Manuskript

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Freitag, 23.09.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jürgen Kesting
Kraftvolles, saftvolles Spiel
Mozart
Complete Piano Sonatas
Fazil Say
WARNER CLASSICS 825646942060, 6 CDs
Routine-Produktion
MOZART
PAVOL BRESLIK
MÜNCHNER RUNDFUNKORCHESTER
PATRICK LANGE
ORFEO C 889 161 A
Einzigartige Gelöstheit
EMIL GILELS
THE COMPLETE
RCA AND COLUMBIA
ALBUM COLLECTION
SONY CLASSICAL 88875177312, 7 CDs
Überzeugend
a journey
PRETTY YENDE
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
Marco Armiliato
SONY CLASSICAL 88985321692
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Jürgen Kesting, der Sie herzlich
willkommen heißt. Zwei Pianisten und zwei Sänger – einen Tenor und eine Sopranistin –
werde ich Ihnen in den kommenden 87 Minuten vorstellen. – Den Auftakt macht Fazil Say,
der in den Jahren 2014 und 2015 die 17 Klaviersonaten von Wolfgang Amadeus Mozart in
Salzburg gespielt und dann aufgenommen hat. Dass Say seine Gesamteinspielung mit der
A-Dur Sonate KV 331 beginnt, begründet er mit der Freude, die er als Türke seit jeher bei
den Zimbelklängen und den Rhythmustrommeln des Alla turca-Satzes verspürt hat. Er spielt
diesen dritten Satz mit kraftstrotzendem Elan und doch mit differenzierter Artikulation – und
mit einem Unterton des Bedrohlichen.
Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate A-Dur KV 331, 3. Satz
3:10
Der Alla turca-Satz der Sonate in A-Dur KV 331 von Wolfgang Amadeus Mozart mit Fazil
Say. Bevor wir mit Say weitermachen, zunächst ein kurzer Überblick. Nach Mozart auf dem
Klavier geht es weiter mit Mozart als Opernkomponist: Der Tenor Pavol Breslik hat zehn
Opern-Arien und eine Konzertarie aufgenommen. – An Emil Gilels, neben Swjatoslaw
Richter der herausragende russische Pianist in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts,
erinnert eine sieben CDs umfassende Sammlung mit Konzert- und Solo-Aufnahmen. – Zum
Schluss folgt das Debüt der jungen südafrikanischen Sopranistin Pretty Yende.
„Ich meine“, … so räumte der kunststrenge Hugo von Hofmannsthal ein, „ganz unrecht hat
das Publikum ja nie.“ Vor zwei Jahren verfiel denn Matthias Schulz auf die Idee, die
Besucher der von ihm betreuten Salzburger Mozartwoche mit zwei Darstellungen der
Mozart-Sonaten zu konfrontieren: der von Fazil Say auf einem modernen Konzertflügel und
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der von Kristian Bezuidenhout auf einem Fortepiano. Im Gegensatz zu Fazil Say, den wir
eingangs mit dem dritten Satz der Sonate KV 331 gehört haben, steckt Bezuidenhout das
Alla Turca aus der A-Dur-Sonate in einen sehr viel kleineren Rahmen. Ihre besondere
Aufmerksamkeit, liebe Hörerinnen und Hörer, möchte ich auf etliche preziöse TempoRückungen lenken.
Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate A-Dur KV 331, 3. Satz
Kristian Bezuidenhout, Fortepiano, harmonia mundi 907529.30
3:15
Der Name des aus Südafrika gebürtigen Kristian Bezuidenhout, eben mit dem Alla Turca aus
Mozarts Sonate in A-Dur KV 331 zu hören, ist seit geraumer Zeit der dernier cri der
musikkritischen Zunft. Etliche Kritiker zeigten sich begeistert davon, dass er die Sonaten mit
jener „griechisch schwebenden Grazie“ spielte, an die sich Robert Schumann durch Mozart
erinnert fühlte. Einwenden ließe sich allerdings, dass Bezuidenhout die Sonaten vorführt wie
Andenken hinter Glas, also als Kunst von gestern, von vorgestern.
