augenbrauen.
»Und Entspannung?«
»Mmmhmmmm.« Sie nickte heftiger und rief, die Arme ausgestreckt, die Augen
leuchtend: »Es wird grandios!«
»Mmmhmmmm«, antwortete ich ungläubig, die Stirn in Falten gelegt.
»Glaub mir doch! Immerhin bin ich allmächtig! Wenn ich es nicht weiß, wer denn
dann?«
Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Sie war immerhin ein Gott. Mit allem, was
dazugehört: Allmacht, Allwissen und Omnipräsenz. Ferner rührte von daher ihre
manchmal etwas eigenartige Wortwahl. Sie liebte es, veralterte Ausdrücke gepaart mit
zeitgenössischen Wörtern und Satzstellungen zu mixen.
»Okay, okay, ich mache es!«, gab ich schließlich auf, die Hände erhoben.
»Braver Schatten!« Sie klopfte mir auf die Schulter, das gewinnendste Lächeln, das
eine jede Lebensform in allen Multiversen verzaubert hätte ihre Lippen zierend.
Sie war seit jeher perfekt darin, Leute zu manipulieren - und das auf eine Art, die
charmanter nicht hätte sein können.
»Ich muss jetzt gehen. Du weißt ja, Friedensverträge schließen sich nicht von
alleine ab. Und, nochmals, damit das endlich in deinen Kopf geht.« Dabei klopfte sie
mir mit ihrem Zeigefinger auf die Stirn. »Hab mal etwas Spaß, amüsiere dich.
Ergötze dich an den Freuden des Lebens! Es wird Zeit, dass du auf dich schaust!«
Dann war Ihr Blick sanft geworden. »Du liebst deine Schützlinge mehr denn alles
andere. Das versteht keiner besser, denn ich. Aber du brauchst mehr denn bloß
jemand, für den du dir eine Kugel einfangen würdest. Mehr, denn jemand, der dir
zeigt, wie man am effektivsten einen Gegner tötet. Mehr, als bloße Kameraden.« Sie
ergriff meinen linken Unterarm, eine Geste, um mir zu zeigen, wie wichtig es ihr war,
das Gesagte ernst zu nehmen. »Du brauchst Freunde in deiner Welt. Nicht bloß hier
auf Taviss oder einem Paralleluniversum. Hör einmal auf meine Worte.« Und damit
hatte sie mich mit eleganten Schritten verlassen. Mioko, in ihrem weiß-goldenen, mit
Spitzen verziertes Kleid hatte wie eine Supernova gestrahlt, als sie den aus Marmor
belegten Korridor entlangstolziert war.
Ja, sie war mir schon eine. Mio und ihre Geheimniskrämereien! Irgendetwas hatte
sie vor.
So wie immer.
Hoffentlich würde ich den Urlaub nicht schon sehr bald bereuen …
»Herzlich willkommen auf der AIDA.«
Eine hübsche brünette Dame riss mich aus meinen Gedanken. Ich stellte meinen
Koffer ab, um die Broschüre entgegenzunehmen, die sie mir mit einem strahlenden
Lächeln überreichte.
»Wir freuen uns, Sie an Bord begrüßen zu dürfen.«
Ich lächelte zurück. »Das ist meine erste Kreuzfahrt. Muss ich etwas Besonderes
beachten?«
Freundlich erklärte sie mir, wie ich mich am schnellsten auf dem Schiff
zurechtfinde, Weiteres, wo man Informationen einholen könne und welchen
Dresscode es zu beachten gilt. Außerdem erklärte sie, dass jeder Passagier eine
Sicherheitsübung mitzumachen habe. Diese würde in einer Stunde beginnen.
Ich bedankte mich und nahm meinen Koffer wieder in die Hand. Ehe ich
weiterging, blickte ich mich nochmals unauffällig um: hinter mir alles in Ordnung.
Vor mir ebenfalls keine Auffälligkeiten.
Verdammt. Mio hatte doch gesagt, ich solle versuchen abzuschalten. Was sollte auf
einem Kreuzfahrtschiff schon großartig passieren?
Terroristen? Wohl eher ein Fall für Speed 2. Ein Serienkiller an Bord? Abteilung
CSI, oder wie diese ganzen langweiligen Krimiserien heißen mögen.
Es konnte doch überhaupt nichts schiefgehen!
Des Weiteren hatte ich einen Gegenaufklärungsgang, kurz GAG, von zwei Stunden
gemacht, ehe ich hier eingecheckt war.
Ergebnis: kein Verfolger!
Wäre ohnehin ziemlich unlogisch gewesen, hier jemanden auf den Fersen gehabt zu
haben. Meine einzigen vier gefährlichen Aufträge, die ich in dieser Welt erfolgreich
abgeschlossen hatte, beschränkten sich bisher auf Österreich. Und seien wir ehrlich:
Österreich war die größte Lusche überhaupt. Die hätten mir bestimmt keine Killer auf
den Hals gehetzt. Zudem hatte ich in den besagten Missionen bloß die Öffentlichkeit
beschützt. Weshalb sollte mich also jemand verfolgen wollen?
Dies zeigte einmal mehr, wie sehr ich einen Urlaub nötig hatte. Meine Nerven
brauchten eine Auszeit - ob mir das nun passte oder nicht.
Mit gemächlichen Schritten machte ich mich schließlich auf die Suche nach
meinem Quartier. Sagte man überhaupt Quartier? Bei Star Trek, ja. Aber hier?
Ehe ich weiterüberlegen konnte, sah ich bereits den großen Informationsschalter,
an welchem die neuen Passagiere ihre Zimmerschlüssel abholten. Eine Dame mit
Zahnpastalächeln überreichte mir einen Schlüsselchip, der nicht bloß als
Zimmerschlüssel, sondern genauso als Zahlungsmittel fungierte. »Ihre Kabine liegt
auf Deck 12. Nummer 1226.«
Kabine also.
Dankend nahm ich den Chip entgegen und machte mich auf zum Lift, der mich
lautlos und ruckelfrei in nicht einmal dreißig Sekunden zum 12er-Deck brachte.
Nach ein paar Schritten durch einen schmalen Korridor erreichte ich schließlich
meine Kabine.
Aufgeregt hielt ich die Schlüsselkarte, die ich durchwegs in meiner Hand gehalten
hatte, auf den sich rechts neben der Tür befestigten Sensor. Mit einem leisen Klick
sprang sie auf und ich trat ein, in einen äußerst einladenden, luftig hellen Raum, der
für die nächste Woche mein Zuhause sein sollte.
Vor mir, vier Meter entfernt, befand sich das, wie auch in Hotels, so typisch, weiß
überzogene Bett. Rechts standen ein kleiner Tisch und ein Kasten. Links, gleich
neben der Tür war eine Weitere. Diese führte ins Bad. Oberhalb des Bettes war ein
Verbau angebracht worden, der wohl viel Platz für meine Garderobe bot, jedoch
nicht unbedingt förderlich für meinen, durch regelmäßig aufkommende Albträume
gestörten Schlaf sein würde.
Meine Schützlinge dachten ja, die Albträume - in welchen ich meistens von Dingen
erschlagen wurde - entstünden durch meine Berufung. Bedauerlicherweise hatte ich
sie aber schon, ehe ich überhaupt Wächter wurde.
Dazu musste schon gesagt werden, dass Rettungsmissionen, in welchen man
beschossen wurde und fremde Leute, die mit tödlichen Wunden versehen, um Hilfe
flehten und schreiten, ebenfalls nicht förderlich waren für einen ruhigen, gesunden
Schlaf. Noch weniger, wenn man den besagten Personen ein wenig behilflich war,
und ihr Leiden durch einen gezielten Schuss in den Kopf beendete. Andererseits fand
ich dies allemal sozialer, als halb tote Leute ihrem Schicksal zu überlassen. Ich ertrug
es schlichtweg nicht, die Menschlichkeit leiden zu sehen. Daran würde sich nie etwas
ändern. Dann doch lieber ein Ende mit Schrecken - sozusagen.
Ich schloss die Tür hinter mir ab und fing sofort an, die Koffer auszupacken. Ich
wollte keine Zeit verlieren. Erstens hatte ich bereits ziemlichen Hunger, zweitens
wollte ich noch ein paar Fotos von der Abfahrt machen.
Hastig räumte ich meine Wäsche in die dafür vorgesehenen Kästen. Notebook und
Handy legte ich auf den Tisch, der Kamerarucksack fand darunter einen Platz. Meine
Hygieneartikel räumte ich in das kleine dennoch sehr edel wirkende, mit
beigefarbenen Fliesen ausgelegte Bad.
Nachdem alles eingeräumt und hergerichtet war, setzte ich mich erst einmal auf
den kleinen gepolsterten cremefarbenen Sessel neben dem Tisch, um mir die
Infobroschüre durchzulesen. Ich wollte keine Fehler machen und dadurch auffallen.
In meinem Job war es äußerst wichtig, sich sofort an die Gepflogenheiten einer
neuen Umgebung anzupassen. Diese Gewohnheit wollte ich auch im Urlaub nicht
ablegen. Schon deshalb war es unumgänglich, sich mit allen Schiffsregeln vertraut zu
machen.
Nach zehn Minuten war ich bereit für eine erste Erkundungstour.
Ich schnappte meine Kamera mit der linken Hand, steckte den Schlüsselchip in
meine hintere Hosentasche und öffnete die Tür - langsam, auf alles gefasst. Erst
nachdem ich meine Umgebung einer genauen Prüfung unterzogen hatte, entspannte
ich mich wieder.
»Reiß dich zusammen«, murmelte ich vor mich hin, während ich den Korridor
entlangging.
Wie es aussah, würden meine Nerven mehr denn eine Kreuzfahrt benötigen, um
sich einigermaßen zu erholen.
Das Schiff an sich war eine wahre Pracht: dreihundert Meter lang, siebenunddreißig
Meter breit und achtzehn Decks, Höchstgeschwindigkeit 21,5 Knoten. Und dann
erst der Name der Klasse: Hyperion! Das klang ebenfalls ein wenig nach Star Trek!
Neugierig, wie ich war, hatte ich sofort danach gegoogelt. Dabei fand ich heraus,
dass von dieser Schiffsklasse bisher erst zwei Schiffe gebaut worden waren. Und
weitaus interessanter war die neue Luftschmierung, die bei der AIDAprima zum
Einsatz kam. Diese sollte die Reibung des Wassers vermindern und dadurch den
Kraftstoffverbrauch senken. Ja, Wikipedia konnte ganz schön hilfreich sein!
Mit dem Lift fuhr ich zum 6er-Deck. Ich wollte unbedingt hinaus auf das
Sonnendeck und den Hafen fotografieren, während das Schiff in See stach.
Der Aufzug stoppte lautlos. Die Tür glitt auf die Seite und offenbarte mir eine
riesige Halle, die ich mit ein paar gezielten Blicken sofort nach möglichen Gefahren
abcheckte. Erst danach erlaubte ich es mir, die Einrichtung und das Design zu
bewundern. Dabei fiel mir als Erstes der gewaltige Luster auf, der die mit Metall und
Holz vertäfelte Decke zierte. Dann wanderte mein Blick nach unten. Der edle helle
Steinboden war mindestens genauso extravagant wie die Wände und die schmalen
Seitenbeleuchtungen.
Prunk und Protz, wo man hinschaute.
»Mioko lässt sich nicht lumpen«, murmelte ich, mich Richtung Sonnendeck
haltend. Glücklicherweise zahlte nämlich sie meinen Urlaub. Darüber hinaus war sie
es gewesen, die das Schiff ausgewählt hatte. Mir wäre das eindeutig etwas zu teuer
geworden.
Obwohl viele Passagiere zeitgleich mit mir an Bord gegangen waren und in der
großen Halle reges Treiben herrschte, kam mir das Schiff nicht überfüllt vor. Ehrlich
gesagt war das meine größte Sorge gewesen. Überall Menschenmengen und Tumult.
Das blieb mir, Mioko sei Dank, schon mal erspart. Jetzt musste bloß noch das Essen
schmecken - dann wäre ich wunschlos glücklich gewesen.
Auf dem Sonnendeck angekommen, machte ich sofort ein paar Probeaufnahmen.
Die Augustsonne brannte erbarmungslos von einem stahlblauen Himmel, welcher
bloß durch einige Schleierwolken einen Teil seiner Makellosigkeit einbüßen musste.
Mein Blick schweifte über den Hafen. Ich erkannte keine Gesichter, so erinnerte
der Tumult ein wenig an einen Ameisenhaufen.
›Vielleicht hätte ich doch Gade mitnehmen sollen‹, ging es mir durch den Kopf.
Etwas Abwechslung hätte ihm bestimmt gut getan. Hoffentlich würde er in Taviss
gut zurechtkommen.
*Sie bedeuten dir so unendlich viel.*
*Himmelherrgott, Mio! Raus aus meinem Kopf! Ich warne dich kein zweites Mal!*
Das war ja wieder so typisch! Sie liebte es, mich dann und wann gedanklich zu
kontaktieren. Genauso wie sie es liebte, mich spontan in irgendeine mir unbekannte
Welt zu teleportieren - ohne Informationen darüber, was ich zu tun hatte oder was
mich dort überhaupt erwarten würde.
Jäh fiel mir mein Wächter wieder ein. *Wie geht’s ihm?*, fragte ich sie.
Ich hörte ihr Kichern durch meinen Kopf hallen. *Gadreel geht es sehr gut. Wie
schon gesagt, wir kümmern uns um ihn! Und jetzt störe ich dich nicht länger. Und
ja, ich verspreche dir, ich werde deine Gedanken nicht mehr lesen.*
*Das hoffe ich sehr*, dachte ich genervt, mir eine Strähne meines kupferbraunen
Haars aus dem Gesicht streichend.
»Wunderbares Wetter heute, nicht wahr?«
»Wie ...?« Eine Stimme, so unbeschreiblich angenehm und sanft wie die eines
Engels, riss mich aus meinen Gedanken - mal wieder.
Erst damit bemerkte ich meinen Fehler - und drehte mich wie von der Tarantel
gestochen um: ich hatte, verdammt noch mal, niemanden kommen gehört oder
gespürt! Warum hatte mein Unterbewusstsein nicht reagiert?
Dieser Gedanke brachte schmerzhafte Erinnerungen zurück und bereitete mir
überdies Bauchschmerzen. Dabei war es doch genau das, was ich wollte - dass sich
meine Nerven beruhigten.
Oder aber, derjenige war ein Profi. Oder … nope.
Alsbald ich meiner Gesellschaft in die Augen schaute, war mir sofort klar, dass dies
kein Terrorist, Hitman, Söldner oder Psychopath sein konnte. Das war keiner von
dem üblichen Abschaum, mit dem ich mich in der Vergangenheit dermaßen oft hatte
herumplagen müssen.
Im Gegenteil, in seinen blaugrünen Augen spiegelten sich reine Güte,
Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit wider - und noch einiges mehr. Ich sah
Selbstsicherheit, eine große Menge davon, Mut und Ehrlichkeit und möglicherweise
eine Art von Verspieltheit, Abenteuerlust. Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich erst
einmal antworten.
»Ja, absolut«, meinte ich mit einem Lächeln. »Und, wie es aussieht, wird das schöne
Wetter noch länger anhalten«.
›Scheiß aufs Wetter, sieh dich an, Kleiner. Die Sonne verblasst neben dir.‹
Darauf antwortete er: »Gott sei Dank! Eine stürmische See kann ganz schön an die
Substanz gehen.« Und, als wären seine Stimme und sein Dauerstrahlen nicht bereits
genug Geschenke an die Welt, gab er mir das wundervollste Lächeln, das mir bisher
untergekommen war, kostenlos oben drauf.
Meine Antwort auf sein Lächeln war ein noch größeres meinerseits. Und damit fiel
mir sein zu keiner Zeit unterbrechender Blickkontakt auf.
Es war seltsam: Normalerweise empfand ich es als sehr unangenehm, wenn Leute
mir durchgehend in die Augen starrten - ganz im Speziellen, wenn dies
ausgesprochen gut aussehende Männer taten.
Bei ihm jedoch war das nicht der Fall. Und das hatte dann schon wieder etwas
Unwirkliches. Üblicherweise spürte ich Falschheit, Verlogenheit und Brutalität der
menschlichen Seele in der ersten Sekunde. Bei ihm fühlte ich nichts dergleichen. Das
Gegenteil war der Fall: Ich fühlte mich absolut sicher. Trotzdem oder besser gesagt
deshalb ließ ich mich von seiner Ausstrahlung nicht täuschen. Ich hatte mein
Lehrgeld bezahlt - und das auf lebensverändernde Weise.
Ich versuchte mich in eine Art Überwachungsmodus zu bringen, aber wollte es
einfach nicht klappen. Verdammt. Alles um mich herum war wie ausgeblendet. Ich
konnte ihn bloß ansehen. Nicht mehr und nicht weniger.
So etwas war mir noch nie passiert. In den ganzen Jahren meiner Existenz nicht.
Irgendetwas konnte ich immer sagen - und wenn es bloß ein blöder Spruch gewesen
war. Bei ihm jedoch hatte sich mein Hirn irgendwie in den Ruhemodus begeben.
Nur, wie zur Hölle aktivierte man ein im Energiesparmodus befindliches Gehirn?
Sicherlich nicht, indem man die Computermaus bewegte.
Nach weiteren endlosen Sekunden des stummen Anstarrens beiderseits wurde es
mir peinlich.
›Reiß dich bei Gott zusammen!‹, ermahnte ich mich im Geiste, mich räuspernd
aber ihn weiterhin in die Augen schauend.
Schließlich brachte ich es zusammen, folgendes zu fragen: »Sind Sie auch ein
Urlauber?«
Gut, das war nicht eben die kreativste Frage, aber besser denn gar nichts.
»Oh, nein«, erwiderte er sofort. »Nein. Ich arbeite im Bella Donna Restaurant auf
diesem Deck. Wenn Sie möchten, kommen Sie doch mal vorbei.«
Er hatte wohl nicht mit dem Stand-by-Modus zu kämpfen.
Unerwartet trat er etwas näher, bloß um mit gesenkter tiefer Stimme, bei der es mir
ungleich mulmiger wurde, anzumerken: »Das Essen dort ist besonders gut.« Seine
Augen leuchteten und während er wieder einen Schritt zurückmachte, zwinkerte er
mir zu.
Erneut war ich sprachlos. Was hätte ich dazu auch sagen sollen? Außerdem hatte
mich noch niemals jemand angezwinkert!
Okay, das stimmte nicht ganz. Gabriel tat das manchmal, aber war das etwas ganz
anderes.
Der Schiffsangestellte fuhr fort: »Aber sagen Sie’s nicht weiter. Sonst sind wir
wieder hoffnungslos überfüllt und Sie würden vielleicht keinen Platz mehr
bekommen.« Es folgte eine kurze Pause und ein neuerliches Lächeln seinerseits. »Was
ich äußerst bedauerlich finden würde.«
Flirtete er? Nein, das konnte gar nicht sein. Niemand flirtete mit mir, schon gar
nicht ein dermaßen gut aussehender Mensch wie er.
»Ich sage bestimmt nichts.« Grinsend bekräftige ich meine Worte durch eine
Handgeste. »Denn gutes Essen will ich am liebsten ganz für mich alleine.«
Und ein neues Mal schenkte er mir dieses wunderbare Lächeln.
Ach du Scheiße! Ich versteifte. Womöglich war er ja der Koch! Dann war das eben
der peinlichste und patzigste Flirtversuch in der Geschichte meines Daseins.
»Das hat jetzt doch hoffentlich nicht wie ein plumper Flirtversuch geklungen,
oder?«, versuchte ich das Gesagte sofort zu beschwichtigen, meine Hand auf meine
Stirn legend. »Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Das habe ich so nicht gemeint.«
Verflucht. Fuck. Bitch. Was redete ich auch einfach so munter drauf los!
Er kicherte. »Keine Sorge, das hat es nicht.«
»Doch, hat es«, widersprach ich ernüchternd, ehe ich zu lachen anfing. Jetzt war es
auch schon egal. Besser man nahm es mit Humor, als sich in Grund und Boden zu
schämen.
Das laute Schiffshorn war es, das mich aus meinen Überlegungen riss.
»Scheint, als ob wir endlich Anker lichten«, sprach er mit dieser tiefen angenehmen
Stimme, sich dabei an die Reling lehnend. Mit verträumtem Blick schaute er zum
Hafen, welcher sich langsam von uns zu entfernen begann. Sein goldblondes, so
unglaublich dichtes, gewelltes Haar, das er locker nach hinten gekämmt hatte, wurde
von einer leichten Brise zerzaust. Es war ein engelsgleicher Anblick.
Da sollte noch einer sagen, David Tennants Haare seien fabelhaft. Ich hatte in
meinem bisherigen Leben noch nie solch wunderschöne Haare gesehen! Allein
deshalb hätte ich ihn stundenlang betrachten können.
Und plötzlich überkam mich die Erkenntnis, er sei mehr denn einer von vielen.
Besondere Seele, hauchte eine Stimme tief in mir.
Gedankenverloren fuhr er sich durchs Haar. Es schien, als grübelte er über
irgendetwas nach.
»Haben Sie dienstfrei?«, fragte ich neugierig - und mit zurückkehrender
Selbstsicherheit. Mein Interesse an ihm wuchs mit jeder Minute.
»Ja, aber in zwei Stunden geht’s wieder an die Arbeit.«
Während er dies sagte, lehnte er sich mit dem Rücken an die Reling, steckte die
Hände in die Taschen seiner weißen Hose, woraufhin mir für den Bruchteil einer
Sekunde die Luft wegblieb.
Wie er da stand mit seinem weißen Outfit. Ja, das Hemd, welches er nicht ganz
zugeknöpft hatte und sanft im Wind wehte, war ebenfalls so blütenweiß wie die
Leinenhose. Es schmiegte sich regelrecht an seine schlanke Gestalt - wie eine nach
Streicheleinheiten dürstende Katze - es wirkte so unwirklich, ja engelsgleich. Und für
einen Moment beschlich mich das Gefühl, er sei möglicherweise tatsächlich einer
dieser strahlenden wundervollen Wesen.
Er suchte meine Augen, musterte mich dermaßen intensiv, dass mir beinahe
schwindlig wurde.
Um mich einigermaßen zu fangen, warf ich - mich räuspernd - einen kurzen Blick
zur See.
Irgendwie erinnerte mich diese Situation an eine Rosamunde Pilcher Schnulze.
Dabei stand ich doch so überhaupt nicht auf Liebesschnulzen! Und ich war noch nie
zuvor dermaßen sprachlos gewesen! Immerhin waren meine Schützlinge alles andere
denn Mauerblümchen. Verflucht, wer war der Typ?
»Wollen Sie keine Fotos machen?«, fragte er mit Blick auf meine Canon. »Mit solch
einer großen Kamera können Sie diese Wunder um uns herum bestimmt perfekt
einfangen.«
»Ja, stimmt. Ich wollte eigentlich ein paar Aufnahmen von der Abfahrt machen.
Aber haben Sie mich ein wenig abgelenkt.«
Um seinen Blick aufs Neue zu entgehen, machte ich ein paar Schnappschüsse. Viel
würde daraus jedoch nicht mehr werden, zumal ich mich schwer auf irgendetwas
anderes zu konzentrieren vermochte, denn auf diesen wunderschönen Mann, der da
neben mir stand und jede meiner Bewegungen beobachtete.
Über was hatte ich eben noch nachgedacht? Himmelherrgott!
»Das tut mir leid. Ich wollte Sie keineswegs stören. Ich kann Sie auch gerne alleine
lassen, wenn Ihnen das lieber ist.« Mit seiner Körperhaltung machte er deutlich das
Sonnendeck verlassen zu wollen.
»Nein, nein. So habe ich das nicht gemeint.« Ich machte eine beschwichtigende
Geste mit meiner rechten Hand. »Das war eigentlich positiv gemeint. Ich bin
dankbar für etwas Unterhaltung.«
Er durfte mir jetzt nicht schon abhauen! Ich wollte unbedingt mehr über ihn
erfahren!
Er lächelte sein unwiderstehliches Lächeln.
Herrgott, wie konnte ein Mensch bloß dermaßen strahlen?
»Das freut mich.« Es kam mir vor, als suchte er nach den richtigen Worten. »Es ist
ein schönes Hobby, das Fotografieren.«
»Ja, es liegt mir sehr am Herzen, obwohl ich mich meistens erst dazu zwingen
muss, einen Fotoausflug zu machen«, gab ich ehrlich und grinsend zu. »Ich bin leider
ein ziemlich fauler Sack.«
Seine Lippen formten ein wissendes Grinsen. »Das Gefühl kenne ich nur zu gut.«
Welche Dinge waren es wohl, die er aufzuschieben pflegte? »Ja, wirklich? Da bin
ich jetzt aber froh! Die Leute, mit welchen ich zu tun habe, sind allesamt das
komplette Gegenteil von mir. Emsig wie die Bienen. Ich falle da wohl eher in die
Rubrik: der Aufschiebetyp. Deswegen habe ich auch meistens ein schlechtes
Gewissen. Aber ich kann mich da einfach nicht ändern. Gott, ich habe mich doch eh
schon so oft geändert. Ich glaube, diesen Fehler behalte ich mir.« Achselzuckend
lächelte ich ihn schräg an. Warum erzählte ich ihm das überhaupt?
Mir tief in die Augen blickend sprach er mit seiner an Schokocreme erinnernden
Stimme: »Die meisten Leute übertreiben, oder spielen dir etwas vor. Aber die
Wahrheit ist: Die wenigsten Menschen sind so, wie sie auf dem ersten Blick
erscheinen.« Zwar lächelte er weiterhin, dennoch hatte sich da etwas verändert.
Irgendwie wirkte er bedrückt - und dies versetzte mir einen gewaltigen Stich.
Besondere Seele, wisperte es durch meinen Geist. Niemals soll dein Blick betrübt, dein
Licht verdunkelt, deine Lebensfreude genommen werden.
»Und außerdem sollte man sich zur Ausübung seines Hobbys nicht zwingen«, fügte
er hinzu. »Ein Hobby soll ja erholen und Spaß machen, oder nicht?«
»Ich gebe Ihnen bei beidem absolut recht.«
Diese Worte veranlassten ihn, mich intensiver zu mustern. Es schien beinahe, als
versuchte er direkt in meine Seele zu blicken, um zu überprüfen, ob mein Gesagtes
wohl wirklich der Wahrheit entsprach.
Dadurch verlor ich mein gänzliches Zeitgefühl. Ich konnte beim besten Willen
nicht mehr sagen, wie lange wir so dagestanden hatten.
Nach einer angefühlten Ewigkeit räusperte ich mich - das half ungemein, meinen
Kopf wieder in Betrieb zu nehmen - ehe ich mit einem nervösen Lächeln meinte:
»Nun, ich glaube, ich werde mein erstes Essen an Bord dann wohl im Bella Donna
einnehmen.«
Diese Worte brachten seine Augen zum Leuchten. »Ausgezeichnet!«, rief er sich von
der Reling abstoßend. »Dann sehen wir uns heute Abend. Und wenn ich Ihnen noch
einen Tipp geben darf: Ich empfehle, an einen der vorderen Tische Platz zu nehmen.«
»Okay. Ich werde darauf achten.«
Was meinte er damit? Es wurde immer interessanter.
»Dann, bis später.« Er lächelte charmant, drehte sich um und verließ mit ruhigen,
selbstsicheren Schritten das Sonnendeck.
Nachdem er aus meinem Sichtfeld verschwunden war, lehnte ich mich an die
Brüstung. Jetzt musste ich erst einmal meine Gedanken ordnen.
Das war die intensivste Begegnung, die mir bisher untergekommen war. Und das
war es bestimmt gewesen, das Mio gesehen hatte!
War ja klar. Alles, was sie tat, hatte einen höheren Sinn.
Besondere Seelen gehören beschützt. Sie sind der Grund, warum wir hier sind. Wir sind
Wächter.
Tja, und wenn es so weiterginge, würde es nicht lange dauern, bis unsere Seelen
eine unumkehrbare Verbindung eingehen würden.
Dieser Urlaub konnte noch interessant werden.
Es war 18:00 Uhr, als ich nach überstandener Sicherheitsübung in meiner Kabine
ankam. Also hatte ich noch eine Stunde Zeit, bis, ja jetzt bemerkte ich es erst: Ich
hatte ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt.
Nun gut. So schlimm war es auch nicht. Namen waren in erster Linie nicht von
Bedeutung. Auf alle Fälle würde Mr. Handsome’s Dienst um 19:00 Uhr beginnen.
Während ich mich duschte, dachte ich darüber nach, welches Outfit ich anziehen
sollte. Der Dresscode besagte, dass man sich in Bars, Restaurants und Kasinos nur
mit Abendgarderobe zeigen durfte. Bedeutete im Klartext: keine Bermudas,
Hotpants, Flipflops oder allgemeiner Touristenlook.
War irgendwie verständlich.
Im Geiste ging ich meine überwiegend dienstlich benutzten Businesskleider durch,
welche aufgrund ihres eleganten Schnitts den Weg in meine Reisegarderobe gefunden
hatten. Ein weiterer Grund war mein ausgeprägtes Sparverhalten. Warum sollte ich
neues Gewand kaufen, wenn ich doch genügend schöne Kleider in meinem Schrank
hatte?
Ich entschied mich für ein schwarzes Kleid, welches durch leichte Spitze an Armen
und Beinen elegant aber nicht zu verspielt wirkte.
Fun Fact: Dieses Kleid trug ich ebenfalls, als ich Ginger vor drei Monaten bei einem
Auftrag unterstützt hatte.
Eine Schießerei und einige Leichen später standen wir beide, jeweils mit einer
Beretta 96 in unseren Händen, vor dem Hotel.
Während ich meine Waffe sicherte, warf ich ihm einen gespielt verzweifelten Blick
zu. »Wenn ich in mein Auto steige, schaffe ich es jedes Mal, meine verfluchten
Strumpfhosen zu ramponieren. Und hier zerreißt nicht einmal dies gottverdammte
filigrane Kleid? Was mache ich bloß falsch?«
Gingers Antwort darauf war ein herzhaftes Lachen und ein Du bist nun mal einfach
großartig! gewesen.
Das hatte schlussendlich auch mich zum Lachen gebracht.
Ich musste schmunzeln. Es waren doch immer die kleinen Dinge, die man am besten
in Erinnerung behielt.
Ich stieg aus der Dusche, trocknete mich ab und zog das besagte Kleid an.
Schließlich noch die Haare geföhnt und aufgesteckt, das Gesicht eingecremt, etwas
Wimperntusche aufgetragen, Brille auf - fertig. Ich war bereit, mein erstes Essen auf
der AIDA einzunehmen.
Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich gut in der Zeit lag. Ich hatte noch
zehn Minuten. Also steckte ich die Schlüsselkarte in meine kleine Tasche, zog meine
schwarzen Pumps an und verließ die Kabine.
