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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature am Sonntag
Der Indianer von Neuwied
Eine Mythenforschung
Von Christoph Goldmann
Sendung:
Redaktion:
Regie:
Produktion:
Sonntag, 11. September 2016, 14.05 Uhr
Walter Filz
Andrea Leclerque
SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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Zitator 2
„Die Stufenfolge der Civilisation erstreckt sich von den grausamen und ganz nackend
gehenden Anthropophagen, den Botocudos, die nur die finsteren Wälder bewohnen,
die sich zwischen Espirito Santo und Minas Geraes von Süden nach Norden ziehen,
bis zu den bekleideten und Pferdezucht treibenden Aycura.“
Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Section 1, Band 12,
Leipzig 1824, S.283, Schlagwort Brasilien
Atmo 7:
Bahnhofsvorplatz Magé
Erzähler
Handys und Papageien. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Magé bekommt man alles.
Nur Hernesto lässt sich nicht blicken. 60 Kilometer Fahrt in einem stickig heißen
Vorortzug aus Rio. Und jetzt ist er nicht da. Ich will schon Richtung Zentrum gehen,
da klingelt mein Telefon.
O Ton 2 Dialog Autor/Hernesto Teixeira, Telefon klingelt: wird nicht übersetzt
<Autor (bras.)
Hallo Hernesto, alles klar? Ich bin hier auf dem Platz vor Polizeiwache. Ja, vor der
Polizeiwache.
Autor (bras.)
Gut, ich komme da vorbei, alles klar, danke.>
Erzähler
Alles in Ordnung. Er kommt. Die lange Reise war nicht vergebens. Die lange Zeit
auch nicht. Fast zehn Jahre…
<Übergang:
Rückblende>
Atmo 1:
Dr. Roth geht durch das Museum König Bonn
Erzähler:
Bonn, Juni 2007. Das zoologische Forschungsmuseum Alexander König in Bonn ist
noch menschenleer. Nur Studiendirektor Dr. Hermann Josef Roth ist schon auf dem
Weg in die Museumskatakomben.
Atmo 2:
Dr. Roth Schritte, dann öffnet er die Vitrine und packt den Schädel ein.
Erzähler:
Hier lagern sie. In Vitrinen, die schon lange keiner mehr geöffnet hat. Totenschädel
aus aller Welt. Behutsam nimmt Dr. Roth das Objekt I 223.31 heraus, ein Schädel mit
2
einer großen Fraktur auf der rechten Seite, und macht sich auf den Weg in den alten
Hörsaal des Museums.
Atmo 3:
Dr. Roth Schritte, dann Getuschel Hörsaal
Erzähler:
Sein Vortrag heute trägt den Titel "Der Mensch im Blick rheinischer Biologen des 19.
Jahrhunderts – Indianer, Neanderthaler und Gewissensbisse". Es geht um die
Brasilienreisen des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied und dessen Berichte über
die Botokuden. Und es geht um die Herkunft des Schädels. Es ist der Schädel von
Joachim Quäck.
Ansage
Der Indianer von Neuwied. Eine Mythenforschung
Ein Feature von Christoph Goldmann
O-Ton 1, Dr. Roth (Vorlesung)
Prinz Maximilian hat zwei Forschungsreisen gemacht, die erste 1815 bis 1817 durch
Ostbrasilien. Dabei hat er mehrere Völker, darunter auch die Botocudos beschrieben,
und als Gefährte begegnet ihm der Indio dort, in dem europäisch wirkenden Kleid.
Joaquim Quäck heisst er.
Erzähler (über folgenden O-Ton, quasi wie Overvoice)
Von Prinz Maximilian im Februar 1818 nach Neuwied gebracht. Silvester 1833 aus
einem Fenster gestürzt, liegen geblieben und erfroren. Der Alkohol soll Joachim
Qäuck zum Verhängnis geworden sein.
O-Ton 1ff
Und der Quäck hat beachtliche Zeit in Neuwied gelebt. Dieser Quäck führt dann, das
wäre dann ein eigenes Kapitel, ein Leben, dass nicht immer beneidenswert gewesen
ist, ich zitiere mal aus einer Zeitung: Da saß er, sich am heißen Ofen wärmend,
ruhig, kalt, ernst, ohne eine Miene zu verziehen, oder sich um die ihn begaffende
Menge weiter zu kümmern, in sich selbst gekehrt. Wer ihn so bey der Lampe, einsam
in der stillen Nacht erblickt hätte, konnte ihn leicht für einen in tiefes Nachdenken
versunkenen Philosophen halten.
Nun diese Einsamkeit und doch gesellschaftliche Isolierung in so einem kleinen Nest
wie Neuwied damals war, führte dann tatsächlich zu der Tragik, wie die Rheinländer
so sind: ach, einmal, ist kein mal, Alkohol zustecken, was der Prinz Max strikt
verboten hatte, und in der Sylvesternacht 1833, als Prinz Max in Nordamerika weilt,
da war des guten zu viel getan, der Quäck stürzt aus dem Fenster, und erfriert in der
Sylvesternacht. Damals gab's im Rheinland noch Winter. Das ist die Unfallstelle, dort
aus dem ersten Fenster ist er rausgefallen aus dem ersten Stock.
3
O-Ton 1ff (frei stehend):
Und deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht, sie sind jetzt Zeuge einer Premiere,
nämlich den Originalschädel des Botokuden Quäck. Ich bin kein Anthropologe ich
stelle lediglich als Besonderheit diese Wunde fest, die rührt von dem Sturz her in der
Sylvesternacht. Ja das war's, Danke.
Erzähler:
Es ist der vorerst letzte Auftritt des „guten Quäck”, und seine Geschichte endet wie
sie begonnen hat: als Studienobjekt.
Zitator 2
Prinz Maximilian war ein Einzelgänger, unverheiratet und befreundet nur mit
Mitarbeitern und Kollegen, der in seiner Heimat Neuwied ohne Rast
Pflanzen und Insekten sammeln, Säugetiere und Lurche schießen ließ. Eingelegt,
getrocknet, aufgesteckt, ausgenommen, kam der Prinz, der die Gegenstände zu
bestimmen und aufzuzeichnen hatte, fast nicht zu Athem!
Erzähler:
schreibt die wissenschaftliche Zeitung „Isis“ 1819. 1843 charakterisiert Karl Viktor zu
Wied seinen Bruder in einem Brief.
Zitator 2
Tatsächlich muss zu Wied etwas in sehr hohem Maße besessen haben, was man als
produktive Eingleisigkeit bezeichnen könnte. Ein etwas trockener Intellekt und
außerordentliche Willenskraft waren jedenfalls die wichtigsten Merkmale seines
Wesens; Phantasie dürfte daneben nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben!“
Erzähler:
Geboren 1782 als achtes von elf Kindern hat Prinz Max keinerlei Aussicht auf
politische Macht und Funktion. Ein Leben als Naturforscher dagegen verspricht
Anerkennung, Abenteuer und einen Ausweg aus der rheinischen Provinz. Im April
1811 schreibt sich der fast dreißigjährige Prinz Max als Student bei Johann Friedrich
Blumenbach an der Universität Göttingen ein. Blumenbach befasst sich mit
vergleichender Anatomie und sammelt Schädel aus aller Welt. Auf der Suche nach
dem Ursprung der Menschheit will er durch vergleichende Kopf- und
Körpervermessungen eine Systematik menschlicher Rassen erstellen. Der
charismatische Lehrer spornt seine Studenten zu Expeditionen in entlegene
Erdwinkel an, um ihn mit „frischem Schädelmaterial zu versorgen”. Prinz Max ist
fasziniert.
Zitator 1 Prinz Max:
In Hinsicht auf eine größere Reise arbeite ich hier in Göttingen noch immer fort bis
Ostern. Blumenbach thut für mich, was er kann, und sein Collegium der
vergleichenden Anatomie ist diesen Winter besonders interessant.