Im Unterschied zu vielen Musikkritikern entschied sich das Salzburger Publikum, wie schon
an den Besucherzahlen abzulesen war, für das kraftvolle, das saftvolle Spiel von Fazil Say –
für dessen vitale Lust am Musizieren und das Gespür für die Dramatik einiger der Sonaten.
Das heißt keineswegs, dass Say sich darin gefällt, selbstverliebt die pianistische Pranke
auszufahren. In den sechs frühen Sonaten KV 279 bis 284 aus den Jahren 1774/1775
gelingt es ihm, die Feinheit und Vielfalt der Formen auf empfindsame Weise zu entfalten.
Mozart ist hier, wie Alfred Einstein in seiner Monografie des Komponisten schreibt, nicht er
selbst oder noch nicht er selbst. Vielmehr versucht er, damals 18/19 Jahre alt, sich über
andere Komponisten finden: zum einen über einige Italiener, deren Werksammlungen sich in
der häuslichen Bibliothek fanden, zum anderen über Carl Philipp Emanuel Bach und
insbesondere Joseph Haydn.
Unverkennbar haben Sonaten von Haydn das Modell für Mozarts Sonaten in F-Dur KV 280
und in Es-Dur KV 282 abgegeben – nicht nur hinsichtlich der Tonart, sondern auch
hinsichtlich der unorthodoxen Satzfolge. Die Es-Dur-Sonate beginnt mit einem Adagio, dem
ein Menuett und dann ein kokett-verspieltes Final-Allegro folgen, das Say mit anmutiger
Gelöstheit spielt.
Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate Es-Dur KV 282, 3. Satz
3:05
Das war der Finalsatz aus der Sonate in Es-Dur KV 282. In seinen Anmerkungen für das
Beiheft hat Fazil Say die meisten Mozart-Sonaten durch einen auf andere Komponisten
verweisenden „Spitznamen“ zu charakterisieren versucht, um sie in einen
entwicklungsgeschichtlichen Kontext zu stellen. Der Es-Dur-Sonate hat er den Namen
„Haydn“ gegeben – sie also in der Tradition verortet. In späteren Sonaten erkennt er in
Mozart hingegen einen Zeitgenossen der Zukunft. In dem weit sich entfaltenden
Variationssatz der D-Dur Sonate KV 284 etwa sieht Fazil Say den Weg, der zu Beethoven
führt. – In der Sonate in a-Moll-KV 310, entstanden unmittelbar nach dem Tod der Mutter,
spürt Say einen Vorgriff auf die Musik von Franz Schubert, gerade im unruhigen
melodischen Schweifen des Finalsatzes:
Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate a-Moll KV 310, 3. Satz
3:05
Das war das Presto-Finale aus Mozarts Sonate in a-Moll KV 310. Fazil Say, selbst
Komponist, legt Mozarts Sonaten nicht die Fesseln der sogenannten „historisch informierten
Aufführungspraxis“ an. Er schärft dissonante Reibungen, spielt kontrapunktische BassStimmen mit Härte und Wucht, treibt die Tempi ins Extrem. Zugespitzt gesagt: Zelebriert
Kristian Bezuidenhout ein Glasperlenspiel von erlesener Künstlichkeit, so erleben wir Fazil
Say mit einem lustvollen und doch von hohem Kunstverstand gesteuerten Spiel. Says
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Gesamteinspielung von Mozarts Klaviersonaten – eine Box mit sechs CDs – wurde soeben
von WARNER CLASSICS veröffentlicht.
Vor zehn Jahren wurde der slowakische Tenor Pavol Breslik von den Kritikern des Magazins
„Opernwelt“ zum Nachwuchssänger des Jahres gewählt – nicht zuletzt wegen einer
fulminanten Aufführung von Mozarts „Così fan Tutte“ in Brüssel. Breslik überzeugte darin als
ein athletisch agierender Darsteller und energisch singender Ferrando. Dessen
schwärmerische Arie „Un aura amorosa“ singt er auch auf seinem Recital mit dem Münchner
Rundfunkorchester unter Patrick Lange zwar sehr energisch, aber ohne den Amoroso-Ton,
der von einem Mozart-Tenor doch wohl erwartet wird.