Nun waren deutlich mehr Leute unterwegs. Die Einen kamen vom Essen, die
Anderen waren auf dem Weg dorthin.
Das Restaurant fand ich auf Anhieb. Es befand bloß ein paar duzend Meter vom
Sonnendeck entfernt und sah schon von außen sehr italienisch aus.
Bereits beim Eintreten wurde ich - wie nicht anders zu erwarten - sofort von den
Düften italienischer Kräuter, gebratenen Fischen und frisch gebacken Brötchen
begrüßt. Mit einem schnellen Blick scannte ich die Örtlichkeit ab. Der Raum war
mediterran eingerichtet - viel Holz und Stein, Erd- und Gelbtöne und bot Platz für
schätzungsweise achtzig Personen. Hinterausgang gab es zwar keinen, aber würde ich
diesen wohl auch nicht brauchen.
Wie von Mr. Handsome angeraten, hielt ich nach den vorderen Tischen Ausschau und erblickte dabei die kleine unscheinbare Bühne. Wurden hier etwa KaraokeNächte veranstaltet?
Der letzte freie mit Rosen geschmückte quadratische Holztisch schob meinen
Gedanken beiseite. Ich eilte hinüber, ließ mich auf den weiß gepolsterten
Vollholzstuhl nieder, ehe mein Blick zurück zur Bühne wanderte - und meine mental
gestellte Frage beantwortet wurde.
Nein. Das seitlich gelegene aufgestellte Schlagzeug und weitere an die Wand
lehnende Instrumente verrieten, dass hier Livemusik gespielt wurde. Umso besser!
Karaoke hatte mich nie sonderlich interessiert.
Mein Magenknurren war es schließlich, welches meinen Blick zur Speisekarte
lenkte. Ich nahm sie aus der Haltung und begann zu lesen.
Der Koch machte es mir wirklich nicht leicht. So viele köstliche Gerichte! Nach
längerem Hin und Her entschied ich mich für Muscheln mit Basilikum und Zitrone,
die ich bei einem aufgeweckten dynamischen jungen Kellner bestellte. Nachdem
dieser mit flotten Schritten davongeeilt war, blickte ich mich - die Macht der
Gewohnheit - nochmals unauffällig um.
Niemand löste mein Radar aus. Auch Mr. Handsome nicht. Wo steckte er wohl?
War er etwa tatsächlich der Koch? Oder doch Kellner - aber unter den Servierkräften
hatte ich ihn bisher nicht ausmachen können. Ebenso wenig an der hinten gelegenen
Bar.
Also, was tat dieser gut aussehende Typ hier?
Ich nippte an meinem Orangensaft, der mir eben serviert worden war, zerbrach mir
weiterhin den Kopf - stets einen unauffälligen Blick durch den Raum gleitend.
Irgendwann ließ ich es dabei bewenden. Sollte er nicht mehr auftauchen, hatte sich
die Sache wahrscheinlich längst wieder erledigt.
Ich blickte auf mein Smartphone. Es war erst zehn nach sieben. Scheinbar hatte ich
keine fünf Minuten von meiner Kabine bis zum Restaurant gebraucht. Und das
wiederum konnte auf eine mögliche Verspätung seitens Mr. Handsome deuten - oder
seine Schicht hatte sich verschoben.
Noch einmal ließ ich meinen Blick über die Leute schweifen. Es waren beinahe
ausschließlich Paare oder Familien zu sehen. Wie es schien, war ich - mal wieder - die
Einzige, die alleine an einem Tisch saß. Typisch.
Nun, zum Glück störte das hier niemanden. Ein paar Leute blickten zwar kurz zu
mir, stellten jedoch schnell fest, dass ich für eine längere Observation doch nicht
interessant genug war.
Plötzlich tat sich etwas.
Leute betraten die Bühne. Ein Typ mit dunklen Haaren nahm das Keyboard, das
sich eben noch hinten an der Wand befunden hatte, um es weiter vorne aufzustellen.
Ein anderer, dessen Haarfarbe ich nicht genau zu beschreiben vermochte - war es
braun oder doch eher rötlich? - setzte sich ans Schlagzeug. Die dritte Person, eine
junge Frau mit schwarzen, mittellangen Haaren stellte einen kleinen Hocker neben
den Keyboarder, bloß um kurz darauf zu verschwinden. Nach einiger Zeit kam sie
mit einer Gitarre zurück. Inzwischen hatte der Keyboard-Typ ein Mikro in die Mitte
der Bühne gestellt, und eine zweite Frau mit hellen langen Haaren und einem
Saxofon in der Hand hatte sich zur Gruppe gesellt. Ihr folgte ein Mann mit
italienischen Gesichtszügen. Er wirkte sehr charismatisch - vielleicht deshalb? - und
hatte eine Bassgitarre in der Hand.
Ein neuer Gedanke schoss mir durch den Kopf: Spielte etwa Mr. Handsome in
dieser Band mit?
Ich musste nicht lange warten, um eine Antwort auf meine Frage zu erhalten,
beobachtete ich schließlich keine Minute darauf, wie Letztgenannter, mit seinen
Händen in den Taschen seiner weißen Hose den Raum betrat. Sein restliches Outfit
bestand aus dem weißen Hemd, welches er bereits auf dem Sonnendeck getragen
hatte, und darüber eine cremefarbene Weste. Seine goldblonden Haare hatte er
wieder locker zurückgekämmt.
Kurzum: Er sah umwerfend aus.
Wie würde er wohl aussehen, wenn ihm seine Haare ins Gesicht fallen würden?
Während Mr. Handsome den Raum elegant durchquerte, beäugte er unauffällig
doch bestimmt die vorderen Tische.
Suchte er etwa mich? Konnte das sein?
Als sein Blick den meinen traf, warf er mir ein strahlendes Lächeln zu.
Ja, Tatsache.
Flott betrat er die Bühne und besprach sich mit seinen Kollegen - und keine drei
Minuten später trat er ans Mikro. Seine Körpersprache signalisierte Selbstsicherheit
und Lebensfreude, wie heute Nachmittag.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, begann er. »Ich habe mich leider etwas
verspätet, da mich eine Kleinigkeit-«, damit sah er zu mir, schenkte mir dieses
engelsgleiche Lächeln. »Abgelenkt hat.«
Ich grinste zurück. ›Na, ich habe dich bestimmt nicht abgelenkt, Kleiner. Wohl
eher du mich.‹
Damit war geklärt, weshalb er diese unglaubliche Ausstrahlung besaß. Als Sänger
brauchte er eine große Menge Mut und Selbstvertrauen.
Während der Begrüßung funkelten seine Augen wie tausend Sterne, darüber hinaus
versuchte er mit jedem Gast mindestens einmal Blickkontakt aufzunehmen - und mit
mir noch ein paar Mal mehr.
»Ich hoffe inständig, dass mein Boss mir wegen dieser Sache nicht allzu großen
Ärger bereiten wird«, witzelte er. »Aber genug der langen Rede, jetzt wird gesungen!«
Die Leute applaudierten kurz, dann wurde es still.
Nach einigen Sekunden fing die Band an zu spielen. Wie es sich anhörte, fiel der
erste Song in die Kategorie Smooth-Jazz.
Schließlich erhob Mr. Handsome seine Stimme: »This is the beginning. The start of
something good.«
Und mir wurde es ganz anders.
Jedes Wort, jede Strophe sang er mit dermaßen viel Hingabe. Und erst der Klang
seiner Stimme! Es war unbeschreiblich. Ich war mir sicher: Nicht einmal ein Engel
würde schöner singen.
›Sorry, Gabe.‹
Während er »We were made for each other« sang, bedachte er mich mit einem solch
lieblichen Blick garniert mit einem weiteren bezaubernden Lächeln, dass es mir um
ein Haar eine unangenehme, mir so verhasste Wärme in die Wangen geschickt hätte.
›Bei allen Raumgeistern! Flirtest du mit mir? Mein Freund, so einfach läuft das aber
nicht.‹
»Ihre Muscheln in Basilikum- und Zitronensoße, Miss.«, riss mich der Kellner aus
meinen Gedanken.
Das wurde wohl langsam zur Gewohnheit.
»Vielen Dank!«, entgegnete ich, legte die Serviette auf meinen Schoß und begann
zu essen.
Immer wieder warf mir Mr. Handsome Blicke zu. Es schien beinahe, als würde er
diesen Song ausschließlich für mich singen. Aber das zu glauben - nun ja, dermaßen
bescheuert war ich dann auch nicht.
Immerhin war dies alles Teil der Show. Wenn ich er wäre, würde ich es nicht anders
machen. Mit seiner Stimme und Ausstrahlung konnte er jede Frau um den Finger
wickeln - und damit machte der Restaurantbesitzer viel Geld. Bestimmt würden viele
Damen einzig wegen seines Gesanges und Aussehens hier essen gehen, und nicht nur
wegen der guten Speisen. Die Muscheln schmeckten nämlich hervorragend - dies
bloß am Rande erwähnt.
Ja, ehrlich gesagt, konnte ich mir sehr gut vorstellen, hier jeden Tag zu dinieren.
»We’ll fly away together.« Er warf mir einen weiteren Blick inklusive strahlenden
Lächelns zu, welcher meinen Adrenalinspiegel langsam aber sicher anhob.
Solch eine Emotion empfand ich üblicherweise vor einer Mission. Waren meine
Nerven etwa dermaßen überbeansprucht?
Nun, was auch immer. Das Beste war wohl, mich bloß noch auf das Essen zu
konzentrieren.
Jedenfalls versuchte ich es. Doch bereits beim zweiten Song wanderte mein Blick
zurück zu ihm, war seine Stimme schlichtweg zu schön, um sie ignorieren zu können.
Es war eine weitere Schnulze. Mr. Handsome sang mit geschlossenen Augen, sein
Gesichtsausdruck wirkte bedrückt wie sehnsüchtig. Mit beiden Händen ergriff er das
Mikrofon, hauchte mehr als er sang: »Because this love right now was meant to be.«
Mir ging es heiß und kalt den Rücken runter. Überdies stiegen mir Tränen in die
Augen.
Die Melodie, der Text - es klang so hoffnungsvoll, wunderschön doch ebenso
schwermütig.
»Was it a dream?«, sang er weiter, seine Miene verzweifelt.
Mein Gott! Entweder war er ein verdammt guter Schauspieler, oder aber handelte
der Song von einem persönlichen Erlebnis.
Hatte er etwa die Liebe seines Lebens gefunden? Verdient hätte er es, dermaßen
besonders, wie er war. Und obwohl ich ihn gar nicht kannte, tat mir der Gedanke in
der Seele weh. Fragen Sie mich bitte nicht, weshalb - ich wusste es selbst nicht.
Es folgte eine weitere Schnulze. Seine hauchende tiefe weiche Stimme füllte den
Saal aus. Es war herrlich! Noch nie war ich bei einem Liveauftritt einer Jazzband
dabei gewesen, doch das, was diese Leute da ablieferten - und ganz im speziellen Mr.
Handsome - war schlichtweg wundervoll! Und das sagte jemand, der ein absoluter
Liebesliedverweigerer war.
Ja, dieser Mann musste besonders sein! Lediglich besondere Seelen vermögen es,
ihre Mitmenschen zu verzaubern.
Und das machte er. Und wie er das machte!
Nur mit Gewalt brachte ich es zustande meine Augen von ihm zu lösen, um einmal
kurz durch den Raum zu blicken.
So wie es schien, war ich nicht die Einzige, die er verzaubert hatte. Auch die
übrigen Gäste saßen still auf ihren Stühlen, hörten zu - ließen sich auf eine Reise
schicken. Viele hatten sogar zum Essen aufgehört.
Er hatte es mit nicht einmal drei Songs fertiggebracht, den kompletten Raum zu
verwandeln, für sich zu gewinnen.
Mein Blick wanderte zurück zu ihm, woraufhin er es mir mit einem weiteren
strahlenden Lächeln dankte.
Ich erwiderte es, während ich ein Stück Muschel in den Mund schob.
Im Grunde sang Mr. Handsome bloß ein langweiliges Liebeslied, doch sah man es
ihm deutlich an, wie er alles aufzubringen versuchte, um dieser einen Geschichte,
diesem einen Song, in dem er sich für diese paar Minuten zu verlieren schien, eine
romantische wie sexy Ausstrahlung mitzugeben. Und das Lied für Lied. Die
Atmosphäre, die er erzeugte, war nahezu greifbar.
Auch auf die Gefahr hin, sexistisch zu klingen - aber wie er da auf der Bühne stand
und sang - das hatte beinahe etwas Erotisches. Und das war, verdammt noch mal, das
Allerletzte, das ich gebrauchen konnte! Denn, sollte er - und daran gab es jetzt keinen
Zweifel mehr - eine besondere Seele sein, hatte ich den Auftrag, ihn zu schützen und
zu leiten. Romantik hatte da keinen Stellenwert. Überhaupt keinen Stellenwert.
Ich nahm einen Schluck von meinem Orangensaft.
»…. give me your tomorrow«, sang er, mir einen neuen Blick zuwerfend, durch
welchen ich mich beinahe verschluckte.
Es wurde kritisch. Machte er das bei allen Frauen? So hoffte ich jedenfalls. Männer
flirteten nicht mit mir, jedenfalls kein Mann von solch einer Liga. Das war ein
unumstößliches Gesetz!
Sie begannen mit dem nächsten Song und die Gefühle, die er zu vermitteln
versuchte, waren sofort wieder spürbar.
Himmlischer, flüsterte es erneut in mir.
Es war faszinierend. Neuerlich schloss er die Augen. »Here’s to you and what you do
to me.« Dann öffnete er sie, um kurz in die Runde zu blicken, ein - selbstzufriedenes?
- Lächeln seine Lippen umspielend. Nein, Korrektur! Vielmehr schien es, als
empfinde er Erleichterung. Erleichterung, den Personen in diesem Raum eine schöne
Zeit zu schenken - wenn auch bloß für kurz.
Die nächsten Songs waren ebenfalls und wie nicht anders zu erwarten, allesamt
Liebeslieder. Er hatte sich scheinbar ausschließlich auf Schnulzen spezialisiert, und
wie erwähnt, hasste ich solche Art von Songs normalerweise. Bei seiner Stimme
jedoch war mir das, gelinde gesagt, egal. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können.
Nachdem die Band drei weitere Songs gespielt hatte, gab es eine Pause.
Einerseits wollte ich mir ein bisschen die Beine vertreten, andererseits hatte ich das
Bedürfnis nach einem Drink. Darum entschied ich mich, der Bar einen Besuch
abzustatten.
Ich setzte mich auf einen Hocker mit gutem Blick auf die Bühne und durfte kurz
darauf beobachten, wie Mr. Handsome von einigen Frauen angesprochen wurde.
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Zwar schaffte er es charmant und
aufgeschlossen zu wirken, doch gab es eine Menge Anzeichen, die mir verrieten, wie
wenig Interesse er an dem Gespräch tatsächlich hatte.
Da waren zum einen seine etwas reservierte Körperhaltung und zum anderen sein
ständiges Zur-Bar-Blicken. Er wollte bloß weg - doch zu seinem Leidwesen wollten
die verzückten Damen dies partout nicht bemerken.
Ich konnte es ihnen nicht verübeln! Sah er doch umwerfend aus und war mit dieser
sexy Stimme gesegnet.
Nach einigen weiteren ausgetauschten Worten schaffte er es schlussendlich, die
Damengesellschaft loszuwerden und seinen Weg fortzusetzen - geradewegs auf mich
zu! Oh Gott!
Ich drehte mich zum Barkeeper: »Jetzt brauche ich irgendetwas Starkes. Haben Sie
vielleicht einen Aberlour?«
»Natürlich! Eine sehr gute Wahl, Miss.«
Er schenkte den Single Malt in ein eckiges Glas ein, welches er mit einer eleganten
Bewegung vor mir auf den Tresen stellte. Sofort nahm einen kräftigen Schluck und
verzog zum Abschluss ein wenig das Gesicht. »Ja, der haut anständig rein. Danke.«
Schmunzelnd drehte sich der dunkelhaarige Bartender auf die andere Seite. Und
dann war auch schon Mr. Handsome neben mir.
»Und, wie hat Ihnen unser Auftritt bisher gefallen?«, fragte er mich mit einem
strahlenden Lächeln und erwartungsvollen Augen, platznehmend. Er warf einen
schnellen Blick zum Barkeeper: »Für mich das Übliche, bitte.«
»Es war großartig!«, entgegnete ich.
Keine Sekunde dauerte es, bis seine Augen aufleuchteten.
»Und die Tatsache, dass Sie versuchen - nein, das stimmt nicht ganz. Warten Sie
kurz. Ich muss die richtigen Worte finden.« Nervös gestikulierte ich mit meinen
Händen. Er schaffte es wieder, mich sprachlos zu machen. »Dass Sie die Leute mit
ihren Liedern für einen kurzen Moment alle Sorgen vergessen lassen, macht es noch
wunderbarer. Ja, so wollte ich das sagen.« Stolz wie erleichtert, diesen Satz halbwegs
vernünftig herausgebracht zu haben, nahm ich lächelnd einen weiteren Schluck
Single Malt und stütze mich daraufhin mit meinem linken Arm auf die auf
Hochglanz polierte Theke.
In dieser Zeit stellte der Barkeeper ein Glas Wasser vor den Sänger hin.
»Vielen Dank«, gab Mr. Handsome als Antwort darauf zurück. Dann schaute er
mir - erleichtert? dankbar? - tief die Augen. »Sie haben es bemerkt?« Es klang jedoch
eher nach einer Feststellung, denn einer Frage. Und obwohl er den Augenkontakt zu
keiner Sekunde unterbrach, hatte es den Anschein, er würde es mehr zu sich selbst
sagen, als zu mir.
Nach einer Weile des Schweigens wurde mir die Situation unangenehm. Um seinen
Blick für einen Moment zu entgehen und einen klaren Gedanken fassen zu können,
richtete ich meinen Blick auf den Barkeeper, während ich einen weiteren Schluck des
starken Gesöffs nahm.
»Sie sehen heute Abend umwerfend schön aus.«
Wie er es sagte - mit dieser tiefen weichen Stimme - ich musste husten.
»Dieser Aberlour hat es in sich«, entschuldigte ich mich krächzend. Gleichzeitig
beobachtete ich dabei, wie sich sein Lächeln verbreiterte.
Verflucht. Natürlich hatte er sofort bemerkt, dass nicht der verdammte Single Malt
Schuld an meinem Hustenanfall war.
Also gut, mein flirtwilliger Freund! Es wurde Zeit, die Situation etwas zu
entschärfen.
»Vielen Dank für das Kompliment, aber ich glaube, wir haben uns noch gar nicht
vorgestellt, oder? Ich bin Isa.« Dabei streckte ich ihm die Hand entgegen. »Und es
freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Sein Lächeln verschwand abrupt, um Platz für Erkenntnis zu machen.
Damit war wohl der Groschen gefallen.
»Ach du meine Güte«, entfuhr es ihm. Mit einem leicht beschämenden Lächeln
ergriff er meine Hand, woraufhin mein Kopf leer wurde. Komplett leer. Bloß ein
Wort echote durch meinen Geist: Equal.
Sein etwas starrer Blick verriet, dass er wohl mit Ähnlichem zu kämpfen hatte.
Einige Sekunden und automatische Händeschüttler später räusperte er sich. »Das
ist mir jetzt unglaublich peinlich. Mein Name ist Tarriannah. Und die Freude ist ganz
auf meiner Seite.« Abschließend ließ er mich los - äußerst langsam, ja nahezu
widerwillig.
Am liebsten wäre es mir ohnehin gewesen, hätte er mich nie mehr losgelassen. Und
weitaus lieber hätte ich ihn in meine Arme geschlossen.
War ich jetzt komplett daneben? Was zur Hölle dachte ich denn da?
Ich blinzelte ein paar Mal, versuchte mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren,
doch war es hoffnungslos. Zum wiederholten Male war alles wie ausgeblendet. Ich
sah einzig und allein ihn - diese strahlende Seele von einem Menschen.
»Wow, das ist ein außergewöhnlicher Name.« Ich räusperte mich - versuchte
dadurch meinen Kopf irgendwie in Gang zu bringen. Beim letzten Mal hatte es
schließlich ebenfalls funktioniert! »Einen wie diesen habe ich noch nie gehört.«
»Er kommt aus dem Irischen«, erklärte er mir.
Stammte er also aus Irland? Darum wahrscheinlich das sich so perfekt anhörende
Englisch. Aber Deutsch sprach er genauso akzentfrei. Ein Sprachtalent?
»Hat er auch eine besondere Bedeutung?«, wollte ich weiter wissen, ehe ich den
letzten Schluck Malt nahm.
»Ja, übersetzt heißt er so viel wie: Light of my life.«
»Das klingt wundervoll.«
Erneut brachten meine Worte seine Augen zum Strahlen. Wie wunderschön er mit
diesem funkelnden Blick aussah!
Der Name passte perfekt. Dieses Leuchten, welches so tief aus seiner Seele zu
kommen schien, das konnte man bloß als Lebenslicht bezeichnen.
»Die meisten Leute tun sich etwas schwer damit«, entgegnete er im lockeren
Tonfall. »Wenn es Ihnen leichter fällt, können Sie mich gerne Tarri nennen. Dann ist
es auch nicht so lang.« Anschließend leerte er sein Glas.
»Das klingt gut. Okay, Tarri also.« Ich nickte zur Bestätigung »Ja, das ist wirklich
einfacher.«
»Die Pause ist gleich vorüber. Bleiben Sie noch ein wenig?« Seine Stimme klang
erwartungsvoll.
Ehe es mir möglich war, etwas darauf zu erwidern, fuhr er fort: »Ich kann Ihnen
das Bananensplit als Nachtisch empfehlen.« Im Anschluss daran glitt er mit nahezu
erotischer Eleganz vom Barhocker, mir durchgehend in die Augen schauend.
»Na gut. Wenn Sie mich schon so zu überreden versuchen, werde ich mir noch
einen Nachtisch gönnen.«
Seine Antwort darauf war ein weiteres wundervolles Lächeln. Mit »Das mache ich
normalerweise nicht bei jedem Gast.« verabschiedete er sich - einen neuen intensiven
Blick in meine Augen gerichtet.
Ich wollte etwas antworten, da war Tarri jedoch, und das mit unglaublich
geschmeidigen Schritten, bereits auf dem Weg zurück zur Bühne.
Alsbald er aus meinem Blickfeld verschwunden war, nahm mein Gehirn wieder
seinen Dienst auf. Und damit bemerkte ich erst den, mich mit großem Interesse
musternden Barkeeper.
Das war alles andere als lustig! Für gewöhnlich registrierte ich sofort, wer oder ob
mich jemand beobachtete.
Lächelnd drehte ich mich zum neugierigen Tender und fragte, mit den Daumen
über meine Schulter zeigend: »Ist er immer so gut drauf?«
Ein ertapptes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Ja, ich habe ihn selten anders
angetroffen.«
›Ja, erwischt, mein Kleiner‹.
Als hätte er meinen Gedanken gehört, drehte er sich hastig weg und fing an, seine
ohnedies glänzend saubere Arbeitsfläche einer neuerlichen gründlichen Reinigung zu
unterziehen.
Breit grinsend machte ich mich auf zu meinem alten Platz in der ersten Reihe, der
zum Glück noch nicht neu belegt worden war.
Keine Minute dauerte es, bis mir die Dessertkarte gebracht wurde. Ich blätterte
kurz durch, blieb aber letztendlich bei dem Bananensplit, den Tarri mir empfohlen
hatte. Obwohl ich das Eis - wegen meiner Allergie - nicht essen durfte, hatte ich
wenigstens die Bananen. Und, um den Doctor zu zitieren: I like bananas. Bananas are
good.
Inzwischen begann die Band wieder zu spielen und Tarri zu singen: »Just an
ordinary day watching people passing by, suddenly you caught my eye.« Dabei blickte er
in meine Augen, lächelte breit und zwinkerte mir obendrauf zu.
›Ist das noch jugendfrei?‹, ging es durch meinen Kopf.
Langsam wusste ich nicht mehr, wohin ich schauen sollte. Und eine Nachspeise zur
Ablenkung hatte ich ebenfalls nicht. Oh, Mann. Des Weiteren hatte ich nicht
gesehen, dass er anderen Frauen dieselben Blicke zuwarf - was mir einerseits natürlich
sehr schmeichelte, andererseits begann, mir Angst einzujagen.
»And you can show me the secrets of your heart.« Abermals warf er mir einen
intensiven Blick zu.
Ich lächelte ihn an - mehr hätte ich sowieso nicht tun können.
Dann wurde endlich das Bananensplit serviert - und ich dankte Gabe in meinen
Gedanken.
***
Zwischenzeitlich in Taviss:
»Ist das noch jugendfrei?« Mioko saß an ihrem gewaltigen aus Holz gefertigten und
auf Hochglanz polierten Schreibtisch, zitternd vor Lachen.
Als jemand an der mächtigen doppelseitigen Tür klopfte, war es ihr kaum möglich
»Herein« zu rufen. Sie versuchte sich etwas zu beruhigen, aber wollte es ihr
schlichtweg nicht gelingen. War es doch zu komisch!
Chris, ihr so sehr ans Herz gewachsener Sekretär mit den dunklen nackenlangen
Haaren, und der dunkelblauen lässigen Jeansjacke, kam herein.
Er schaute sie verdutzt an. »Was ist denn hier los?«
Mio wollte antworten, doch unterbrach er sie mit einem Lächeln auf den Lippen:
»Nein, lass mich raten! Du beobachtest gerade Isa, stimmt’s?«
Sie nickte eifrig. »Ja, mein Freund. Du kannst dir nicht vorstellen, welch illustren
Gedanken ihr eben so durch den Kopf gehen. Es ist köstlich!«
Chris, der mit einem bis zum Rand mit wichtigen Dokumenten gefüllten Ordner
in den Händen sich Mios Bürotisch genähert hatte, setzte sich nun auf einen der drei
rustikalen Stühle, die, wie er meinte, jeden Besucher regelrecht verleiteten, sich
hinzusetzten.
Manchmal stellte er sich vor, wie die drei Stühle untereinander wetteiferten, wer
denn als Nächstes benutzt werden würde. Es klang verrückt, aber hatten diese Stühle
irgendetwas Magisches an sich. Und sicher sein konnte man sich bei Mioko schon
einmal überhaupt nicht. Wer wusste, war das Mobiliar genau so magisch, wie sie?
»Möchtest du mitschauen?«
»Nein, nein. Ich bin kein Voyeur.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Aww, bin ich fürwahr so schlimm?«
»Manchmal?« Er warf ihr ein verschmitztes Lächeln zu. »Hmmm, ja.«
»Nun denn, dann will ich mich mal wieder höheren Aufgaben widmen.« Sie schlug
die Hände zusammen und richtete sich etwas auf. »Was liegt denn heute an?«
»Friedensverträge.« Er schob ihr den Ordner zu.
»Friedensverträge«, wiederholte sie seufzend. »Natürlich. Was auch sonst.« Es folgte
eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. »Weißt du, Chris, ich bin wirklich dankbar für den
intergalaktischen Frieden, dennoch, manchmal ertrage ich diesen Papierkram einfach
nicht mehr. Geht es dir ebenfalls so?«
»Absolut.« Mit einem Nicken bekräftigte er seine Zustimmung.
Sie schob den Ordner näher zu sich. »Nun denn, fangen wir an.«
***
Nachdem ich mein Bananensplit vertilgt hatte - das, wie ich anmerken musste, mit
der köstlichsten Schokosoße garniert worden war, die ich je gegessen hatte - rief ich
den Kellner zu mir, um zu zahlen.
Kurz danach erhob ich mich und winkte Tarri zum Abschied zu. Ich hatte bloß mit
einem Kopfnicken gerechnet, doch hob er überraschenderweise seine rechte Hand
ein Stück weit an - Daumen, Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt. Ich sollte noch
drei Minuten warten.
Wow.
Wollte er sich etwa persönlich von mir verabschieden?
Dieser Gedanke zauberte mir ein unwillkürliches Lächeln auf die Lippen. Das
Gefühl von jemand bemerkt zu werden - und das in meiner Welt! - war
unbeschreiblich.
Langsam schlenderte ich zum Ausgang und wartete dort, bis er sein Lied zu Ende
gesungen hatte.
»Noch etwas anderes vor, heute Abend?«, fragte er mich, alsbald er mit eleganten
Schritten bei mir angekommen war.
»Nein, nur noch schlafen. Es war ein langer Tag.«
»Es ist doch erst 21:00 Uhr. Die Nacht hat noch gar nicht richtig angefangen.«
»Für mich schon«, erklärte ich. »Im Urlaub möchte ich die Zeit nutzen, um endlich
einmal früher Schlafen zu gehen. Ich hatte genügend anstrengende Tage, an welchen
ich erst irgendwann nach Mitternacht total erschöpft ins Bett gefallen bin. Heute ist
nicht so ein Tag.«
»Ich verstehe.« Tarri ergriff meine Hand. »Habe ich eine Chance, Sie morgen
wieder zu sehen?«
Mir wurde es heiß. Er zeigte nach wie vor Interesse an mir.
Lächelnd schüttelte ich die Seine. »Ja, ich denke, wir werden uns sicher über den
Weg laufen.«
»Schön. Das freut mich. Wirklich.« Während er meine Hand fest in seiner hielt,
blickte er mir durchwegs tief in die Augen.
Seltsamerweise fühlte ich mich überhaupt nicht bedrängt. Ich hätte den ganzen
Abend so dastehen können. Scheinbar gewöhnte ich mich an dieses Gefühl - und das
gefiel mir überhaupt nicht.
Irgendwann ließ er - bedauerlicherweise oder zum Glück? Ich wusste es selbst nicht
- von mir ab, lächelte mich zum Abschied ein letztes Mal an, ehe er zurück zur Bühne
ging.
Ich schaute ihm noch eine Weile nach. Er war wahrhaftig eine Erscheinung. Er
wirkte wie ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen war, um den Menschen einen
Besuch abzustatten.
›Jetzt reicht es aber wieder!‹
Unmerklich den Kopf schüttelnd verließ ich schließlich das Restaurant.
In meinem neuen Zuhause angekommen, zog ich mir schnell mein Nachthemd über
und stellte den Handy-Wecker auf 6:00 Uhr.
Erst als ich im Bett lag, bemerkte ich wie müde ich tatsächlich war. Gerne hätte ich
diesen Tag gedanklich noch einmal Revue passieren lassen, da überkam er mich
jedoch schon, mein guter alter Freund, der Schlaf.
03 Wir sind die Summe unserer Schützlinge
Der Alarm meines Handys weckte mich aus einem unruhigen Schlaf.
Hoffentlich hatte ich in der Nacht nicht zu viel Lärm gemacht. Ich griff nach
meinem Handy, stöpselte meine Sony-Ohrenhörer ein und startete den NeutronMusic-Player. Das machte ich jeden Morgen so. Mein Kreislauf brauchte stets etwas
länger, und mein Gehirn konnte in der Zwischenzeit ebenfalls hochfahren.