Erzähler:
Den letzten Anstoß zu seiner Reise gibt ein anderer, längst berühmt gewordener
Schüler Blumenbachs: Alexander von Humboldt überzeugt Prinz Max, die Reise
nach Brasilien zu wagen und den sehnlichsten Wunsch seines Lehrers Blumenbach
4
zu erfüllen: einen brasilianischen Schädel zu beschaffen. Nach dreijährigen
Reisevorbereitungen schifft sich Prinz Max zusammen mit seinem Hofjäger und
Hofgärtner am 15. Mai 1815 in London nach Brasilien ein. Unter dem Pseudonym
Baron von Braunsberg hält er seine Erlebnisse in einem Reisetagebuch fest.
Atmo 4:
Bucht von Rio de Janeiro. Fischer machen ihre Holzflöße klar.
Zitator 1 - Prinz Max:
Am 17ten July 1815:
Morgens um 9 Uhr kamen zwei Lotsen in einem großen Boote mit acht indianischen
Ruderern und einem Steuermann. Sie hatten eine sehr dunkle Farbe und waren
hässlich...
Musik 1:
Milton Nascimento, Anfang von Hello Goodbye
Zitator 1 - Prinz Max:
Die Geschäfte und die Neugierde führten mich am 18ten Juli sogleich nach der Stadt.
Eine Menge Volk in den Strassen, wovon auf einen Weißen immer 3 bis 4 Neger
oder Farbige gerechnet werden müssen, die singend oder im Tacte rufend schwere
Lasten fortschaffen. Der Markt, wo man die Neger kauft, hat einen besonderen
Kirchhof für sie, wo die neu ankommenden oft in Menge verscharrt werden, oft nur
höchst oberflächlich ja man lässt sie zuweilen beinahe unbedeckt verfaulen, bis man
gezwungen ist sie vollständig zu begraben. Die Ankunft der königlichen Familie hat
Rio eine andere Gestalt gegeben...
Erzähler:
1808, sieben Jahre bevor Prinz Max brasilianischen Boden betritt, landeten 40
Schiffe mit fast 12.000 Menschen an Bord in der Bucht von Rio de Janeiro. Die
portugiesische Krone war vor Napoleon von Lissabon nach Rio geflohen. Die noblen
Neuankömmlinge benötigten Unterkunft und Verpflegung. Kaum angekommen ließ
der König ganze Straßenzüge beschlagnahmen. An den Häusern prangten seine
Initialen P.R., Principe Regente, Prinzregent. Der Volksmund machte daraus P.R.:
Ponha-se na rua, zu deutsch: auf die Strasse mit euch. Aber wohin mit all den
Menschen? Schnell geriet eine Region nördlich von Rio de Janeiro ins Visier: Die
dichten Wälder entlang des Rio Doce, Rio Mucuri und Rio Belmonte, genannt „Die
große Leere“. Allerdings handelte es sich dabei auch um das letzte Rückzugsgebiet
der Pataxó, Maxacalí und Botokuden-Indianer. Und die wehrten sich vehement
gegen die Expansionspläne der Krone. Ihre Jagd -und Schweifgebiete im
Landesinneren und entlang der Ostküste waren existenziell bedroht. Zwei Monate
nach seiner Ankunft erklärte König Joao den Offensivkrieg gegen die Botokuden,
ausgerufen als „Guerra justa”, „gerechter Krieg“, offiziell auch „Desinfektion der
großen Leere“ genannt.
Atmo 5:
Urwaldgeräusche
5
Erzähler:
An der einzig befestigten Heerstrasse in „die große Leere“ richtete ein deutscher
Baron ein Proviantlager ein und verkaufte portugiesischen Truppen haltbares
Maniokmehl, das er auf seiner nahegelegen Fazenda Mandioca anbaute. Diese
Fazenda wurde zur ersten Anlaufstation aller europäischen Forschungsreisenden,
darunter auch Prinz Max:
Zitator Prinz Max:
Besonders angenehm war mir Herrn von Langsdorff's Wohnung. Unmittelbar vor der
Haustreppe Orangen- und Melonenbäume, die ihre duftenden Blumen zur Nahrung
für eine große Menge nie gesehener Kolibris entfalteten.... Unmittelbar hinter dem
Haus erhob sich ein dichter, dunkelschattiger Urwald, erstes Bild der großen,
erhabenen Pflanzenschöpfung dieses schönen Climas.
Atmo 6:
fahrender Zug
Erzähler:
Heute liegt die Fazenda Mandioca 60 Kilometer außerhalb von Rio, nahe dem
Städtchen Magé. Hernesto Teixera ist der Mann, der sie mir zeigen will. Nach
unserem Verabredungshin- und her erkenne ich ihn sofort. Ein athletischer,
großgewachsener Mann
O-Ton 3 Dialog Herbert/Autor: wird nicht übersetzt
Hernesto (bras.)
Hallo mein Lieber, alles gut gegangen?
Autor (bras.)
Alles klar.
Hernesto (bras.)
Hör zu, wir haben zwei Situationen: das Auto meines Bruders ist kaputt, aber da ist
ein anderes Auto, von einem Freund hier bei der Agrarbehörde, hier gleich um die
Ecke, aber wir müssen tanken. Alles klar?
Autor (bras.)
Alles klar.
Erzähler
Offenbar gibt es ein Problem, zur Facenda zu kommen. Das Auto von Hernestos
Bruder, mit dem wir fahren wollten, ist kaputt. Aber Hernesto hat einen anderen
Wagen besorgt, von einem Freund, der Direktor der Agrarbehörde ist. Das Auto
muss aber noch aufgetankt werden. Und Hernesto muss noch herausfinden, wohin
wir überhaupt fahren.
O Ton 4
Hernesto (bras.)
6
Sprecher 1, Übersetzung Hernesto:
Ich habe eine Vermutung wo das Haupthaus der Farm stand, da wohnen heute
Leute. Die Farm existiert nicht mehr, das ist jetzt ein Stadtviertel. Es gibt noch Ruinen
und ein Haus. Das ist alles, was heute noch existiert. Ich muss das Auto noch fertig
machen. Eine Minute.
Atmo 9:
Agrarbehörde
Erzähler:
Während Hernesto unser Auto zum Laufen bringt, sitze ich mit Aloisio Sturm,
"Autoverleiher" und Direktor der Agrarbehörde in Personalunion in seinem kleinen
Büro.
O-Ton 5 Aloisio Sturm (bras.):
Sprecher 2 Übersetzung Aloisio
Hier ist sogar eine Agrarschule nach Baron Langsdorff benannt. Er war unbestritten
ein Spitzenwissenschaftler auf Weltniveau. Mehr als 10 Jahre hat er hier eine tolle
Arbeit gemacht. Unsere Geschichte, die indianische Zivilisation, war aber auch schon
hochentwickelt, als die Europäer hier in der Bucht anlandeten. Aber wir wissen ja,
was dann passiert ist: wenn der Indio sich nicht ordentlich hinsetzt, dann … hier
waren die Franzosen, die Engländer, die Holländer, sogar Deutsche, um hier
Indianer zu töten. Die haben die Indianer pulverisiert.
Erzähler:
Als russischer Generalkonsul hatte der deutsche Georg Heinrich von Langsdorff, die
Mission, dem russischen Zarenreich Zugang zu Rohstoffen und Agrarprodukten zu
verschaffen. Aus seinem Landgut Mandioca machte er eine Musterfarm. Langsdorff
wollte die in seinen Augen uneffizienten afrikanischen Sklaven durch deutsche
Siedler ersetzen. Viele Deutsche folgten seinem Ruf, aber der Traum vom Aufbau
einer ersten deutschen Kolonie scheiterte. Nur die deutschen Familiennamen und ein
paar Sprachbrocken sind geblieben.
O Ton 6 Dialog Aloiso Sturm/Hernesto: wird nicht übersetzt
Aloisio (bras.)
Hey Hernesto, hör doch mal zu wenn ich deutsch spreche:
Wir sind doch alle Brüder!
Hey, ich kann’s noch!
Hernesto (bras.)
Fahren wir los? Mal sehen ob das Auto anspringt?
