23 Kaspar Karagöz Pulicinell’ Multikulturelles Intermediärobjekt in der Persönlichkeitsentwicklung verhaltensauffälliger Migrantenkinder Milan rennt mit ruckartigen Bewegungen zuckend die Treppe hinauf und hinunter. Wird er dazu angehalten, in einen Reif zu sitzen, knallt er diesen lärmend zu Boden und kreischt dazu. Amir hat sich inzwischen auf den Bauch gelegt und trommelt mit beiden Fäusten auf den Boden, während Dorissa die Lehrerin nachäfft und das Gelächter auf sich zieht. Dann taucht der Kaspar auf, mit einem Leintuch wird eine Bühne improvisiert. Sofort verstehen alle Kinder, worum es sich handelt, und beteiligen sich aufmerksam an diesem Spiel. «Hast Du keine Verwandten, Gasparko? Nein (weinerlich), gar keine Verwandten (schluchzt erbärmlich), alle tot und gestorben (heult), alle! Ausser meiner Frau, den Kindern und Neffen, Nichten, Tanten und Onkeln, der Grossmutter und dem Grossvater und all den Cousins und Cousinen … sonst sind alle gestorben und tot.» (Anderles Marionettentheater) Der Anthropologe Joel Sherzer, der sich mit Clownähnlichen Charakteren in epischen Dramen befasst hat, bezeichnet diese als soziolinguistische Trickster. In Sherzers Forschungen wird der indonesische Dalang beschrieben, der Sanskrit benutzt, altes Javanesisch, sogar Holländisch, Französisch, Englisch und Japanisch. Die Schattentheaterpuppen des türkischen Die schlaue Person Kaspar entstand aus Karagöz-Theater sprechen mit dem Akzent des Ottodem Volksschauspiel als slawischer Narr manischen Reiches, also Albanisch, Armenisch, GrieGasparko, im türkisch-islamischen chisch, Kurdisch, Persisch, Arabisch, Zigeuner Dialekt Raum und in der semitischen Welt als und Jiddisch. Die brasilianischen Mamulengo-Puppen Karagöz. Im deutschen Sprachgebiet ist reden den portugiesischen Akzent des Nordostens, der er im 17. Jahrhundert als Meister HämGrossstädte San Paulo und Rio de Janeiro. Traditiomerlein bekannt, in Italien als Pulcinella nelle belgische Puppen reden den lokalen Dialekt und im britischen Puppentheater in Walloon ebenso gut wie diverse französische Dialekte. Punch and Judy. Bis in die dreissiger In Papa Manteos-Puppentheater in New York City Jahre vorbildhaft und humorvoll eingespricht der Pupi sizilianische, italienische und englisetzt, muss er im Dritten Reich als politi- sche Dialekte, zwischen denen er hin und her wechselt: scher Erzieher herhalten – wo er auch als jüdischer Widerstandskämpfer mit «Mio caro Ricardo. Como sono felice. You’re in Love seinem Meister Felix Fechenbach aufwith me and I’m in Love with you! Please, please o o taucht. Sein Mythos als Schelm ist auch allontanati! Don’t stay near me! Don’t touch me, bei Urvölkern, den alten Griechen, den please! I hate you! Oh, I will never forget him! Non Chinesen und Japanern bekannt. Wie dimentichero mai il paladino Rolando!» wir sehen werden, ist Kaspar ein Sprachgenie. Eingebettet in ein Ritual, Vom hiesigen Kasperle-Theater kennen wir die absurlässt sich sein multikulturelles Talent den Kapriolen: eine Sprache gespickt mit Wortspielen, sofort erkennen. befreit von rationalen Regeln, wie das unbekümmerte Schwerpunkt aus ergebe sich eine strukturelle Distanz zum Dargestellten, welche erlaube, uns besser mit ihm identifizieren zu können. Für Rothschild ist die Ritualisierung der Narrenfunktion von zentraler Bedeutung. Viele Völker kennen solche Riten in recht unterschiedlichen Varianten. So erlaubt es eine jüdische Tradition dem «Badchen» (einem ausgewählten Spässetreiber) an Hochzeiten Stimmung zu machen. Dabei kann er mit oft schwarzem Humor zur Belustigung der Teilnehmenden den Anlass in ein Begräbnis verwandeln. Ein nordamerikanischer Indianerbrauch erlaubt ausgewählten Clowns immer genau das Gegenteil von dem zu machen, was eigentlich erwartet wird. Dazu zählen auch obszöne Gesten, welche Tabubrüchen gleichkommen. Sprechen der Kinder. Die Fehlleistungen in der Sprache pendeln von ernsthaften Reflexionen über Wortdeutungen bis hin zu lustigen Verwandlungen – nicht selten haben die daraus entstehenden Reime eine tiefere Bedeutung. Weil der Kaspar von seinen kleinen Zuhörern und Zuhörerinnen korrigiert wird, bekommen diese Raum für Reflexion und Lernschritte. Ein Beispiel aus dem englischen Sprachraum: – Now tell me everybody, what do you call these? – Sausages! – Ah yes. But I have to call them swasages, you know why? – Why? – Because I can’t say sausages. – You just said it. – No, I said Sawages, I can’t say Sausages. Einbindung aggressiv-alberner Kinder in das Narrensetting Wir erkennen den Kaspar schon im Begriff «Klassenkaspar», den die auffälligen Kinder übernehmen müssen. Auch wenn das Rollenmodell nervt, so geht es darum, dieses als kreative Leistung anzuerkennen und zu versuchen, es in ein Setting