Währenddessen ich Les Friction anhörte, fiel mir jäh ein: ›Hey it’s Tuesday! …
again.‹
Ich musste schmunzeln. Dieser Insidejoke würde wohl niemals alt werden.
Nach einer Dreiviertelstunde machte ich mich für das Frühstück fertig.
Mit einem etwas schlichteren dunkelgrauen Kleid und farblich dazu passenden
Pumps bekleidet, verließ ich die Kabine.
Neuerlich ertappte ich mich dabei, wie ich die Gegend abscannte - doch dieser
starke innerliche Druck ließ langsam aber sicher etwas nach.
Die letzte Mission hatte mich ja auch einige Nerven gekostet. Ich hatte von den,
meiner Ansicht nach, besten Leuten gelernt, wie man seine Umgebung beobachtete
und Verfolger abschüttelte. Und normalerweise war dieses ständige Auf-der-Hut-sein
auch kein Problem. Es belastete mich nicht. Die letzte Mission war es gewesen,
welche alles aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Im Normalfall benötigte ich
durchschnittlich zwei Tage, bis ich geistlich und körperlich zu meinem normalen
Rhythmus zurückgefunden hatte. Dieses Mal jedoch schien es, als würde ich gar
nicht mehr runterkommen.
Wiederholend vermutete ich einen Angriff, wo logischerweise niemals einer
gewesen wäre. Immer wieder kamen die Bilder hoch - meistens nachts.
Waren meine Nächte im Allgemeinen bereits eine Tortur, waren sie nun
schlichtweg die Hölle.
Jetzt war bloß zu hoffen, dass sich aus diesem Erlebnis keine posttraumatische
Belastungsstörung entwickelt hatte.
Es sollte eine normale Rettungsmission werden.
Casey, ein alter Freund von Mio, wurde von einem Freund seinerseits um Hilfe
gebeten. Darum bat Casey Mioko, diesem Freund bei der Beendigung einer
Geiselnahme zu unterstützen. Dieser genannte Freund, ein Mr. Fuller, war ein
gehobener Agent in einer Art Behörde für die öffentliche Sicherheit.
Selbstverständlich hatte sie sofort ihre Hilfe angeboten. Ein weiterer Grund, der ihr
die Entscheidung leicht gemacht hatte, war der Umstand, dass jemand die
Terroristenzelle infiltriert haben musste.
Jemand hatte es nämlich geschafft, eine Nachricht mit Informationen über den
geheimen Aufenthaltsort der radikalen Gruppe Fuller zuzuspielen.
Zurückblickend hatte die ganze Mission nicht einmal drei Stunden gedauert, die
zukünftigen Auswirkungen der Ereignisse, die sich in dieser Zeit abgespielt hatten,
würden für die Überlebenden jedoch lebenslang anhalten.
Mioko hatte mich Fullers sechs-köpfigem Team zugewiesen - allesamt Spezialisten,
die wussten, was sie zu tun hatten. Für mich war es ebenfalls Routine. Ich hatte in
den letzten beiden Jahren bereits bei mehreren Befreiungsaktionen mitgemacht.
Unter Supernatural-Fans würde man es einen einfachen »Salt’n’Burn-Job« nennen.
Ha! Wenn es bloß so gewesen wäre!
Bewaffnet mit HK MP7 stürmten wir das Gebäude, in dem sich die Terroristen
und Geiseln aufhielten. Zwei Stockwerke nach unten mussten wir uns
durchkämpfen. Keiner des Teams machte einen Fehler. Erleichternd kam eine
überraschend gering ausfallende Abwehr seitens der Extremisten hinzu.
Die Geiseln - viele von ihnen zeigten Verletzungen im Gesicht oder an Armen und
Beinen, die sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach durch Schläge der Geiselnehmer
eingehandelt hatten - wurden in einer großen verdreckten Zelle im Keller gefangen
gehalten. Doch entgegen der Information, es sollten an die zehn Personen sein,
zählten wir dreißig. Dreißig Zivilisten, die sich stehend, kauernd oder liegend in dem
stinkenden und mit Menschenkot verschmutzem Raum aufhielten.
Und diese mussten nun irgendwie sicher nach draußen gebracht werden.
Sie können sich vorstellen, wie groß die Freude und Erleichterung ausgesehen
hatte, als ein Kollege knapp erklärte, wer wir waren und wie wir sie hier rausholen
wollten.
Nachdem alle Zivilisten die Zelle verlassen hatten, brachte sich das Team in
Stellung. Ich und mein Kollege Jim, der mir von Anfang an als fähigster Mann unter
unserer Gruppe ins Auge gesprungen war, blieben an der Spitze, drei weitere
mischten sich unter die Geiseln, um sie im Notfall zu decken - wenn das bei so vielen
Leuten überhaupt möglich war - und einer bildete die Nachhut.
»Wir brauchen noch mindestens eine Person zur Unterstützung«, meinte einer
meiner Kollegen - und sprach damit meinen Gedanken laut aus.
»Ist jemand unter euch, der mit einer Waffe umgehen kann?«, rief ich in die Runde.
Ein Mann mit dunklen Haaren, etwa Mitte dreißig kam auf mich zu: »Ja, ich war
Polizist.«
In meinem Kopf formte sich ein Gedanke. »Könnte es sein, dass Sie es waren, der
den Hilferuf hat Fuller zukommen lassen?«
»Ja, ganz genau.«
»Dann hätten Sie uns gleich Bescheid geben können, dass es so viele Personen
sind«, witzelte ich trocken.
»Ich wollte ja, aber leider ging Einiges schief.« Mit seinem Kopf nickte er zu einer
schwer zugerichteten Frau. »Dort sehen Sie das Ergebnis.«
»Ich verstehe.«
Ich reichte ihm meine Backup-Pistole, eine HK P30. Dann bat ich ihn, meinem
Kollegen bei der Nachhut zu unterstützen.
Alsbald alle in Position waren, rief ich, meine Aussage mit einem Handzeichen
bekräftigend: »Es geht los!«
Wir nahmen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. In den ersten
Minuten kamen wir - trotz Geiseln - unerwartet schnell voran.
Nachdem Jim einen auf uns zustürmenden Terroristen mit einem gezielten
Kopfschuss aufgehalten hatte, meinte er beiläufig: »Da kommen wohl noch ein paar
Ratten aus ihren Verstecken gekrochen.«
»Sieht ganz so aus, mein Freund«, murmelte ich. Meine Konzentration erhöhte sich
durch diese Ratte jedenfalls um mindestens weitere hundert Prozent.
Wieso tauchte da plötzlich wieder jemand auf? Wir hatten doch alle erledigt, oder
hatte sich dieser bloß im Klo versteckt?
Wir liefen einen langen Korridor entlang, der uns schließlich zum Ausgangspunkt
zurückbrachte: eine alte Lagerhalle, vollgestellt mit altem undefinierbaren Gerümpel,
ein paar leeren Kisten und kaputten Autos. Diese Dinge wurden vom grellen
Sonnenlicht beschienen, welches durch zerbrochene Fensterscheiben fiel. Die von den
Strahlen der heißen Sonne funkelnden Staubpartikel, welche von unseren Schuhen
aufgewirbelt worden waren, gaben der Szenerie ein unpassend romantisches Flair.
Während ich daran dachte, wie gut sich diese Location für einen Expendables-Film
eignen würde, fielen plötzlich Schüsse.
Von allen Seiten tauchten feindliche Soldaten auf.
Ein Hinterhalt!
Kugeln pfiffen knapp an uns vorbei, prallten als Querschläger in die
gegenüberliegende Wand, zerschmetterten auch noch die letzte ganz gebliebene
Fensterscheibe. Von der einen Sekunde auf die andere herrschte Krieg. Das war keine
Rettungsmission mehr, das war ein Schlachtfeld - und wir befanden uns mittendrin.
Wir zogen uns zurück in den Korridor. Dabei brüllte Jim in sein Headset: »Stehen
unter Beschuss. Hört ihr. Stehen unter massivem Beschuss!«
»Wir brauchen Verstärkung!«, rief ich. »Aber bis die hier eintrifft, ist schon alles
vorüber.«
Er nickte mir mit zusammengezogenen Augenbrauen zu. »Wir können uns nur
weiter zurückziehen und aufteilen!«
Ja, ich hätte es ebenso gemacht.
Ich blickte meinen Kollegen in die dunklen Augen. »Gut. Ich gebe euch Deckung.
Ihr verschwindet mit den Geiseln.«
»Bist du bescheuert? Wie willst du sie alleine aufhalten?«
»Was glaubst du wohl, warum ich für Mio. arbeite?«, war das Letzte, das ich sagte,
ehe ich loslief und dabei meinen Schutzschild aktivierte.
Ich bin die Finsternis, hörte ich eine Stimme in meiner Seele wispern.
So sah es aus. Und diese Finsternis würde mir hier mehr als nützlich sein.
Mitten in der Lagerhalle blieb ich stehen und breitete meinen Schatten in alle
Richtungen aus. Das sah ungefähr so aus, als hätte man hinter mir einen
Halogenscheinwerfer aufgestellt. Bloß war das Strahlen nicht weiß sonder
Grauschwarz und die gegnerischen Kugeln prallten daran ab wie an einer
Panzerglasscheibe - einer getönten Panzerglasscheibe.
Das einzige Problem war: Ich konnte sonst nichts tun, wurde doch beinahe meine
ganze Macht in dieser Welt blockiert.
Bis jetzt vermochte mir niemand eine Antwort darauf zu geben, weshalb die
Fähigkeiten eines Wächters in manchen Welten blockiert wurden und in manchen
nicht. Wahrscheinlich würde dies wohl ein ewiges Mysterium bleiben. Jedenfalls blieb
mir hier bloß der Schutzschild - und wenn ich mich sehr anstrengen würde, ein
dunkler Energieausstoß.
In meinen Augenwinkeln beobachtete ich, wie sich die Gruppe weiter zurückzog,
ehe sie schließlich komplett aus meinem Blickfeld verschwand. Alsbald ich mir sicher
war, dass das Team es mit den Geiseln aus der Gefahrenzone geschafft hatte, begann
ich mich aktiv um meine Angreifer zu kümmern. Bisher hatte ich ausschließlich
dagestanden und den Schatten ausgefaltet - aber jetzt durfte es endlich richtig lustig
werden!
Normalerweise versuchte ich, Gegner bloß kampfunfähig zu machen und nicht zu
töten. Hier jedoch wäre mein Zögern nicht nur sinnlos gewesen, es hätte sogar
Menschenleben in Gefahr gebracht. So blieb mir einzig die Möglichkeit mit der
dunklen Energie.
Um die Gegner, die sich in einem Radius von circa zwanzig bis dreißig Metern um
mich aufhielten, zu eliminieren, musste ich so viel Finsternis wie möglich in mich
aufnehmen. Dies brauchte leider sehr viel Kraft und einiges mehr an Konzentration.
Doch nach einer Minute hatte ich genügend Energie zusammen, um diese schließlich
mit einer gewaltigen Entladung abzustoßen.
Für wenige Sekunden verdunkelte sich die Umgebung - tauchte alles in finstere
Nacht. Weiteres Glas zerbrach und die Gegenstände, welche zuvor noch ruhig vor
sich verstaubten, wurden mit einer gewaltigen Wucht in alle Richtungen
geschleudert.
Nachdem sich die Finsternis verflüchtigt und der Staub wieder gelegt hatten, durfte
ich zufrieden feststellen, dass alle Gegner beseitigt worden waren. Ob durch die
Energieentladung alleine, war ich mir aber nicht ganz so sicher. Die harten
Holzkisten konnten als Geschosse mit einer Geschwindigkeit von über zweihundert
Kilometer pro Stunde gewiss ähnlich großen Schaden anrichten wie die Finsternis
alleine.
Jäh vernahm ich Schüsse aus der Richtung, in die sich das Team zurückgezogen
hatte. Mir wurde es eiskalt. Da war wohl eine zweite Gruppe Terroristen unterwegs!
Die Schüsse wurden häufiger, lösten einen kalten Schauer aus, der langsam über
meinen Rücken kroch. Dann erhielt ich kostenlos eine mächtige Portion Adrenalin
oben drauf, welches meine Beine in Bewegung setzte - mich in Windeseile zu
meinem Team aufschließen ließ.
›Verdammt!‹, fluchte ich die ganze Zeit. ›Ich hätte sie nicht alleine lassen sollen.‹
Mit jedem Schritt, den ich mich dem neuen Kriegsschauplatz näherte, wurden die
panischen Schreie der Geiseln lauter.
Und plötzlich wurde auf mich geschossen.
Mit einem beherzten Sprung hinter eine bröckelige Mauer brachte ich mich in
Sicherheit.
»Hört mich jemand?«, schrie ich ins Headset. »Was ist da los?«
Die einzige Antwort, die ich erhielt, kam in Form eines statischen Rauschens daher,
das an ein altes Radio mit Senderausfall erinnerte.
Funkausfall? Alle tot? Verflucht! Was war hier los?
Ich checkte die Lage ab: ein Schütze auf dem Dach, einer neben der Hausmauer,
ein Dritter auf der anderen Seite der Mauer. Großartig.
Ich konnte und ich durfte nicht länger warten. Mit jeder verstreichenden Sekunde
sanken die Chancen, die Geiseln lebendig nach Hause zu bringen.
Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, denn loszustürmen und mir den Weg
freizuschießen. Ich war fest entschlossen, alles zu retten, was noch zu retten war.
Sollte ich getroffen werden, war es Pech. Ich konnte nicht zuhören, wie Geiseln
wenige Dutzend Meter von mir entfernt umgebracht wurden. Da wollte ich lieber
selbst draufgehen.
Ich fing an zu schießen - und bewies wieder einmal meine Treffsicherheit, indem
ich in nicht einmal fünf Sekunden drei tödliche Schüsse abgab. Aber weitaus besser
war mein Glück, bei diesem verrückten Manöver nicht selbst getroffen worden zu
sein.
Mit ungleich mehr Adrenalin in meinem aufgekratzten Körper traf ich bei den
Geiseln ein - und erstarrte.
Die ganze Mission war umsonst gewesen. Alles war umsonst gewesen!
Augenscheinlich hatten sie alle der dreißig Geiseln erschossen. Ab und an hörte ich
noch ein Wimmern, bloß um wenige Sekunden später für immer zu verstummen.
Nach wie vor blickte ich wie versteinert auf die Leichen vor mir - da fing abermals
jemand auf mich an, zum Schießen, worauf ich mich mit einem neuen beherzten
Sprung hinter einer kargen Mauer in Deckung brachte.
Ich atmete kurz durch, versuchte das Adrenalin unter Kontrolle zu bringen. Da fiel
mir etwas in meinen Augenwinkeln auf. Ich drehte mich nach links - und hielt die
Luft an.
Der ehemalige Polizist lag neben mir.
Derjenige, welcher alles versucht hatte, um sich und die Geiseln zu befreien, lag tot
neben mir.
Fuck.
In diesem Moment steigerte sich meine Wut ins Unermessliche - und mein
mentaler Schalter legte sich um.
Furchtlos trat ich vor die Mauer und schoss auf alles, was sich bewegte. In nicht
einmal zwanzig Sekunden erledigte ich die restlichen Terroristen - meine Wut und
Trauer über die Verluste jedoch verringerte sich dadurch nicht.
Unverhofft vernahm ich ein Knacken in meinem Headset.
»Wo ist das Team?«, rief ich.
Ich hatte mit einem antwortenden Kollegen gerechnet, stattdessen hörte ich eine
vom Stützpunkt aus anfunkende Mio. »Isa, hörst du mich? Geht’s dir gut?«
»Ja, verdammt, wieso meldet sich niemand? Sind alle tot, oder was?«
»Nein, es müssen noch mindestens zwei Leute aus deinem Team am Leben sein.«
»Wo sind sie?«
»Südwestliche Richtung, einen halben Kilometer von dir entfernt. Was genau ist
passiert?«
Wie es schien, wurden ihre Fähigkeiten ebenfalls gewaltig blockiert, sonst hätte sie
doch längst über meine Situation Bescheid gewusst. Da half wohl nicht einmal ein
Götterstatus.
»Die Geiseln sind tot, das ist passiert. Sag Fuller, dass sein Team infiltriert wurde.
Sie haben alle erschossen. Ich gehe jetzt zu den Geiseln und schaue, ob noch
irgendjemand am Leben ist.«
Flüsternd antwortete sie mir mit einem knappen ›in Ordnung‹.
Ich trat zu den am Boden liegenden Geiseln und fing an, jede Person auf einen
Herzschlag hin zu überprüfen.
Es war ein Drama. Bei jedem hatte ich Hoffnung. Bei jedem war sie umsonst.
Nachdem selbst der Fünfzehnte keine Lebenszeichen mehr zeigte, gab ich innerlich
auf - dennoch musste ich weitermachen. Es wäre ungleich entsetzlicher gewesen,
hätte ich einen Überlebenden übersehen.
Bei der fünfundzwanzigsten Person spürte ich plötzlich einen Puls. Die Frau, die
wegen des Polizisten geschlagen worden war, hatte noch Lebenszeichen - zwar
schwach, doch es gab sie. Im selben Moment fühlte ich eine Präsenz knapp hinter
mir.
Ich drehte mich um, die Waffe im Anschlag.
Es war mein Kollege Jim, der mit mir die Vorhut gebildet hatte.
»Nicht schießen«, keuchte er. »Ich bin schon durchlöchert wie ein Nudelsieb.«
Er sah wahrhaftig fertig aus. »Was zur Hölle ist hier eigentlich los? Ist das ein
schlechter Kinofilm?«
»Seth hat auf einmal angefangen, die Zivilisten zu erschießen«, fing er an zu
erzählen. »Ich wollte ihn erledigen, aber Mike kam mir zuvor und verpasste mir dabei
eine Kugel in den Oberschenkel. Ich konnte zum Glück noch früh genug in
Deckung gehen, bevor er mir die Rübe weggeschossen hätte. Den dritten mit dem
seltsamen Namen habe ich aber später erledigen können.« Er verzog das Gesicht - vor
Schmerzen, wie ich vermutete. »Die waren alle beteiligt! Ich habe keine Ahnung, in
was für eine elendige Scheiße wir hier reingeraten sind.« Sein Blick fiel auf die
Leichen. »Ach ja«, fiel es ihm jäh ein. »Sid war noch ein Guter, aber der hat es nicht
überlebt.«
Ich konnte es nicht glauben! Es war nicht bloß eine Person gewesen, es war nahezu
das gesamte Team!
»Komm her! Diese Frau lebt noch. Kümmer dich um sie und check die restlichen
Leute auf Lebenszeichen. Ich hole mir jetzt die zwei Drecksäcke.«
Eben wollte ich gehen, da hielt er meine linke Schulter fest.
Er reichte mir sein Magazin. »Verpass ihnen auch eine Kugel von mir.«
»Danke, darauf kannst du dich verlassen.« Ich steckte es ein und sprintete los. »Wo
sind sie jetzt?«, fragte ich in das Mikro.
»Sie befinden sich noch in derselben Richtung, jedoch drei Kilometer entfernt. Sie
sind nun mit einem Auto unterwegs.«
Verdammt. Ich hatte keinen fahrbaren Untersatz.
»Wenn du ein Auto benötigst - hundert Meter links von dir steht ein Wagen.«
»Danke.« Um etwas mehr über unsere Lage in Erfahrung zu bringen, hatte sie
scheinbar technische Hilfsmittel in Anspruch genommen.
Wie von Mio versprochen erblickte ich den Wagen. Ein 1980er-Unimog stand da,
in all seiner verrosteten Pracht. Nun, er hatte bestimmt schon bessere Tage erlebt,
aber für eine Verfolgungsjagd sollte es allemal reichen.
Ich stieg ein, fand den Schlüssel in der Sonnenblende - wie klassisch - und startete
den Motor. Er brauchte etwas, doch nach einigen Sekunden und etwas Gasgebens lief
er vernünftig. Ich legte den ersten Gang ein und fuhr los, eine vom trockenen Boden
aufgewirbelte Rauchwolke hinter mir herziehend. Es dauerte nicht lange, bis ein alter
verrosteter Jeep in meinem Sichtfeld auftauchte. Ich drückte das Gaspedal bis zum
Anschlag durch - und der alte Unimog schaffte das Unfassbare und schloss auf.
Unsere Wagen waren auf gleicher Höhe, als Seths Beifahrer Mike unerwartet eine
Waffe auf mich richtete.
Fuck! Ich musste reagieren.
Ich lenkte nach links, drängte ihren Fluchtwagen von der Straße, woraufhin dieser
in einem Graben, leicht auf die Seite geneigt im sandig weichen Erdreich stecken
blieb.
Mit einer Vollbremsung hielt ich den Wagen an, griff nach meiner Waffe und stieg
aus.
»Tja, Leute«, rief ich den beiden zu, sie beobachtend, wie sie mühsam aus dem
Willy kraxelten. »Ihr hättet euch besser einen größeren Wagen nehmen sollen. Der
Jeep war wohl nichts.«
Mit gemütlichen Schritten näherte ich mich ihnen, die Waffe auf ihre Oberkörper
gerichtet.
Dann tat Mike etwas ausgesprochen Blödes, indem er tatsächlich versuchte, auf
mich zu schießen.
Ehe er den Abzug durchdrückte, hatte ich ihm jedoch bereits in die Brust
geschossen.
Stöhnend sank er zu Boden.
Kaum fähig, die Waffe zu halten, wollte er wahrhaftig nochmals versuchen, mich
ins Ziel zu nehmen. Darum verpasste ich ihm eine weitere Kugel - und zwar in seinen
Kopf.
Einer erledigt - einer übrig.
»A-a-a, lass den Scheiß, Kleiner«, sagte ich zu Seth, der ebenfalls seine Waffe heben
wollte.
Selbstverständlich war es nicht zwingend nötig gewesen, doch um meine Wut ein
klein wenig zu befriedigen, schoss ich ihm durch die rechte Schulter.
Nun folgte er Mikes Beispiel und stürzte stöhnend und mit schmerzverzerrtem
Gesicht auf den trockenen Sandboden.
Langsam nahm ich mein Magazin aus der Waffe, ehe ich es auf die Seite warf.
»Was wird das jetzt, Rambo?«, zischte er durch zusammengebissene Zähne.
In dieser Parallelwelt gab es auch Rambo-Filme? Sehr interessant.
»Noch immer eine solch große Klappe.« Meine Stimme klang ruhig,
währenddessen ich das Magazin, das mir mein Kollege gegeben hatte, in den Schacht
meiner Waffe einführte. »Ich soll dir schöne Grüße von Jim ausrichten.«
»Ach ja?« Sein Blick wurde nervös. Er ahnte bereits, was nun folgen würde.
Ich zielte auf seinen Kopf und drückte ab. »Gute Nacht, Seth.«
Überlebt hatten fünf Geiseln, zwei davon waren jedoch komatös. Die Ärzte wussten
nicht, ob sie jemals wieder aufwachen würden.
Leider konnte Mio nichts an ihrem Zustand ändern, da ihre Heilkräfte genauso
blockiert wurden, wie meine eigenen.
Letztendlich war von Fullers Team lediglich Jim übrig geblieben. Allerdings sollte er
wieder vollständig genesen.
Einige Stunden nach dem Massaker standen ich und Mioko in einem ruhigen
Krankenzimmer, das vom Licht der orangefarbenen Abendsonne eingetaucht wurde.
Es war ein Witz! Beinahe schien es, als würden sich die Götter über mich lustig
machen. Eben noch hältst du tote Körper in deinen Händen, und drei Stunden
später stehst du hier, in einem Krankenhaus, dermaßen hell und freundlich, als wärst
du eben mal aus einem schlechten Traum erwacht.
Doch war es kein Traum. Es war Realität. Eine Realität, die wir jeden Tag aufs
Neue erlebten.
Stumm stand ich da, meinen Blick auf die zwei komatösen Zivilisten gerichtet.
Wieso? Wieso mussten solche Dinge passieren? Und wieso Zivilisten? Immer die
Unschuldigen! Konnte der Krieg nicht einmal ein Ende finden? Mussten sich denn
alle Lebensformen in allen verdammten Welten gegenseitig die Schädel einschlagen?
Irgendwann sagte ich mit gesenkter Stimme: »Es ist meine Schuld.«
»Was?« Mio klang entsetzt. Sie drehte sich mit einem sanften Ausdruck in ihren
Augen zu mir. »Wie kommst du darauf?«
»Ich hätte es spüren müssen. Ich hätte es bemerken müssen. Ich bin immerhin ein
Halbempath.«
»Mach dich nicht lächerlich. Du weißt genauso gut wie ich, dass man sich
abschirmen kann. Du kannst nichts dafür. Wenn jemand Schuld hat, dann wohl am
ehesten Fuller. Er sollte seine Leute besser aussuchen!« Ihr Blick wurde mitfühlender und meine Schuldgefühle zusehends größer.
»Nein, so leicht kann ich mir das nicht machen!«, widersprach ich laut. »Ich war
verdammt noch mal nicht mal dabei gewesen! Ich hörte nur Schüsse und Schreie! Ich
konnte keinen Schützen!«
Miokos Arme, die sich innig um mich schlangen, waren es schließlich, die meinen
letzten Widerstand zum Einsturz brachten. Ich brach in Tränen aus, vergrub meine
Finger in ihrem schwarzen Ledermantel. »Und das Schlimmste«, wimmerte ich. »Ich
kenne nicht einmal seinen Namen.«
»Wessen Namen?«, frage sie sanft.
»Des Polizisten, der die Nachricht mit den Koordinaten zu Fuller durchschmuggeln
konnte. Er hatte uns unterstützt.«
Ihre Umarmung wurde fester. »Wenigstens starb er ehrenvoll«, versuchte sie mich
zu trösten.
»Damit kann ich mich und will ich mich nicht zufriedengeben. Er war doch noch
so jung! Er hätte leben sollen, nicht ich. Sieh mich an. Wer bin ich schon? Ich bringe
es nicht einmal zustande, jemanden zu schützen. Was für ein Wächter bin ich, wenn
ich die Leute nicht beschützen kann.«
Ich war fertig. Am Ende.
»Sssch, es wird alles wieder gut!«, hörte ich sie flüstern. »Das verspreche ich dir.«
Dann teilte auch sie leise Tränen des Verlustes.
Beide knieten wir, eng umschlungen, auf dem weißen Linoleumboden des
Krankenhauses, welcher von der untergehenden Sonne blutrot gefärbt wurde.
Später erfuhr ich, dass dieser Teil der Welt bereits seit sechs Jahren von solch
terroristischen Handlungen erschüttert wurde.
Der Hintergrund zu den vielen Anschlägen sollte eine persönliche Sache gewesen
sein. Wie genau die Einzelheiten aussahen, interessierte mich nicht mehr, doch war
ich mir sicher, dass dieses Land noch einiges zu tun hatte, ehe dort wieder Frieden
einziehen würde.
Jedenfalls hatte sich nach dieser Mission für mich Vieles ins Schlechte verändert.
Mein Schlaf wurde deutlich unruhiger und meine hart erkämpfte Selbstsicherheit war
davon.
Ich lehnte an der Reling des Sonnendecks.
Die Sonne war bereits aufgegangen und eine leichte Brise wehte durch meine
offenen, rückenlangen Haare.
Normalerweise trug ich sie stets zu einem langen Zopf geflochten. Im Kampf
konnte ich es mir nicht leisten, durch in die Augen fallende Haarsträhnen für einen
kurzen Moment abgelenkt zu werden. Offene Haare nervten und störten. Vielleicht
sah das in Filmen und Animes sexy aus, doch in der Realität würde ein Feind alles
versuchen, um dich zu verletzen. Und an den Haaren reißen gehörte da ebenso dazu,
wie Kratzen und Beißen.
Die Erinnerungen an die letzte Mission taten mir nach wie vor in der Seele weh.
Und abermals ertappte ich mich dabei, wie ich mir die Frage stellte, wieso Dinge
manchmal so furchtbar schief gehen mussten.
Ich musste endlich von dieser Sache Abstand nehmen, half mir die Grübelei im
Endeffekt doch ebenso wenig weiter! Zudem wusste ich: Wenn sich alte Türen
schlossen, öffneten sich irgendwo neue.
Mit diesem Gedanken machte ich mich auf den Weg zum Bella Donna.
Ursprünglich wollte ich das Ristorante Casa Nova ausprobieren, doch hatte ich in
der Infobroschüre gelesen, dass dieses bloß Abends geöffnet wurde.
Ich wählte einen Tisch mit guter Sicht auf den Eingang. Das Lokal war, von zwei
Pensionisten, die an ihrem starken Kaffee schlürften einmal abgesehen, vollkommen
leer.
Dies würde sich in der nächsten Stunde ändern. Die meisten Urlauber blieben
länger auf und genossen die vielen Shows, die auf der AIDAprima angeboten wurden.
So war es nicht verwunderlich, in der Früh nur einzelne Passagiere anzutreffen.
Eine Kellnerin mit hübsch aufgesteckten blonden Haaren kam zu mir und nahm
meine Bestellung auf: Rührei mit Speck, dazu einen Orangensaft.
Währenddessen ich wartete, checkte ich mein Handy auf mögliche entgangene
Anrufe. Nachdem ich durch meine Facebook-Nachrichten gescrollt hatte - durch
Miokos Technik brauchte ich mich nicht um WLAN-Empfang zu sorgen - lehnte ich
mich zurück und genoss die frühmorgendliche Ruhe.
Irgendwie schien es verrückt. Befand ich im Dienst, war meine Zeit stets bis auf die
Minute genau eingeteilt. Und jetzt hatte ich plötzlich vierundzwanzig Stunden, in
welchen ich machen konnte, was ich wollte.
Hoffentlich würde mir hier in ein paar Tagen nicht noch langweilig werden.
Es dauerte nicht lange, schon kam die Kellnerin mit meiner Bestellung.
Unterdessen ich frühstückte, überlegte ich mir, wie ich meinen Tag verbringen sollte.
Ich entschied mich für eine Runde Schwimmen, danach etwas Shopping. Damit
hatte ich bis zum Mittagessen einmal genug zu tun.
Nach meinem ausgiebigen Frühstück suchte ich meine Kabine auf, um mir meinen
lilafarbenen Bikini anzuziehen. Darüber zog ich eine kurze Hose und ein T-Shirt an.
Die Haare band ich zusammen. Mit einer geschmeidigen Bewegung steckte ich die
Chipkarte in die Hosentasche und machte mich schließlich auf dem Weg zum Deck
15.
Ich hatte den AIDA Beach Club mit seinem riesigen Pool in Sinn. Nur in einem
kleinen Schwimmbecken zu hocken war mir zuwider - ich wollte richtig schwimmen.
Alsbald sich die Tür des Lifts öffnete, wurde ich von karibischer
Hintergrundmelodie begrüßt. Den riesigen Platz abcheckend, schlenderte ich
Richtung Liegestühle. Auch hier waren erst wenige Leute unterwegs. Perfekt! So
würde es mir leicht fallen, einen Kilometer durchzuschwimmen.
