EU-Innenminister planen Abschottung

Halber Weg
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Vor 110 Jahren wurde Hannah Arendt
geboren. Die Ökonomie hat sie ausgeblendet, den Kommunismus lehnte sie prinzipiell ab – trotzdem ist die
Philosophin heute bei vielen Linken
populär. Eine Kritik ihres politischen
Denkens. Von Detlef Kannapin
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Leipzig: Terrorverdächtiger Al-Bakr
beging offenbar Suizid.
Siehe Kommentar auf Seite 8
Die Rechnung der Deutschen Bank: Die Türkische Regierung bekräftigt vor
Zeche für Spekulationsgeschäfte
der Offensive auf Mossul ihre
zahlt die Bevölkerung
­Ambitionen als Regionalmacht
Rauch- und Lebenszeichen: Eine
Zeitreise in eine Normalität.
Von Wiglaf Droste
Klares Jein zu CETA
PA/CRISTIAN HERNÁNDEZ/DPA-BILDFUNK
Staatschef Venezuelas
darf Parlament umgehen
Staatsräson vor Verfassung: Karlsruhe gibt Bundesregierung
­grünes Licht für Zustimmung zu Handelsabkommen der EU
mit Kanada – unter Auflagen. Von Jana Frielinghaus
schäftsführer Thilo Bode), »Teilerfolg« (Klaus Ernst, Die Linke) oder
»Ohrfeige für die EU-Kommission«
(Bund für Umwelt und Naturschutz,
BUND).
Über die Erfolgsaussichten der mit
den Eilanträgen verbundenen Verfassungsbeschwerden sagt das Urteil
noch nichts. Es sei nicht ausgeschlossen, dass CETA verfassungswidrige
Bestimmungen enthalte, sagte Voßkuhle bei der Verkündung des Beschlusses. Darüber will das Gericht
später verhandeln. Im Eilverfahren
hatte es nur zu prüfen, ob in der Zwischenzeit nicht wiedergutzumachende Nachteile entstehen. In der Entscheidung vom Donnerstag stuften sie
die Risiken eines Stopps von CETA
als weit gravierender ein als die der
Inkraftsetzung. Eine deutsche Blockade würde die Außenhandelsbeziehungen zwischen der EU und Kanada
beeinträchtigen und die »internationale Verlässlichkeit Deutschlands und
Europas insgesamt« aufs Spiel setzen,
erklärte der Gerichtspräsident. Im
Zweifel scheint man also in Karlsruhe
dem Grundsatz zu folgen, dass die
Staatsraison Vorrang vor der Einhaltung der Verfassungsgebote hat.
Nach bisheriger Planung soll das
Abkommen nach der Unterzeichnung
und der Zustimmung des EU-Parlaments in Teilen vorläufig in Kraft
treten, noch bevor die Parlamente
der Mitgliedsstaaten abgestimmt haben. Karlsruhe hat das Kabinett von
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nun
verpflichtet, nur für eine vorläufige
Anwendung derjenigen Teile zu stimmen, für die zweifellos die EU zustän-
dig ist. Alle anderen Bereiche
müssten ausgenommen
sein. Dies
betrifft
unter
anderem
d i e
Einrichtung
des geplanten
I nve s t o renschutzgerichts und den
Arbeitsschutz.
Die Kläger hatten außerdem die vorgesehene Einrichtung eines sogenannten
Gemischten
CETA-Ausschusses als grundgesetzwidrig angesehen. Dieser soll
ohne Konsultation weiterer
Gremien, geschweige denn
der Parlamente der Mitgliedsländer, Änderungen
am Abkommen vornehmen dürfen. Im Gerichts­
entscheid heißt es dazu,
bis zu einem endgültigen
Urteil müsse die Bundesregierung sicherstellen,
dass »eine hinreichende
demokratische Rückbindung der im Gemischten
CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet ist«.
Bob Dylan erhält den
Literaturnobelpreis
Verneigung vor der Konzernlobby?
Verfassungsgerichtspräsident Andreas
Voßkuhle befand am Donnerstag, ein
Stopp von CETA sei gefährlicher als die
Inkraftsetzung
Siehe Seite 8
EU-Innenminister planen Abschottung
Deutscher Ressortchef de Maizière will Flüchtlinge nach Libyen abschieben
D
ie Innenminister der EU
haben am Donnerstag über
die weitere Abschottung
Europas gegen Flüchtlinge beraten.
Bei dem Treffen in Luxemburg ging
es um den schrittweisen Aufbau
der Anfang des Monats gestarteten
neuen »EU-Behörde für Grenz- und
Küstenschutz« (EBCG). Sie soll bis
Anfang Dezember eine Reserve von
mindestens 1.500 Uniformierten erhalten, die bei Bedarf binnen weniger Tage an die EU-Außengrenze
verlegt werden können. Am Nachmittag diskutierten die Minister zu-
dem über das Asylsystem der Europäischen Union.