Atmo 10:
Auto, dann Musik
7
Erzähler:
Wir lassen Magé hinter uns und fahren wenige Minuten später durch sattgrünen
Regenwald, aus dem riesige graue Felsen aufsteigen. Im Radio läuft ein Samba,
1994 ein Riesenkarnevalshit: Langsdorff, um delirío no Sapucai. Langsdorff, Delirium
im Sambadrom.
Übersetzung:
Zitator 2
Eine herrliche Reise
die Langsdorff auf Befehl des Zaren unternahm
Minas Gerais
da wo die Odyssee begann
Flora, Fauna, Mineralien,
er katalogisierte alles was er fand
dann wurde es nach Moskau gesandt
Erzähler:
Vorbei an der ersten Munitionsfabrik Brasiliens, gegründet 1808, im Jahr der
Kriegserklärung gegen die Botokuden, erreichen wir den „Caminho Novo“, den
„Neuen Weg“. Hier liegen die ausgedehnten Ländereien der Fazenda Mandioca.
Atmo11:
Auto kommt zum stehen
Erzähler:
Wir halten vor einem großen Holztor. Dahinter ein heruntergekommenes Haus. Der
Besitzer ist sichtlich überrascht.
O Ton 7, Dialog Hernesto/Aruoldo wird nicht übersetzt
Hernesto (bras.):
Hallo Bruder, haben wir dich geweckt? Entschuldige, es war nicht programmiert, ich
bin mit dem Auto von Luis hier. Der Christoph, der Deutsche macht etwas über den
Graf Langsdorff.
Arouldo, Farmer, (bras.)
In Ordnung. Entschuldige … ( Tor geht auf ).
Atmo 12:
durchs Gras gehen
8
Erzähler:
Hier war offenbar schon lange niemand mehr. Es geht durch meterhohes Gras. Von
einer Fazenda keine Spur.
O Ton 8 Dialog Hernesto/Aruoldo (bras.) wird nicht übersetzt
Hernesto:
Das Haupthaus der Fazenda Mandioca liegt da hinter den Bergen. Aber diese
ganzen Ländereien hier gehörten auch zur Fazenda. Kommen wir hier durch?
Arouldo:
Wir gehen hier lang, ist nicht so kompliziert.
Erzähler:
Endlich erreichen wir eine kleine Anhöhe und blicken auf eine weitläufige
Ruinenlandschaft. Rote Ziegelsäulen ragen aus der Wildnis auf.
O Ton 9 Hernesto (bras.)
Sprecher 1, Übersetzung Hernesto:
41 Säulen, das geht von dem Bananenstrauch bis dahinten den Hügel rauf.
O Ton 10 Aroualdo (Bras.)
Sprecher 2, Übersetzung Aroualdo:
Hier unten waren die Sklaven. Ich habe da viele blaue Flaschen gefunden, noch
ganz erhalten, ich weiß nicht ob die von hier kamen, oder aus Europa importiert
waren. Und dann war da so etwas wie eine Mühle, keiner weiß das genau, aber es
fallen die vielen Walknochen auf, die hat man zu Knochenzement zermahlen. Es gab
ja keine Steine. Hier sind wir auf dem höchsten Punkt, das Holz der Gebäude haben
sie schon lange weggeholt. Viele Ziegelsplitter sind hier. Das deutet alles darauf hin,
dass das hier absichtlich überschüttet wurde, die haben irgendetwas versteckt, hier
lebten ja die Sklaven. Die Erde ist sehr weich, nicht gerade typisch für diese Gegend.
Erzähler:
Wir fahren weiter. Zum Herrenhaus des Baron Langsdorff.
Atmo 13:
Kinder auf der Strasse, Leute reden.
Erzähler:
Heute liegt es von erbärmlichen Hütten umgeben mitten in einem Armenviertel.
Hernesto fragt, ob wir mal in das Haus hineinschauen dürfen. Ein rüstiger Mann um
die 80 namens Milton ist der Besitzer. Er zeigt es uns gern. Tatsächlich, das Haus
sieht noch genauso aus, wie es Moritz Rugenda, ein enger Freund Alexander von
Humboldts, auf einer Lithographie festgehalten hat.
O Ton 11 Dialog Hernesto/Frau/Senhor Milton (bras.) wird nicht übersetzt
9
Hernesto:
Leute, dürfen wir mal kurz beim Haus gucken? Kann uns einer begleiten?
Frau:
Der Herr begleitet euch. Vorsicht vor den Hunden.
Hernesto:
Wenn der Hund bissig ist beiße ich zurück. Hier lang? Der Herr geht besser vor. Wie
heißen Sie doch gleich noch? Herr, Herr...
Alter Mann:
Milton
Hernesto:
Herr Milton! Das Haus da vorne, das da kennst du von den Bildern und den Gravuren
von Rugendas. Das ist noch seit diesen Gravuren erhalten, die Fenster und die
Türen und der Keller, stimmt's Herr Milton?
Milton:
Das Haus ist da unten.
Hernesto:
Ich mach mal ein Foto. Damit du eine Idee davon hast.
Milton:
Ich selbst habe das ganze Haus repariert. Sogar den Kanal. Sieh, alles. Das hat sich
sehr verändert.
<bis hier nicht übersetzen!>
O-Ton 11ff Hernesto (bras.):
Sprecher 1, Übersetzung Hernesto:
Wir gehen jetzt mal runter in den Keller. Dürfen wir? Wir besuchen jetzt den am
besten erhaltenen Teil der Fazenda Mandioca. Diese Balken sind noch original aus
dem Jahr 1816. Alle diese Balken. Das ist original.
Erzähler:
Die Keller, wo einst das Maniokmehl lagerte sind erstaunlich gut erhalten. „Don
Milton“, ist sichtlich stolz, auch auf die originalen Holztüren und Fenster mit
eingefärbtem Milchglas. Zum Abschied winkt er uns von seiner ausladenden Veranda
zu. Das Herrenhaus der Fazenda Mandioca ist in goldenes Abendlicht getaucht.
Bilder vergangener Tage steigen auf.
Zitator 1 - Prinz Max:
Der erste ursprüngliche Amerikaner, den wir sahen, war ein Knabe vom
menschenfressenden Stamm der Botokudos. Er befand sich im Hause unseres
Freundes v. Langsdorff. Eigentlich sollte der portugiesische Districtskommandant von
Minas Geraes einen indianischen Schädel für unseren berühmten Landsmann, Hrn.
Hofrat Blumenbach, beschaffen; da Jener nicht Gelegenheit fand, eines solchen
10
toten Documents habhaft zu werden, schickte er zwei lebendige Botokudos. Herr v.
Langsdorff erhielt nun einen derselben, welcher ihm bald sehr lieb wurde, und nicht
nur als ein lebendiges Cabinettstück, sondern auch als Einsammler von Naturalien
diente...
Erzähler:
Auf der Fazenda Mandioca muss Prinz Max seine Passion für die Botokuden
entdeckt haben.
Zitator 1 - Prinz Max:
Bei v. Langsdorff fand ich daselbst zwei junge Deutsche... Herr Sellow hatte
botanische Kenntnisse, Freyreis war Sammler zoologischer Gegenstände. Ich
verabredete mit ihnen bald den Plan einer gemeinschaftlichen Reise, einen fast noch
unbekannten Weg, welcher besonders wegen der Anthropophagen-Nation der
Botokudos sehr gefürchtet wurde.
Atmo 14:
Stimmengewirr, Bar, Rio Altstadt
Erzähler:
Wie gefürchtet die Botokuden wirklich waren, erfahre ich ein püaar Stunden später in
der Altstadt von Rio. Nathan und Carol, alte Bekannte, wollen mir bei einem Bier
einen befreundeten Historiker vorstellen. Wir treffen uns an der Praca Floriano
Peixoto. Hier vibriert das alte Rio wie eh und je. Die Bars sind brechend voll. Die
Cariocas, so nennt man die Bewohner Rio de Janeiros, genießen ihre „Choppies“,
eiskalt gezapftes Bier. Dann kommt Marcelo Lemos, der Historiker. Carol warnt mich:
Er hat ein Wörterbuch der Puri-Indianer verfasst, er weiß alles.
O Ton 12 Dialog Carol/Marcelo (bras.) Carol wird nicht übersetzt
Carol:
Er hat ein Wörterbuch der Puri-Indianer erstellt, der erinnert sich an alles!