Das Problem bei Pools war ja bekanntlich, dass man die anderen Schwimmer
andauernd im Auge behalten musste, um nicht unbeabsichtigt mit ihnen
zusammenzustoßen. Darauf musste ich jetzt, Mio sei Dank, keine Rücksicht nehmen.
Ich warf einen kurzen Blick auf mein Handy: Es war kurz vor halb neun. Ich legte
mein Handtuch auf eine freie Liege, zog Shirt und Hose aus und stürzte mich sodann
ins Wasser.
Flott schwamm ich meine Runden. Das Wasser fühlte sich angenehm warm an. Es
bereitete mir nicht viel Mühe, die tausend Meter in nicht ganz dreißig Minuten zu
absolvieren.
Nachdem ich meine Rückenmuskulatur bei einer der Massagedüsen aufgelockert
hatte, stieg ich entspannt und ausgeglichen aus dem Pool und legte mich, leicht
außer Atem, auf meine Liege, auf der ich kurze Zeit später wegdöste.
Eine Berührung an meiner rechten Schulter riss mich aus meinem Schlaf.
Instinktiv packte ich den Unterarm der fremden Person mit meiner linken Hand
und zog sie ruckartig zu mir. Gleichzeitig und durch den Schwung richtete ich mich
auf, packte sie am Hals, um sie auf meinen Liegestuhl zu werfen.
»Whoa, okay, ist schon gut. Es tut mir leid.«
›Das hättest du dir früher überlegen sollen‹, ging es mir durch den Kopf, während
ich meinen Griff verstärkte.
Doch von irgendwo her kam mir die Stimme bekannt vor, bloß konnte ich sie
momentan noch nicht einordnen.
Als ich meine Augen schließlich öffnete und auf die Person herabschaute, der ich
eben mein linkes Knie auf ihren nackten Brustkorb drückte und ihren Hals mit
meiner rechten Hand gepackt hatte - meine linke Hand zur Faust geballt, bereit
zuzuschlagen - registrierte ich erst, wo ich war und wer da unter mir lag.
Scheiße!
»Oh mein Gott!«, rief ich und ließ von einem geschockten Tarri ab, der bloß mit
einem offenen Hemd und einer kurzer Hose bekleidet, mich aus weit aufgerissenen
Augen anstarrte. »Bei allen Raumgeistern! Es tut mir so leid!« Entsetzt flogen meine
Hände zu meinen Lippen. Was hatte ich jetzt wieder angestellt? »Vergebung, das tut
mir so leid! Habe ich Sie verletzt?«
Er hustete und keuchte ein wenig, stand dann aber ruckartig auf und ging einige
Schritte rückwärts.
Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, gleichzeitig stolperte er sofort ein paar Weitere
zurück.
Das war es dann wohl.
»Nein«, antwortete er mit einer kontrollierten Stimme, die leider nicht über die
Tatsache hinwegzutäuschen vermochten, dass Panik und Angst in ihm aufglommen,
diese Gefühle überdies in Begriff waren, weiter anzuwachsen. »Es geht schon.«
»Wenn ich Ihnen das erklären darf-«, begann ich.
Doch unterbrach er mich mit einer Geste seiner rechten Hand: »Es ist gut. Mir ist
nichts passiert.«
»Nein, es ist nicht gut. Ich möchte das wieder in Ordnung bringen. Ich will nicht,
dass Sie sich vor mir fürchten.«
Warum passierte das immer mir?
»Ich fürchte mich doch nicht«, meinte er ein wenig trotzig.
»Oh doch, das tun Sie«, widersprach ich und fügte nach einer kurzen Pause etwas
leiser hinzu: »Leider.«
Ganz langsam wich der Schock aus seinem Gesicht, doch nur um der Unsicherheit
Platzzumachen.
Da hatte ich ja wieder hervorragende Arbeit geleistet! Schützling hat Angst vor
Wächter. Super!
Jäh schaute sich Tarri sichtlich nervös um.
Zuerst verstand ich nicht, doch schließlich ging mir ein Licht auf. Die Leute um
uns herum hatten gesehen, was passiert war und beäugten uns deshalb intensivst und
darauf wartend, was denn wohl als Nächstes folgen würde.
Und ich hatte es nicht einmal bemerkt! Verflucht!
»Ist schon gut, Leute«, rief ich mit ernstem Blick in die Runde. »Hier gibt’s nichts
mehr zu sehen.«
Schaulustige! Wie ich das hasse!
Tarri versuchte ebenfalls die Situation zu entschärfen, indem er den Leuten zurief,
er sei bloß unglücklich gestürzt, und ich war so freundlich gewesen, ihm beim
Aufstehen zu helfen.
Bitte?! Was hatte er da gesagt?
Perplex drehte ich mich zu ihm. Mit dieser Reaktion hatte ich am Allerwenigsten
gerechnet!
Als sein Blick den meinen traf, war da keine Spur mehr von Unsicherheit oder
Angst. Im Gegenteil - er war klar und fest. Tarri hatte sich völlig gefangen.
Ich ignorierte die Situation um mich herum und meinte mit gesenkter Stimme:
»Hören Sie, ich kann das alles erklären. Lassen Sie mich das wieder in Ordnung
bringen.«
Erst schaute er mich finster an, doch keine drei Sekunden später hellte sich seine
Miene auf.
Anscheinend war ihm etwas eingefallen.
»Sie bieten mir eine Wiedergutmachung an?«, fragte er deutlich neugierig nach.
Ich nickte ihm zu. »Ja.«
»Na gut. Aber ich nehme nur eine Entschuldigung in Form eines Abendessens im
Ristorante Casa Nova an.«
Das war es also gewesen!
Tarri zeigte mir sein selbstsicheres Lächeln - und mir fiel ein Stein vom Herzen.
»Einverstanden«, antwortete ich erleichtert, einen langsamen Schritt auf ihn
zumachend. »Habe ich Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«
Tarri machte gleichzeitig einen weiteren Schritt nach hinten, mich unsicher
musternd. »Mein Arm tut etwas weh, sonst geht’s mir gut. Keine Sorge.« Er griff auf
seinen rechten Unterarm, an dem rote Abdrücke zu sehen waren.
Fuck, bitch!
»Darf ich sehen?« Bedächtig hob ich meine rechte Hand, um ihn zu zeigen, was ich
tun wollte.
Er zögerte - wog ab - schaute mir weiterhin unsicher in die Augen. Doch
schließlich streckte er seinen Arm zu mir aus.
Sanft nahm ich ihn in meine Hände, um mir anzuschauen, was ich da angestellt
hatte.
Seine Haut fühlte sich unerwartet heiß - vermutlich durch das ausgeschüttete
Adrenalin - und weich an. Unglaublich weich.
Fühlte sich seine Haut an anderen Körperstellen etwa genauso zart an?
»Das wird bald wieder verschwunden sein«, versicherte ich ihm. »Ich denke,
morgen wird man nichts mehr davon sehen.«
Währenddessen ich von ihm abließ und mich ein weiteres Mal entschuldigte,
blickte ich ihm in seine wunderschönen Augen.
Er erwiderte den Blick. »Ist schon gut.«
Damit trat eine Pause ein, in der er mich durchwegs musterte - mir dermaßen tief
in die Augen starrte, so als würde er in meine Seele blicken. Ich musste mir
eingestehen: Es fühlte sich wundervoll an.
»Sie müssen mir unbedingt zeigen, wie man das macht.«
»Was denn?« Ich war etwas verwirrt. Was meinte er?
»Dieser Griff. Ist das Karate?« Nun zeigte sein Blick kindliche Neugier - und ich
konnte gar nicht anders, denn zu kichern. Wie süß er damit aussah! Es erwärmte
mein Herz.
»Nein, das war eine Mischung aus Krav Maga und Eigenkomposition. Kommen
Sie.« Ich nickte ich Richtung rechter Hand gelegene Bar. »Ich lade Sie jetzt schon mal
auf einen Drink ein.«
»Das brauchen Sie mir nicht zweimal sagen«, antwortete er gut gelaunt.
Schnell zog ich mir meine Sachen über, dann gingen wir beide hinüber und setzten
uns an einen der vielen freien Tische.
»Vielen Dank«, meinte ich, den Kabinenschlüssel auf den Tisch legend.
»Für was?«
»Für das, was Sie eben zu den Leuten gesagt haben.«
»Ach, die haben wahrscheinlich gar nicht richtig mitbekommen, was passiert ist«,
antwortete er locker und unterstrich das Gesagte mit einer wegwerfenden Bewegung
seiner rechten Hand. »Ich wollte die Situation nicht noch schlimmer machen, als sie
schon war.«
»Und dafür danke ich Ihnen.«
Er schenkte mir einen weiteren intensiven Blick. »Sie müssen das schon lange
trainieren, nicht wahr? Solche Reflexe bekommt man doch sicher nicht über Nacht.«
»Correctomundo. Ich habe das Training vor-«
Tarri fing laut zum Kichern an. Dabei strahlten seine Augen wie tausend Sonnen.
Es war ein himmlischer Anblick.
»Was ist so witzig?«
»Haben Sie soeben Doctor Who zitiert?«
»Uh, ja.« Jetzt fingen meine Augen zum Leuchten an. »Sie kennen die Serie?«
»Ja klar. Aber ich kenne nur die neuen Folgen. Die Classic-Serie ist mir leider etwas
entgangen.«
Nun war ich es, die kicherte. »Mir geht’s nicht anders.«
Dass ich das noch erleben durfte! In meinem Bekanntenkreis gab es niemanden,
der Doctor Who schaute. Und dann tauchte da plötzlich diese besondere Seele auf!
Tarris alles durchdringender Blick war es, der mich aus meinen Überlegungen holte
- und mein Gehirn antwortete, indem es sich Schritt für Schritt in den Ruhemodus
begab.
Oh nein, nicht schon wieder!
»Was wollten Sie mir noch erzählen?«, fragte er, nachdem wir uns eine Weile
wortlos angestarrt hatten.
Gott, wie oft würde das wohl noch passieren?
»Uh, äh, was hatte ich gesagt?«, stotterte ich nervös. »Verflucht. Ach ja, das
Training, stimmt’s?«
»Ja, genau«, half er mir. »Ich hatte gefragt, wie lange Sie schon trainieren.«
»Genau. Ja, ich hatte vor drei Jahren damit angefangen. Jeden Tag, sieben Tage die
Woche. Das erste Jahr war das härteste.«
»Jeden Tag?« Seine Augen weiteten sich. »Ernsthaft? Warum ein solch intensives
Training?«
Verdammt. Das war nicht gut. Ich durfte ihm nichts über mich verraten - jedenfalls
jetzt noch nicht.
»Was möchten Sie beide denn trinken?«, unterbrach uns eine junge Kellnerin mit
braunen lockigen Haaren.
›Bei Gabe, meine Rettung!‹
»Oh, Sie sind neu, stimmt’s?«, stellte Tarri fest, ihr dabei ein breites Lächeln
schenkend. »Sie habe ich hier noch nicht gesehen.«
Der flirtete wohl, wo es geht, eh?
Sie erwiderte das Lächeln. »Ja, genau. Gestern war mein erster Tag.«
Tarri reichte ihr die Hand. »Na, dann wünsche ich Ihnen alles Gute. Ich arbeite
auch hier an Bord.«
Freudig ergriff sie diese. »Vielen Dank!« Als Zeichen der Dankbarkeit neigte sie
ihren Kopf. Dabei fielen ein paar ihrer Locken in ihr hübsches Gesicht, welche sie
schnell hinter ihre Ohren zurückstrich.
»Ich nehme dann einen Orangensaft - pur«, meinte er.
»Für mich dasselbe«, sagte ich, als sie den Blick auf mich richtete.
»Okay, kommt sofort.« Nochmals lächelte sie uns an, dann war sie verschwunden.
»Haben Sie heute keinen Auftritt?«, wollte ich weiter wissen.
»Nein, erst morgen wieder«, sprach er vergnügt. »Wir haben also den ganzen Tag
und die ganze Nacht Zeit, um uns zu unterhalten.«
Die ganze Nacht? Okay. Das konnte jetzt wirklich interessant werden.
»Vorausgesetzt, Sie bleiben etwas länger auf«, fügte er rasch hinzu.
»Ich denke, heute mache ich eine Ausnahme. Aber nur, weil Sie es sind.«
Das Gesagte ließ sein Lächeln anwachsen. »Aber wieder zurück zum Training«,
nahm Tarri das Thema wieder auf. »Wieso haben Sie derart hart trainiert?«
Fuck.
»Das ist nicht weiter wichtig«, versuchte ich auszuweichen. »Ich erzähle Ihnen die
Geschichte ein andermal.«
»In Ordnung.« Er stützte seinen Kopf mit den Händen ab, die Ellbogen auf dem
Tisch, um mir ein weiteres Mal tief in meine Augen zu blicken. »Sie erzählen mir die
Geschichte dann bei unserem Abendessen.« Dies sagte er mit einer Stimme, die keine
Widerrede duldete.
Na das konnte noch heiter werden.
»Und, gehen Sie auch gerne Schwimmen?«, fragte ich, um endlich ein anderes
Thema anzufangen.
»Ja, ab und zu gehe ich morgens gerne schwimmen. Sie ebenfalls, wie ich sehe.«
»Absolut. Es gibt nichts, das entspannender ist! Wie lange arbeiten Sie eigentlich
schon als Sänger?«
»Auf der AIDAprima arbeite ich seit ihrer ersten Jungfernfahrt. Davor war ich fünf
Jahre lang auf der AIDAbella.«
»Durchgehend?«
Er nickte. »Genau.«
Fünf Jahre auf einem Schiff! Wahnsinn.
»Aber vermissen Sie nicht ihre Familie und Freunde? Oder arbeitet ihre Familie
auch hier an Bord?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Obgleich die Leute hier auch irgendwie meine
Familie geworden sind. Ich bin sehr gerne hier und es fehlt mir eigentlich an nichts.
Zu Hause würden nicht sehr viele Leute auf mich warten.« Er machte eine kurze
Pause. »Als ich mich damals, vor sechs Jahren dazu entschlossen hatte, auf einem
Kreuzfahrtschiff zu arbeiten, wusste ich, was auf mich zukommen würde und dass ich
meine Heimat lange nicht sehen würde. Ich habe es bis heute keinen einzigen Tag
lang bereut. Ich kann mir vorstellen, hier noch einmal fünf Jahre zu arbeiten. Es
müsste schon etwas Außergewöhnliches passieren, dass ich meine jetzige Arbeit
aufgeben würde. Sollten sich neue Möglichkeiten auftun, kann ich immer noch
darüber nachdenken, aber zurzeit gibt es für mich keinen Grund, etwas an meiner
Situation zu ändern.« Er lächelte weiterhin, doch war da etwas, das ihn bedrückte.
Tarri versteckte es sehr gut, meinen empathischen Fähigkeiten konnte er allerdings
nicht so schnell etwas vormachen.
»Aber von mir jetzt zu Ihnen«, sprach er mit dieser angenehmen Stimme weiter.
»Ich möchte mehr über Sie erfahren. Und ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich musste
gestern Abend noch oft an Sie denken.«
War das jetzt sein Ernst, oder sagte er das zu jeder fremden Frau?
»Wirklich? Vielen Dank. Das überrascht mich jetzt aber. Ich bin niemand, an den
man denken sollte.«
Er runzelte leicht die Stirn.
»Aber um auch ehrlich Ihnen gegenüber zu sein: Ich wollte noch über den Abend
nachdenken, bin aber sofort eingeschlafen«, gestand ich grinsend.
Es folgte ein niedliches Kichern seinerseits.
»Hier, bitte sehr!«, hörten wir die hübsche Kellnerin sagen, die Gläser hinstellend.
»Ihre Orangensäfte.«
»Vielen Dank«, kam es gleichzeitig aus unseren Mündern.
Mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen schaute Tarri zu mir.
Grinsend reichte ich der Kellnerin meinen Schlüsselchip. Sie buchte die Getränke
auf den Speicher, gab ihn mir dankend wieder zurück und ging anschließend zum
nächstgelegenen Tisch, der von einer Gruppe Pensionisten besetzt worden war.
»Also, bitte erzählen Sie etwas über sich«, kam es von Tarri, der meinen
Augenkontakt suchte. »Ich bin wirklich neugierig. Wie kommt es, dass eine derart
reizende junge Frau allein auf Urlaub fährt?«
Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Womöglich Erholung?«
»Keine Freunde? Familie?«
»Doch, aber das ist etwas kompliziert.«
»Na gut.« Er nahm einen Schluck Orangensaft. »Womit verdienen Sie ihr Geld?«
Damit musste ich sofort an Mioko denken.
Es war der Tag, an dem ich mich entschlossen hatte, ein Wächter zu werden.
Besser gesagt: An dem Tag durchflutete die Erkenntnis meine Seele und mein Herz,
ich sei dafür geboren worden.
Und dadurch entstanden allerlei Sorgen. Als Wächter hätte ich üblicherweise auf
Taviss gelebt. Die Konsequenz wäre also gewesen, mein Leben auf der Erde
aufzugeben. Wächter arbeiteten nämlich ähnlich wie Außendienstler: Wir waren
überall und nirgendwo. Unsere Schützlinge konnten sich überall aufhalten - in
anderen Galaxien oder in Paralleluniversen.
Zum Glück hatte Mioko andere Pläne. Sie wollte mich unbedingt auf der Erde
haben. Ihre Begründung: Sie wolle und könne sich nicht in die Angelegenheiten
dieser Welt einmischen. Da ich dort heimisch war - mich bestens auskannte - sollte
ich mich um die Belange der Erde kümmern. Mio, so meinte sie weiter, würde sich
um unser restliches Multiversum kümmern.
Ich war sofort einverstanden gewesen. Obwohl ich genauso gerne auf Taviss gelebt
hätte, entschied ich mich letztendlich, ihren Vorschlag anzunehmen.
Dafür gab es zwei Gründe: Erstens hatte ich einen Job, den ich niemals aufgeben
wollte. Die Leute dort waren immer gut zu mir gewesen. Niemals hätte ich von mir
aus kündigen wollen. Zweitens waren da meine Eltern. Den Kontakt zu ihnen wollte
ich auf keinen Fall abreißen lassen.
Darum sah Miokos Vorschlag auf den ersten Blick auch supertoll aus.
Leider entstanden sehr bald neue Probleme, mit welchen ich mich seitdem
herumplagte: Niemand durfte erfahren, was ich tat. Weder die Leute in meinem Job
noch meine Eltern. Es war zwingend erforderlich, meinen »Hauptjob« gänzlich zu
verheimlichen. Und dazu zählten selbstverständlich auch meine Fähigkeiten.
Erschwerend kam hinzu, dass ich seit einiger Zeit - durch Mioko - für das
österreichische Heer arbeitete. Dies erforderte ebenso höchste Verschwiegenheit.
Aus all diesen Gründen hatten wir lange und breit darüber gesprochen, wie ich
mich denn verhalten sollte, wenn mich jemand nach meinen Lebensumständen fragt.
»Sag einfach das, was du nebenbei tust«, schlug Mioko vor. »Deinen Teilzeitjob hast
du ja nach wie vor. Oder erfinde irgendetwas, erzähle ihnen von vergangenen Jobs.
Ich weiß, du hasst es, zu lügen. Solange du dir jedoch nicht sicher bist, darfst du
niemanden etwas über deine Aufgabe als Wächter erzählen.«
»Ich weiß, ich sage es nur denen, die damit umgehen können. Trotzdem, auf
meiner Welt ist das viel schwieriger. Du weißt doch, wie neugierig manche Leute sein
können.«
»Du machst das schon. Lass dir einfach irgendeine Geschichte einfallen. Sei ein
wenig kreativ!« Dabei hatte sie mich spitzbübisch angegrinst.
Ich seufzte im Gedanken, ehe ich nach einigem Zögern witzelte: »Nun, ich arbeite in
einem Büro. Papierkram hat mich schon immer fasziniert.«
»Darf ich fragen, woher Sie kommen?«
»Natürlich«, antwortete ich knapp. »Österreich, Kärnten.«
»Nein, echt jetzt?« Seine Augen fingen an zu strahlen. »Ich komme ebenfalls aus
Kärnten.«
Ungläubig riss ich die meinen auf. Kärnten? Aber wieso der irische Name und das
perfekte Hochdeutsch? Jetzt war ich komplett durcheinander. »Ich habe eigentlich
gedacht, Sie kommen aus Irland - wegen des irischen Namens. Aber dann sind sie
bestimmt in Deutschland aufgewachsen, stimmt’s?«
Er lächelte breit und antwortete kopfschüttelnd: »Nein, ich bin in Kärnten geboren
und aufgewachsen.«
»Aber ich höre nicht einmal den Ansatz eines Kärntner Dialekts heraus.«
»Ich kann ihn schon, aber Hochdeutsch hört sich professioneller an.« Er nippte an
seinem Getränk. »Außerdem würde mich hier kein Deutscher verstehen, wenn ich
typisch kärntnerisch daherreden würde.«
»Ja, das ist verständlich. Aber trotzdem. Das ist schon ein gewaltiger Zufall, dass
sich hier zwei Kärntner über den Weg laufen.«
Irgendetwas sagte mir jedoch, dass dies ganz und gar nichts mit Zufall zu tun hatte.
Ich sollte genau hier über tausend Kilometer von meiner Heimat entfernt jemanden
kennenlernen, der wie ich aus Kärnten kam? Wer’s glaubte!
»Ja, absolut.« Schließlich wurde er ganz still, mich mit einem undefinierbaren Blick
beäugend.
Ich trank von meinem Saft, ließ gleichzeitig meine Augen über den Beach Club
schweifen. Meine Instinkte wurden nun doch wieder etwas geweckt. Aber nicht, weil
Gefahr drohte, sondern weil ich langsam wieder begann, wie ein Wächter zu denken:
Ich sicherte die Umgebung. Meinem Schützling durfte kein Leid zugefügt werden.
Alsbald ich meinen Kontrollblick abgeschlossen hatte, wanderten meine Augen
zurück zu Tarri und seinem mich intensiv musternden Blick.
»Ich muss gestehen, das ist meine erste Kreuzfahrt und der erste Urlaub, den ich
allein angetreten bin.« Ich nahm einen Schluck Saft, um die neue aufkommende
Nervosität - entstanden durch diese wunderschönen Augen - in den Griff zu
bekommen.
Bei Gabe! Diese Augen waren die schönsten, die ich jemals gesehen hatte!
Sie waren relativ groß für einen Mann und bloß ein klein wenig in die Länge
gezogen. Und dann erst diese wunderschöne strahlend blaugrüne Farbe!
Seine Augenbrauen waren eine Idee dunkler als seine Haarfarbe, dafür etwas breiter
und nur leicht geschwungen. Man sah, dass er sie nicht zupfte - aber wirkten sie
deshalb nicht ungepflegt oder wüst. Sie hatten eine natürlich schöne Form, die gar
keiner Pflege bedurfte.
»Sollte es Ihnen langweilig werden, kann ich Ihnen gerne öfters Gesellschaft
leisten«, riss er mich ein weiteres Mal aus meinen Gedanken. »Natürlich nur, wenn
Sie das auch möchten. Und solange Sie mich nicht wieder unbeabsichtigt erwürgen
wollen.«
»Keine Sorge, das kommt nicht wieder vor - Ehrenwort«, versprach ich.
»Dann bin ich beruhigt.« Er trank das Glas aus. »Ach ja, was haben Sie jetzt noch
vor?«
»Ich dachte, ich werde mir einmal die Geschäfte hier an Bord ansehen.«
»Hey, das trifft sich gut! Ich wollte heute ebenfalls etwas einkaufen. Darf ich Sie
begleiten?«
»Ja, gerne. Dann können Sie mir auch gleich das Schiff zeigen. Sie kennen sich hier
bestimmt viel besser aus, als ich.«
»Abgemacht!«
Auch ich leerte mein Glas. »Ich werde nur kurz duschen und mich umziehen.
Sollen wir uns um 11:00 Uhr treffen?« Dabei richtete ich den Blick nochmals auf die
umliegende Gegend.
»Ja, das passt perfekt. Auf dem Sonnendeck?«
Meine Augen schwenkten zurück zu ihm. »Gut, auf dem Sonnendeck.«
Ich erhob mich, er es mir gleichmachend. Gemeinsam schlenderten wir zum Lift
und warteten, bis sich die Tür öffnete. Mit gleichem Schritt traten wir ein und mit
beinahe derselben Bewegung drückten wir die Tasten zu den jeweiligen Decks: ich
die 12, Tarri die 4. Die Tür schloss sich und der Aufzug setzte sich geräuschlos in
Bewegung.
Es dauerte keine Sekunde, bis sich ein leichtes Unbehagen in mir ausbreitete. Nun,
besser gesagt war es reine Nervosität. Immerhin waren wir nun das erste Mal
vollkommen ungestört. Dazu musste ich anmerken, ich war schon mit vielen Leuten
allein - und das in Anführungszeichen romantischeren Situationen, doch waren diese
nicht sonderlich an mir interessiert. Des Weiteren bedeuteten mir diese Leute nicht
sehr viel oder hegte ich bloß freundschaftliche Gefühle für sie.
Für Tarri empfand ich so weit ebenso keine romantischen Gefühle, jedoch war er
der Erste, der mir dermaßen viel Interesse entgegenbrachte.
›Das wird sich auch noch ändern‹, dachte ich bei mir, während ich einen flüchtigen
Blick zu ihm warf. Dies nahm er sofort zum Anlass, um mich sanft anzulächeln.
»Was ich noch anmerken wollte: Sie sehen im Bikini einfach bezaubernd aus«, seine
Stimme so unglaublich tief, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.
Hoffentlich hatte er meine Reaktion nicht bemerkt.
Unsicher lächelnd, entgegnete ich: »Danke für das Kompliment.«
Ich wollte meinen Kopf wegdrehen, mich aus seinem bannenden Blick befreien.
Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte es nicht. Seine Augen, seine
Ausstrahlung - einfach alles an ihm hielt mich davon ab. Und der verdammte Aufzug
blieb auch nicht stehen.
›Komm schon Lift, leg noch ein Brikett nach, verflucht.‹
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt er endlich an. Es war doch bloß ein
verdammtes Deck?! Weshalb hatte das so lange gedauert?
Ich trat in den Korridor. »Bis später, dann.«
»Ja, bis später«, hörte ich ihn sagen.
Abschließend drehte ich mich nochmals zu ihm, zwei Finger salutierend gegen
meine rechte Schläfe gehalten, worauf er es mir gleichmachte, ein weiteres strahlendes
Lächeln, welches sich ebenso stark in seinen Augen widerspiegelte mir zuwerfend.
Kein Wort vermochte es zu beschreiben, wie niedlich er in dem Moment aussah!
Die nächsten Sekunden blickten wir uns stumm in die Augen, lächelten einander
an. Es war ein unschuldiger dennoch unbeschreiblich intimer Augenblick, welchen
ich in dieser Form noch nicht erlebt hatte.
Die Tür des Lifts schloss sich und der Bann brach - und damit bemerkte ich erst die
mich neugierig musternden Passagiere. Wie lange hatten wir uns wohl wie Idioten
angestarrt? Ich wusste es beim besten Willen nicht. Und je länger ich darüber
nachdachte, desto schneller wollte ich zurück zu meiner Kabine.
In Windeseile richtete ich mich her. Als Outfit wählte ich dasselbe Kleid, welches ich
heute Morgen getragen hatte.
Während ich etwas Wimperntusche auftrug, kamen mir wieder Zweifel.
Mio meinte zwar, ich solle mich amüsieren, doch war das in meiner Situation nicht
so einfach. Und wenn ich erst so darüber nachdachte, wie ich früher war und zu wem
ich geworden bin: Ich hatte mich in den letzten zwei Jahren zu einer völlig anderen
Person entwickelt.
War ich noch vor ein paar Jahren ein introvertiertes, scheues und depressives
Mädchen, das nicht wusste, was es mit seinem Leben anfangen sollte, hatte ich heute
eine Perspektive, neue Hoffnung und Erkenntnis.
Gabe und Gade hatten mir die Augen geöffnet. Ich erkannte endlich, warum mir
dieses Leben geschenkt worden war.
»Wer Augen hat zu sehen, der sehe.« Dieses Sprichwort beschreibt die ganzen Wunder
am besten, die ich in den letzten zwei Jahren erlebt hatte. Sie hatten mich berührt, sie
hatten mich bewegt, sie hatten mir ein Ziel vor Augen geführt.
Ich stütze mich mit beiden Armen am Waschbecken ab, meinen Blick in den
Spiegel gerichtet. War ich so weit?
Nein.
›Ich bin ein Wächter. Ich bin der Schatten. Ich bin der Schild. Aber ich möchte
niemals, dass sich jemand in mich verliebt. Ich möchte niemals, dass mich jemand
mit Augen anblickt, die sagen: Ich bin dir hoffnungslos verfallen. Genauso wenig
möchte ich, dass mir dies jemals passiert. Ich liebe die Menschlichkeit, aber bin ich
nach wie vor Misanthrop. Basta. Und daran wird sich auch in Zukunft nicht ändern.‹
Es geht immer nur um die Mission.
›Ja, so sieht’s aus! Tarri, du bist mein Schützling, bestimmt nicht weniger, aber auch
niemals mehr. Ich schwöre dir, bei allem, was mir heilig ist, dich zu beschützen und
dir auf dem Weg deines Lebens ein guter Freund und Berater zu sein. Du kannst dich
immer auf mich verlassen, und für dich zu sterben ist das Mindeste, das ich tun
kann. Unsere Seelen sind sowieso längst eine Verbindung eingegangen. Ob du es
willst oder nicht, jetzt wirst du mich nicht mehr los.‹
Ich grinste mich an. Ja, das ist es, was es sein sollte. Nur ein Schützling.
Mein Blick wurde ernst. Plötzlich sah ich das Bild von einem mich intensiv
musternden Tarri, der ›We were made for each other‹ sang.
Nur ein Schützling! … Verflucht.
Genervt von mir selbst, wandte ich den Blick ab.
»Heck, wie spät ist es eigentlich?«, sprach ich laut und griff sogleich zu meinem
Handy.
Darn, es waren bereits fünf Minuten nach elf!
Ich schnappte meine Tasche und sprintete aus der Kabine.
Auf dem Sonnendeck erblickte ich einen lächelnden, mit seinem Rücken an der
Reling lehnenden Tarri. Er trug eine schwarze Hose und ein sonnengelbes Hemd.
»Tut mir sehr leid«, entschuldigte ich mich. »Ich habe länger gebraucht, als
gedacht.«
Er ging auf mich zu - musterte mich von oben bis unten. »Ich würde sagen, das
Warten hat sich aber auf jeden Fall gelohnt.«
»Wohin sollen wir als Erstes gehen?«, fragte ich ablenkend. Das nächste Mal würde
ich etwas Schlabberlookmäßiges anziehen.