Bundesinnenminister Thomas de
Maizière will im Mittelmeer gerettete Flüchtlinge künftig in Nordafrika
internieren. Das entsprechende Abkommen mit der Türkei habe aus
seiner Sicht »Modellcharakter« und
solle auf afrikanische Staaten übertragen werden. Die Flüchtlinge sollten »zurückgeführt werden an sichere Unterbringungsmöglichkeiten«,
erklärte der CDU-Politiker und war
damit auf einer Linie mit Österreich
und Ungarn. Der Wiener Innenmi-
nister Wolfgang Sobotka forderte
Abkommen, damit die EU Flüchtlinge »sofort auch wieder nach Libyen, nach Algerien zurückschicken«
könne. Die Budapester Regierung
verlangte ebenfalls die Abschiebung
von Flüchtlingen in das Bürgerkriegsland.
Die innenpolitische Sprecherin
der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, kritisierte am Mittwoch
per Pressemitteilung das Vorhaben
der EU, Asylanträge schon abzuweisen, wenn die Schutzsuchenden
einen »sicheren Drittstaat« passiert
haben. »Damit entzieht sich die EU
ihrer Verantwortung im Rahmen des
internationalen Flüchtlingsschutzes.
Als ›sicher‹ betrachtet sie schließlich selbst ein Verfolgerland wie die
Türkei, das die Menschenrechte mit
Füßen tritt«, so Jelpke.
Die libysche Regierung hatte
die Einrichtung von Flüchtlingslagern auf ihrem Staatsgebiet bereits
abgelehnt. Der Außenminister des
Übergangskabinetts, Taher Siala,
kritisierte Anfang Oktober, die EU
wolle ihre Verantwortung »auf unsre
Schultern« abwälzen. (AFP/jW)
ULI DECK/DPA-BILDFUNK
O
bwohl die Bestimmungen
von CETA im Widerspruch
zum deutschen Grundgesetz
stehen, darf die Bundesregierung ihre Zustimmung zum Handelsabkommen der EU mit Kanada geben. Das
Bundesverfassungsgericht wies am
Donnerstag in Karlsruhe mehrere
Eilanträge dagegen ab, formulierte
allerdings Bedingungen für die Absegnung des Vertrags. Damit wird die
Übereinkunft aller Voraussicht nach
wie geplant am 27. Oktober auf dem
EU-Kanada-Gipfel in Brüssel von
Vertretern der EU-Kommission und
der kanadischen Regierung unterzeichnet werden.
Die Bundesregierung müsse aber
unter anderem sicherstellen, dass
Deutschland im Zweifel aus dem
Abkommen wieder herauskommt,
forderte der zweite Senat unter Leitung von Gerichtspräsident Andreas
Voßkuhle. Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel (SPD) zeigte sich
zufrieden: »Ich glaube, dass wir mit
allen guten Argumenten das Verfassungsgericht überzeugen konnten«,
sagte er am Donnerstag in Berlin.
Derweil zweifelte Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht an, dass es
dem Minister gelingen wird, die Auflagen zu erfüllen. Die Linksfraktion
im Bundestag zählt zu den Klägern,
die das Abkommen in Karlsruhe stoppen wollen. Zudem mobilisierten die
Verbraucherorganisation Foodwatch
sowie die Vereine Campact und Mehr
Demokratie mehr als 125.000 Mitkläger. CETA-Gegner werteten den
Karlsruher Beschluss wahlweise als
»Riesenerfolg«
(Foodwatch- Ge-
Caracas. Venezuelas Präsident
Nicolás Maduro darf den Staatshaushalt am Parlament vorbei bestimmen. Der Oberste Gerichtshof
(TSJ) des südamerikanischen Landes urteilte, der Präsident dürfe das
Budget statt dessen als Dekret vom
TSJ genehmigen lassen. Als Reaktion darauf rief der oppositionelle
Vorsitzende des Finanzausschusses im Parlament, José Guerra, alle
in- und ausländischen Banken auf,
der Regierung kein Geld zur Verfügung zu stellen.
Die Richter begründeten ihr Urteil in einer am Mittwoch (Ortszeit)
auf der Homepage des Gerichts veröffentlichten Stellungnahme damit,
dass die Mehrheit der Nationalversammlung frühere Beschlüsse des
TSJ ignoriert. Daraufhin hatten die
Richter alle Sitzungen des Parlaments für ungültig erklärt. (AFP/jW)
Stockholm. Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den
US-amerikanischen Sänger und
Songwriter Bob Dylan (75). Wie
die Schwedische Akademie am
gestrigen Donnerstag in Stockholm
mitteilte, wird der Musiker für seine »poetischen Neuschöpfungen in
der großen amerikanischen Songtradition« ausgezeichnet. Deren
Sprecherin Sara Danius nannte
ihn einen großartigen Dichter,
der sich seit 45 Jahren immer neu
erfinde. Der als Robert Zimmerman geborene Dylan gilt als einer
der einflussreichsten Musiker des
20. Jahrhunderts.
Sein Werk umfasst 37 Studioalben und bewegt sich zwischen
den Genres Folk, Blues, Rock
und Country. Dylan war für seine
Songtexte bereits mehrfach für
den Preis vorgeschlagen worden.
Seine Auszeichnung galt jedoch als
unwahrscheinlich, da seine Texte
zuvörderst als musikalische, nicht
literarische Kunstwerke wahrgenommen werden. (dpa/AFP/jW)
Siehe Seite 10
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