Marcelo (bras.)
Sprecher 1 - Übersetzung Marcelo
Was wirklich passiert:
Anfang des 19. Jahrhunderts werden fast zweihundert Farmen von den Purí und
Botokudo-Indianern im Landesinneren überfallen und vernichtet. Da entscheidet
Prinz Max sich für den Weg an der Küste entlang, zusammen mit dem Naturforscher
Friedrich Sellow und dem Vogelkundler Georg Wilhelm Freyreiss. Auch wenn in
seinem Reisebericht etwas ganz anderes steht. Er hatte nämlich noch gar keine
eigene Reiseroute. Das war die Reiseroute von Sellow und diesem anderen Freyreiss mit dem komplizierten Namen. Er ging mit ihnen und erreichte schließlich
Bahia.
Atmo 15:
Busbahnhof Rio
11
Erzähler:
Nach einem langen Abend, an dem mir Marcelo Lemos so einige Ungereimtheiten in
Prinz Max Aufzeichnungen erläutert, nehme ich den Nachtbus nach Salvador, um
mich mit der Botokudenexpertin Hilda Paraiso zu treffen. Knapp 24 Stunden braucht
er für die Strecke. Auch eine Zeitreise, denn so mancher Zwischenhalt trägt bis heute
die Namen längst vergessener Botokudenjäger. Teófilo Ottoni, die zweitgrößte Stadt
von Minas Gerais, ist nach dem Despoten benannt, der europäische Einwanderer mit
falschen Versprechen in die umkämpften Botokudengebiete am Rio Mucuri lockte.
Der Ausdruck „jemanden an den Mucuri schicken“ wurde in Deutschland im 19.
Jahrhundert zum geflügelten Wort, auch ungehorsamen Kindern drohte man gern
damit, sie an den Mucuri zu schicken. Über die gnadenlosen Feldzüge am Rio
Mucuri hat mir Hilda Paraiso schon per Mail geschrieben.
Sprecherin 1 - Zitat
Die zeitgenössischen Landkarten stellen die Botokuden als menschenfressende,
gefährliche Barbaren dar. Im Vernichtungskrieg gegen sie füttert man Hunde mit
Indianerfleisch „um sie stets bei guter Nase zu halten”. Oder man legt Kleidung aus,
die mit Scharlach oder Blattern infiziert ist. Die weißen Siedler ermuntert man per
Gesetz „junge Botokuden der Barbarei zu entreißen und der Zivilisation zuzuführen“
und räumt ihnen das Recht ein, sie bis zu zehn Jahre lang zu versklaven.
Atmo 16:
Salvador
Erzähler:
Hoch über Salvador da Bahia liegt der Arbeitsplatz von Hilda Paraiso. Eine alte
Kolonialvilla mit atemberaubendem Blick. Weit draußen die vorgelagerten Inseln der
„Allerheiligenbucht“, zur Linken der Gouverneurspalast mit seinem prächtigen
Garten. Der Hausmeister des Instituto Bahiano de Antropología döst bei leichter
Brise unter einem riesigen Jackfruchtbaum und weist stumm den Weg zur
Anmeldung. Dort weiß man von meinen Termin bei Hilda Paraiso nichts. Aber eine
Sekretärin bemüht sich, jemanden zu finden, der mir weiterhilft.
O Ton 13 Sekretärin (bras.)
<nicht übersetzen – nur „atmosphärisch“ verwenden>
Ich mach das folgende, ich weiß jetzt nicht ob unsere Koordinatorin da ist, oder ob
Sie die Professorin empfängt, das ist hier das Zentrum für indigene Ethnologie,
indianische Sprachen, wir haben auch ein Archiv hier, aber lassen Sie mich
versuchen einen Professor des Hauses zu finden, der Ihnen weiterhelfen kann.
Einen Moment...
… ich bin hier mit einem deutschen Journalisten, der recherchiert zu einem
Botokude- Indianer der in Deutschland gelebt hat. Der wollte mit wem reden. Wie
gehen wir mit solchen Anfragen um?
12
Erzähler:
Dann muss ich doch nur kurz in Hilda Paraisos Büro warten, einem holzgetäfelten
Saal mit großem Schreibtisch und auffallend vielen Aschenbechern. Die Dekanin der
anthropologischen Fakultät begrüßt mich mit einem kiloschweren Buch unter dem
Arm: die Geschichte der Botokuden.
O Ton 14 Hilda (bras.)
Sprecherin 1, Übersetzung Hilda:
Das Buch schenke ich Ihnen. Meine Habilitation. Ich habe vom Rio Doce bis zum Rio
de Contas hier in Bahia geforscht. Und auch mit den letzten isolierten Botokuden
gearbeitet. Hier in der Arbeit sind auch Karten, die Ihnen wahrscheinlich helfen
werden. Hier die Militärbasen, Militärbasen, die seit 1808 hier in Bahia entstanden
sind. Sie finden da auch die Reiseroute von Wied. Sie werden schon was entdecken,
was Sie vielleicht verwerten können.
Erzähler:
„Vielleicht“ ist untertrieben. Das Buch wertet hunderte Dokumente aus, die aus jener
Zeit stammen, als Prinz Max auf seiner Reise durch Brasilien war. Hilda Paraiso zeigt
auf eine Militärstation.
O Ton 15 Hilda (bras.)
Sprecherin 1, Übersetzung Hilda:
Quartel dos Arcos, São Miguel. Das enspricht heute Jequitinhonha. Vielleicht ist er
dort in den Besitz von Quäck gekommen. Er und seine Gruppe waren nämlich nie
weit weg von den Militärposten und ihren Truppen, die ihre Sicherheit garantierten.
Sie waren nie in Gebieten, wo man die sogenannten primitiven Botokuden antreffen
konnte, die keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Und da kommen wir auf den
„gerechten Krieg“ und die Politik der sogenannten „Desinfektion des Hinterlandes“.
Da wurden in bestimmten Abständen Militärposten aufgebaut, neue Kampftruppen
rekrutiert, die oft aus Indianern bestanden. Ein schmutziges Spiel. Sie wiegelten die
einen gegen die anderen Indianer auf. Erzählten ihnen, dass die Botokuden kommen
würden, um ihre Frauen zu vergewaltigen, ihre Kinder zu rauben... Das ist schon
bemerkenswert. Alle anderen Reisenden erwähnen, wo sie in den Besitz ihrer Wesen
gekommen sind. Wied nicht. Er bewahrt darüber absolutes Stillschweigen. Die
meisten Forschungsreisenden nahmen Kinder mit. Die Neugier der Reisenden ist
unersättlich, auch wenn man Wied nicht nur auf das reduzieren kann. Und einen
erwachsenen Indianer mitzunehmen, da ist Quäck die absolute Ausnahme.
Erzähler:
Wie alt Quäck ist, als er Prinz Max begegnet, ist unsicher. Sicher aber ist, dass die
Begegnung zwischen Quäck und Prinz Max mit einem Missverständnis beginnt.
O-Ton 16 Hilda (bras.)
Sprecherin 1, Übersetzung Hilda:
Er wollte den Namen von Quäck erfahren. Zu welchem Volk er gehört. Und Quäck
antwortete: Engerekeekenungi. Der Prinz versteht „Quäck”, und denkt, das sei sein
Volksstamm. Engerekeekenungi aber bedeutet: Ich bin jener, der weggegangen ist.
13
Er hat sich selbst als einen bezeichnet, der im Exil ist. Das hat Max nicht verstanden.
Er sprach kein portugiesisch. Er sprach kein botokudisch oder eine andere
Indianersprache. Das führt zu vielen Missverständnissen. Im Grunde, wenn Max über
die Indianer redet, redet er nicht als Augenzeuge, sondern als jemand, dem man
etwas erzählt hat. Insofern müssen wir schon ein kritisches Auge auf sein Werk und
seine Berichte werfen.