Wolfgang Amadeus Mozart: Così fan tutte, Un aura amorosa
3:30
Das A-Dur Cantabile des Ferrando – „Un aura amorosa“ – aus Mozarts „Così fan tutte“. Die
Stimme von Pavol Breslik ist kräftiger als die der meisten Mozart-Tenöre. Sie hat viel Metall
in der Durchgangs-Lage und in der Höhe, so dass die hohen A’s aufleuchten können. Doch
wird sie klanglich nicht ebenmäßig geführt, und vor allem fehlt ihr jenes klingende PianoDolce, das – mit einem Paradox von Herbert von Karajan – die Intensität eines Forte haben
sollte. Liegt der Grund für diese Defizite vielleicht in der Wahl des Tempos? Wer immer dafür
verantwortlich ist, ob Patrick Lange am Pult oder Breslik selber: Die Schwärmerei des
Ferrando bringen sie, als wär es nur eine lästige Gefühlsverirrung, so rasch wie möglich
hinter sich: in dreieinhalb Minuten – um eine volle Minute rascher als Léopold Simoneau,
Nicolai Gedda, Alfredo Kraus oder Peter Schreier, bei denen jede Phrase eine
Herzensergießung ist.
Offenbar zur Demonstration seiner technischen Fertigkeiten hat Breslik sich die zweite Arie
des Idomeneo ausgesucht: das D-Dur-Allegro „Fuor del mar“. Die Arie liegt in zwei
Fassungen vor. Die Originalfassung mit intrikaten Koloraturpassagen hat Mozart mit
Rücksicht auf den Sänger der Uraufführung, den 67-jährigen Anton Raaff, vereinfacht,
teilweise sogar durch Auslassungen erleichtert, ebenso durch die Auslassung der finalen
Kadenz.
Im Beiheft betont Breslik, dass er natürlich die Originalfassung mit ihren Koloraturketten
singe – und er lässt sich mit dem Satz zitieren, dass Tenöre eigentlich doch „für die Töne
vom G an aufwärts“ bezahlt würden. Das mag vielleicht für italienische Partien aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zutreffen, nicht aber für die von Mozart und anderer
Belcanto-Komponisten. Mozart führt die Stimme des Tenors nur ganz selten über das
eingestrichene A hinaus, in der Arie des Idomeneo nur auf das G. Gerade die recht tiefe
Lage dieser Sturm-Arie – das Toben des Meeres ist Chiffre für den Seelenzustand
Idomeneos – führt dazu, dass Breslik das G auf dem Wort „più“ mit einem stumpfen Klang
herausstößt. In der Kadenz gefällt er sich darin, hohe Töne einzulegen, mit denen er jedoch
nicht so viel gewinnt, wie er verliert – denn sie fallen stilistisch völlig aus dem Rahmen. Die
langen und bedeutsamen Triller in den Takten 75 und 158 auf dem Wort „minacciar“ kann er
nur andeuten. Dass Breslik die Ketten der 16tel-Quartolen nicht geschmeidig bindet, macht
er zumindest teilweise wett durch die Verve seines Singens.
Wolfgang Amadeus Mozart: Idomeneo, Fuor del mar
6:05
Das war die Tempesta-Arie des Idomeneo aus Mozarts gleichnamiger Oper. Dem Furor der
Musik wird Breslik nur äußerlich gerecht: durch die Emphase, die Verve des Vortrags, also
durch Espressivo-Druck. Überfordert ist er hingegen durch die Rhetorik der Musik, durch ihre
barock-virtuose Formen- und Formelsprache. Das gleiche Problem zeigt sich in den langen
Koloraturen von Belmontes Arie „Ich baue ganz auf deine Stärke“. Auch seinem Tamino in
der „Zauberflöte“, den er seit 15 Jahren singt, dem Beginn seiner Laufbahn, fehlt die Aura
eines Prinzen, die sich bei Sängern wie Fritz Wunderlich oder Uwe Heilmann der Noblesse
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von Artikulation und eloquenter Phrasierung offenbart. Breslik verlässt sich in der wiederum
sehr zügig durchphrasierten Bildnis-Arie ganz auf seine kräftige und metallische Stimme.