»Wohin Sie möchten«, antwortete er im Plauderton. »Ich habe, wie gesagt, den
ganzen Tag Zeit. Und die Geschäfte sind noch lange geöffnet.«
»Mir ist es auch gleich. Aber vielleicht gehen wir als Erstes die Dinge einkaufen, die
Sie dringend brauchen? Dann können Sie mir die restlichen Geschäfte zeigen.«
»Einverstanden.« Er reichte mir seinen linken Ellenbogen, bei dem ich mich nach
kurzem Zögern einhakte.
Das war das erste Mal, dass ich mich bei jemand eingehakt hatte - aber fühlte es
sich bei ihm sofort richtig an.
Gemeinsam schlenderten wir zum Lift, um damit zu Deck 7 zu fahren. Und jetzt
war das Teil gefühlte fünfzig Prozent schneller.
Dort angekommen ging’s zu einer Parfümerie.
»Ich brauche nur das«, meinte er, einen Herrenduft aus dem Regal nehmend.
»Hey, Tarri!«, rief eine rothaarige Verkäuferin. »Lange nicht mehr gesehen! Wie
geht’s dir?«
»Hallo Anna! Sehr gut. Und dir?«
Sie kam auf uns zu. »Ach, du weißt doch, mir geht’s immer gut. Und wer ist deine
hübsche Begleitung?« Dabei schaute sie mir mit einem freundlichen Blick in die
Augen.
Ich lächelte sie an. »Hallo. Mein Name ist Isa. Ich bin bloß eine Urlauberin.«
»Bloß eine Urlauberin?« Ein verstohlenes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
»Aha.« Es folgte eine kurze Pause, ehe sie weiterfragte: »Was braucht ihr zwei denn?«
»Nur ein Parfum für mich.« Sein Blick schwenkte zu mir. »Oder brauchen Sie
ebenfalls etwas von hier?«
»Nein. Ich habe genug Parfum zu Hause.«
»Dann also nur der Bruno Banani für dich.« Sie nahm ihm den Duft ab und ging
zur Kasse - wir folgend.
Tarri bezahlte, dann verabschiedeten wir uns - und ehe ich überlegen konnte, hatte
er mich neuerlich beim Arm genommen.
Obwohl der Körperkontakt nur äußerst dürftig ausfiel, fing mein Hirn gelegentlich
wieder zum Aussetzen an. Es war fürchterlich! Wie sollte ich mich denn so auf meine
Umgebung konzentrieren?
Nachdem wir eine Weile durch die Plaza geschlendert waren - und ich mich ein
wenig an diese neue Situation gewöhnt hatte - bemerkte ich endlich die vielen
Künstler und Geschäfte um uns herum.
»Ich hätte nie gedacht, dass es hier dermaßen viel zu sehen gibt«, sprach ich
verblüfft. »Es ist immerhin bloß eine Kreuzfahrt.«
»Es wird noch besser.« Damit leitete er mich zum AIDA Theatrium. »Sie sollten sich
die Akrobatikaufführung unbedingt ansehen! Die Leute machen einen großartigen
Job. Ich habe mir das Spektakel schon mindestens fünfmal angesehen, doch wird es
nie langweilig. Die Akrobaten lassen sich immer wieder etwas Neues einfallen.«
Während er dies erzählt hatte, war ein verzücktes Strahlen in seinen Augen
aufgeflackert, welches mich an die Aussage einer vor langer Zeit verstorbenen guten
Bekannten Miokos erinnerte: Du hast dir die Fähigkeit bewahrt, die Dinge durch die
Augen eines Kindes zu sehen.
Himmelherrgott! Damit fiel mir erst seine Wesensänderung auf, aber lediglich zum
Positiven. Er hatte seine Professionalität komplett auf die Seite gestellt.
Nun glich er eher einem verspielten Kind, denn einem professionellen Sänger, der
einen ganzen Saal in seinen Bann zog.
Es schmeichelte mir, zu sehen, wie schnell er mir seine private Seite zeigte.
Möglicherweise bemerkte er es selbst nicht einmal. Es wurde immerzu interessanter.
Welche anderen Wesenszüge verbargen sich wohl noch hinter dieser eleganten
Fassade?
»Wieso sehen wir uns dann nicht die nächste Aufführung an?«, schlug ich vor.
Freudestrahlend blickte er mir in die Augen. »Ja, das ist eine super Idee. Die
nächste Vorstellung fängt in einer Stunde an.«
»Gut, dann gehen wir erst etwas Essen. Ich bin schon am Verhungern.«
»Mir geht’s nicht anders.« Kichernd zog er mich sogleich in eine andere Richtung.
»Das Restaurant Weite Welt ist genau das richtige!«, meinte er voller Tatendrang.
Ich hätte beinahe gelacht - wie er mich da quer durch die Plaza auf die andere Seite
des Schiffes schleifte - das war alles andere, als sein übliches dandymäßiges Auftreten.
Aber passte es so viel besser zu ihm!
»So, da wären wir«, sagte er, das mit Holzboden belegte, in Braun und Gelb
gehaltene, Restaurant betretend.
Sofort schaltete ich auf Überwachung - ließ meinen Blick durch den Raum gleiten.
Alles sauber.
Zielstrebig zog er mich zu einem Platz am hinteren Ende des Raumes. Er bot mir
einen Stuhl mit Blick auf das Meer an, jedoch erklärte ich ihm, ich würde lieber mit
Blick auf dem Eingang essen wollen. Er akzeptiere dies anstandslos.
Während wir uns hinsetzten, schaute ich mich nochmals gründlich um. Meine
Instinkte waren nun vollends geweckt. Es fühlte sich wunderbar an. War die
mögliche posttraumatische Belastungsstörung etwa langsam beim Abklingen? Zu
hoffen wäre es.
Er schenkte mir einen intensiven Blick. »Was möchte Sie essen?«
»Ich weiß noch nicht. Als Erstes werde ich mir mal die Karte ansehen. Ach, und
bitte können wir uns nicht einfach duzen. Das wäre mir viel lieber.«
»Damit kann ich leben«, entgegnete er auf seine typisch weltoffene Art. Dazu
servierte er mir dieses ungeheuer ansteckende strahlende Lächeln, welches mich dazu
nötige, ihm ein noch viel Breiteres meinerseits zurückzuschenken.
Genau wie Gabe, schaffte er es, meine Stimmung dermaßen zu heben, dass es mir
langsam aber sicher unheimlich wurde.
Ich war wahrhaftig gesegnet! So viele wunderbare Lebensformen, die ich zu meiner
famiglia zählen durfte. Und nun sogar er!
Einen bitteren Nachgeschmack hatte das Ganze dennoch: Sobald mein Urlaub zu
Ende war, würde ich ihn nie wieder sehen.
Nun ja, ich konnte natürlich etwas cheaten, aber war ich mir noch nicht sicher, wie
viel Wahrheit er vertrug, wie viel Magie ich ihm anvertrauen durfte. Hoffentlich
würde ich dies in der kurzen Woche herausfinden.
Tja, wie es aussah, war ich wieder im Dienst. Danke Mio! Der Urlaub war besser,
als ich es mir zu träumen gewagt hatte!
Ein Kellner trat zu unserem Tisch, die Speisekarten überreichend. Wir bestellten
erneut einen Orangensaft - unisono, auf welches ein Kichern beiderseits folgte.
Die Karte durchblätternd fragte ich: »Kannst du mir auch hier etwas empfehlen?«
»Am besten schmecken die Fleischgerichte. Ich empfehle den Rindsbraten. Er
zerfällt auf der Zunge.«
»Gut, dann werde ich den heute probieren.« Damit legte ich sie auf die Seite.
»Eines würde mich jetzt doch sehr interessieren. Wie genau hast du das gemeint, als
du sagtest, es würden nicht viele Leute zu Hause auf dich warten. Ich meine, jemand
mit deinem gesanglichen Talent und deiner Ausstrahlung muss doch mindestens
einen Fan-Klub zu Hause haben.«
»Danke für das Kompliment«, antwortete er charmant, womöglich sogar ein wenig
beschämt. »Aber wenn ich dir meine Geschichte erzählen soll-«, er legte die
Speisekarte auf die Seite. »Musst du mir dafür gleich jetzt verraten, warum du derart
hart trainiert hast. In Ordnung?«
Ich überlegte ein wenig, versuchte schließlich zu erklären: »Ich würde es gerne, nur
muss ich dir ehrlich gestehen, dass ich gar nicht genau weiß, wie ich das alles erklären
soll. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir jetzt schon alles erzählen darf. Wir kennen
uns ja kaum.«
»Wie wäre es dann, wenn ich dir etwas entgegen komme?« Er warf mir ein
liebliches Lächeln entgegen. »Ich fange mit meiner Geschichte zuerst an. Und danach
sagst du mir, was ich wissen möchte, ja?«
Ein charmanter Erpressungsversuch. Tarri war raffinierter, als ich geglaubt hatte.
»Na gut.«
Ob ich ihm etwas sagen würde, hing nun allein von seiner Geschichte ab.
Ehe Tarri anfangen konnte, wurde er erst noch vom Kellner unterbrochen, der
unsere Bestellung aufnahm.
Alsbald uns dieser verlassen hatte, fing er zum Erzählen an: »Der Grund, warum
keiner auf mich zu Hause wartet, ist der Folgende: Meine Eltern sind vor mehr als
sechs Jahren verunglückt. Darum habe ich mich entschlossen, als sich die
Möglichkeit ergab auf der AIDAbella zu arbeiten, Österreich für einige Jahre zu
verlassen. Hätte mir jemand einige Jahre davor gesagt, dass ich einmal auf einem
Kreuzfahr tschiff als Sänger arbeiten würde, hätte ich denjenigen
höchstwahrscheinlich ausgelacht. Aber nach dieser Sache hielt mich dort einfach
nichts mehr.«
Das schockte mich. Gleich beide Elternteile auf einmal zu verlieren musste
unglaublich hart gewesen sein. »Das ist ja furchtbar.«
Ich spürte, wie sich eine große Trauer in ihm ausbreitete - und ebenso, wie er
versuchte, diese zu unterdrücken. Scheinbar schmerzten ihm die Erinnerungen mehr,
als er es zugeben wollte.
»Es tut mir wirklich leid, dieses Thema angeschnitten zu haben. Wenn ich gewusst
hätte-«
»Ist schon in Ordnung«, unterbrach er mich, ein gezwungenes Lächeln zeigend.
»Du kannst ja nicht Gedanken lesen.« Abschließend wurde sein Blick härter. Für
einen kurzen Moment ging es mir heiß den Rücken runter. »Aber jetzt zu dir.«
»Also schön.« Ich nickte ihm zu. »Ich trainierte deshalb so hart, weil ich dies
beruflich mache. Ich bin wohl Angestellte in einem Büro, arbeite aber nebenberuflich
als eine Art Bodyguard.«
Es war nicht wirklich die Wahrheit, aber ebenso keine richtige Lüge. Es war zu
seinem Verständnis das Beste, das mir eingefallen war. Ich konnte ja schlecht zu ihm
sagen: hey, Babe, ich bin ein Wächter und arbeite für einen Gott.
»Wow, das klingt aber interessant! Und mehr kannst du mir nicht verraten?« Seine
neugierigen Augen durchbohrten mich regelrecht. »Ist das etwa so wie bei James
Bond: Wenn du mir mehr erzählst, musst du mich umbringen?«
Kichernd antwortete ich: »Nein, so schlimm ist es dann auch wieder nicht. Es ist
aber besser, wenn du weniger weißt. Ich erzähle dir gerne mehr, sobald ich mir sicher
bin. Normalerweise berichte ich nicht einmal das, was ich dir jetzt erzählt habe. Ich
will nicht, dass du mich in einem falschen Licht siehst - das braucht einfach mehr
Zeit.« Ich legte eine Pause ein. »Aber bei einem kannst du dir sicher sein.« Mit ernster
Miene lehnte ich mich ein Stück weit zu ihm, er es mir sofort gleichmachend. »Wenn
ich jemanden meine Geschichte erzählen werde, dann dir. Das ist schon mal fix.«
Ehrlich gesagt, wusste ich selbst nicht so genau, weshalb ich das gesagt hatte - aber
irgendetwas in seinen Augen gab mir das Gefühl, er wäre es Wert, die Wahrheit zu
erfahren - auch wenn ich mir damit noch Zeit lassen würde.
»Ich warte gerne«, gab er mit einem breiten Lächeln zurück. »Nur eines noch.«
Ich nickte.
»Hast du keinen Mann oder Freund?«
Scheiße! Da war sie. Die Frage.
Ȁhm, nein und nein. Wie schon gesagt, ich bin niemand, an den man denken
sollte.« Ich lehnte mich wieder zurück. »Außerdem bin ich nicht speziell oder
besonders genug, um von Männern im Allgemeinen angesprochen zu werden.«
Verflucht. Würde er es bemerken? Hoffentlich nicht.
»Warum sollte dich niemand ansprechen?«, stieß er hervor. »Ich meine, sieh dich
doch an!«
Ich riss meine Augen auf. »Wie, … was?« Konnte es sein, war es möglich, dass …?
Nein, niemals. Das konnte gar nicht sein. Es liefen doch Millionen von schöneren
Frauen auf der Welt herum. Ich war da doch bloß ein Klumpen Dreck. »Was meinst
du damit? Sorry, ich stehe manchmal ein wenig auf der Leitung.«
Tarri zeigte mir ein schiefes Lächeln: »Natürlich. Tu jetzt nicht so, ja! Du kannst
mir nicht weismachen, dass dich nie ein Mann anspricht.«
»Nun ja, natürlich sprechen mich Leute an, wenn sie zum Beispiel nach dem Weg
fragen.« Mit vorgespielter Ahnungslosigkeit blickte ich in die Luft, während ich
anfing, meine Hände zu kneten.
»Isa«, ermahnte er mich - dehnte meinen Namen dabei in die Länge, woraufhin
mir schlagartig heiß und kalt wurde.
Der Klang seiner Stimme - wie er meinen Namen betonte - bei Q, das brachte
Gefühle zum Vorschein, die ich bis dahin noch nicht gekannt hatte.
›Gar nicht gut, Isa! Das ist gar nicht gut!‹
Nach ein paar Sekunden, die ich unbedingt gebraucht hatte, um mich mental zu
festigen, sprach ich weiter: »Ja, gut. Ich weiß, was du meinst. Nein, Männer sprechen
mich nicht an. Sie fordern mich nicht zum Tanzen auf. Gott sei es gedankt, denn ich
kann und will nicht tanzen.« Ich machte eine abwehrende Geste mit meinen
Händen. »Aber, um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, Männer sprechen mich
nicht an. Ja, ich weiß, das habe ich bereits gesagt.« Blöde Kuh.
»Niemand?« Seine Augen wurden größer - ebenso wie meine Nervosität.
Bei Gabe! Wieso reagierte ich dermaßen heftig?
»Nun ja, ein paar Sturzbesoffene vielleicht«, überlegte ich. »Ja, da gab es mal ein,
zwei.«
Er runzelte die Stirn - sah mich an, als würde ich ihn für blöd verkaufen wollen.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Doch ist es. Absolut. Oder sieht dieses Gesicht so aus, als ob es Witze machen
würde?« Dabei kreiste ich mit meinem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum.
»Weißt du, eigentlich ist es auch besser so. Ich habe keine Zeit für einen Freund, der
mir dann auf die Nerven geht und womöglich noch krankhaft eifersüchtig ist. Oder
noch schlimmer: jemanden, dem man nichts Recht machen kann. Nein, danke. Das
habe ich nicht nötig. Echt nicht.«
Nach wie vor war ich geistig daneben. Und das bloß, weil er mich bei meinem
Namen genannt hatte. Was würde denn dann passieren, wenn … ›Oh nein, Isa. Jetzt
reicht es aber.‹ Ich musste meine Gedanken auf das Hier und Jetzt zurückzulenken und das schnell!
»Es ist dein Ernst«, stellte er mit Entsetzen fest.
»Yup, das ist es«, versuchte ich so locker wie möglich zu sagen, dabei mit dem
Gedanken kämpfend, wie es wohl wäre, wenn er mir etwas Anzügliches in mein Ohr
hauchen würde. Oh Gott!
»Die haben doch alle bloß Schiss!«, entgegnete er unvermittelt mit lauter Stimme,
mich damit effektiv aus meinen Gedankenspielen bringend. Es dauerte jedoch etwas,
bis ich - oder mein vernebeltes Gehirn - registrierte, was er da überhaupt gesagt hatte,
und wie er es gesagt hatte.
Alsbald ich verstand, was er da von sich gegeben hatte, wurde meine Augen
kontinuierlich größer. Einzig zwei Gedanken schwirrten durch meinen Kopf: War das
sein Ernst? Und: Wo war seine vornehme Art geblieben?
Ich wusste nicht, was dann Schuld hatte - der Stilbruch oder mein Blick oder
beides zusammen - dass er sich mit pinken Wangen und beinahe stotternd
entschuldigte.
Bei Os! Wie schön er damit aussah! Wie konnte ein Mann dermaßen schön sein,
wenn er vor Scham nahezu im Boden versank?
»Ist schon gut«, beruhigte ich ihn kichernd. »Aber vielen Dank. Ich habe so was
bisher erst von einer Person gehört, und das war einer meiner Trainer. Damals dachte
ich noch, er wollte mich nur aufheitern, aber jetzt weiß ich, dass es viele Männer
gibt, die wirklich Angst haben, eine Frau anzusprechen. Verstehe ich doch auch! Mir
geht’s manchmal nicht anders.« Ich überlegte. »Nun ja, die meisten Männer, die ich
ansprechen wollte, waren dann aber verheiratet oder hatten ihre Freundinnen im
Schlepptau. Die kann ich auch wieder nicht anreden, oder? Ach, ist doch egal.« Mit
meiner Hand machte ich eine wegwerfende Bewegung.
Unverständlich schüttelte er den Kopf. »Trotzdem verstehe ich das nicht.«
Ich lächelte ihn milde an. »Nun, du hast mich doch angesprochen.«
Er fing an zu strahlen. »Da hast du absolut recht.«
Und damit wurde es mir heiß.
War es richtig gewesen, ihm dies zu sagen? Irgendwie klang das zweideutig. Und
das war das Allerletzte, das ich gewollte hatte.
Im Grunde war es mir schließlich bloß darum gegangen, ihn aufzuheitern. Ich
wollte nicht, dass er sich seltsam vorkam, weil er der Erste war, der mich ganz
unverbindlich angesprochen hatte. Genauso wenig wollte ich seltsam erscheinen.
Aber tat ich es in seinen Augen! Und war ich es im Grunde doch! Mich sprach
niemand an. Es interessierte sich niemand ernsthaft für mich. Die Leute schauten
zwar - wahrscheinlich, wegen der Kleider, die ich trug - aber das war es dann schon.
Ich war eben ein Niemand. Und daran würde sich in tausend Jahren nichts ändern.
Für einige Zeit saßen wir still auf unseren Stühlen, musterten uns, lächelten uns an.
Es war unwirklich.
Irgendwann meinte Tarri: »Ich sehe schon, ich werde meine Freizeit die nächsten
Tage mit dir verbringen.«
Mir wurde es ungleich heißer. »Das brauchst du doch nicht. Ich will nicht, dass du
mich deshalb bemitleidest. Ich hasse Mitleid.« Ich betonte jedes Wort des letzten
Satzes und fügte hinzu: »Mir geht ja nichts ab.«
»Es geht hier doch nicht um Mitleid. Du verstehst mich jetzt ganz falsch.« Erneut
schüttelte er den Kopf. »Hör zu: Ich will nicht Zeit mit dir verbringen, weil du
alleine auf Urlaub bist oder weil dich niemand anspricht.« Er atmete hörbar aus. »Ich
möchte Zeit mit dir verbringen, weil ich deine Anwesenheit schätze.« Seine Augen
drückten Güte und Mitgefühl aus. Er meinte das Gesagte vollkommen ernst - und
damit wurde mir erst recht heiß.
»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll«, gab ich ehrlich zu. »So was hat mir
bis jetzt noch keiner gesagt.« Es folgte eine Pause. »Danke.«
»Dafür brauchst du ich doch nicht bedanken.«
»Natürlich! Jeder andere wäre schon bei der Sache im Beach Club fluchtartig
abgehauen.«
»Ja, mag sein, aber wie zuvor gesagt: Diese Männer haben bloß Angst.«
Lächelnd senkte ich meinen Kopf. Ich wusste nicht mehr, was ich jetzt machen
sollte. Hätte mir jemand eine Pistole an den Kopf gehalten, hätte ich gewusst, was zu
tun war. Aber das?
Verdammt noch mal! Musste das Unter-Leute-Gehen andauernd so kompliziert sein?
Ich schickte ein Stoßgebet zu Gabe - zeitgleich kam der Kellner mit unseren
Speisen.
›Danke, Sweetie.‹
Während wir aßen, sprachen wir über ein paar aktuelle Themen: über die vielen
Terrorangriffe und die daraus resultierende Flüchtlingswelle, die Inflation und die
Umweltskandale. Es war unglaublich, wie leicht und entspannt wir uns über die
verschiedensten Dinge unterhielten. Er hatte nicht nur eine, wie Schokocreme weiche
Stimme, nein, sein ganzes Auftreten war von einer unglaublichen Leichtigkeit und
Sanftheit.
Jetzt verstand ich Mioko, als sie gesagt hatte: Wenn ich mich mit Carter unterhalten
habe, war es immer, als hätte ich zwei Wochen Urlaub gehabt.
Nach dem Essen schauten wir uns die Akrobatikvorführung im Theatrium an.
Tarri hatte nicht übertrieben. Die Show war atemberaubend, und die Untermalung
mit Licht und Musik war bis ins kleinste Detail perfekt ausgearbeitet.
Im Anschluss an die Vorführung zeigte er mir das große Sonnendeck auf Deck 17.
Von einer kräftig warmen Brise begrüßt schlenderten wir zur Reling und ließen
unseren Blick über das endlos wirkende Meer gleiten. Es war ein fantastischer
Ausblick.
»Man fühlt sich irgendwie so winzig und unbedeutend bei diesem Anblick«, meinte
er. Seine Augen hatten einen nicht vorhandenen Punkt zwischen Meer und Horizont
fixiert.
»Es ist ein ähnliches Gefühl, das man bei einer klaren Nacht empfindet, wenn man
die Sterne beobachtet«, gab ich zurück. »Man fühlt sich auch winzig, doch zu keiner
Zeit unbedeutend. Im Gegenteil, man fühlt sich sicher und geborgen, so als würden
die Sterne auf dich aufpassen.«
Tarri begann zu schmunzeln, seinen Blick zu Boden wandernd. »Wirklich? Ich habe
mich nie sonderlich für die Sterne interessiert.«
»Ich auch nicht, bis mein Leben dann plötzlich von einem Tag auf den anderen
angefangen hat, einen Sinn zu machen.«
Sein Blick sprang förmlich zu mir. Diesmal lag aber keine Neugier in seinen Augen.
Vielmehr sah es nach Gewissheit aus. Bloß welche Art von Gewissheit? Etwa die
Gewissheit, ich sei doch ein vollkommener Idiot? Oder eben noch interessant genug,
bloß um mir morgen schlussendlich höflich doch bestimmt aus dem Weg zu gehen?
Selbst wenn er nun mein Schützling war, bedeutete dies nicht zwangsläufig, viel
Zeit mit ihm zu verbringen.
Mioko zum Beispiel hatte einen Schützling, der jedes Mal, wenn sie sich trafen,
versucht hatte, sie umzubringen. Zum Glück legten sich die Spannungen zwischen
den beiden irgendwann.
Was ich damit sagen wollte, war Folgendes: Es gab ebenso bei Wächter/
Schützlingen-Beziehungen die sogenannte Hass-Liebe. Da lief auch nicht alles wie
geschmiert.
Ich hatte bereits viel Erfahrung mit unterschiedlichsten Charakteren und
Schützlingen gemacht. Ich hatte Schützlinge, die mir anfangs strikt aus dem Weg
gegangen waren, sich später jedoch so sehr an mich gewöhnten, dass ich sie gar nicht
mehr los wurde. Dann welche, die es einfach genossen, Zeit mit mir zu verbringen,
und schließlich noch welche, mit denen ich bloß sporadisch in Kontakt stand.
Aber dann kam Tarri und stellte alles auf den Kopf!
Wenn ich so darüber nachdachte, war Tarri kein gewöhnlicher Schützling. Alles
war komplett anders. Die Gefühle, die Bindung. Einfach alles.
Wächter erkannten normalerweise sofort, ob eine Person zu einem Schützling
wurde oder nicht. Bei mir war das ebenfalls stets der Fall gewesen. Ich sah eine
besondere Seele und wusste: Du bist mein Schützling oder du bist nicht mein
Schützling.
Bei Tarri war das zwar ebenso abgelaufen, doch war die Bindung - das Gefühl
zwischen uns - ein ganz neues. Ich hatte niemals zuvor eine dermaßen intensive
Emotion empfunden. Nicht einmal annähernd. Das war der erste Punkt.
Der Zweite: Ich war in der Gegenwart eines Schützlings noch nie zuvor nervös
gewesen.
Drittens: Er interessierte sich sehr für mich. Zu sehr. Er flirtete sogar mit mir!
Üblicherweise herrschte zwischen Schützlingen und Wächtern eine starke
Freundschaft. In vielen, wenn nicht sogar allen Fällen konnte man die Bindung
zwischen diesen beiden Personen als so stark, wie die zwischen einer Mutter und
einem Kind bezeichnen.
Es ist reine Liebe, aber bei Gott, keine romantische.
Viertens - und da musste ich etwas weiter ausholen: Ich war die letzte Person, die
jemanden nach seinem Aussehen beurteilte. Es passierte zwar, dass ich ungewollt
jemanden in den ersten Sekunden in eine Schublade steckte, doch revidierte ich
meine Meinung sofort wieder und gab derjenigen Person eine Chance, ihren wahren
Charakter zu zeigen.
Bei Tarri nun, da war das, um es auf den Punkt zu bringen, total irre. In meinem
Leben hatte ich noch nie einen solch wunderschönen Menschen gesehen. Vom
Aussehen, wie vom Charakter her. Er war schlicht und ergreifend perfekt.
Ich hatte zwar bereits andere Lebensformen mit derselben Ausstrahlung
kennengelernt, jedoch waren dies niemals Menschen gewesen.
Genau genommen waren es bloß Engel, die sich mit demselben Leuchten, dieser
Reinheit und Güte umhüllten. Kein einziger mir bekannter Mensch hatte jemals eine
solche Ausstrahlung gezeigt! Genauso wenig meine bisherigen Schützlinge!
Entweder waren meine Sinne dermaßen vernebelt - durch den Urlaub, durch den
vergangenen Stress - oder aber war er wahrhaftig einer dieser Himmlischen.
Und das war der Grund, weshalb ich nicht wusste, wie ich mich bei ihm verhalten
sollte. Das war alles komplett neu. Und je länger ich darüber nachdachte, umso
deutlicher wurde mir bewusst, welchem Engel er so ähnelte: Es war Gabe!
Tarris Ausstrahlung war nahezu ident mit der von Gabriel, wenn man einmal von
seiner noch jungen Seele absah. Dennoch, das Leuchten in seinen Augen, seine
Körpersprache, ja selbst sein Lächeln waren so verdammt ähnlich! Wieso war mir das
nicht früher aufgefallen? Ausgerechnet Gabriel! Das konnte wirklich kein Zufall mehr
sein.
In meinem Job gab es keine Zufälle.
Jetzt blieb bloß zu hoffen, dass sich Gabe keinen Scherz mit mir erlaubte.
»Isa.« Tarris angenehm warme Stimme holte mich aus meinen Gedanken und rief
gleichzeitig einen neuen warmen über meinen Rücken laufenden Schauer hervor.
Nun, möglicherweise war es diesmal auch nur der Wind gewesen.
»Hm, ja.« Ich schaute zu ihm.
»An was denkst du gerade?« Mit einem tiefen Blick in meine Augen lehnte er sich
seitlich gegen die Reling.
Bei allen Raumgeistern!
Wie er mich ansah - nein - wie er da stand: seine, durch den Wind in das Gesicht
gewehten goldblonden Haare, das charmante Lächeln und seine strahlenden Augen er sah aus, wie das das Meisterwerk unter Gottes Menschenkindern. Gottes neunte
Symphonie.
Himmelherrgott! Welch verrückte Gedanken irrten da bloß wieder durch meinen
Verstand?
Stotternd versuchte ich, etwas zu erwidern. »Nur etwas Dienstliches«, brachte ich
schließlich über meine Lippen, ehe ich meinen Blick auf das Meer lenkte, um einen
halbwegs klaren Gedanken fassen zu können.
›Okay, reiß dich jetzt zusammen, Isa.‹
Ich atmete langsam ein und aus.
»Du bist doch im Urlaub«, hörte ich ihn mit freundlicher Stimme sagen.
»Gedanken an die Arbeit gehören hier nicht her.«
»Stimmt«, kam es gepresst aus meinem Mund. Mehr brachte ich beim besten
Willen nicht heraus.
Mein Kopf war leer. Vollkommen leer.
›Zur Hölle, was mache ich jetzt. Zur Hölle, was mache ich jetzt. Was tue ich hier
überhaupt? Zur Hölle.‹ Ich konnte mich ja nicht mal mehr selbst beleidigen!
Stoisch schaute ich aufs Meer - versuchte mich irgendwie zu beruhigen. Fuck.
Nach einiger Zeit begann sich langsam, eine Frage in meinem Kopf zu formen.
Vielleicht eben wegen seiner Ähnlichkeit mit Gabriel. Ich überlegte, wie ich ihn
fragen sollte, wurde ich doch sekündlich unsicherer.
›Ach verdammt, was ist bloß los mit dir, Isa! Frag ihn, Herrgott noch mal.‹ Ich
atmete durch. ›Na gut.‹
»Tarri?« Ich drehte mich zu ihm.
»Ja?« Seine sanften Augen strahlen mich ein weiteres Mal an, woraufhin ich beinahe
wieder vergessen hätte, was ich ihn fragen wollte.
»Glaubst du eigentlich an Engel?«
Verwunderung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Nein, nicht wirklich.« Seine
Stimme klang unerwartet leise.
›Solltest du aber.‹
»Aber wenn ich dich ansehe, könnte ich glatt glauben, dass du einer bist«, fügte er
rasch hinzu.
Was war das?
»Uh, okay - wie wäre es, wenn wir uns noch etwas auf Deck 6 umsehen?«, überging
ich seine Aussage und drehte mich Richtung Lift.
Da hielt er mich unvermittelt am Oberarm fest - und mein vegetatives
Nervensystem reagierte, als hätte mir jemand in die Brust geschossen.
»Warte Isa«, hörte ich ihn von weither sagen.