Erzähler:
Prinz Max erhält seine Informationen vornehmlich auf Militärposten, die zumeist von
einem portugiesischen Offizier und einer Handvoll Soldaten besetzt sind. Sie sollen
die Ansiedler gegen die Angriffe der Botokuden schützen. Bei Hitze, Regen, MoskitoSchwärmen, Sümpfen und Gelbfieber ist Fahnenflucht an der Tagesordnung.
Zwischen faszinierenden Naturansichten, prächtiger Tierwelt und schauderhaften
Lebensbedingungen muss sich Prinz Max als aufgeklärter Europäer orientieren.
Quäck wird zu seinem unentbehrlichen Reisegefährten.
O Ton 17 Hilda (bras.)
Sprecherin 1, Übersetzung Hilda:
Ich liebe Wied. Er ist mein Lieblingsreisender. Ich sehe in ihm aber auch eine zutiefst
gespaltene Persönlichkeit. Hin- und hergerissen zwischen Naturalismus und
Humanismus. Er denkt über viele Dinge nach. Auf der einen Seite ist er begeistert
und fasziniert, aber auf der anderen Seite erschüttert ihn die Armut, die Ignoranz, das
Rohe, Unzivilisierte.
Erzähler:
Immer wieder erwähnt Hilda Paraiso einen Mann namens Titus Riedl. Er habe sie auf
die Geschichte von Quäck gestoßen.
O Ton 18 Hilda (bras.)
Sprecherin 1, Übersetzung Hilda:
Ich habe ihn zufällig auf einem Kongress getroffen und wir haben Veröffentlichungen
ausgetauscht. Er forschte zu den Botokuden in Deutschland, so wie ich hier zu den
Botokuden in Brasilien. Danach hatten wir nie wieder Kontakt. Ich erinnere mich noch
genau, er erforschte, was mit den Botokuden in Deutschland geschah. die zwischen
Naturkabinetten, Jahrmärkten und so weiter herumgereicht wurden. Ich verdanke
seiner Arbeit viel. Wenn Sie ihn treffen, ich bin ein Fan von Titus.
Erzähler:
Viele Zigaretten später weiß ich, dass junge Botokuden damals eine begehrte
Währung sind. Viele reisen mit offiziellen Papieren, mit einem Kaufvertrag. In
Brasilien sind sie begehrt als Führer, die sich im Urwald auskennen. Oder als
„Zungen”, so nennt man die Dolmetscher, die die verschiedenen Indianersprachen
beherrschen. Quäck ist einer von ihnen. Und der Mann, der sich als erster mit
seinem Schicksal befasst hat, heißt Titus Riedl. Nach tagelanger Recherche
zwischen Brasilien und deutschen Universitäten finde ich ihn. Titus Riedl hat einen
Lehrstuhl für Geschichte an der Regionaluniversität von Cariri in der Stadt Crato,
mitten im Sertão, der halbwüstenartigen Savanne Brasiliens. 850 Kilometer
nordwestlich von Salvador.
14
Atmo 17:
Bus und Musik
Erzähler:
22 Stunden Fahrt mit dem Überlandbus durchs Trockenland, hier und da verwesende
Kühe entlang staubiger Pisten, am Horizont die Santana-Formation, eine der
bedeutendsten Fossillagerstätten der Welt. Im Ohr, O Botocudo, eine Samba aus
dreißiger Jahren, auf den Knien das Reisetagebuch des Prinzen.
Zitator 1 - Prinz Max:
1816. Nach nunmehr fast einjähriger Reise hatten sich unsere Sammlungen
bedeutend vermehrt. Dreizehn Kisten, darunter NR.13. mit Waffen der Wilden....In
Villa Viscosa fanden wir den Ouvidor Amtmann... Überigens waren in seinem
Gefolge auch zehn bis zwölf junge Botocudos von Belmonte... Ihre originellen
Gesichter waren durch große Blöcke von Holz, die sie in der Unterlippe und in den
Ohrläppchen trugen, verzerrt; die meisten dieser jungen Indianer hatten kürzlich
Pocken gehabt, sie waren noch über und über mit Narben und Flecken bezeichnet,
welches bey ihrem durch die Krankheit abgemagerten Körper ihre natürliche
Hässlichkeit noch bedeutend vermehrte.
Erzähler:
Bei „Pocken“ muss ich an die ausgelegte, infizierte Kleidung denken. Bei „junge
Botokudos“ an Kinderraub. Ein Anruf von Titus Riedl reißt mich aus meinen
Gedanken. Er gibt mir einen Treffpunkt durch. Weil er eine Ausstellung vorbereite,
müsse er noch einige Künstlerinnen besuchen, und - er habe eine kleine
Überraschung für mich parat.
Atmo 18:
Motorradtaxi, Crato
Erzähler:
Am Busbahnhof in Crato warten die Motorradtaxis unter einem majestätischen
„Chapeu do sol“ auf Kundschaft. „Sonnenhut“ nennen die Brasilianer ihre
gigantischen Mandelbäume. Das Städtchen ist wie von gelbem Puderzucker
bestreut. In Crato regnet es oft Monate nicht. Ich treffe Titus Riedl vor einer ärmlichen
Lehmhütte. Ganz Brasilianer, umarmt er mich wie einen alten Freund und nimmt
mich direkt zu seinen Kunsthandwerkerinnen mit.
O Ton 19 Dialog, Titus & alte Frau (bras.) wird nicht übersetzt
Titus:
Alles klar?
Frau:
Wie geht es? Wirklich alles gut?
Titus:
Wunderbar. Ich stelle dir heute sogar meine Frau und einen Freund vor.
15
Frau:
Freund! Trotzdem, wirklich alles gut mein Sohn?
Titus:
Los geht’s, ich gehe.
Erzähler:
Die unverputzten Wände der Hütte hängen voll mit Bildern und überall stehen
Tonfiguren. Titus Riedl begutachtet, wägt ab, kauft. Dann fragt er eine der
Kunsthandwerkerinnen, ob sie was mitgebracht habe oder ob es schon da sei: Die
Skulptur eines Mannes mit Hut und einem Indianer an seiner Seite. Die würde der
Deutsche sicher nehmen…
O-Ton 20 Dialog Titus Riedl/Künstlerin (bras.) wird nicht übersetzt
Titus:
Lass mich dich erstmal bezahlen.
Frau von Titus:
Diese Prozession da ist wirklich schön.
Kunsthandwerkerin:
Die ist aber noch nicht fertig, da sind zwei Arme abgebrochen.
Titus:
Und den Lazarus, konntest du den Lazarus reparieren?
Frau:
Ich repariere ihn langsam.
Titus:
Und das Stück mit dem Herren mit dem großen Hut? Mit dem Indianer an seiner
Seite im Urwald. Den hast du doch gemacht?
Frau:
Kann sein, Ach ja, jetzt erinnere ich mich!
Titus:
Ah, der recherchiert über diesen Indianer, will einen Film oder was immer machen.
Der bestellt bestimmt ein Exemplar. Denk doch mal über weitere Motive mit Wied
Neuwied nach.
Erzähler:
Das ist also die Überraschung, die Titus Riedl angekündigt hatte. Eine Tonplastik von
Wied und Quäck. Er selbst besitzt auch eine und zeigt sie mir, als wir bei ihm zu
Hause sind. Prinz Max trägt einen Strohzylinder mit Papageienfedern, in der rechten
Hand hält er ein Gewehr, in der linken Hand einen erlegten Papagei. Hinter ihm steht
Quäck, barfuss, mit Pfeil und Bogen. Eine gelungene Nachempfindung eines
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Gemäldes des Koblenzer Portrait- und Genremalers Johann Heinrich Richter.
Entstanden im Hofgarten zu Neuwied.
Atmo 19:
Riedle sucht ein Bild
Erzähler:
Riedls Haus gleicht einer Wunderkammer, vollgestopft mit den sonderbarsten
Objekten, darunter eine große Sammlung sogenannter „retratos pintados“.
Farbenprächtig übermalte Porträtfotos von Verstorbenen auf dem Totenbett. Eine
Tradition im Nordosten Brasiliens, die arme Landarbeiter posthum in elegante
Herrschaften oder Heilige verwandelt. Eine von Titus Riedl kuratierte Ausstellung
dieser Porträts wurde ein Welterfolg. Aber ich bin wegen der Botokuden hier. 1992
hat Titus Riedl seine Examensarbeit über sie geschrieben.