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte, Dies Bildnis ist bezaubernd schön
3:05
Taminos Bildnis-Arie aus dem ersten Akt von Mozarts „Zauberflöte“ – Pavol Breslik wurde
begleitet vom Münchner Rundfunkorchester unter Patrick Lange. In dieser RoutineProduktion wurden die Möglichkeiten des Sängers nicht ganz ausgeschöpft. Die CD ist bei
Orfeo erschienen.
Die Firma Sony hat in den letzten Jahren an viele große Pianisten erinnert. Nach den
Amerikanern Leon Fleisher, Gary Graffman, Charles Rosen, Byron Janis, Earl Wild und
André Watts folgt nun eine sieben CDs umfassende Box mit Aufnahmen des Russen Emil
Gilels – rechtzeitig zu dessen 100. Geburtstag am 19. Oktober dieses Jahres. Gilels gehörte
zu den ersten sowjetischen Künstlern, die seit 1955 in den USA gastieren durften. Dort
stellte er sich mit der Hymne der Klaviervirtuosen vor, dem b-Moll-Konzert von Peter
Tschaikowsky, das er alsbald mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner
aufnahm.
Gilels Darstellung ist ausgeglichener als die berühmte wild-exzessive von Vladimir Horowitz,
aber ebenfalls elektrisierend virtuos. Was das Spiel von Gilels besonders auszeichnet, ist
eine einzigartige Gelöstheit und Geschmeidigkeit – ist das Prestissimo des Andantino-Satzes
je brillanter gespielt worden?
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll, 2. Satz
7:05
Das Andantino Semplice aus dem ersten Klavierkonzert in b-Moll von Peter Taschaikowsky.
Emil Gilels wurde begleitet vom Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, mit dem er
damals auch das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms aufgenommen hat.
Welch eminente Frühbegabung der 1916 in Odessa geborene Emil Gilels war, bezeugt eine
Notiz aus den Memoiren von Artur Rubinstein. Bei einem Besuch in Odessa im Jahre 1931
wurde er gebeten, sich den 15-jährigen Emil Gilels anzuhören: „Da kam ein Junge mit
dichten roten Haaren und Sommersprossen und schon bei den ersten Takten von
Beethovens Appassionata erkannte ich ein gottgegebenes Talent. Wenn der einmal nach
Amerika kommt, kann ich meine Sachen packen und gehen.“ So Artur Rubinstein.
Nach Abschluss des Konservatoriums in Odessa kam Gilels als Aufbaustudent ans das
Moskauer Konservatorium: in die Klasse des legendären Heinrich Neuhaus. 1938 gewann er
den ersten Preis des Internationalen Wettbewerbs in Brüssel. Die danach geplante WeltTournee konnte er nicht antreten. Wie so vielen wurden auch ihm durch den Krieg einige
Jahre gestohlen, doch fand er über das Radio Bewunderer, darunter Sergej Rachmaninow
und Sergej Prokofieff, der ihm 1944 die Uraufführung seiner Achten Klaviersonate
anvertraute.
Nach dem Krieg erhielt Gilels als einer der Ersten vom Kultus-Ministerium die Erlaubnis, in
West-Europa zu konzertieren. Seit Mitte der 50er Jahre sind die ersten Aufnahmen für EMI
und für RCA entstanden – darunter die fünfte französische Suite von Bach, die h-MollSonate von Franz Liszt, die h-Moll-Sonate von Schostakowitsch und zwei Sonaten von
Schubert: die in a-Moll Deutsch 784 und die in D-Dur D 850. Nach dem Klavier-Virtuosen
Gilels nun der Klavier-Poet mit dem Finalsatz aus Schuberts Sonate in a-Moll: überzeugend
durch die Verbindung von Klangsinn, feinem Filigran in den Arpeggien und kontrollierter
Dynamik in den Forte- und Fortissimo-Akkorden.