In den ersten Momenten war es mir absolut nicht möglich irgendwie zu reagieren,
war ich doch zu sehr damit beschäftigt, dieses Gefühl des Beinahe-Kollabierens zu
unterdrücken. Nachdem ich mich jedoch wieder so halbwegs im Griff hatte, drehte
ich mich zu ihm, ihn tief in seine mich unsicher musternden Augen blickend.
Was zur Hölle war das gewesen? Was hatte er mit mir gemacht?
»Was ist?«, fragte ich schließlich leicht außer Atem, während er langsam von mir
abließ.
»Das sollte keine billige Anmache sein. Tut mir leid. Das Ganze klang total
lächerlich. Vergiss es einfach.«
Ich brauchte noch etwas, doch schließlich hatte ich mich vollends im Griff. Meine
Gestalt straffend, fragte ich: »War das ein Test?«
Tarri antwortete mir mit einem Stirnrunzeln.
»Sollte es das gewesen sein, weißt du ja jetzt, dass so was bei mir nicht zieht!«,
entgegnete ich streng. Es wurde Zeit, hier einiges klarzustellen. Diese Flirterei wurde
mir langsam aber sicher zu viel. Ich musste ihn doch schützen und nicht mit ihm
lange Blicke austauschen! Ich war hier, um auf ihn aufzupassen. Hier ging es nicht
darum, sich zu verlieben! Verflucht noch mal! »Ich bin nicht auf Urlaub, um mich von
Männern abschleppen zu lassen. Das habe ich, bei Gott, nicht nötig! Eigentlich
wollte ich diesen Urlaub überhaupt nicht machen. Normalerweise wäre ich gar nicht
hier.«
Davon einmal abgesehen, mehr denn eine Spielerei konnte hinter Tarris
Flirtversuchen sowieso nicht stecken. Niemand interessierte sich wirklich für mich.
Das war ausgeschlossen.
»So war das auch gar nicht gemeint«, entgegnete er ernst.
Er wirkte alles andere als erfreut. Hatte ich ihn etwa verletzt?
»Okay. Ist gut. Tut mir leid. Das Ganze kam etwas schroffer rüber, als ich es
gemeint habe.« Ich fasste mir an die Stirn, überlegte, wie ich meine gesagten Worte
etwas abschwächen konnte. »Mir geht es nur darum, dass ich nichts für One-NightStands übrig habe.«
Sein Blick verlor etwas von der Härte. »Ich verstehe. Ich finde es toll, dass du so
ehrlich bist.«
»Also solltest du jetzt kein Interesse mehr an mir haben, verstehe ich das«, fuhr ich
fort, ehe ich im nächsten Moment versteifte. Welchen Schwachsinn gab ich denn da
von mir? »Soll aber genauso wenig bedeuten, dass ich glaube, dass du überhaupt
etwas mit mir anfangen würdest«, fügte ich schnell hinzu.
Gott, wie kam ich bloß dazu, so etwas zu sagen? Wer könnte sich schon vorstellen,
einen One-Night-Stand mit mir zu haben? Ich, die flachbusige und unerfahrene
dumme Gans? Ja, klar!
Tarri blickte mich entgeistert an. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Er zögerte blickte mir unsicher in die Augen. Doch ehe diese Situation einen nicht mehr
auszuhaltenden Peinlichkeitsgrad erreicht hätte, sprach er zum Glück weiter: »Du bist
einfach eine tolle Frau. Das ist alles. Ich verbringe die Zeit nicht deshalb mit dir, weil
ich hoffe, dass wir heute Nacht etwas miteinander haben.« Er schenkte mir ein
Lächeln. »Ich habe wohl zu viel geflirtet, stimmt’s?«
Ich sollte eine tolle Frau sein? Ich?! Jetzt wurde es mir mulmig. War er etwa
drogenabhängig? Kein normaler Mann interessierte sich für mich! Und dieser
wunderschöne Mensch bezeichnete mich als tolle Frau? Das konnte doch gar nicht
sein!
»Nun, ich bin es, offen gesagt, nicht gewohnt, dass Männer überhaupt mit mir
flirten«, entgegnete ich wahrheitsgemäß, eine leichte Wärme in meine Wangen
steigend. »Deshalb kann ich das jetzt gar nicht beantworten.«
Bei Q, am liebsten wäre ich im Schiffsboden versunken. Das war doch alles
komplett irre! Ich wusste langsam nicht mehr, was ich noch denken sollte. Konnte
ich überhaupt noch vernünftig denken? Wenn er mich so intensiv musterte, wurde
mein Hirn sowieso in einen Offline-Modus geschickt. Vielleicht hatte ich mir ja bloß
alles eingebildet?
»Das heißt dann wohl, dass es zu viel war. Sorry. Vielleicht hat das auch ein wenig
mit meinem Job als Sänger zu tun.«
»Ist ja auch egal.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Solange du mich
nicht Prinzessin nennst, bin ich zufrieden«, scherzte ich, mir ein paar Haarsträhnen
hinter die Ohren streichend.
»Gut zu wissen.« Und das klang jetzt so, als wäre ihm mein Gesagtes äußerst
wichtig.
Es konnte doch gar nicht der Fall sein, dass er ernsthaft an mir interessiert war,
oder? So etwas war bei richtigen Frauen der Fall, doch nicht bei mir!
»Wollen wir?«, fragte mich Tarri, seinen Ellbogen mir hinhaltend.
Nickend schlang ich meinen Arm um seinen - und dieses Mal zögerte ich nicht.
Während wir den Lift betraten, fiel mir noch ein fünfter Punkt ein, weshalb Tarri
solch ein einzigartiger Schützling war: Ich hatte noch nie eine besondere Seele in
meiner Welt angetroffen. Überall im Multiversum, aber nicht auf meinem
Heimatplaneten.
Zurück auf Deck 6 führte er mich zu einer Eisbar.
Seine Lippen zeigten ein breites Lächeln. »Wie wär’s mit einem Schokoeisbecher?«
»Lieber wäre mir ein Schokokuchen.«
Mein Verstand funktionierte offenbar wieder: Milch vertrug ich schlechter als
Weizen. Da ich jedoch keine Vorträge halten wollte, weshalb ich nichts von diesen
Dingen essen durfte, und in weiterer Folge, welche unangenehmen
Begleiterscheinungen durch den Verzehr von gluten- und milchhaltigen
Nahrungsmitteln einhergingen, schwieg ich. Eine Ausnahme würde schon keine
Probleme verursachen. Und sollte ich, wider Erwartens doch Ausschlag, übermäßiger
Harndrang, Durchfall oder Haarausfall bekommen, würde ich einfach meine Macht
dazu benutzen, um mich zu heilen. Basta!
»Den haben sie ebenfalls. Siehst du!« Er zeigte auf eine Vitrine mit verschiedensten
Kuchen und Torten.
»Schon überredet.«
Wir traten ein, steuerten sofort die Vitrine an und suchten uns zwei
unterschiedliche Stücke Torten aus: einmal eine Schokolade-Sahne-Torte mit
Biskotten für ihn und einmal eine Bananentorte mit Schokoladenüberzug für mich.
Dann setzten wir uns auf einen freien Platz. Die Leckereien wurden uns keine
Minute darauf serviert.
»Das ist ein saftiges Stück Paradies!«, meinte ich, ein großes Stück Bananentorte in
den Mund nehmend.
Tarri tat es mir gleich, probierte seinen wahr gewordenen Schokotraum.
Gerne hätte ich mich stärker auf seinen Gesichtsausdruck konzentriert, doch war
das Tortenstück in meinem Mund dermaßen gut - ich konnte gar nicht anders, als
mich komplett dem Geschmack und der Konsistenz hinzugeben.
Bei Mio! Das schmeckte wie selbst gemacht! Unglaublich! Himmelherrgott! Woher
hatten die bloß die vielen guten Köche und Bäcker?
»Die schmeckt wunderbar!«, rief ich schließlich aus, ehe ich mir ein neues ungleich
größeres Stück in den Mund stopfte.
Erst nachdem ich die Hälfte der Mehlspeise verputzt hatte, bemerkte ich Tarris
leuchtenden Blick und das breite Lächeln, welches er mir zuwarf.
Er freute sich - nein - er genoss es sichtlich, mir zuzusehen, wie ich - und das
musste ich ehrlich zugeben - meine Mehlspeise hier nicht eben ladylike runterwürgte.
Oh Scheiße! Noch so eine peinliche Sache! Ich schlemmte hier, als würde ich zu
Hause alleine in der Küche sitzen.
»Es schmeckt dir, ja?«, fragte er mich mit einer ziemlich erheiterten Stimme.
Leicht errötend nickte ich ihm zu. Das war jetzt echt nicht mehr witzig!
Um die Gedanken zu verdrängen, blickte ich auf sein Tortenstück. Er hatte erst ein
Viertel davon verspeist.
»Wie schmeckt dir deine? Ist sie gut?«
Er nickte mir fröhlich zu. »Ja, ausgezeichnet.«
Ich aß ein Stück, schluckte. Plötzlich fiel mir etwas ein.
»Aber es gibt eine Torte, die von keiner dieser Köstlichkeiten hier geschlagen
werden kann!«
»Welche?« Seine Augen zeigten Neugier. »Ich kenne keine bessere-«, er überlegte
kurz. »Doch! Sachertorte!«
Ich fing an zu lachen. »Die von Metro?«
Er nickte heftig. »Ja, genau! Du hast sie ebenfalls probiert?«
»Ja, sie schmeckt wie hausgemacht. Aber meine ich eine andere.« Ich erhob meine
Gabel. »Eine noch viel bessere!«
Tarri antwortete erst mit einem Kichern, ehe er weitersprach und anschließend ein
Stück Schokotorte aß. »Jetzt bin ich gespannt, welche das sein soll. Eine selbst
gemachte von deiner Oma? Denn nur Eltern oder Großeltern backen besser als jede
Fabrik.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine die Buchweizentorte von der Konditorei
Bernold in Villach.«
»Diese kenne ich gar nicht.«
»Da geht dir aber etwas ab! Solltest du mal wieder in Kärnten sein, lade ich dich auf
ein Stück ein.«
»Das Angebot nehme ich gerne an.« Abermals schenkte er mir dieses warme,
strahlende Lächeln, von welchem ich langsam nicht mehr genug bekam.
Ich blickte auf seinen Teller. Er hatte eben einmal die Hälfte verdrückt - und ich
musste mir eingestehen: Seine Torte sah von Minute zu Minute besser aus.
Er blickte mich aus wissenden Augen an, als ich fragte: Ȁh, darf ich etwas von
deiner Torte probieren?«
»Natürlich!« Er schob mir die Süßspeise zu. Irgendwie erweckte er dabei den
Anschein, es würde ihn dies ungleich stärker erheitern.
»Aww, danke!« Ich streckte meinen Arm etwas aus, um ein Stück zu ergattern. Kurz
darauf bestätigte ich mit vollem Mund: »Sie schmeckt herrlich!«
Und seine Augen fingen neuerlich zum Strahlen an.
Wie es aussah, machte er es ihm nicht viel aus, dass ich hier so ziemlich jede
Tischregel brach.
Alsbald ich geschluckt hatte, fragte ich um ein weiteres Stück.
Kichernd schob er mir den Teller ein zweites Mal zu. »Sicher. Aber dann bekomme
ich auch etwas von deiner!«
Ich nickte ihm zum Einverständnis zu, einen neuen Happen seiner Köstlichkeit
angelnd.
Damit nahm er sich eine Kostprobe von meiner Bananentorte, woraufhin es mir
nicht mehr möglich war, meinen Blick von ihm zu nehmen.
Als ich sagte, es hatte etwas Erotisches, wenn er auf der Bühne stand und sang, da
hatte ich ja noch nicht gewusst, wie es war, ihm beim Vertilgen einer Süßspeise
zuzusehen. Ich musste sofort revidieren. Das war nicht bloß erotisch. Das war Sex!
Purer Sex! Anders konnte man das nicht bezeichnen.
Er hatte die Augen geschlossen. Mit jedem Biss war zu erkennen, wie er den
Geschmack herauszufiltern versuchte, stärker wahrzunehmen, zu genießen.
Gleichermaßen, wie er sich in der Musik verlor, geschah dies beim Essen. Aber bloß
bei Süßspeisen. Beim Mittagessen hatte er zwar ebenfalls genüsslich gespeist, doch so
sinnlich wie jetzt hatte das niemals ausgesehen.
Also eines war klar: Dieser Mann war ein Genussmensch. Absolut. Und es war eine
Freude, ihm dabei zuzusehen. Eine solch große Freude, dass ich mich beinahe
verschluckt hätte.
Nachdem er diesen nahezu sexuellen Akt abgeschlossen hatte, stütze er den linken
Ellbogen auf die Tischplatte und legte den Kopf in seine Hand, mich beobachtend,
wie ich den Rest meiner Torte verschlang.
Nun ja, jetzt versuchte ich mich, etwas mehr zusammenzureißen.
»Ich könnte dir die ganze Zeit dabei zusehen«, sprach er gedankenverloren.
»Wasch?«, platzte es mit vollem Mund aus mir heraus. Hatte ich mich wohl nicht
verhört?! Ich schluckte, versuchte es nochmals. »Sorry, was hast du gesagt?«
»Ich sagte, ich könnte dir die ganze Zeit dabei zusehen.«
Oh mein Gott! Ich hatte es richtig verstanden.
»Wieso?« Mir wurde es schon wieder heiß. Dangit!
»Weil du derart genussvoll isst. Mir kommt es vor, als würdest du für jedes einzelne
Stück unendlich dankbar sein.« Seine Augen leuchteten sanft, ein kleines aber nicht
weniger süßes Lächeln seinen schmalen Lippen umspielend.
Das konnte er doch nicht ernst meinen! Ich hatte mir das süße Zeugs durchwegs
wie eine verhungerte Straßenkatze reingestopft. Das hatte bestimmt nicht genüsslich
ausgesehen. Das konnte nicht genüsslich aussehen!
»Echt? Meinst du? Ich glaube eher, es hat ausgesehen, als hätte ich noch nie eine
Torte gegessen. Es tut mir leid, dass ich die Mehlspeise so runtergewürgt habe. Aber
hat sie einfach zu gut geschmeckt. Ich konnte mich nicht zurückhalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Ich finde, es hat äußerst niedlich
ausgesehen.«
Mir wurde es ein weiteres Mal zu warm. »Also als niedlich würde ich das jetzt aber
nicht bezeichnen.«
»Doch, das war es. Du brauchst dir da keine Sorgen machen. Außerdem ist es
erfrischend zu sehen, dass eine Frau mit solch einer Traumfigur derart unbeschwert
zu Nachspeisen greift. Ich hatte ja schon befürchtet, du würdest nichts essen, weil du
auf deine Linie achtest. Obgleich du das meiner Ansicht nach sowieso nicht musst.
Deine Figur ist perfekt. Andere Frauen würden morden, um so auszusehen.«
»Wie ... was?« Das war ein Kompliment! Ein Kompliment an mein Aussehen!
Mir wurde es gleich nochmals wärmer.
Tarri warf mir ein neues Lächeln zu, griff nochmals nach seiner Gabel, um das
letzte Stück Schokotorte in seinen Mund zu stecken.
»Nun, ich liebe Süßigkeiten. Aber ich kann nicht alles essen, deshalb kann ich mein
Gewicht auch ziemlich leicht halten. Dafür können Allergien sehr praktisch sein.«
Ich schluckte - obwohl mein Teller bereits leer war - hielt den Blick gesenkt. »Das mit
dem genussvollen Essen - ich weiß nicht - vielleicht kommt es daher, weil ich einfach
dankbar bin, dass ich überhaupt auf solche Nahrungsmittel zugreifen kann.« Nun
hob ich meinen Blick. »Es ist nämlich so, dass ich seit einiger Zeit viel dankbarer
geworden bin für die Dinge, die für uns so selbstverständlich sind. Wie viele Leute
müssen nicht hungern oder frieren, weil sie irgendwo in einem Dritten-Welt-Land
leben. Da haben wir es verdammt gut.«
Sein Blick wurde intensiver.
»Aber ich will jetzt nicht so klingen wie diese Weltenverbesserer aka Grünen. Ich
habe einfach seit einiger Zeit erkannt, dass ich dankbarer für alles um mich herum
sein sollte. Da gibt es einige tolle Sprichwörter und Anekdoten von verschiedensten
Philosophen, obwohl mir jetzt keines dazu einfällt.«
»Ich verstehe, was du sagen willst.« Seine Stimme klang tief und weich und sexy und mir wurde es schon wieder heiß.
Sein Blick allein zog mich bereits in seinen Bann und seine Stimme ging mir
sowieso durch und durch, aber beides zusammen war ein sicherer Garant dafür, mir
meinen Verstand erfolgreich abzudrehen.
Verflucht! Wie machte er das? So etwas hätte ich gerne einmal beim anderen
Geschlecht ausgelöst.
Eine Bedienung, die unsere Teller abservierte, riss mich aus meinen Gedanken.
»Willst du noch ein Stück Tiramisu mit mir essen?«, fragte mich Tarri. »Ein ganzes
Stück schaffe ich nicht mehr, aber wenn wir es aufteilen?«
Ich nickte sofort. »Ja, gerne. Ich liebte Tiramisu!«
So kam ich nicht nur in den Genuss des weltbesten Tiramisus, sondern durfte
überdies ein zweites Mal dabei beobachten, wie Tarri unverschämt langsam und
lustvoll ein Stück nach dem anderen aß - mir dadurch eine weitere Wärme ins
Gesicht trieb.
Wie konnte ein Mann bloß dermaßen sinnlich essen? Wie ging denn so etwas
überhaupt? Und wieso wirkte es überhaupt auf mich?
Gosh! Das war Sex, absoluter Sex! Das fiel ja schon in die Kategorie Vorspiel!
Schlagartig drifteten meine Gedanken ab. Wenn er hier diese Sinnlichkeit an den
Tag legte, wie war er denn dann erst im Bett? Genoss er Zärtlichkeiten etwa genauso
intensiv - möglicherweise sogar intensiver?
Langsamer zärtlicher Sex in lauen Sommernächten - mit diesem Gesichtsausdruck?
Himmelherrgott! Was dachte ich denn da?!
Ich wollte wegschauen, diesen Essensporno irgendwie ignorieren, doch war es so …
so faszinierend - und wunderschön. Und vielleicht gelang es mir auch deshalb nicht,
weil er seine Augen durchgehend geschlossen hielt.
Wie schön sein Gesicht mit geschlossenen Lidern aussah! Seine elegante für einen
Mann eher untypisch feminin geformte Nase bewegte sich bei jedem Bissen leicht auf
und ab. Es sah unbeschreiblich niedlich aus! Und sein etwas länglich geformtes
Gesicht mit den hohen Wangenknochen erinnerte mich ein kleines Bisschen an
Benedict Cumberbatch.
Doch da wo Benedicts Gesicht zu lang und seine Gesichtskonturen leicht
verwaschen wirkten, hatte Tarri, trotz seiner hellen Haut und den sanften Zügen,
etwas stärker betonte Kinnbögen, durch die sein Gesicht wie gezeichnet anmutete.
Und dann erst das Blaugrün seiner Augen! Da konnten Cumberbatchs
Gendeffekts-Augen in tausend Jahren nicht mithalten.
Und wie sie mich nun anfunkelten - das grenzte beinahe an Poesie. Das war …
Himmelherrgott!
Ich wäre beinahe vom Stuhl gekippt.
Er hatte mich beobachtet, wie ich ihn beobachtet hatte. Oh Gott!
»Schmeckt es dir nicht?«, fragte er besorgt.
»Äh, uh, doch, natürlich! Es ist das beste Tiramisu, das ich in den letzten zehn
Jahren gegessen habe.«
Gosh, wie lange hatte er mich wohl angesehen? Wie lange hatte ich ihn überhaupt
angestarrt?
»Dann iss du den Rest bitte«, entgegnete er, mir mit einem breiten Grinsen den
Teller näher zu mir herüberschiebend. »Ich kann schon beinahe nicht mehr.«
Den Blick auf die Süßspeise gerichtet, nickte ich mit heißen Wangen und brach
schließlich ein Stück herunter.
So etwas Peinliches war mir noch nie passiert. Aber am Allermeisten schämte ich
mich für mein heißes Gesicht. Das war mein persönlicher Super-GAU, hasste ich es
doch, starke Gefühlsregungen zu zeigen!
Währenddessen ich zu Ende aß, erzählte er mir, wie sehr er es als Kind geliebt
hatte, mit seiner Mutter zu kochen und zu backen.
»Aber das hat sich dann auch geändert«, fuhr er fort, während ich das letzte Stück
in den Mund schob.
»Ja, wie sich so Vieles ändert«, seufzte ich. »Die Kindheit kann Segen und Fluch
zugleich sein.«
Tarri nickte mir stumm zu.
Alsbald die Bedienung ein zweites Mal abservierte, bat ich, darum zahlen zu
dürfen.
»Bitte alles zusammen«, meinte ich fröhlich, ihr den Chip hinhaltend. »Ich habe
Urlaub.«
»Warte, du brauchst mich doch nicht einzuladen«, stieß er entsetzt hervor.
»Nein, nein, das geht schon in Ordnung.« Ich wedelte, Handinnenfläche nach
unten zeigend, mit meiner rechten Hand.
Die Bedienung buchte den Betrag auf den Chip, bedankte sich und wünschte uns
noch einen schönen Tag. Während ich ihr ebenfalls einen schönen Tag wünschte, war
mein Blick bereits dabei, zu der besonderen Seele zurückzuwandern. Tarri wirkte
nach wie vor peinlich berührt. Machte es ihm denn dermaßen viel aus?
Ich musste das Ganze sofort aus der Welt schaffen. »Hey, ich bin jetzt keine
Emanze, okay, aber ich werde dich ja wohl noch einladen dürfen, oder?« Grinsend
erhob ich mich. »Das Essen heute Abend zahle übrigens auch ich.«
»Dann lade ich dich beim nächsten Mal ein«, konterte er.
»Soll mir recht sein.«
»Und … danke.« Ein zaghaftes Lächeln huschte über seine Lippen.
Das gab mir zu denken. Ich machte mir eine mentale Notiz. Später würde ich
genügend Zeit haben, um über Tarri und diesen Tag ein Urteil zu fällen.
Wir durchquerten das Deck. Schließlich blickte ich das erste Mal seit Langem auf
mein Handy. »Gosh! Es ist schon fast fünf. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit
vergeht.«
Tarri schaute mir tief in die Augen. »Kein Wunder, wenn man sich derart gut
unterhält, vergeht die Zeit immer wie im Flug.«
Zum wiederholten Male aus dem Konzept gebracht nickte ich bloß.
Die besondere Seele hakte sich bei mir ein. »Hast du eigentlich schon den Skywalk
gesehen?«
›Er unterhält sich gut mit mir‹, wiederholte mein Verstand gefühlte hundert Mal.
Irgendwann brachte ich doch etwas über meine Lippen. »Nein, ich wollte ihn mir
morgen ansehen.«
Plötzlich tauchte ein dunkelhaariger Mann vor uns auf. Ich erkannte ihn als einen
seiner Bandkollegen. Ein Wunder, dass er mir überhaupt aufgefallen war - war ich
doch längst wieder weggetreten.
Der Typ begrüßte mich mit einem Nicken. »Tarri, hast du kurz Zeit? Es gab eine
Planänderung.«
»Nein, nicht schon wieder!« Letztgenannter fasste sich seufzend an die Stirn. »Was
genau wurde denn wieder umdisponiert?«
»Sie wollen den ersten Auftritt morgen schon um 18:00 Uhr, und dann noch einen
zweiten ab 22:00 Uhr«, entgegnete er entnervt. »Außerdem sollen wir heute ebenfalls
kurz auftreten - für circa eine Stunde.«
Wie oft wurden hier wohl Auftritte verschoben? Arme Schweine.
»Ab wann?«
»Acht.«
Tarri ließ die Schultern hängen. »Toll, okay. Es bleibt uns ja sowieso keine Wahl.«
Er drehte sich zu mir. »Es tut mir leid, aber leider müssen wir unser Essen wohl
verschieben.«
»Das macht doch nichts«, antwortete ich verständnisvoll. »Wenn du möchtest,
können wir uns morgen Mittag treffen.«
»Ich fürchte, das wird sich genauso wenig ausgehen. Ich muss morgen mit meinen
Kollegen noch ein paar Lieder proben. Erst Donnerstag hätte ich wieder Zeit.«
»Gut, dann holen wir das Abendessen am Donnerstag nach«, bestätigte ich.
»In Ordnung, um 19:00 Uhr im Casa Nova, ja?«
»Ja. Okay. Und vielen Dank für den wundervollen Tag.«
Folgend fiel mir der Unfall von heute Morgen nochmals ein. Geschwind ergriff ich
seine Hand, um mir die Läsion anzuschauen, die ich ihm ungewollt zugefügt hatte.
»Q sei Dank, der Abdruck ist fast nicht mehr sichtbar!«, bemerkte ich erleichtert,
ehe ich ihm in seine blaugrünen Augen blickte, welche erst zu seiner Hand,
darauffolgend zurück in mein Gesicht hüpften, um da schlussendlich hängen zu
bleiben.
Jäh veränderte sich sein Ausdruck. Tarri wirkte gedankenverloren. Es schien
beinahe, als wäre er in einer Art Trancezustand. Eine ganze Weile starrte er mir
stumm in die Augen, bis er schließlich unerwartet die linke Hand ein Stück weit
anhob, bloß um mitten in der Bewegung abzustoppen.
Ich verstand gar nichts mehr.
Und so schnell dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen aufgetaucht war,
verschwand er auch wieder.
Mit einem professionellen Gentleman-Lächeln - ganz genau, nicht das Tarri-in-derFreizeit-Lächeln, sondern das Tarri-der-Sänger-Lächeln - entgegnete er: »Nein, ich
muss mich bedanken! Ich freue mich schon auf unser Abendessen.«
Was war das bloß gewesen? Was hatte er gehabt? Und warum jetzt so distanziert?
Ich verdrängte den Gedanken. »Ja, ich mich auch. Also, bis dann!« Dabei sah ich
erst den Bandkollegen und zum Schluss nochmals Tarri in die Augen, woraufhin ich
mich mit flotten Schritten von ihnen entfernte.
Was wollte er machen? Warum hatte er die linke Hand gehoben?
Ich betrat den Lift. Alsbald sich der Aufzug in Bewegung setzte, fingen meine
Gedanken so richtig zum Rasen an.
Was war es, dass Tarri tun wollte? Im Nachhinein war es mir sogar vorgekommen,
er hätte sich zu mir beugen wollen. Aber wahrscheinlich war das bloß Einbildung
gewesen.
In meiner Kabine setzte ich mich auf das Bett und atmete erst einmal langsam ein
und aus.
Was sollte diese Handbewegung? Was wollte er machen? Hatte ich etwas verpasst?
Er wollte doch nicht … Nein, ganz bestimmt nicht.
Eine mich abrupt überkommene bleierne Erschöpfung war es schließlich, die mich
unter die Dusche zwang.
Halb tot verkroch ich mich unter die Bettdecke. Die Haare hatte ich nicht mehr
geföhnt. Ich war fertig. Komplett am Ende. Alles, was ich jetzt noch wollte, war
schlafen.
04 Auf, dass unsere Seelen wieder dasselbe Lied singen
Ich erwachte um 4:30 Uhr.
Nach meiner Aufwachphase überlegte ich mir, wie ich den Tag verbringen sollte.
Tarri würde ich erst morgen wieder sehen. Also wäre es eine gute Idee, meine
Gedanken zu ordnen.
Gabe. Genau! Ich musste mich unbedingt mit ihm unterhalten. Ich brauchte
Gewissheit, ob das Ganze hier nicht auf seinem Mist gewachsen war.
Mit diesem Gedanken im Kopf wusch ich mich flott. Ich zog mir etwas
Gemütlicheres - kurze Hosen und ein blaues Top - an und machte mich auf dem
Weg zum Sonnendeck.
Es war noch niemand unterwegs. Weder im Korridor noch in der großen Halle.
Und ebenso wenig auf dem Sonnendeck.
Im Gedanken rief ich nach meinem Wächter, dem Erzengel Gabriel. Ja, es gab ihn
wirklich. Und er war weitaus strahlender und schöner, als man es sich vorzustellen
vermochte. Meiner Meinung nach war er schöner, denn alle anderen Engel
zusammen.
*Gabe. Hörst du mich? Natürlich hörst du mich. Ich brauche dich dringend! Bitte
komm her.*
Ich blickte auf das dunkelblaue Meer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch
dauerte es nicht mehr lange, bis sie ihre ersten goldenen Strahlen über das Meer
schicken würde.
»Na, Babygirl«, hörte ich eine angenehme Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Ein Mann in einem viel zu gut sitzenden Anzug erschien in
meinem Blickfeld. Ich musste meinen Kopf anheben - jedes Mal aufs Neue
überraschte mich seine gewaltige Größe - um in seine, durch die Sonne geschmolzene
Milchschokolade erinnernden, mir so vertrauten goldbraunen Augen blicken zu
können.
*Gabe.* Ich empfing ihn mit einer innigen Umarmung.
»Wie läuft der Urlaub?«, fragte er mich lässig, seine Hände in die Hosentaschen
steckend.
»Tja, eigentlich ganz gut. Zu gut, um genau zu sein. Ich will nicht lange um den
heißen Brei herumreden: Hast du bei Tarri die Finger im Spiel?«
Er schaute mit seinen unschuldigen großen runden Augen auf mich herab, ehe er
mit gespielter Empörung und theatralischer Handgeste entgegnete: »Isa, wie kannst
du bloß so von mir denken!?« Er legte die Hand auf die Brust. »Nach allem, was wir
erlebt haben. Ich bin schockiert!« Ein verschmitztes Grinsen folgte.
»Gabe, lass den Blödsinn - und sag mir, dass das alles hier nicht ein großer Scherz
von dir ist.«
Sein Blick wurde ernst. »Du kannst beruhigt sein, ich habe mich nicht so
eingemischt, wie du es jetzt vermutest.« Er bekräftige seine Aussage mit einer Geste
seiner linken Hand. »Tarri ist echt. So echt wie du und ich. Du weißt, dass ich mir
bei solchen Dingen keinen Spaß erlaube. Und schon lange nicht bei dir.«
Damit spielte er auf seine Fähigkeiten an, die Wirklichkeit zu verändern
beziehungsweise eigene Welten zu erschaffen. Beinahe so wie Q aus Star Trek. Dieser
Fähigkeit waren alle Erzengel mächtig. Bloß war Gabriel der Einzige, welcher diese
ungewöhnlich oft benutzte - entweder um sich selbst zu erheitern oder um andere
Engel dann und wann einen Streich zu spielen.
Einmal hatte ich ihn auf sein unengelhaftes Verhalten angesprochen. Eine Antwort
hatte er mir zwar gegeben, doch fiel diese sehr dürftig aus: »Ich lockere bloß etwas die
Stimmung. Außerdem hat mich jemand inspiriert.«
Wer nun die geheimnisvolle inspirierende Person gewesen war, hatte ich bis zum
heutigen Tage bedauerlicherweise nicht herausfinden können. Eine Vermutung
zumindest hatte ich.