O Ton 21 Titus Riedl (deutsch)
Das interessante ist, dass die Botokuden eigentlich genau das Gegenbild unserer
deutschen, oder der in Deutschland gängigen Indianerromantik darstellen. Die
Botokuden haben also in der Geschichtsschreibung nichts Romantisches gehabt.
Sondern im Gegenteil, waren der Indianer, der schockiert hat. Vielleicht ist der
Botokude für den europäischen Reisenden des 19. Jahrhunderts der Inbegriff des
Fremden. Eine fremdere Kultur konnte man sich damals nicht ausmalen. Ich glaube
das Hauptinteresse an Wied Neuwied war wie er ja als Bürger, als deutscher,
europäischer Adliger, als Idealist und Wissenschaftler fähig war eine zivilisatorische
Leistung zu vollbringen indem er die Indianer zu Bürgern, wenn auch nur sehr
äußerlich, im Auftreten und in den Kleidern, aber dass er sozusagen das Bild des
Wildesten Wilden, wie er dazu fähig war ihn zu einem Bürger zu machen. Im Grunde
genommen hat das ja nicht geklappt. Der Quäck ist zerbrochen, man kann sagen,
dass er psychisch zerbrochen ist in diesen ganzen Jahren. Auch schon in der Zeit
gab es Theorien die besagten, dass die Indianer nicht zu zivilisieren seien. Und dem
hat Wied in gewisser Hinsicht widersprochen, widersprechen wollen. Aber im großen
und ganzen ging es um ihn um die zivilisatorische Leistung, so in dem Sinn nach,
seht mal her, was ich leisten kann. Was meine Kultur, wie ich als Idealist jemand
umformen kann. Es ging nämlich nie um die Zeit um die Toleranz des anderen. Er
hat ja den Quäck, er hat ihn ja wissenschaftlich sozusagen soweit ausgeschlachtet,
sagen wir mal soweit in Anspruch genommen, wie es nur ging in seiner Zeit. Aber
immer in der Auffassung, dass die Zivilisation die Rettung sei. Es ging nie darum,
Indianer in ihrer indianischen Kultur zu belassen, die andere Kultur als einen eigenen
Wert, als etwas Interessantes anzuerkennen.
Erzähler:
Und so werden die Botokuden, die tatsächlich nie Kannibalen waren, zum Muster
des ungezähmten, gefährlichen Indianers. Ein Gegenbild zum romantischen Ideal
des "edlen Wilden". Die Botokuden sind das am intensivsten untersuchte
Indianervolk des 19. Jahrhunderts mit den meisten Einzeleinträgen in
zeitgenössischen Lexika. Man kann Prinz Max keine böse Absicht unterstellen, aber
sein Wissensdurst setzt eine makabere Jagd um Schädel, Knochen und Objekte der
brasilianischen Indianer in Gang.
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O Ton 22 Titus Riedl (deutsch)
Titus:
Das Thema damals das war zwischen den Affenschädeln, Orang-Utanschädeln und
dem ersten Menschen, sozusagen die ersten Evolutionsstufen aufzuzeigen. Und das
hatte der Wied mit Sicherheit im Hinterkopf. Das war ein Ehrgeiz die Schädel
aufzufinden. Und in gewisser Hinsicht dann auch mit Alexander von Humboldt zu
konkurrieren.
Erzähler:
Ein internationales Netz von Grabräubern und Händlern entsteht, die Naturmuseen
und Raritätenkabinette in Europa beliefern. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
reisen zahllose Forscher der Route von Prinz Max hinterher. Die Botokuden sind das
meist fotografierte Indianervolk. Sogar Ansichtskarten mit ihnen gibt es.
Atmo 20:
Ailtons Gesang bei einem Sapé Ritual
Erzähler:
Mit einer Kopie der Examensarbeit Riedls im Gepäck geht meine Reise weiter ins
1.900 km entfernte Belo Horizonte. Dort leben am Rio Doce die letzten 300 Krenaks,
so bezeichnen sich heute die Nachfahren der Botokuden. Einer von ihnen ist Ailton
Krenak, der langjährige Indianerbeauftragte der Regierung von Minas Gerais. Ailton
wohnt zusammen mit seiner Frau Ni und seinem kleinen Sohn Kremba in den
Bergen, eine Stunde außerhalb von Belo Horizonte. Sein Zuhause ist ein fünf Meter
hoher zeltförmiger Holzbau, oben offen, mit einer Feuerstelle in der Mitte. Von den
Schlafmatten blickt man auf die „mata obscura”, den dunklen Wald. Ailton Krenak
sitzt am Computer und bearbeitet gerade ein Video, einen Lehrfilm in Botokudisch.
Nur sieben Personen sprechen heute noch die Sprache. Eine davon ist seine
Schwiegermutter.
Atmo 21:
man hört sie im Video ein wenig botokudisch sprechen
Erzähler:
Aber nicht nur die Bewahrung der Botokudensprache ist Ailton ein Anliegen.Vor
wenigen Wochen ist er in St. Petersburg gewesen, denn auch dort sind
Botokudenschädel und Gebeine aufgetaucht.
O Ton 23 Ailton (bras.)
Sprecher 1 - Übersetzung Ailton:
Als die Alten aus unserem Dorf gehört haben, dass dort sterbliche Überreste unserer
Vorfahren in den Laboratorien der Weißen zwecks wissenschaftlicher Spekulationen
liegen, sind sie sehr traurig geworden und haben sich für die Weißen geschämt.
Diese sterblichen Überreste so ihrer persönlichen Einzigartigkeit zu berauben. Als
hätten sie nie eine Kultur, nie eine Seele besessen. Nichts außer Knochen, die man
zerlegt. Mit dieser Ideologie hat man uns ausgelöscht, ein absurder Völkermord,
totale Vernichtung. Die Weißen haben schon immer gedacht, dass wir kein Recht auf
Leben haben, aber sie haben das Recht unsere Knochen zu nehmen, und uns
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abzuscannen als wären wir Küchenschaben, Ratten, kleine Tierchen, zum Studium
freigegeben. Die Muslime wollen ihre Religion nicht beleidigt sehen, die Christen
auch nicht, und die sterblichen Überreste von uns Botokuden wollen auch nicht in
ihrem Glauben beleidigt werden, menschliche Wesen gewesen zu sein. Auf dieser
Welt als Menschen gelebt zu haben. Was die Botokuden betrifft: Ich habe den
Eindruck, dass sich bis heute die modernen Wissenschaftler noch nicht von dieser
Neugier befreit haben. Nur die Methoden sind entwickelter. Anstatt eines Schädels
untersuchen sie jetzt die Spucke. Das ist eine Obsession.
Atmo 22:
Urwald, Graben
Erzähler:
Prinz Max will das seinem Mentor Blumenbach gegebene Versprechen unbedingt
einlösen: als erster Reisender einen Botokudenschädel nach Deutschland zu
bringen. Nach vielen gescheiterten Versuchen ist es dann an der „cachoeira do
inferno“, am Höllenwasserfall des Rio Belmonte endlich so weit:
Zitator Prinz Max:
In dem dichten Urwalde unter rankenden schönen blühenden Gewächsen war ein
junger Botokude von 20 bis 30 Jahren begraben, einer der unruhigsten Wilden. Er
hatte oft Feindseligkeiten herbeizuführen gesucht, war aber nachher an einer
Krankheit, ich glaube an Blattern, gestorben. Wir befreyten den merkwürdigen
Schädel aus seiner Gefangenschaft. Obgleich ich alle mögliche Sorgfalt aufgewandt
hatte, diese Nachgrabungen geheim zu halten, so verbreitete sich das Gerücht
davon schnell und erregte großes Aufsehen unter den ungebildeten Menschen.
Mehrere kamen und forderten den Kopf zu sehen, den ich aber sogleich in meinem
Koffer verborgen hatte, und so schnell wie möglich nach Villa de Belmonte hinab zu
senden suchte.