Franz Schubert: Sonate a-Moll D 784, 3. Satz
5:05
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Das Allegro vivace aus Schuberts Sonate in a-Moll D 784 mit Emil Gilels. – Zu den
schönsten Wiederbegegnungen mit dem großen russischen Pianisten gehört die Aufnahme
des ersten Klavierkonzerts von Frédéric Chopin mit dem Philadelphia Orchestra unter
Eugene Ormandy. Sie zeigt, wie Joachim Kaiser in seinem Pianistenbuch bemerkt, dass
Gilels mit den Mitteln größter Virtuosität stets um „die schöne, die vollkommene Darstellung
der romantischen Literatur“ kämpfte – ohne alle Espressivo-Drücker, ohne exzentrische
Zuspitzungen der Dynamik oder Tempi. Hier noch ein letzter Ausschnitt mit Emil Gilels: der
Finalsatz: Rondo. Vivace aus Chopins Klavierkonzert e-Moll op. 11.
Frédéric Chopin: Klavierkonzert e-Moll op. 11, 3. Satz
9:35
Das Final-Rondo aus dem ersten Konzert für Klavier und Orchester von Frédéric Chopin mit
Emil Gilels, begleitet vom Philadelphia Orchestra unter Eugen Ormandy. Die sieben CDs
umfassende Box der RCA-Aufnahmen, die Emil Gilels zwischen 1955 und 1979 gemacht
hat, wurde von Sony herausgebracht.
Unter dem Titel „Kap der guten Stimmen“ wurde vor einigen Jahren über einen „Opernrausch
in Südafrika“ berichtet. „Opernrausch“ – das klang vielleicht doch ein wenig zu reißerisch für
ein Land ohne jede Operntradition. Aber wie groß war mein Erstaunen – um von einer
persönlichen Erfahrung als Juror zu berichten –, als im vergangenen Jahr beim Wettbewerb
NEUE STIMMEN gleich drei Südafrikaner das Finale erreichten – und zwei dritte Plätze
errangen. Ein Juror-Kollege wusste zu berichten, dass das Wort vom „Kap der guten
Stimmen“ durchaus berechtigt ist – dass dort sozusagen vokale Diamanten zu entdecken
sind wie die vor einiger Zeit von Decca herausgestellte Pumeza Matshikiza. Nun zieht Sony
mit der 1985 geborenen Südafrikanerin Pretty Yende nach: mit Arien aus der Sphäre der
romantischen Belcanto-Oper. Hier als erste Probe eine der erlesensten Melodien von
Vincenzo Bellini: der Beginn von Elviras „O rendetemi la speme ... Qui la voce sua soave“
aus „I Puritani“.
Vincenzo Bellini: I Puritani, O rendetemi la speme ... Qui la voce sua soave
4:55
„O rendetemi la speme o lasciatemi morir“ – gebt mir die Hoffnung wieder oder lasst mich
sterben“: Seit dem berühmten Lamento der Arianna von Claudio Monteverdi ist aus der
Todesbitte ob verzweifelter Liebe ein säkularisiertes Gebet geworden. Die Aufnahme der
Elvira-Arie lässt erkennen, dass Pretty Yende sich in Fragen der Phrasierung, insbesondere
der behutsamen Rubato-Rückungen, an Sängerinnen wie Maria Callas und Joan Sutherland
orientiert hat. Bloßer Eklektizismus? Nein – durchaus nicht, sondern eine produktive
Anverwandlung, die nachdrücklich zu verteidigen ist. Maria Callas hatte diese Arie jahrelang
mit ihrer Lehrerin Elvira de Hidalgo studieren können, bevor sie 1949 ihre erste Aufnahme
mit dem Orchester der RAI machte.
Pretty Yende steht als Südafrikanerin nicht auf dem Fundament einer solchen Tradition. Ihre
erste Begegnung mit dem Operngesang verdankt sie einem Werbespot, der mit der Melodie
des Blumenduetts aus Léo Delibes „Lakmé“ unterlegt war. Sie war 16 Jahre alt – und wollte
fortan partout Sängerin werden.