»Danke. Das beruhigt ungemein. Ich dachte schon, dass dies alles hier ein von dir
inszenierter Traum ist. Eben weil sich Männer doch nie für mich interessieren.«
Achselzuckend blickte ich zum Meer.
»Wie kommst du überhaupt auf die Idee, ihn als Schützling zu betrachten?«,
beschwerte er sich plötzlich.
Mein Blick wanderte zurück in sein wunderschönes Antlitz.
»Nicht jeder besondere Mensch soll ein Job für dich sein. Hab endlich mal etwas
Spaß. Mit ihm wird es nachts bestimmt nicht langweilig.« Mit einem spitzbübischen
Grinsen beendete er seine Predigt.
Mir stieg eine leichte Wärme ins Gesicht. »Herrgott, Gabe!«, sprach ich im
mahnenden Tonfall. »Reiß dich zusammen.«
»Wieso. Er ist heiß und du stehst auf ihn. Gib’s zu.« Er stupste mich mit seiner
rechten Schulter. »Ich hab deine Gedanken über ihn gesehen. Die sind schon lang
nicht mehr jugendfrei.«
»Oh Gott.« Ich drehte mich um und lehnte mich an die Reling.
Das wurde immer peinlicher. Und er wurde von Monat zu Monat frecher.
»Dad wird dir dabei auch nicht helfen können«, konterte er mit einem Lächeln in
der Stimme, sich zu mir stellend.
Eine Zeit lang standen wir still nebeneinander, betrachteten das dunkle endlose
Meer.
»Ich hab Schiss«, gab ich schließlich mit gesenkter Stimme zu.
»Ich weiß. Brauchst du aber nicht. Er ist in Ordnung.«
»Trotzdem. Ich habe in meinem Leben noch nie für jemanden in solch kurzer Zeit
so viel empfunden - abgesehen von dir und Gade.« Angespannt massierte ich mir die
Schläfen.
»Isa, weißt du noch, als ich sagte, ich würde dir schon noch jemanden bringen?« Er
drehte sich zu mir, um tief in meine Augen schauen zu können.
»Ja. Aber das hast du doch nicht ernst gemeint, oder?«
Mit einem anwachsenden Lächeln eröffnete er mir: »Ich musste mich ziemlich
anstrengen, um den Kleinen auszugraben!«
Meine Augen wurden größer und größer ... und letztendlich kam die Erkenntnis.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch, welches wir vor längerer Zeit geführt hatten.
Damals war ich verzweifelt gewesen, weil ich es weder fertigbrachte, in meiner Welt
einen Freundeskreis aufzubauen, noch einen Mann kennenzulernen.
Dies war - bloß am Rande erwähnt - kein durchgehender Gemütszustand.
Normalerweise schätzte ich die Einsamkeit und das Alleinsein sehr. Doch gab es auch
für mich solch finstere Zeiten, in welchen ich mich einfach vergessen, verloren,
verlassen und allein fühlte.
Ob dies schlicht mit den Genen zusammenhing - immerhin waren Menschen
bekanntlich Herdentiere - oder ich doch bloß ein erbärmlicher Waschlappen war, sei
jetzt mal dahingestellt. Jedenfalls fragte ich mich manchmal, warum sich bisher
überhaupt niemand für mich interessiert hatte - ausgenommen die erwähnten
sternhagelvollen Alkoholiker.
Nach langem Grübeln kam ich zu dem Entschluss, ich würde wohl nicht dem
Schönheitsideal entsprechen. Dann ermutigte ich mich mit dem Gedanken, dass
Mioko ebenfalls lange gebraucht hatte, um ihre zweite Hälfte zu finden. Sie fand ihr
Goldstück immerhin zu einer Zeit, in der sie am Wenigsten damit gerechnet hatte.
Aber war ich schon neunundzwanzig und wusste noch nicht einmal, wie sich ein
Kuss anfühlte!
Darauf wurde ich wütend und dachte mir: ›Wieso vermisse ich etwas, das ich
sowieso nicht kenne?‹ Es sollte mir doch völlig gleichgültig sein!
War es bedauerlicherweise aber nicht.
Irgendwann gab ich es auf, einen Sinn zu erkennen. Die Einsamkeit jedoch blieb ein Gefühl, dass etwas in meinem Leben fehlte.
Ich hasste es!
Auf jeden Fall hatte ich damals wohl so etwas, das man einen »Moralischen« nennt.
Denn üblicherweise erzählte ich nicht von meinem Seelenschmerz. Ich hasste es,
herumzujammern. Und Mitleid hasste ich ungleich mehr. Deshalb sprach ich mit
niemand darüber. Gabe war da die Ausnahme.
Er hatte mich mit folgenden Worten aufzuheitern versucht: »Ich werde schon
jemanden für dich finden. Kann aber noch etwas dauern.« Ich hatte wirklich fest
gedacht, er wollte mich bloß aufmuntern. Dabei war es sein voller Ernst gewesen!
»Oh gosh, das gibt’s doch nicht. Es ist dein Ernst! Gabe!«
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen oder schreien sollte. Oder alles
zusammen. »Aber ich habe so jemanden wie ihn doch gar nicht verdient! Er ist
vielleicht eine der kostbarsten Seelen überhaupt!« Ich senkte meinen Blick. »Und ich
bin nur ein Schatten.«
Sanft umfasste er mein Kinn, hob es an. »Aww, Babygirl. Warum denkst du nur
immer so schlecht von dir? Du bist genauso kostbar! Du hast ihn verdient! Und jetzt
keine Zweifel mehr! Ich würde sagen, du lässt dich auf dieses kleine Experiment unter
Unsterblichen ein.«
»Mio hat also auch damit zu tun?«, stellte ich nüchtern fest.
War ja klar!
»Natürlich. Du kennst sie doch!« Er grinste von einem Ohr zum anderen. Ich
konnte gar nicht anders, als es zu erwidern. Sein Lächeln war schlichtweg ansteckend!
»Aber ihr habt ihn nicht verzaubert, oder so was in der Art?«
»Es ist wohl eher so, dass du ihn verzaubert hast.«
»Also wirklich. Ich? Sieh mich doch an. Was soll an mir schon besonders sein?«
Meine Stimme klang kühler, als ich es eigentlich gewollt hatte.
»Ja, genau! Sieh dich mal an!« Dabei machte er zwei Schritte nach hinten, breitete
seine Arme aus, ehe er mich von oben bis unten anschaute.
Ich rollte mit den Augen.
»Du bist unverbesserlich, Isa.« Kopfschüttelnd kam er wieder näher. »Also, du
versprichst mir, dass du die paar Tage hier genießt. Lass das alles einfach auf dich
zukommen, okay?«
»Ich werde es versuchen«, versprach ich mit einem Nicken.
»Gut.« Er drehte sich zum Meer - und damit zur eben aufgehenden Sonne. Seine
goldenen Haare strahlten wie nichts Vergleichbares und seine Augen funkelten wie
unzählige Diamanten.
»Ich weiß, ich sehe gut aus!« Elegant drehte er sein Haupt zu mir, blickte auf mich
herab, ein weiteres spitzbübisches Grinsen auf den Lippen. Abschließend folgte ein
niedliches Glucksen.
»Gabe!« Kichernd schlug ich ihm auf die Schulter. »Du Dolm.«
Aus seinem Gegluckse wurde ein herzhaftes Lachen. Ein Lachen, das meine Seele
jedes Mal aufs Neue berührte.
Alsbald es verklungen war, bedachte er mich mit sanften Augen.
»Danke«, meinte ich ernst. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für mich
bedeutet!« Nochmals umarmte ich ihn.
»Ist schon gut.« Abermals lachte er, drückte mich gegen seine Brust. »Ich glaube, es
reicht jetzt mit der Umarmerei, sonst komme ich noch auf schmutzige Gedanken.«
Kichernd schüttelte ich den Kopf. Es wurde wahrhaftig wöchentlich schlimmer mit
ihm!
»Also.« Gabriel legte seine Hände auf meine Schultern und beugte sich zu mir.
»Hab ein wenig Spaß. Wie das Ganze ausgehen soll, das liegt nun bei euch. Ich habe
ab jetzt nichts mehr mit der Sache zu tun, klar?«
»Okay«, erwiderte ich mit leiser Stimme.
Er küsste mir auf die Stirn. Ehe er wieder verschwand, meinte er noch schnell:
»Und vergiss nicht zu verhüten!«
»Gabe! Gosh dangit!« Aber war er längst aus meinem Blickfeld verschwunden.
Lächelnd schaute ich zur aufgehenden Sonne. Gabriel hatte, wie immer, recht. Ich
sollte die paar Tage genießen. Einmal wie ein normaler Mensch leben. Wenn auch
einzig für die kurze Zeit dieser Reise.
Mit diesen Gedanken in meinem Kopf machte ich mich auf zum Lift. Es war kurz
vor sechs. Das Fuego Restaurant auf Deck 14 würde gleich aufmachen.
Während des Weges zum Lokal dachte ich durchwegs an das, was Gabe mir gesagt
hatte.
Konnte es tatsächlich sein, dass mich ein Mensch einmal um meiner selbst Willen
mochte? Dieser Gedanke fühlte sich wundervoll, dennoch gleichermaßen fremd an.
Ein Mensch - ein Mann - der Zeit mit mir verbringen wollte, weil er sich für mich
interessierte? Irgendwie konnte ich das nicht glauben.
Alsbald ich den Aufzug verlassen hatte, erblickte ich bereits das Fuego. Es lag
unmittelbar auf der rechten Seite und wurde in diesem Augenblick geöffnet.
Mit einem freundlichen Guten Morgen wurde ich von einer ausgesprochen
attraktiven dunkelhäutigen Kellnerin begrüßt.
Ich grüße zurück und nahm an einem Tisch mit Blick auf den Eingang Platz.
»Was möchten Sie trinken? Einen Kaffee vielleicht?«
»Nein, nur einen Orangensaft.«
»Gerne. Kommt sofort.« Mit schnellen Schritten verschwand sie hinter die Theke.
Ich ließ meinen Blick über die leeren Tische gleiten. Unwillkürlich erweckte dies
die schönen Erinnerungen an den gestrigen Tag.
Bisher konnte ich bloß auf einen Tag zurückblicken, an dem ich mich hier auf
dieser Welt - meiner Welt - genauso glücklich gefühlt hatte. Doch lag dieser etliche
Jahre zurück, und war ich mir damals sicher gewesen, in dieser Form keinen Zweiten
mehr erleben zu dürfen.
Und nun war genau dies passiert! Ich durfte einen weiteren unvergesslichen Tag in
meine Erinnerungssammlung aufnehmen! Ja, ich war tatsächlich gesegnet!
Die Kellnerin brachte mir meinem Orangensaft, den ich dankend entgegennahm
und sofort einen Schluck davon trank.
›Da wo nichts ist, kann auch nichts werden.‹ hallte es unerwartet durch meinen
Kopf. Der Gedanke hinterließ einen bitteren Nachgeschmack.
›Vergiss die Vergangenheit. Du kannst sie nicht ändern‹, versuchte ich die
aufkommenden Erinnerungen zu verdrängen. Und was sagte Loki damals im
Avengers-Trailer: »Am Ende ist jeder für sich selbst verantwortlich.«
Ich musste mich auf mich selbst konzentrieren, nicht auf irgendwelche douchebags.
Ich musste die Vergangenheit vergessen. Bloß klappte das nie so, wie ich es wollte!
Ich atmete tief ein.
Egal wie das mit Tarri ausgehen würde: Ich würde diese Zeit einfach genießen und
nicht weiter darüber nachdenken.
Doch, so gut, wie ich mich kannte, dauerte es bestimmt nicht lange, bis ich wieder
darüber grübeln würde.
Für die nächste halbe Stunde saß ich allein im Fuego, trank meinen Orangensaft und
checkte mein Handy. Danach ging ich zurück zu meiner Kabine, um meinen Bikini
anzuziehen. Eine Runde Schwimmen würde mich vielleicht auf andere Gedanken
bringen.
Beim Pool waren erst drei Personen. Zwei Pensionisten - typisch - und eine junge
Frau mit schwarzen Haaren.
Ich legte mein Handtuch auf den Liegestuhl und stürzte mich sodann in die
Fluten.
Ich schwamm die Runden in Rekordzeit. Nach zwanzig Minuten hatte ich einen
Kilometer durch, jedoch war mein Kopf weiterhin voll mit Gedanken an Tarri.
PetaQ!
Außer Atem legte ich mich auf die Liege, meinen Blick zur gläsernen Kuppel
schweifend, die den Beach Club vor Regen und Wind abschirmte.
Der Himmel war so stahlblau wie am Antritt meiner Reise.
Da fiel mir ein, dass die AIDAprima heute in Southampton anlegen würde.
Vielleicht sollte ich einen Landausflug machen. In meiner Welt hatte ich
Großbritannien immerhin noch nicht besucht.
Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, verließ ich den Beach Club. Um
zehn nach sieben traf ich bei meiner Kabine ein. Ich hatte reichlich Zeit: Das Schiff
würde erst um halb zehn anlegen.
Ich duschte mich, föhnte meine Haare und machte mich schließlich auf zum
Frühstück.
Nach der Stärkung packte ich meinen Kamerarucksack, einen Lowepro Fastpack
200, setzte mir ein Cappy auf und ging, so wie viele andere Passagiere, zum 3erDeck, um mich dort der Reisegruppe für den London-Tagesausflug anzuschließen.
Nach einer viertelstündigen Wartezeit verließen wir das Schiff und wurden zu
einem Reisebus gelotst. Da die Fahrt nach London circa zweieinhalb Stunden in
Anspruch nehmen würde, stöpselte ich meine Ohrenhörer ein und startete meine
Trailermusic-Playlist.
Hach ja, Trailermusic - die Creme de la creme unter den Musikrichtungen.
Seitdem ich Hello World von Two Steps From Hell gehört hatte, war es um mich
geschehen. Es war wie Liebe auf den ersten Blick - besser gesagt, Liebe auf den ersten
Ton: Trailermusic hatte all das, was gewöhnliche Musik nicht hatte: Seele.
Selbst das schlechteste Trailermusic-Stück war besser als irgendein elendiger
Popsong aus den Charts.
Ich blickte hinaus auf die vorbeiziehende Welt. Ein wenig fühlte ich mich wie ein
Fahrgast der Crusader 50.
Alsbald die Shuffle-Funktion Two Steps From Hell - More Than Friends anspielte,
lehnte ich mich entspannt zurück, schloss meine Augen und dachte abermals über
Tarri nach.
Irgendwie passte die Melodie zu ihm, zu all den Situationen, die ich mit ihm bisher
erlebt hatte: Süß, unschuldig dennoch voll Gefühl.
Verflucht! Was dachte ich denn da schon wieder!? Ich hatte mich doch nicht
ernsthaft in ihn verliebt? Nein, das war ausgeschlossen. Ich kannte ihn ja so gut wie
überhaupt nicht!
Liebe auf den ersten Blick, echote etwas in meiner Seele.
Lächerlich! So etwas gab es vielleicht im Kino, aber doch nicht in Wirklichkeit!
Irgendwann drifteten meine Gedanken in eine andere Richtung: Warum hatte Tarri
dermaßen erschrocken reagiert, als ich ihn wieder eingeladen hatte? War er einfach
etwas altmodisch? War es ihm etwa besonders wichtig, die Frau einzuladen?
Eine Dame mittleren Alters, die sich ohne zu fragen neben mich hinsetzte,
unterbrach mich bei meinen Überlegungen.
»Na, wir kennen uns auch noch nicht, oder? Ich bin Frau Kunze, aber nenne mich
doch einfach Birgit!« Damit hielt sie mir ihre blasse Hand vor das Gesicht.
Entnervt blickte ich erst auf diese, folglich in ihr etwas rundliches, von blondierten
Haaren umrahmtes, Allerweltsgesicht, ehe ich meine Ohrenhörer herausnahm und
ihre Hand schlussendlich schüttelte. »Freut mich. Gibt es ein Problem?«
»Nun, unsere Runde hier spielt »Es fliegt, es fliegt« und wir wollten keinen
ausgrenzen. Darum wollte ich dich fragen, ob du mitspielen willst.«
»Nein. Vielen Dank. Ich bin lieber für mich allein.« What the hell? Wie waren die
denn drauf?
Bevor ich meine Ohrenhörer wieder einsetzen konnte, plapperte sie weiter: »Bist du
alleine auf Urlaub? Du kannst hier nette Leute kennenlernen. Hinten weiter sitzen
ein paar ganz tolle Jungs.« Damit spielte sie wohl auf die zwei wahrscheinlich nicht
einmal sechzehnjährigen Bürschchen in der letzten Reihe an.
Ich starrte sie entgeistert an. »Sehe ich aus, als wäre ich siebzehn? Ich dulde keine
Verkuppelungsversuche mit Minderjährigen. Habe ich mich da klar ausgedrückt?!«
»Na, wer wird denn gleich böse werden«, sprach sie und gab mir einen Klaps auf
die Schulter.
Oh, bei allen Raumgeistern, das konnte doch nicht wahr sein!
»Die Pubertät ist eine schwere Zeit. Mir ging’s nicht anders.« Sie hörte einfach
nicht auf.
»Okay, Lady. Ich bin keine Pubertierende. Und jetzt stören Sie mich nicht weiter.«
Ich stöpselte mir die Ohren zu, drehte die Musik voll auf und richtete meinen Blick
zurück zum Fenster.
Glücklicherweise verschwand sie nach einiger Zeit. Der schlimmste Gedanke kam
mir jedoch erst später: Es gab noch eine Rückfahrt …
Nachdem sich mein Ärger etwas gelegt hatte, und meine Playlist plötzlich Gabriel
von Lamb wiedergab - was hatte der Song bei meiner Trailermusic zu suchen? musste ich sofort an meinen Wächter denken. Und in weiterer Folge an den Tag, an
dem ich geglaubt hatte, ihn für immer verloren zu haben.
Schmerzhafte Erinnerungen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche zurück. Es
fühlte sich wie gestern an, als ich seinen leblosen Körper in meinen Armen gehalten
hatte.
Gabriel war von Adramelec getötet worden, einem hochrangigen Engel aus Luzifers
Garnison, welche gegen Gott und die himmlischen Heerscharen in den Krieg
gezogen waren.
Ich wollte ihn aufhalten! Mit allen Mitteln. Also stellte ich mich zwischen die zwei
duellierenden Engel, um Gabriels einstigen Bruders Angriff gegen meinen geliebten
Wächter abzuwehren.
Nur zu gut erinnerte ich mich an den Schmerz, welcher mir die eindringende
Klinge bereitet hatte.
Adramelec hatte verdammt gut gezielt. Sein zehn Zentimeter langer goldener
Dolch traf mich genau in den Corpus ventriculi.
Mir jedoch war es egal. Hauptsache Gabriel war verschont geblieben.
»So schnell kannst du mich damit nicht umbringen, Kleiner«, spie ich ihn an, ein
gehässiges Lächeln auf den Lippen, während er mit verständnislosem Blick die Klinge
aus meinem Körper zurückzog und mich nachfolgend grob auf die Seite stieß.
Hart schlug ich auf dem Boden auf, versuchte dennoch sofort meine Wunde zu
heilen. Mir ging es bloß darum, Gabe weitere wertvolle Sekunden zu schenken.
Alsbald mein Blick zu den zwei kämpfenden Engeln zurückgewandert war, wurde
mir traurigerweise schmerzlich bewusst, dass mein Wächter keine Chance hatte - egal
wie sehr ich ihm auch helfen würde.
Nach einigen weiteren fruchtlosen Attacken Gabriels machte Adramelec schließlich
Ernst. Er täuschte einen Angriff auf des Erzengels linke Seite vor. Gabriel reagierte
darauf und gab sich damit eine Blöße, die der gefallene Engel selbstverständlich
elegant ausnutzte.
Gezielt rammte er den goldenen Dolch in Gabriels Abdomen. Der Engel der
Offenbarung selbst gab keinen Ton von sich, umso lauter klang der
Verzweiflungsschrei, der im selben Moment aus meiner Kehle drang.
Ich versuchte, aufzustehen. Ich wollte zu ihm und seine Wunde heilen, aber war ich
durch meine eigene Verletzung noch zu geschwächt. So blieb mir nichts anderes
übrig, denn tatenlos zuzusehen, wie mein Wächter gnadenlos niedergestochen wurde.
Die endlose Trauer in Gabriels Blick, mit dem er den gefallenen Bruder in den
letzten Sekunden seines Lebens bedacht hatte, würde ich wohl niemals mehr
vergessen können. In dem Moment war es mir vorgekommen, seine letzten
Gedanken in meinem Kopf gehört zu haben: »Wie konntest du nur so weit gehen,
Bruder? Wir hätten über alles reden können.«
Grauenvoll lange Sekunden verstrichen, bis Adramelec endlich von Gabriel abließ
und dieser schließlich leblos neben mir zu Boden stürzte.
Mit letzter Kraft kroch ich zu ihm, schloss ihn in meine Arme. Seine Augen leer,
sein Licht erloschen. Ein herzzerreißender Schrei verließ meine Kehle, während ich
Gabe krampfhaft und mit bebenden Händen gegen meinen Oberkörper drückte.
Für Adramelec war ich uninteressant geworden, denn der Bruder, der ihm und
Luzifer hätte gefährlich werden können, war endlich tot.
Niemand, so war er sich sicher gewesen, würde sich ihnen jetzt noch in den Weg
stellen können.
Doch hatte sich Adramelec zu früh gefreut. Es folgten zwar weitere viele schwere
Kämpfe, ein zurückgekehrter Michael war es jedoch, der den Lichtbringer und seine
Garnison aufhielt und das Gleichgewicht wiederherstellte.
Gabriel allerdings war tot. Derjenige, welcher mir mein Licht zurückgebracht hatte,
war gegangen. Für immer.
Ich kniete in der schneeweißen Asche, die einmal seine sechs goldenen Schwingen
gewesen waren, bebend seinen toten Körper in meinen Händen haltend. An diesem
Tag starb nicht bloß mein Wächter, sondern ebenso ein Teil von mir selbst.
Die darauffolgenden Tage und Wochen waren die schlimmsten seit dem Ende meiner
seelischen Folter. Gelegentlich ertappte ich mich bei dem Gedanken, es wäre alles
bloß ein Trick gewesen und Gabriel würde bald wieder vor mir stehen - mit seinem
manchmal zu frechen Grinsen auf den Lippen und den strahlenden Augen, die jede
noch so finstere Nacht erhellten.
Doch die vergehende Zeit gab mir die brutale Gewissheit: Gabe war tot. Er würde
nie mehr zurückkommen. Und mit dieser Erkenntnis starb schlussendlich auch
meine letzte Hoffnung, ihn irgendwann nochmals in die Arme schließen zu dürfen.
Zu dieser Zeit bekam ich von Mioko einen neuen Auftrag. Ich sollte mit ihr in eine
Welt reisen, in der die Menschheit kurz vor der Auslöschung stand. Es klang zwar
nach einem schlechten Science-Fiction-Film, aber war diese Welt tatsächlich von
Lebensformen einer anderen Galaxie angegriffen worden. Seit dem ersten Angriff
waren bereits zwanzig Jahre vergangen und die Menschen hatten weder genügend
Ressourcen noch genügend Kämpfer, um den harten Angriffen weiterhin
standzuhalten.
Noch am selben Tag unserer Ankunft lernte ich Jack kennen. Jack und sein Sohn
Bastian waren Elite-Soldaten und hatten, als einige der wenigen Privilegierten, die
ganzen Jahre unbeschadet überstanden. Sie waren Teil der fünfundzwanzigsten
Einheit, die sich in den letzten fünf Jahren als die beste Einheit des ganzen
Abwehrbundes herausgestellt hatte.
Für die Zivilisten war sie so etwas wie das Zeichen der Hoffnung. Sie wurde zur
Inkarnation des Widerstandes. Solange diese Einheit existierte, wollten die Menschen
weiterhin durchhalten.
Bastian war einer der jüngsten und besten Kämpfer in der zwanzigjährigen
Geschichte der Alienbekämpfung. Es imponierte mir gewaltig, dass er bereits mit
sechzehn in die Elitetruppe aufgenommen worden war.
Ich verbrachte viel Zeit mit den beiden - besonders mit Bastians Vater. Er war ein
sehr angenehmer Gesprächspartner. Ich fühlte mich durchwegs wohl in seiner Nähe.
Bastian hingegen mied mich. Dennoch gab ich mich nicht geschlagen. Immer wieder
versuchte ich ein Gespräch mit dem Soldaten anzufangen, welches
bedauerlicherweise genauso oft von ihm abrupt beendet wurde.
Sein distanziertes, manchmal sogar aggressives Verhalten war bereits ein ziemliches
Problem, doch die Spannungen, die da zwischen Vater und Sohn herrschten, waren
ungleich übler. Die beiden hatten ohnedies eine seltsame Beziehung: Solange sie an
der Front standen beziehungsweise mit Kampfjets den Luftraum verteidigten,
arbeiteten sie super zusammen. Aber sobald sie einen Fuß ins Basislager setzen, wurde
Bastian unausstehlich. Er sah Jack nicht durch die Augen eines Sohnes, denn durch
die eines Kollegen - nein, eher noch durch die eines Rivalen.
Ich verstand nicht, weshalb er diesen gewaltigen Groll gegen seinen Vater hegte.
Überdies konnte er niemanden ausstehen, der Fehler machte oder in irgendeiner
anderen Art Schwäche zeigte.
Grundsätzlich mochte er sowieso keinen des Teams. Ich sah ihn niemals mit
jemand zusammensitzen und fröhlich reden. Und egal, ob im Dienst oder nicht - er
war ausschließlich in der Werkstättenhalle anzutreffen. Dort half er bei der Reparatur
der Bodenfahrzeuge.
Für die Alienbekämpfung hatten sich die Menschen nämlich einiges einfallen
lassen: Sie hatten Kampfjets mit einer gewaltigen Technik erbaut. Diese Jets zischten
mit beinahe fünftausend Kilometern pro Stunde durch die Luft und wurden dazu
benutzt, Feinde abzuschießen, bevor sie den Boden erreichten.
Dadurch, dass ein Mensch die dabei entstandenen G-Kräfte niemals ausgehalten
hätte, wurde eine Art Trägheitsdämpfer erfunden, der die Flugkräfte um die Hälfte
kompensierte. Da wirkten Österreichs bescheuerte Eurofighter wie die ersten
Fluggeräte aus dem 19. Jahrhundert.
Und fremde Lebensformen, die durch die Luftabwehr kamen, wurden von
Bodenfahrzeugen mit spezieller Panzerung und schwersten Waffen an Bord begrüßt.
Diese besagten Maschinen wurden von Bastian instand gehalten. Er kannte die
Fahrzeuge in- und auswendig. Ich beobachtete ihn gerne dabei, wie er daran
schraubte. Nur wenn er dieser Beschäftigung nachging, sah ich ganz selten einmal
einen Ansatz eines Lächelns über seine Lippen huschen.
Mioko und ich waren bereits eine Woche im Basislager, als Bastian sich neuerlich
lautstark mit seinem Vater stritt. Ich beobachtete die beiden und wartete, bis Jacks
Sohn verschwunden war. Dann fragte ich den älteren Soldaten, was denn da
überhaupt zwischen ihnen beiden los war.
Nach einigem Zögern begann er zu erzählen: »Ich war schon Abfangjäger, da hatte
es noch gar keine Angriffe gegeben. Wir waren bloß für die Luftraumüberwachung
zuständig gewesen. Gekämpft wurde so gut wie überhaupt nicht. Der letzte Weltkrieg
lag schon über ein Jahrhundert zurück - und interne Kriege waren auch so gut wie
nicht mehr vorhanden.«
»Bei uns sieht die Sache leider ganz anders aus«, warf ich ein, mich auf den
Metallstuhl zurücklehnend. Wir hatten es uns in einem kleinen Aufenthaltsraum
gemütlich gemacht.
»Unser Team war eines der besten. Als die Alienattacken anfingen, war unser Team
das Erste, das in den Kampf geschickt worden war. Und wir machten einen
ausgezeichneten Job. Genauso wie bei den vielen darauffolgenden Angriffen. Jedes
Mal zerstörten wir ihre Verteidigung und schossen die gegnerischen Jets vom
Himmel, bevor es denen möglich war, eine Stadt zu beschießen.«
Ich nickte.
»Aber dann passierte dieser schreckliche Tag im September.« Sein Blick senkte sich.
»Es war so, wie immer. Kampfjets wurden gesichtet und unser Team war zurzeit im
Dienst. Ich weiß noch genau, was ich gedacht habe: ›Schnell diese Drecksäcke
erledigen und dann ab nach Hause zu meinen beiden Jungs und meiner Frau.‹ Weil
sich meine Eltern zu Besuch angemeldet haben, wollte ich etwas Feines kochen.« Er
blickte auf die Seite. »Weißt du, ich und meine Frau haben es geliebt, gemeinsam zu
kochen. Das haben wir oft gemacht.«
Ich nickte stumm. Seine empfangenen Gefühle schnürten mir die Kehle zu.
Jack unterdrückte die aufkommende Trauer. »Ich habe mich so darauf gefreut,
meine Eltern endlich wieder zu sehen. Sie lebten nämlich in England. Dadurch sahen
wir uns nur alle paar Jahre.« Er nahm einen Schluck Wasser. »Ist auch nicht so
wichtig.« Er räusperte sich. »Bevor ich mich dann ins Cockpit gesessen habe, wurde
mir gesagt, welche Stadt angegriffen wird: Perth. Meine Heimatstadt und Wohnort.«
Mir wurde es augenblicklich eiskalt.
»So konnte ich meine Familie da nicht rausholen. Ich musste kämpfen. Ich musste
in die Luft. Es ging gar nicht anders.«
Es entstand eine Pause. Jack war seine Trauer sichtlich anzusehen - und wie er
versuchte, sich zu sammeln. »Diesen Angriff werde ich nie mehr vergessen. Die Zeit
im Cockpit war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Die ganze Zeit kämpfst du mit
der Gewissheit, dass genau unter dir alle deine geliebten Menschen auf dich zählen sich auf dich verlassen.« Mit glasigen Augen klopfte er gegen die Tischplatte.
Ich ergriff seinen linken Unterarm. »Ist schon gut. Wenn du nicht weiterreden
möchtest, verstehe ich das.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es geht schon.« Er nippte an seinem Glas.
»Und so wie es im Leben nun einmal ist, funktioniert genau dann nichts, wenn es so
wichtig gewesen wäre. Die Grauen hatten sich eine neue Taktik einfallen lassen.«
Die Menschen nannten die außerirdischen Lebensformen ›Graue‹ - aufgrund ihrer
aschfahlen Haut.