Erzähler:
Der Kupferstich eben dieses Schädels wird später die erste Seite seines
Reiseberichtes mit einer Widmung an seinen Mentor Professor Blumenbach zieren.
Musik
Erzähler:
Die Rückreise nach Salvador führt mich mitten durch das letzte Siedlungsgebiet der
Botokuden. Eine melancholische Reise entlang des Rio Belmonte, der heute Rio
Jequitinhonha heißt. In dem gleichnamigen Städtchen, das zu Zeiten der Reise von
Prinz Max der vorgeschobenste Militärposten der portugiesischen Eroberer ist, soll
Quäck in den Besitz von Prinz Max gekommen sein. Ich habe eine Verabredung mit
Solange Pereira. Sie bemüht sich seit Jahren um eine Städtepartnerschaft zwischen
Jequitinhonha und Neuwied. Auf ihr Betreiben ist der Schädel von Quäck 2011 nach
Brasilien zurückgekommen. Die Nacht im einzigen Hotel am Ort ist kurz. Die feuchte
Luft steht, der Strom ist ausgefallen, ideale Bedingungen für einen Moskitoangriff
nach dem anderen.
Atmo 23:
Frühstücksraum.
19
Erzähler:
Am nächsten Morgen erwartet mich Solange Pereira schon im Frühstücksraum. Die
kleine, agile Frau will mir ihre Stadt zeigen.
O Ton 24 Solange (bras.)
Sprecherin 2 - Übersetzung Solange:
Wir befinden uns hier im Stadtzentrum von Jequitinhonha und gehen jetzt in
Richtung Fluss. Und da vor uns sehen wir das Denkmal für Prinz Maximilian zu Wied.
Hier zur Linken die Borun Quäck Allee. Borun Quäck ist der eigentliche Name der
Botokuden. Botokudo war nur ein abwertender Name der Portugiesen. Deshalb
Borun Quäck Allee. Zur linken geht die Allee weiter, zur rechten der Fluss und
dahinter das Naturreservat „dunkler Wald“, das ist unser ganzer Stolz. Und hier in der
Mitte des Denkmals ist eine Erinnerungstafel. Die ehrt Prinz Maximilian und Quäck
und hier stehen die sieben Indianervölker, die 2011 hier waren, um die sterblichen
Überreste von Quäck zu empfangen. Wir kennen ja nur das Schicksal von Quäck,
nachdem er Prinz Max getroffen hat. Und er sagte nur, er sei weggegangen. Also ein
Flüchtling. Er ist Maximilian freiwillig gefolgt, wurde gut behandelt, die waren
Freunde, und darin liegt auch etwas Schönes, diese Menschlichkeit zwischen zwei
Adligen, der eine europäischer, der andere indianischer Adel.
Erzähler:
Ein sehr romantischer Blick auf diese Freundschaft. Vielleicht Gewissensbisse? Das
Bemühen um Wiedergutmachung? Solange Pereira ist die Nachfahrin des ersten
portugiesischen Militärkommandeurs aus den Zeiten des „gerechten Krieges”. Lange
her. - Und auch wieder nicht. Der Taxifahrer, der mich zum Busbahnhof bringt, hält
mich für einen Amerikaner. „Die finanzieren hier ein Kinderheim und nehmen immer
Kinder in die USA mit“, sagt er.
Atmo 24:
Bus
Erzähler:
Die Fahrt im Überlandbus an den Atlantik entlang des Rio Belmonte geht durch
unberührte Wälder, hier und da malerische Fazendas, als blättere man sich durch die
Kupferstiche aus Prinz Max Prachtausgabe seiner Reiseberichte.
Zitator 1 - Prinz Max:
Leider haben die Indianer ihre Originalität verloren. Auch bedauerte ich nur, da nicht
ein Krieger uns hier entgegentrat, die Federkrone um den Kopf, mit Armbinden und
bunten Federn geschmückt, den kräftigen Pfeil und Bogen in der Hand; statt dessen
wurde man von den Abkömmlingen jener Anthropophagen mit dem portugiesischen
Gruß: A Deos bewillkommnet und ich fühlte mit Kummer den Wechsel alles
Irdischen, der diesen Völkern mit dem Abfall von ihren rohen barbarischen
Gebräuchen auch ihre Originalität raubte und sie einem jetzt kläglichen Mittelding
heruntersetzte.
Atmo 25:
Bus
20
Erzähler:
Nach nunmehr 7000 km Spurensuche in Sachen Quäck bin ich wieder in Salvador.
Am Tag meiner Abreise bleibt noch Zeit für einen kurzen Besuch im „Convento do
Carmo“, einem Karmeliterkloster hoch über der Altstadt des „schwarzen Roms“, wie
Salvador wegen der vielen barocken Kirchen auch genannt wird. Hier bereiteten
Quäck und Maximilians Hofjäger über Monate die Verschiffung der Reisebeute vor:
circa 80 Amphibien und Reptilien, 468 Arten Vögel in 2500 Exemplaren, 82
Säugetierarten und unzähligen Pflanzen und Samen. Prinz Max selbst hat Brasilien
schon vor ihnen verlassen.
Zitator 1 - Prinz Max:
Nachdem ich von meinen Bekannten Abschied genommen, begab ich mich am 10ten
May Abends an Bord, und der Schiffs-Captain Betencourt lichtete noch vor Nacht die
Anker. Ein frischer günstiger Wind wehete aus der Bahia de Todos os Santos hinaus,
man zog alle Segel auf und schnell schwand die Stadt aus unserer Nähe.
Atmo 26:
Hotel
Erzähler
Heute ist das Karmeliterkloster ein Luxushotel mit Pool im Kreuzgang. Ganze zwei
Glaubensbrüder sind übriggeblieben und müssen die Hintertür für einen Rundgang
durch ihr ehemaliges Reich nutzen. Beto und Alberto.
Atmo 27:
Alberto schließt Eisentür auf
O Ton 25 Frei Alberto (bras.)
Sprecher 1 - Übersetzung Frei Alberto:
Heute nutzt das Hotel diesen Teil als Bar. Und oben dann die Mönchszellen. Ich weiß
gar nicht genau wie viele Mönche hier gelebt haben. Aber bestimmt hundert, die
Infrastruktur dafür ist da. Und der Teil hier unten war so etwas wie eine Schule, für
die Kinder aus der Umgebung. Eine Art Berufsschule. Und dann noch eine Etage
tiefer wohnten die Sklaven, die den Mönchen bei der Arbeit halfen.
Atmo 28:
Frei Beto redet im Hintergrund, blättert in alten Unterlagen
Erzähler:
Hier müsste auch Quäck gewesen sein. Doch so lange Frei Beto auch in alten
Papieren blättert, eine Eintragung über Quäck ist nicht zu finden. Bis heute sind die
Archive des Convento do Carmo aus Geldmangel nicht erschlossen.
Erzähler:
Quäcks Ankunft in Neuwied hingegen ist gut dokumentiert. Am 12. Februar 1818
schreibt eine Neuwieder Zeitung mit dem merkwürdigen Namen „Aus dem Reich der
Todten”:
21
Zitator 2
Unglaublich schnell verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft eines Wilden
durch die Stadt. Das Gebäude, worin er sich befand war den ganzen Tag, so wie
auch an den nächstfolgenden von dichten Menschenmassen belagert, sein Zimmer
nie leer... Auf Verlangen des Prinzen nennt er die aus seinem Vaterlande
mitgebrachten Thiere in seiner Muttersprache, ahmt ihre Stimmen auf das
täuschenste nach und sang, nachdem er einige Sekunden gezögert hatte, seinen
Nationalgesang, wobei er die rechte Hand auf das Haupt, die linke ans Ohr legte.
Erzähler:
Im Palais zu Neuwied wird eigens ein öffentlich zugänglicher Raum eingerichtet, wo
Quäck zu besichtigen ist. Schloss Mon Repos wird zum Anlaufpunkt von
Wissenschaftlern und Künstlern. Quäck wird dem Publikum als „erste unter den
Naturseltenheiten Brasiliens, die der Prinz in Neuwied versammelt hat“, vorgestellt.
