Zwischen Kundus und Plusquamperfekt Katrin Schielke unterrichtet seit fünf Monaten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Fach Deutsch. Ihre Klasse, schreibt sie, die ist Rock’n’Roll. Seite 32 Fotos: dpa/Britta Pedersen, Harald Tittel Sonnabend/Sonntag, 17./18. September 2016 71. Jahrgang/Nr. 219 Bundesausgabe 2,30 € www.neues-deutschland.de Endspurt im Berliner Wahlkampf Bautzen: Regierung verurteilt Ausschreitungen Am Sonntag wählt die Hauptstadt – Rot-Grün-Rot scheint möglich Sprecherin: »Kein Platz für Gewalt« Berlin. Fast 2,5 Millionen Berliner sind am Sonntag zur Wahl eines neuen Abgeordnetenhauses aufgerufen. Laut jüngster Umfragen kann der rot-schwarze Senat wahrscheinlich nicht weiterregieren. Dafür deutet alles auf ein rot-grünrotes Bündnis hin. Senatschef Michael Müller (SPD) könnte trotz größerer Verluste der SPD Regierender Bürgermeister bleiben. In den Umfragen lagen die vier größten Parteien – SPD, CDU, Grüne und LINKE – enger beieinander als noch 2011. Die SPD, die in den vergangenen Jahren einen komfortablen Vorsprung hatte, rutschte auf 21 bis 24 Prozent ab. CDU (17 bis 19 Prozent) und Grüne (15 bis 19 Prozent) konkurrieren um den zweiten Platz. Zuletzt gaben 41 Prozent der Befragten an, unentschieden zu sein. Der Wahlkampf biegt auf die Zielgerade ein – mit Unterstützung der Bundespolitik. Bei der Abschlusskundgebung der LINKEN trat am Freitag die Bundesvorsitzende Katja Kipping auf. Vor rund 300 Anhängern sagte sie auf dem Alexanderplatz: »Von der Wahl kann ein Signal für Solidarität ausgehen.« Kanzlerin Angela Merkel könne von links herausgefordert werden. Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion, betonte die Bedeutung für die Bundespolitik: »Wir brauchen aus der Hauptstadt das Signal, dass die LINKE zulegen kann.« Die Hoffnung sei, durch ein gutes Ergebnis die SPD zur Kurskorrektur zu bewegen. »Wir werden als LINKE nicht zulassen, dass die Gesellschaft gespalten wird.« ewe Seite 13 UNTEN LINKS In Zeiten erhöhter Terrorgefahr werden vermehrt herrenlose Gepäckstücke gemeldet. Das ist insbesondere für all jene ein Problem, die sich um eine geschlechtergerechte Sprache bemühen. Tatsächlich gäbe es mannigfaltige Möglichkeiten, die Bedrohung zu benennen! Da wäre zunächst die klassische, die das weibliche Pendant gebraucht, also: »damenlos« oder »frauenlos«. Die zweite Welle der Frauenbewegung empfiehlt »herrInnenlos«, die dritte »cis_mann*los«, die vierte »schlampenlos«. Kristina Schröder und die Alphamädchen sagen: »woistdasproblemlos«. Queer geht es so: »LGBTIQAlos«, die Genderstudies lehren: »xlos«. Anders geschlechtsneutral könnte man es mit »besitzendenlos« versuchen. Wer Privateigentum ablehnt, sagt »besitzlosenlos«, Anarchosyndikalistinnen bestehen allerdings auf »ratlos«. Das Wort »herrenlos« ist jedenfalls nur in Kombination mit »Damenhandtasche« zu benutzen, das gleicht sich aus. Ansonsten klingt sehr schön: »Da steht ein Koffer, ganz allein.« rst ISSN 0323-3375 Eine Frage der Demokratie Freihandel? Bei TTIP und CETA geht es um die Verteidigung des Öffentlichen gegenüber kapitaler Macht. Ein Kommentar Bautzen. Die Bundesregierung hat die Ausschreitungen im sächsischen Bautzen »auf das Schärfste« verurteilt. »In Deutschland ist kein Platz für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz«, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag. Bautzens Oberbürgermeister Alexander Ahrens räumte ein, die aggressiver werdende Stimmung zwischen jungen Asylbewerbern und zum Teil aus der rechten Szene stammenden Deutschen unterschätzt zu haben. Am Mittwochabend endeten Auseinandersetzungen auf dem zentralen Bautzener Kornmarkt mit einer Hetzjagd von Nazis auf Flüchtlinge und Angriffen auf ein Asylbewerberheim. Am Donnerstagabend blieb es durch eine verstärkte Polizeipräsenz weitgehend ruhig. Der stellvertretende sächsische Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) schaltete sich ebenfalls mit scharfen Worten ein. »Mir ist völlig egal, wer angefangen hat. Und das spielt auch keine Rolle. Niemand hat das Recht zur Selbstjustiz.« AFP/nd Seite 8 Visegrad-Gruppe weiter gegen Quote EU-Gipfel streitet über Flüchtlingsfrage Bratislava. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei lehnen eine feste Quote zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU weiter ab. Die sogenannten Visegrad-Staaten veröffentlichten am Freitag am Rande des EU-Gipfels in Bratislava eine eigene Erklärung, in der sie für »flexible Solidarität« plädieren. So sollten Mitgliedstaaten entsprechend »ihrer Erfahrung und ihres Potenzials« entscheiden dürfen, wie sie helfen wollen. Um zu kontrollieren, wer sich in der EU aufhält, fordern die Visegrad-Staaten ein Einreiseverfahren, wie es in den USA üblich ist, wo alle Daten bereits vor einem Besuch mitgeteilt werden müssen. Generell sei der Grenzschutz ein »effektiver Weg zum Kampf gegen illegale Einwanderung«. Die vier Staaten boten an, die EU-Grenzschutzagentur Frontex stärker zu unterstützen. Sie sind seit Beginn der Flüchtlingskrise auf Konfrontationskurs zur Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. So haben Ungarn und die Slowakei gegen die in der EU beschlossenen Aufnahmeverpflichtung Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht. AFP/nd Von Tom Strohschneider Nein, es geht hier nicht um Chlorhühnchen. Auch nicht um Sigmar Gabriel. Es geht nicht um angebliche Gefahren für den Wohlstand. Und wer in den Chor einstimmt, der das Böse immer hinter dem großen Teich lauern sieht, liegt so falsch wie diejenigen, die die Kritiker der umstrittenen Abkommen TTIP und CETA, die am Samstag in sieben Städten auf die Straße gehen wollen, als »Ideologen« brandmarken. Es geht um uns, den demokratischen Souverän. Seit Monaten läuft der Streit um die beiden Abkommen. Sie sind eine Reaktion auf die Krise des internationalen Handelssystems. In der Organisation WTO blockieren sich die Kontrahenten seit Jahren gegenseitig, die Länder des Nordens setzen inzwischen auf andere Deals und haben damit längst ein neues Regime der globalen kapitalistischen Beziehungen errichtet. Es geht um Kontrolle und Vormacht. Einerseits. Andererseits sagen selbst Experten, die linker Globalisierungskritik unverdächtig sind, dass ein Scheitern von TTIP und CETA keine großen Auswirkungen haben würde – oder umgekehrt, dass die Abkommen selbst kurzfristig kaum spürbare Vorteile für den seit einigen Jahren schwächelnden Welthandel hätten, geschweige denn für das, was in diesem Land gern »unsere Wirtschaft« genannt wird. Und hier liegt auch der entscheidende Punkt: Es geht um das Verhältnis von privatkapitalistischer und öffentlicher Macht, von Markt und Demokratie. Ein Lobbyist des deutschen Maschinenbaus hat die Frontlinie gezogen, als er erklärte, der Wirtschaftsminister stehe »in der Pflicht, sich ohne Wenn und Aber für den Freihandel einzusetzen«. Ist das so? Warum? Zumal: Weder TTIP noch CETA sind klassische Abkommen über Handelsbeziehungen – sie gehen viel weiter. Und sie werfen eine entscheidende Frage auf: Soll Politik noch im Sinne der Allgemeinheit möglich sein, also eine demokratische Angelegenheit bleiben? Oder bestimmen diejenigen, ob und welche Spielräume noch zur Regulierung, zur Steuerung, zum Wandel genutzt werden können, die das Öffentliche allenfalls als Garanten ihres ökonomischen Tuns ansehen? Wenn die Lautsprecher des Kapitals die Kritiker der Abkommen zu »Vereinfachern und Angstmachern« erklären, halten sie sich nur selbst den Spiegel vor. Ja, die AntiTTIP-Bewegung wirft auch einige Fragen auf: Ist nicht auch hier manches vereinfacht worden? Stellt das vielstimmige Nein zu den Abkommen nicht andere Themen in den Schatten, wo es noch mehr um klassenpolitische Fragen ginge, wo nicht nur die gut Gebildeten und ganz gut Verdienenden auf die Straße gehen, sondern ebenso die, die gar nicht die materielle Wahl hätten, sich gegen ein Chlorhühnchen zu entscheiden? Der schon jetzt sichtbare Erfolg der Kampagne verschwindet nicht, wenn man auch darauf Antworten suchen würde. Und der Erfolg ist wichtig: Res privata oder Res publica, das ist die Frage, um die es jetzt geht. Und da die Regierung hier nicht in ihrem eigenen Interesse zu handeln imstande ist, muss es eben der Souverän selber tun – auf der Straße. Seiten 4, 5, 6, 24 Foto: 123rf/zentilia [M] Milliardenstrafe für die Deutsche Bank Konzern hofft auf Nachlass in kommenden Verhandlungen New York. Die US-Justiz will die Deutsche Bank wegen fauler Hypothekenpapiere auf 14 Milliarden Dollar (12,5 Milliarden Euro) verklagen. Mit dem Geld sollten Ansprüche an die Bank aus der Finanzkrise 2008 beglichen werden, als Investoren mit diesen Papieren hohe Verluste machten, hieß es am Donnerstag bei der Staatsanwaltschaft. Es wäre die höchste Strafsumme, die in den USA gegen eine ausländische Bank verhängt wurde. Die Bank bestätigte, dass die Staatsanwälte mit einer Forderung von 14 Milliarden Dollar in die Gespräche über die Beilegung der Ansprüche gegangen seien. Die Bank habe aber »keine Absicht«, sich auf eine Zahlung einzulassen, die »auch nur in der Nähe« der geforderten Summe liege, hieß es. Es werde erwartet, dass am Ende der Gespräche eine deutlich niedrigere Summe stehen werde. Das US-Justizministerium in Washington wollte sich zunächst nicht äußern. Der Bank wird vorgeworfen, Risiken durch die Hypothekenpapiere gegenüber Anlegern verschwiegen zu haben. AFP/nd Seite 8
© Copyright 2025 ExpyDoc