»Ein neues Manöver, das so gut war, dass sie unsere Abwehrformation damit
langsam zerschlugen.« Ein neues Kopfschütteln folgte. »An diesem Tag verloren
Dutzende Piloten - Kollegen - ihr Leben. Und in weiterer Folge wurde halb Perth in
Schutt und Asche gelegt.«
»Gott …«, flüsterte ich.
»Mein Kampfjet wurde schwer beschädigt und nur mit Glück habe ich noch den
Schleudersitz auslösen können.« Er fuhr sich durchs zottelige hellbraune Haar.
»Sobald ich auf dem Boden angekommen war, bin ich losgerannt. Irgendwo habe ich
noch ein Auto kurzgeschlossen und bin dann mit dem weitergefahren. Ich kann dir
heute gar nicht mehr sagen, wie schnell ich gefahren bin oder welche Straße ich
genommen habe. Ich wollte nur noch nach Hause.« Jack atmete hörbar ein.
»Während der Heimfahrt habe ich auch noch beobachten müssen, wie die Jets die
Stadt bombardierten. Glaub mir, bei jedem Einschlag habe ich gebetet, dass sie nicht
mein Haus getroffen haben.«
Es wurde mir nochmals kälter und mein Griff fester. »Das tut mir so schrecklich
leid.«
Jack schüttelte abermals Kopf. »Als ich bei meinem ehemaligen Haus angekommen
bin, waren nur noch abgebrannte Mauern übrig.« Er trank wieder. »Ich habe gedacht,
ich kollabiere. Und dann habe ich plötzlich ein Schluchzen gehört. Es hörte sich so
an, als würde es direkt aus dem Keller kommen. Ich bin ins Haus gerannt, runter in
den Keller und habe Bastian gefunden.«
Alsbald er den Namen seines Sohnes erwähnt hatte, fingen seine Augen leicht zum
Leuchten an.
»Es war ihm nichts passiert. Er hatte dort gespielt. Er liebte es, im Keller zu
spielen.« Der Soldat fuhr sich neuerlich durchs Haar. »Dieser dumme Keller! Ich
wollte ihn ursprünglich als Hobbyraum verwenden, anstatt als Abstellkammer, zu
welcher er schlussendlich geworden ist. Nie hätte ich gedacht, dass dieser Keller
einmal meinem Sohn das Leben retten würde.« Es folgte eine Pause. »Wieso haben
sich nicht alle darin zurückgezogen? Ich verstehe es bis heute nicht. Jedenfalls hatte
nur Bastian überlebt. Alle anderen sind damals gestorben: mein älterer Sohn Frank,
meine Frau und meine Eltern.« Er atmete hörbar ein. »Und noch so viele Menschen
mehr.«
»Ich weiß nicht, wie ich dir Trost spenden soll«, hauchte ich, stand auf und trat zu
ihm, um ihn in eine innige Umarmung zu schließen. »Das ist so furchtbar.«
Er drückte sich an mich. »Und seit diesem Tage an, hasst er mich. Er macht mich
verantwortlich für den Tod unserer Familie. Und ich kann es ihm auch gar nicht
verübeln. Er hat doch recht.«
Ich setzte mich auf meinen alten Platz zurück. »Nein, du kannst gar nichts dafür!
Du kannst doch nichts dagegen tun, wenn irgendwelche fremden Lebensformen
einfach so mal auf die Idee kommen und sagen: Die Erde gehört ab jetzt uns.«
Er meinte nichts darauf, stattdessen fuhr er mit der Erzählung fort: »Ab da an zog
ich Bastian alleine auf. Er ist hier sozusagen groß geworden.«
»Wie alt war Bastian, als der Angriff in Perth stattgefunden hat?«
»Sechs.«
Bei Gabe! Das arme Kind!
»Von dem Tag weg hat er nie mehr richtig gelacht.«
Nun war ich es, die den Kopf schüttelte. »Das kann doch so nicht weitergehen.«
Ich blickte ihm tief in die blauen Augen. »Vielleicht kann ich euch ja irgendwie
helfen. Und damit meine ich nicht das Alienproblem.«
Es war klar, dass ich den beiden helfen würde. Und das so schnell wie möglich. Ich
ertrug es nicht, wie Bastian seinen Vater anblickte - und in weiterer Folge, wie Jack
daran zerbrach. Dafür waren mir die beiden bereits viel zu wichtig geworden. Und
dafür war ein Wächter doch schließlich da!
Ich nahm mir vor, diese Welt erst zu verlassen, wenn die beiden sich wieder
vertrugen.
Nach diesem Gespräch überlegte ich fieberhaft, wie ich Bastian zum Reden und
Zuhören zu bringen vermochte. Er hatte viel zu viel Stolz, um mit mir, jemand, den
er so gut wie überhaupt nicht kannte und überdies nicht leiden konnte, jemals über
solch ein traumatisches Erlebnis zu sprechen.
Schließlich kam ich auf die glorreiche Idee, ihn im Trainingsraum abzufangen.
Ich positionierte mich in der Nähe - und wartete. Weshalb ich mir überhaupt
sicher war, dass er eine Trainingsstunde einlegen würde, war die Tatsache, dass er sich
erst vor ein paar Stunden wieder einmal geprügelt hatte - das tat er nämlich des
Öfteren. Zwar nicht oft genug, um aus der Gruppe zu fliegen - außerdem war er viel
zu gut, als dass das Team ohne ihn ausgekommen wäre - aber oft genug, um Vater
und Kameraden damit gewaltig auf die Nerven zu gehen.
Geprügelt wurde einzig mit Leuten aus »schwachen« Einheiten. Wie ich schon
erwähnt hatte, hasste er immerhin jeden, der nicht absolute Perfektion an den Tag
legte. Und heute hatte er neuerlich jemanden in die Mangel nehmen wollen - nun, er
hatte es zumindest versucht.
Zu Mittag durfte ich beobachten, wie Bastian von seinem »Opfer«, das darüber
hinaus etwas kleiner war als er selbst, ziemlich schnell und elegant auf den Boden
gebracht worden war. Weitaus wütender als vor der »Prügelei« und mit mächtig
angekratztem Stolz war Basti schließlich davongerauscht. Und diese Wut musste er
nun loswerden. Entweder würde er sich mit jemand anderes prügeln oder aber - und
das wäre die vernünftigere Wahl - würde er seinen Frust im Trainingsraum auslassen.
Und er war vernünftig!
Nicht einmal eine halbe Stunde dauerte es, bis er um die Ecke bog - mit einem
nach wie vor grantig aussehenden Ausdruck im Gesicht.
»Du hast dich von dem Kleinen ganz schön fertigmachen lassen«, stichelte ich,
während ich den Trainingsraum betrat.
Wäre der Blick, mit dem er mich begrüßt hatte, tödlich gewesen, wären bestimmt
an die zehn Leute gleichzeitig verreckt.
»Ich habe dir ja gesagt, wenn du möchtest, zeige ich dir ein paar Griffe, die du noch
nicht kennst«, versuchte ich etwas zu beschwichtigen. Ich wollte ihn immerhin zum
Reden bewegen und nicht beleidigen.
Bastian schien mein Gesagtes nicht mehr zu interessieren und tat daher so, als wäre
ich nicht anwesend.
Okay, dann musste es wohl auf meine Art gemacht werden.
Er war eben dabei ein paar Ausdauerübungen zu machen, als ich ihn von hinten
angriff. Er war gut vorbereitet und blockte meinen Schlag locker ab.
»Sehr gut!«, lobte ich ihn. Das reichte bereits, um seine Wut erneut anzufachen. Er
wirbelte herum und begann mich zu attackieren.
Es fiel mir sehr leicht, all seinen Schlägen auszuweichen oder sie zu blocken.
Nachdem ich an die zwei Minuten seine Schläge abgewehrt und nach Fehlern in
seiner Deckung gesucht - und diese selbstverständlich auch gefunden - hatte, ergriff
ich die Gunst der Stunde.
Da Bastian andauernd seine linke Seite ungeschützt ließ, sobald er mit rechts
zuschlug, nutzte ich dieses »Loch« in seiner Verteidigung und brachte ihn dadurch
mit einem gezielten Griff zu Boden. Genauso wie sein Opfer es heute zu Mittag mit
ihm gemacht hatte. Aber im Gegensatz zu dem Kleinen hörte ich nicht auf.
Ehe er sich aufrichten konnte, nahm ich ihn in einen festen Schwitzkasten.
Gleichzeitig schlang ich meine Beine um seine und presste ihn gegen den Boden. Für
Außenstehende mussten wir wie ein Mensch gewordener gordischer Knoten
ausgesehen haben.
Nun war ich äußerst gespannt, ob er sich befreien konnte bzw. welche Technik er
anwenden würde, um mich loszuwerden.
Ernüchternderweise versuchte er bloß, sich mit reiner Körperkraft von mir
loszureißen. Damit wurde mir schlagartig bewusst, dass er überhaupt keine
Gegenmaßnahmen kannte! Zog er es doch nicht einmal in Erwägung, seinen Arm
durch meinen zu schlingen, und sich mit mir auf die Seite zu rollen. Er war viel
schwerer als ich - er hätte mich leicht abschütteln können.
»Kleiner. So wird das nie was. Aber ich zeige dir gerne, wie du dich in dieser
Situation von deinem Angreifer befreist.«
»Das interessiert mich einen Dreck!«, war seine charmante Antwort. Also verstärkte
ich meinen Griff noch ein wenig.
»Komm schon! Was ist los mit dir? Glaubst du, so kannst du besser werden? Jetzt
verhältst du dich wie die Leute, die du am meisten verabscheust!«
Ich liebte es, Leute zu reizen. Hatte ich das bereits erwähnt? Nein? Nun jetzt wissen
Sie es.
Bastian setzte mehr Kraft ein. Dann versuchte er mir seinen Ellbogen in die Seite
zu rammen - was natürlich nicht funktionierte, da ich schnell genug auf die Seite
rutschte.
»Beruhig dich endlich einmal«, forderte ich ihn mit ruhiger Stimme auf, während
ich ihn gegen den Boden presste. »Entspann dich. Ich will dir doch gar nichts tun.«
Trotz meiner Aufforderung dauerte es einige Minuten, bis er meinen Sieg
akzeptierte.
»Ich bin auf deiner Seite, verstehst du?« Ein wenig lockerte ich meinen Griff.
Bastian schwieg, dennoch entspannte er sich ein klein wenig. Kurze Zeit später ließ
ich von ihm ab und hockte mich neben ihn hin. Wie erwartet, blieb er natürlich
nicht liegen, sondern sprang regelrecht auf die Beine, um auf Abstand zu gehen - sehr
großem Abstand.
»Wenn du möchtest, zeige ich dir alle Griffe, die du noch nicht beherrschst.«
Langsam erhob ich mich. »Und ich verspreche dir, wenn wir mit dem Training fertig
sind, wirst du nicht nur den Typen, der dich heute auf den Boden der Tatsachen
gebracht hat, sondern ebenso mich fertigmachen können.«
Hasserfüllt scannte er jede meiner Bewegungen. Er war sich nicht im Klaren, was er
von dem Ganzen halten sollte - was er von mir halten sollte. Es war köstlich
zuzusehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Was willst du?«, fragte er schließlich, seine Stimme aggressiv, der Körper
angespannt.
»Ja, jetzt kommen wir zu meiner Bedingung!«, antwortete ich fröhlich, die Hände
aneinanderlegend. »Ich bringe dir alles bei. Kostenlos und unverbindlich. Und du
hörst mir dafür ein wenig zu, wenn ich dir Dinge erzähle, die dir dabei helfen
können, dein Leben zu verbessern. Und natürlich möchte ich mit dir über die
Beziehung zwischen dir und deinem Vater sprechen.«
»Das geht dich überhaupt nichts an!«, fuhr er mich an. »Verschwinde und komm
mir nie mehr unter die Augen!«
Das war wohl ein Rohrkrepierer gewesen.
»Okay, ich habe mich wohl etwas schlecht ausgedrückt …«, begann ich mit
gesenktem Blick und defensiver Körperhaltung, auf ihn zugehend, um ihn schließlich
mit einem Roundkick zu attackieren.
Nicht unbedingt ein professioneller Anfang, doch ging es mir bloß darum, den
Kleinen zum Weiterkämpfen anzustacheln. Oder besser gesagt, ihn noch etwas zu
reizen, damit er die Beherrschung verlor.
Und es klappte erneut! Herrlich! Es war wie Weihnachten!
Er blockte den Kick sehr gut ab, attackierte dann jedoch mit derselben - wenn ich
das anmerken durfte - Kneipenschläger-Technik.
»Nicht so aggressiv! Nutze deine Wut, aber lass dich von ihr nicht blenden! Der
Hass vernebelt deine Sinne.« Während ich erklärte, fing ich seine Schläge ab. »Du
vergisst ganz auf deine Technik!«
Bastian hörte gar nicht zu. Er machte einfach weiter.
Irgendwann ebbten seine aggressiven Schläge ab, bloß um der Verzweiflung
Platzzumachen.
»Was ist los, Basti? Du bist schon erschöpft und ich habe noch nicht einmal richtig
zugeschlagen! Verhält sich so ein Soldat? Zeig, was du drauf hast, oder willst du dich
von einem Drecksweib wie mir fertigmachen lassen?«
Er ließ sich erneut auf die Provokation ein - schlug nun bedeutend härter zu.
Duzende harte Schläge später, die trotz alledem nicht durch meine Verteidigung
durchkamen, hatte ich eine neue Idee.
Ich gab ihm eine Blöße, die er - wenigstens das! - sofort ausnutzte und mir mehrere
gezielte Faustschläge in den Magen verpasste.
Das tat ganz schön weh. Er hatte mehr Kraft als angenommen.
Bastian glaubte, er hätte endlich die Oberhand - und ich ließ mich - gewollt zurückdrängen.
Als ich nach ein paar Schritten mit meinem Rücken an einer Wand anstieß, ergriff
ich wieder die Initiative. Ich blockte, dann schlug ich das erste Mal richtig zu. Meine
Faust traf seinen Magen. Er gab keinen Laut von sich, doch brauchte er das auch gar
nicht, immerhin sprach sein leicht verzogenes Gesicht Bände.
Ehe er sich erholen konnte, packte ich ihn mit beiden Händen bei seinem Shirt,
hakte mein rechtes Bein zwischen seine und verlagerte mein ganzes Gewicht auf
seinen Oberkörper, was zur Folge hatte, dass ich ihn aus dem Gleichgewicht brachte
und wir schlussendlich hart auf den Boden aufschlugen.
Noch während des Falls ging ich in die Defensive. Ich wollte wissen, wie er nun
weiter vorgehen würde.
Bastian schluckte den Köder und brachte mich in die schwache Position: nämlich
auf dem Rücken liegend, unter ihm. Perfekt! Ich hatte ihn genau da, wo ich ihn
haben wollte!
›Wirst du jetzt zuschlagen, oder hast du noch so viel Anstand, dass du einen
Rückzieher machst?‹, dachte ich, ihm tief in die Augen schauend. ›Immerhin ist das
hier keine Schlägerei.‹
Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was er tun würde. Wütend gemacht
hatte ich ihn ja genug, also rechnete ich mit allem.
»Willst du mir jetzt ein paar Glückskekstipps geben?«, begann er zu sticheln, doch
Anstalten zuzuschlagen machte er keine.
Brav, wenigstens hier zeigte er Respekt.
Ich sagte nichts, hielt bloß meine Hände in einer abwehrenden Position.
»Jetzt hat es dir wohl die Sprache verschlagen, was?« Ein siegessicheres Grinsen
erschien auf seinen Lippen.
»Nein, eigentlich nicht. Ich dachte nur daran, wie leicht es ist, dich zu täuschen,
Basti.«
Im selben Moment hob ich mein Becken an. Er verlor die Balance und musste sich
im weiteren Fall mit seinen Armen abstützen.
Nun kam der lustige Part: Ich schlang meinen linken Arm um seinen, gleichzeitig
umschlang ich mit meinem linken Bein das seine. Dann bäumte ich mein Becken
weiter auf und rollte mich auf die linke Seite. Alsbald Bastian auf dem Rücken lag,
rutschte ich vor, um meine Knie unter seine Arme zu keilen. Völlig überrumpelt
versuchte er sich irgendwie zu wehren, doch war dies vergebene Liebesmüh. Ich
packte seine Arme, um sie hinter seinem Kopf zu fixieren.
Fröhlich lächelte ich ihn an. »Und jetzt können wir über dich und deinen Vater
sprechen. Was meinst du?« Ich lehnte meinen Oberkörper näher zu ihm: »Ach, und
nur damit du Bescheid weißt: Das soll kein plumper Annäherungsversuch sein.«
Perplex starrte er mir stumm in die Augen - und ich fing an zu erklären: »Ich weiß,
du hasst deinen Vater, weil du denkst, er hätte dir Mutter und Bruder genommen.
Aber er ist nicht schuld, dass sie gestorben sind!«
Es war richtig gut zu erkennen, wie der Hass in seine Augen stieg. »Du hast
überhaupt keine Ahnung!«, knurrte er mit gesenkter Stimme.
»Du hast recht. Ich habe keine Vorstellung davon, was du alles durchmachen
musstest. Aber, das heißt auch nicht, dass es mich nicht interessiert. Im Gegenteil:
Ich will dir nur helfen!«
»Ich brauche keine Hilfe! Schon lange nicht von einer Schnepfe wie dir!«
»Autsch, das hat mich jetzt aber echt getroffen«, sprach ich mit gespielter
Empörung. »Du weißt schon, dass du dich nicht unbedingt in einer Position
befindest, die es dir erlaubt, mich zu beleidigen, oder?«
Ich lehnte mich noch etwas näher zu ihm. Unsere Nasenspitzen berührten sich
beinahe.
»Hast du jemals darüber nachgedacht, wie sich dein Vater damals gefühlt haben
muss?«, versuchte ich ihm, Jacks Situation näherzubringen. »Du dachtest nur an dich
und deine Trauer. Doch wie sah es in ihm damals aus: Nahezu seine vollständige
Familie verloren, bloß weil irgendwelche aggressiven außergalaktischen Lebensformen
sich der Erde bemächtigen wollen. Ich will gar nicht wissen, wie lange er sich die
alleinige Schuld dafür gegeben hat. Dabei konnte niemand etwas dafür! Er hat sein
Bestes gegeben! Niemand hätte es besser machen können! Denk doch einmal daran,
wie lange er sich selbst dafür gehasst hat - vielleicht noch immer hasst!«
Sein Blick war durchwegs von Zorn erfüllt.
»Und was glaubst du wohl, was es war, dass ihm die Kraft gab, weiterzumachen?
Die Kraft, welche ihn jeden Tag dazu veranlasst, neuerlich aufzustehen und
weiterzukämpfen?«
Endlich bemerkte ich eine Veränderung. Etwas tat sich tief in seiner Seele.
Ich fuhr fort: »Das warst und bist du, Basti! Er liebt dich mehr, als alles andere auf
der Welt! Dafür allein solltest du schon unglaublich dankbar sein.«
Sein Blick schweifte nach links. Langsam fing er an zu verstehen.
»Es ist mir bewusst, dass du eine schreckliche Zeit durchmachen musstest. Aber du
warst nicht der Einzige! Ihr seid alles, was von eurer Familie noch übrig geblieben ist.
Hasse deinen Vater nicht, sondern genieße die Zeit mit ihm! Eure Zeit hier ist nur
geborgt. Nichts ist für immer! Was ist, wenn er morgen stirbt?«
Seine Züge verloren etwas an Härte. Die brodelnde Wut war beim Abklingen.
Geschafft! Nun hatte er etwas zum Nachdenken.
»Mehr wollte ich dir gar nicht sagen.« Damit beendete ich meine Predigt und stand
auf.
Als er sich aufrichtete, hielt ich ihm meine Hand entgegen und sagte, ein sanftes
Lächeln auf den Lippen: »Du bist eine außergewöhnliche Person, Bastian.«
Er ergriff sie - damit hatte ich nicht gerechnet - und ließ sich von mir aufhelfen.
Bastian wollte meine Hand bereits loslassen, doch verstärkte ich meinen
Händedruck, ihm in seine blaugrauen Augen blickend: »Du kannst mit mir über alles
reden. Wenn dir etwas auf die Nerven geht, wenn dich etwas belastet - komm einfach
zu mir. Und das mit dem Training habe ich ernst gemeint. Ich würde dir wirklich
gerne ein paar neue Techniken beibringen.«
Sodann ließ ich ihn los und verließ den Raum, ohne auf eine Antwort zu warten.
Ich wollte zu Mioko, um ein paar Dinge zu klären.
Wir sprachen darüber, wie man die außerirdischen Lebensformen am Effektivsten
aufhalten könnte.
Die Menschen dieser Welt hatten herausgefunden, dass die Grauen, wie Bienen
oder Ameisen, von einem einzigen Anführer aus geleitet wurden.
Mioko hatte daraufhin vorgeschlagen, das Mutterschiff, welches sich ständig am
Rande des Sonnensystems aufhielt, direkt anzugreifen. So hätten sie die beste Chance
die fremde Lebensform mit einem gezielten Angriff zu besiegen.
Die Technik und die Pläne für ein Raumschiff mit Überlichtantrieb waren zwar
vorhanden, doch durch die Alienabwehrbekämpfung waren die Ressourcen dieses
Planeten beinahe zur Gänze aufgebraucht. So blieb nichts mehr übrig, mit dem ein
Kriegsschiff hätte erbaut werden können.
Darum war Mioko hierher gereist. Sie wollte die Menschen ein wenig unterstützen.
Natürlich hätte sie den Leuten einfach ein fertiges Raumschiff vor die Nase stellen
oder die fremde Lebensform wegzappen können - mehr als ein Fingerschnippen wäre
dazu nicht nötig gewesen - aber wie jeder Wächter wusste auch die Ewigkeit, dass
man sich in den Lauf der Dinge niemals zu stark einmischen durfte.
Als Wächter war es uns zwar gestattet, andere Lebensformen zu schützen oder
ihnen bis zu einem bestimmten Punkt zu helfen, doch wie in diesem Fall einen
ganzen Kampf zu unterbinden und dadurch das Schicksal von Dutzenden, wenn
nicht sogar von Abertausenden in eine andere Richtung zu lenken, war nicht bloß
verboten, denn vielmehr ungemein gefährlich gewesen. Veränderte man den Lauf der
Dinge, wurde das kosmische Gleichgewicht gestört und dies hätte im Endeffekt
Auswirkungen auf das gesamte Universum.
Jede Lebensform war bedingungslos mit dem Universum verknüpft. Jeder war ein
Teil des großen Ganzen. Und wenn Mioko durch ihr Eingreifen - nur einmal als
Beispiel - Dutzenden Menschen das Leben gerettet hätte, welche normalerweise
hätten sterben müssen, hätten ihre Leben die Leben anderer Leute verändert.
Kinder wären geboren worden, die nie hätten existieren dürfen, Kriege wären
entstanden oder vereitelt worden, die es in der Form vielleicht niemals gegeben hätte.
Sie verstehen, worauf es hinausläuft?
Deshalb stellte Mioko bloß die nötigen Materialien zur Verfügung. Den Kampf
selbst führte sie nicht.
Was waren wir Wächter also? Am besten konnte man uns als stille Beobachter
beschreiben, die dann und wann ein wenig helfend eingreifen - etwa wie
Schiedsrichter. Die Spieler mussten selbst spielen, wir achten einzig drauf, dass die
Regeln eingehalten wurden. Und die Menschen in dieser Welt hatten es mit ganz
unfairen Spielern zu tun.
Daraufhin rottete sich die Menschheit zusammen, schickten die hellsten Köpfe
nach Australien. Innerhalb eines Monats wurden drei kleine Raumschiffe gebaut, die
mit den stärksten Waffen bestückt worden waren, die die Ingenieure konstruiert
hatten.
Nun mussten bloß die Piloten für diese Mission ausgewählt werden. Und einer der
Auserwählten war Bastian gewesen. Und genau da hatte mir Mioko eine traurige
Mitteilung zu machen.
Mit den Worten »Bedauerlicherweise habe ich schlechte Nachrichten« wechselte sie
jäh das Thema.
»Was ist los?«
Ich spürte stark, dass da etwas Ernstes kommen würde.
»Bastian wird bei der Mission sterben.«
...
Die Worte lagen schwer in der Luft. Ich spürte einen leichten Schwindel, der
jedoch kurz darauf wieder verschwand.
»Was?«
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
»Vergebung.«
»Nein, das lasse ich nicht zu!«, entschied ich sofort - verdeutlichte meinen
Standpunkt mit einer Handgeste. »Scheiß auf die Regeln. Er ist doch erst
fünfundzwanzig, Herrgott noch mal!«
»Ich weiß. Doch dürfen wir nicht eingreifen … du kennst die Bestimmungen.«
»Das ist mir vollkommen egal! Ich lasse ihn nicht sterben. Nein, nicht noch einmal!
Das ertrage ich nicht noch einmal.« Entgegnete ich Mioko zu Anfang mit lauter
Stimme, war sie am Ende kaum mehr als ein Flüstern.
Nahezu zeitgleich wurde mein Geist mit Bildern von Gabriels Tod überschwemmt.
›Nein, ich ertrage das nicht noch einmal.‹
Ich schüttelte den Kopf, um die schmerzhaften Erinnerungen loszuwerden.
Mioko wollte bereits etwas erwidern, doch kam ich ihr zuvor: »Niemand wird mehr
sterben, wenn ich in der Nähe bin. Hast du das verstanden! Niemand mehr!“ Meine
Stimme wurde lauter. „Ich werde ihn einfach rausteleportieren. Sag mir, wann genau
es passiert und ich hole ihn raus!«
Miokos Gesichtsausdruck verriet, dass sie hin- und hergerissen war. Hatte sie
immerhin selbst schon viel zu oft stärker in das Schicksal eines ihrer Schützlinge
eingegriffen, denn erlaubt.
Nun. Sie hatte einen entscheidenden Vorteil: Sie war allmächtig, konnte deshalb
einen kurzen Blick in die Zukunft werfen. Dadurch war es ihr möglich, die
Konsequenzen besser abzuschätzen die damit einhergehen würden, einer Person das
Leben zu retten, deren Lebenszeit im Grunde abgelaufen war.
Auf diese Fähigkeit konnte ich leider nicht zurückgreifen. Ich hatte da bloß meine
Intuition.
Da Bastians Aufgabe scheinbar erfüllt war, sollte sein Leben mit dieser letzten
Mission ein Ende nehmen. Aber konnte und wollte ich das einfach nicht akzeptieren!
»Du hast selbst mehr Leuten das Leben geschenkt, als es jemals jemand vor dir
gemacht hat«, argumentierte ich.
»Ich weiß, doch kann dies diese Welt vollkommen verändern und in eine völlig
andere Richtung lenken.«
»Das weiß ich doch selbst, aber ich will nicht, dass er stirbt!« Verzweifelt schaute ich
auf die Seite, ballte meine Hände zu Fäusten. »Es kann doch nicht immer so
weitergehen. Es sterben immer nur die besonderen Leute. Ich packe das langsam
nicht mehr. Für was bin ich ein Wächter, wenn ich meinen Schützling nicht retten
darf?« Kopfschüttelnd lehnte ich mich an die Wand.
Es war so ungerecht! Es gab so viele Menschen, die weniger für diese Welt getan
hatten. Warum ausgerechnet er?
Es verstrichen einige Minuten. Dann erwiderte Mioko unvermutet: »Nun gut.
Aber ich mische mich da nicht ein! Ich sage dir bloß, wann es so weit ist.«
Hatte ich mich wohl nicht verhört?
»Echt jetzt? Ist das dein Ernst?«
»Ja, aber das ist das einzige Mal, dass ich das mache. Und wie gesagt, ich sage dir
bloß, wann es so weit ist. Mehr nicht.«
Ich nickte fröhlich. »Das reicht völlig aus! Vielen Dank!«
»Alles, was danach passiert, liegt in deiner Verantwortung.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete ich mit kräftiger Stimme.
Als sich das Team zum Aufbruch bereit machte, ging ich noch einmal zu Bastian, um
ihm viel Glück zu wünschen. Einerseits, weil ich nicht wusste, ob meine
Rettungsmission erfolgreich verlaufen würde, andererseits, weil ich schlichtweg das
Bedürfnis hatte, ihn zu sehen. Überdies durfte ich ihm verständlicherweise nicht
sagen, dass er bald sterben sollte. Würde meine Mission also missglücken, wollte ich
ihn wenigstens noch einmal gesund und munter gesehen haben.
Insgeheim befürchtete ich, er würde mich wieder wegstoßen oder beleidigen. Doch
kam es ganz anders.
Bei meinen Worten »Pass gut auf dich auf! Und wehe, du kommst nicht mehr
zurück! Dann erledige ich dich eigenhändig!« schlich sich das erste Mal ein richtiges
Lächeln auf seine Lippen. Wie wunderschön er damit aussah »Nein, ernsthaft jetzt.
Ich warte hier, bis du wieder zurückkommst.«
Bastian gab mir keine Antwort - aber war dies auch gar nicht notwendig gewesen.
Alles, was er sagen wollte, hatte ich in seinen Augen gesehen.
Zuerst dachte ich, das Team mit Bastian müsste sich opfern, um den anderen zwei
Schiffen die Möglichkeit zu geben, das Mutterschiff der Aliens anzugreifen. Doch
musste es natürlich viel unspektakulärer kommen. Im Leben lief es nun mal nicht wie
in einem dramatischen Actionfilm.
Bastians Schiff sollte wegen eines dummen Materialfehlers manövrierunfähig im All
treiben und durch gezielte Schüsse der feindlichen Lebensformen zerstört werden.
Als es so weit war und Bastians Kriegsschiff bewegungsunfähig im All hing,
teleportierte ich mich zu ihm auf die winzige durch die Notbeleuchtung in
beängstigendes Rot getauchte Kommandobrücke.
»Alle Mann zu mir!«, befahl ich der fünfköpfigen Crew mit lauter Stimme.
Sie können sich vorstellen, wie verdutzt die Piloten waren, als sie mich plötzlich in
ihrem Raumschiff erblickten.
Das Schiff war winzig - wirklich winzig. Eben nicht so winzig, dass sich die Piloten
noch aus ihren Sitzen erheben und ein paar Schritte gehen konnten. Und Bastian war
der Erste, der nahezu aus seinem Sitz heraussprang und dabei rief: »Was zur Hölle?!«
»Wie ist das möglich?«, hörte ich einen anderen Piloten ehrfürchtig fragen.
Während ich in Bastians verwunderte blaugraue Augen blickte, sagte ich: »Fragt
nicht lange, sondern kommt alle zu mir. Ich transportiere uns hier raus.«
Es dauerte einen Moment, ehe sich die restlichen Piloten aus ihrer Schockstarre
gelöst hatten. Nach einer Minute jedoch waren alle um mich herum versammelt und wie von mir befohlen, sich an den Händen haltend.
Bevor ich sie und mich zurück auf die Erde transportierte, fasste ich nach Bastians
Arm und sagte: »Jetzt geht’s los.«