Und auch Prinz Max selbst erfährt durch die Anwesenheit des Indianers
Aufmerksamkeit in der Gelehrtenwelt. Er steht in regen Briefverkehr mit seinem
Mentor Professor Blumenbach, der sich in einem Brief vom 10. Mai 1819 für das
großartige Geschenk des ungeheuren Botocuden-Ohrklotzes bedankt und für das
Souvenir „aus der Haarkrone Ihres treuen Quäcks“ „Noch hatte ich keine Probe von
Brasilianerhaar”, schreibt er.
Erzähler:
In den nächsten Jahren hilft Quäck Prinz Max bei der Erstellung eines Lexikons der
Botokudensprache, 1820/21 erscheinen dann die Reiseberichte des Prinzen, ein
Prachtwerk in rotem Saffianleder mit Goldschnitt und Goldprägung im Empirestil. Auf
der Subskriptionsliste stehen neben Humboldt und Goethe auffallend viele Ärzte. In
Neuwied bemüht sich Prinz Max indes weiter um die Zivilisierung seines Dieners.
Aber die Abrichtung zum Lernen zeigt keine große Wirkung.
Sprecherin 2 - Zitat Carmen Sylva:
Der mitgebrachte eingebohrene Amerikaner stellte einen Beweis seiner besonderen
Rasse, indem er seine Unkundigkeit in der Zahlenwelt äußerte. Immer wenn man ihn
aufforderte zu zählen, sagte er eins, zwei, drei, viele, viele...
Erzähler:
schreibt Prinz Max' Großnichte Carmen Sylva. War es Sehnsucht, Einsamkeit,
Langeweile? Quäck erscheint zunehmend apathischer:
Sprecherin 2 - Zitat Carmen Sylva:
Quäck hatte sich auch ziemlich dem Trunke ergeben und sich einmal auch beinahe
den Tod geholt durch zu enge Bekanntschaft mit Seifenspiritus, den er bei seinem
Herrn gefunden...
Atmo 29:
Weinlokal Neuwied
Erzähler:
Fast zehn Jahre nach seinem Vortrag im Museum König treffe ich Dr. Hermann Josef
Roth in einem Weinlokal in Neuwied wieder. Wir sind zu einem Ausflug an die
Westerwälder Seenplatte verabredet.
22
O Ton 26 Dr. Roth
Also der gute Quäck hat natürlich auch zwischendurch Langeweile gehabt, er hat es
ja nie geschafft eine Familie zu gründen, auch klar aus welchen Gründen in der
damaligen Zeit, und dann vertrieb er sich die Zeit indem er die Kinder belustigte mit
Spielen, die er aus Brasilien mitgebracht hat. Beliebt war zum Beispiel, dass er
Flitzebogen, wie man hier sagt, anfertigt hat und dann damit geschossen hat und
denen gezeigt, wie das geht und so. Diese Seite vom Quäck hat sich natürlich ins
Gedächtnis der älteren Neuwieder eingegraben, das wird gern erzählt. Aber die
dunkle Seite ist, dass er dem Alkohol verfiel, und das nahm dann wirklich Überhand,
sodass es einen schriftlichen Erlass des Fürsten gab, an alle Gastwirte hier, ich
müsste es zitieren, ich kann das jetzt nur aus dem Gedächtnis sagen, wo die
Gastwirte dringend darum gebeten werden, gleichgültig unter welchem Vorwand dem
keinen Alkohol auszuschenken.
Zitator 2
Aus den Wöchentlichen Neuwiedschen Nachrichten Nr. 21 vom 23. Mai 1834:
„Sämtliche hiesige Wein –und Gastwirthe werden ergebenst ersucht, dem Brasilianer
Queck weder für Geld, noch sonst auf Bezahlung Anderer, geistige Getränke zu
verabreichen, indem ihm alles zu seinem Unterhalt Erforderliche reichlich gegeben
wird. Neuwied den 22.Mai 1834”.
Atmo 30:
Waldschlösschen Seeburg, Westerwald, Schritte durch das Gras, ein Hund bellt
Erzähler:
Nach einer schweigsamen Autofahrt erreichen wir Schloss Seeburg. Über den Seen
steigt der Nebel auf, das gelbe Waldschlösschen, ein gedehntes Hofgut, leuchtet in
den ersten Sonnenstrahlen. Wir spazieren durch die verwunschene Landschaft. Roth
erzählt von den gemeinsamen Jagdausflügen des Prinzen und seines Dieners, aber
mir geht der Erlass des Neuwieder Hofes vom Mai 1834 nicht aus dem Kopf. Hieß es
nicht immer, Quäck sei in der Sylvesternacht des Jahres 1833 verunglückt?
O Ton 27 Dr. Roth
Ja, diese Geschichte, ist soweit ich mich entsinne, erstmals von der Carmen Sylva
aufgetischt worden, das muss so umgangsprachlich in Neuwied aufgekommen sein,
man wusste dass der Quäck eben alkoholabhängig ist, und dann passt das halt
gerade gut den in der Sylvesternacht sterngranatenvoll aus dem Fenster stürzen zu
lassen. Es entspricht aber nicht den Tatsachen, er ist eben dann an der
Leberzirrhose im Sommer des betreffenden Jahres, also ein halbes Jahr nach
Sylvester gestorben in Neuwied.
Atmo 31:
Bernd Willscheid sucht nach einer alten Ausgabe der Zeitung im Reich der Todten
23
Erzähler:
Wir sind wieder in Neuwied. In der Cafeteria des Roentgen-Museums erzählt
Museumsdirektor Bernd Willscheid wie er der Legende vom Sylvestertod Quäcks ein
Ende setzte.
O Ton 28 Bernd Willscheid
Es hat sich ja dann bestätigt. Er ist im Sommer ja gestorben. In dem Sterbebuch der
katholischen Kirche steht ja dann doch eine andere Krankheit. Die aufgeführt ist. Ich
müsste jetzt noch mal nachgucken, Leber, irgendwas mit Leber. Ja und wir haben
dann Zeitungen durchsucht, und so haben wir dann auch tatsächlich den Eintrag von
Quäck gefunden. Die Sterbebücher von der katholischen Kirche liegen in Trier, und
dort hat man dann auch mal nachgesehen, und die haben tatsächlich den Eintag,
den Todeseintrag von Quäck gefunden. So dass wir also den Todeseintrag hatten
und auch diesen Zeitungseintrag mit seinem Sterbedatum.
Erzähler:
Prinz Max kommt nicht bei zur Beerdigung. Er ist unterwegs auf einer neuerlichen
Forschungsreise bei den nordamerikanischen Indianern. Den Tod seines Dieners
kommentiert er ein halbes Jahr später:
Zitator 1 - Prinz Max:
Leider ist in meiner Abwesenheit mein guter armer Quäck (der Botokude) gestorben.
Mein Bruder Karl hatte glücklicherweise kurz vorher ein trefflich sprechend ähnliches
Bild in Öl gemalt, die Erinnerung bleibt uns nun recht lebhaft an ihn. Ich würde gern
einen Nordamerikaner mitgebracht haben, allein dies war nicht leicht, da diese Leute
leicht Heimweh bekommen und man sie alsdann oft zurücksenden muss, welches
eine Menge Kosten verursacht.
Erzähler:
Prinz Max sieht nach seiner Rückkehr nur den Schädel seines Dieners wieder. Er
vermacht ihn zu wissenschaftlichen Zwecken der anatomischen Abteilung der
Universität Bonn. Und so interessiert nach dem Tod des Botokudenindianers Quäck
nur das, was auch zu seinen Lebzeiten im Mittelpunkt des Interesses stand: nicht der
Mensch, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis.
Absage
O Ton 29 Dr. Roth
Dann geb' ich da nur zwei Schlagworte: Die Geschichte des Quäck könnte man ja
auch laufen lassen unter der Überschrift: misslungene Integration, von Migranten,
Asylanten. Oder: die Schädelgeschichte: Ruhe sanft in der Vitrine. Stell dir mal vor,
wenn der da im Herbst auf der Entenjagd da an die Seenplatte ging mit dem Nebel
und allem. O Gott, der arme Kerl, Senhor Goldmann, como vai?
24