Schon während ihres Studiums am South Africa College of Music der University of Kapstadt
hat Yende, so die Wikipedia-Information, Partien wie die Gräfin in „Le Nozze di Figaro“ und
die Fiordiligi in „Così fan tutte“ gesungen. 2009 gewann sie den ersten Preis des Belvedere
Wettbewerbs in Wien. Beim Plácido Domingo-Wettbewerb 2011 erhielt sie von der Jury wie
vom Publikum den ersten Preis. Im Internet sind ihren Rollen und Auftritte durch „Opera
base“ dokumentiert. Seit 2011 hat sie am Teatro alla Scala lyrische und verzierte Partien von
Mozart, Rossini und Donizetti gesungen. Als Contessa in Rossinis „Le Comte Ory“ debütierte
sie an der Met in New York. Es ist erfreulich, dass Pretty Yende für einige zentrale Partien
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ihrer ersten CD – darunter Rossinis Rosina, Bellinis Elvira und Donizettis Lucia –
Bühnenerfahrung mitbringen konnte.
Mit Rosinas „Una voce poco fa“ wird sie als Koloratur-Virtuosa vorgestellt, die sich mit
Verzierungen aufs Hochseil begibt – hier eine kurze Passage mit kadenziellen Auszierungen,
Sprungfiguren und Puntaturen.
Gioachino Rossini: Il Barbiere di Siviglia, „Una voce poco fa“
3:15
Ein Ausschnitt aus der Arie der Rosina aus dem „Barbiere“ von Rossini. Auch wenn viele in
dieser Rolle einen Mezzosopran bevorzugen, rechtfertigt Pretty Yende die virtuos-verspielte
Manier ihrer Aufführung durch den Schliff der Ausführung. Das Filigran der Verzierungen ist
ebenso bemerkenswert wie die unangestrengte Verve der hohen und der höchsten Töne, die
nie soubrettenhaft-spitzig klingen. Im Gegenteil: Die Stimme ist, wie ich jüngst auch in
Pesaro beim Rossini-Festival erleben konnte, klanglich rund, und sie hat eine reiche Palette
an eher dunklen Farben.
Zum Abschluss hören Sie Pretty Yende in der Rolle, mit der sie vor drei Jahren an der Met
debütierte: als Contessa Adèle neben dem Comte Ory von Juan Diego Flórez in der Oper
von Rossini. Yende hatte die Partie kurzfristig lernen müssen, um für Diana Damrau
einzuspringen. Die Oper spielt zur Zeit der Kreuzzüge, die der Titelheld für amouröse
Eskapaden zu nutzen versucht – zu Beginn der Oper verkleidet als Eremit, dem gegenüber
die in einem Kloster lebende Comtessa über ihre Schwermut klagt:
Der Traurigkeit verfallen, keinen Rausch mehr erleben,
in der Blüte der Jugend.
Es ist, wie so oft bei Rossini, eine verkleidete Musik, die in der Klage von der Sehnsucht
spricht. Bemerkenswert, dass Pretty Yende den uneigentlichen Ton für das ironisch
gebrochene Pathos der Musik ebenso sicher trifft wie die glitzernden Töne der hinter diesem
Pathos stehenden Koketterie. Yende wird begleitet vom Orchester der RAI unter Marco
Armiliato.
Gioachino Rossini: Le Comte Onry,
En proie à la tristesse ... Vous que l’òn dit sensible
9:35
Das war die Arie der Comtesse Adèle aus Gioachino Rossinis „Le Comte Ory“ mit der
südafrikanischen Sopranistin Pretty Yende. Das überzeugende Debüt-Recital der
hochbegabten und technisch eminent versierten Sängerin – mit großer Sorgfalt produziert
und ediert – ist bei Sony erschienen.
Und damit sind wir auch schon am Ende. Nähere Angaben zu den heute vorgestellten CDs
bzw. das Manuskript finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung auch
noch eine Woche lang zum Nachhören. Mit herzlichem Dank für Ihr Interesse verabschiedet
sich Jürgen Kesting. Hier, in SWR2, geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, und danach
folgt aktuell mit Nachrichten.