einzubinden. Erst wenn wir verstehen, dass der Antrieb zu aggressivalbernem, auffälligem Verhalten Unsicherheit und Angst vor dem Versagen ist, können wir Abhilfe schaffen. Die Eigenschaft des Narren ist nach Ansicht des Psychoanalytikers Berthold Rothschild eigentlich nur dann evident, wenn dieser sich aus einer gewissen metaphorischen Distanz darstellt (Der Narr, S.121). Der Narr nehme den «Als-Ob-Charakter» ein und spiele uns ein «Als-ob-Ereignis» vor, und zwar im rituell eingebetteten Rahmen (Theater, CD, TV). Dar- Rituale wie diese finden sich in veränderter Form in der Pädagogik. In ihrer Kartei zur Behandlung von ADS-Kindern schlägt die Kinderneurologin und Rhythmikerin Renate Klöppel das Spiel von «Herrn Gegenteil» vor, als hätte sie es direkt den Ritualen tribaler Völker abgeschaut und adaptiert. Die Kinder einer störungsanfälligen Klasse werden in dieser Lektion dazu angehalten, immer genau das Gegenteil der gestellten Aufgabe zu machen. Schlachtfeld Klassenzimmer Das schier chancenlose Ringen im Gruppensetting oder im Klassenzimmer, welches vielerorts zum Schlachtfeld geworden ist, schreit nach hartem Durchgreifen. Um auffällige Kinder zu disziplinieren, scheint dieses autoritäre Vorgehen das einzige und letzte Mittel zu sein. Um der Abnutzung festgefahrener Muster entgegenzuwirken, begann ich das Rollen- und Theaterspiel, das Psychodrama einzusetzen. Der Kaspar erlaubt mir im lebensfrohen Spiel, trotz starrer Rollen und Kränkungen auf beiden Seiten, mich in den empathischen, bauernschlauen Kerl zu verwandeln. Durch ihn werde ich zur Non-Sense-Poetin, bin dabei gerechtigkeitsliebend und niemals zynisch. Die autoritäre Rolle erfährt einen Bruch. Ich kann die Kinder mit Witz, Ironie und einem Schalk erreichen, den ich mir auch im interdisziplinären Team (Eltern, Schulpsychologen, andere Therapeuten und Therapeutinnen) niemals leisten könnte. Leiter von Psychodramagruppen, die sich an Schulen mit Agressionsbewältigung und Mobbing auseinandersetzen, beklagen, dass sie die Erwachsenen kaum zum Spiel anleiten können. Selten greifen Lehrerinnen oder Leiter von pädagogischen Angeboten spielend ein, sondern reiben sich auf mit verbal festgefahrenen Mustern wie «Spielt doch wieder mal was Sinnvolles»! 24 Schweizer Kinder es als hochnäsig empfinden und ausgrenzen. Es hat für Schweizer Verhältnisse einfach zu gut deutsch gelernt! 25 Frühmann sagt, dass oft schon in den Kindergärten das unmittelbare Lernen überlagert und umgeformt wird durch Hochdeutsch, durch jene Sprache also, die uns bessere Orientierung in der weiteren Entwicklung verschaffen soll. Und dies nicht mit wohlwollender Konnotation, sondern diskriminierend: «Sprich anständig, sag’s auf deutsch!» Einem Objekt wie dem Kaspar müsste nur Leben eingehaucht werden, die Kinder würden die Geschichte aufnehmen und alleine weitertreiben. Deutsche Sprache Wie die Kinder mit ADS /ADHS-Diagnosen erfahren auch alberne, auffällige Kinder Ablehnung und selten Lob – bei Migrantenkindern kommt der übertragene Leidensdruck der Eltern hinzu. Sie sind frustriert über ihre mangelnden Sprachkompetenzen, müssen aber trotzdem Zuhause die Übersetzer spielen. Am Anfang der «Verliererlaufbahn» vieler Migrantenkinder stehen erwiesenermassen Beschämungen und Ausgrenzungen, gekennzeichnet durch häufige Korrekturen von den Autoritätspersonen. Kinder verstummen aber, wenn sie zu viel korrigiert werden. Gepaart mit Schulversagen und Loyalitätskonflikten kann dies zu ernsthaften Depressionen führen. Renate Frühmann (in: Poesie und Therapie) führt Erickson an, der beschreibt, wie Beschämung, kritische Bemerkungen und Demütigungen den Menschen zum Aussenseiter seiner selbst machen. Sie sieht den Auftrag der Therapeutin darin, die Fremdheit der Person mit sich selbst und zur Welt zu korrigieren und aufzuheben. Eine solche Möglichkeit bietet sich im Theaterspiel. Die meisten fremdsprachigen Kinder gehen meiner Erfahrung nach gern auf ein Rollenangebot ein, auch wenn sie die Sprache nicht verstehen. Doch die Realität ist oft anders: Neben dem Unvermögen vieler Erwachsener, selbst wieder spielen zu können, besteht auch die einseitige Forderung, die Integration nur vom Beherrschen der deutschen Sprache abhängig zu machen. Dies ist zu rational und wird vermehrt staatlich verordnet und belohnt. In der Wirklichkeit aber, das geht oft vergessen, herrschen andere Regeln. So hat beispielsweise ein Kind aus Südindien einige Jahre in Deutschland verbracht und dabei die deutsche Sprache so perfekt erlernt, dass die Integration herbeizwingen zu wollen, indem Lehrerinnen schon im Kindergarten Hochdeutsch mit den Kindern sprechen, ist wenig erfolgversprechend. Die Lehrpersonen wehren sich noch vielerorts dagegen, obwohl es im Pflichtenheft steht. Offenbar soll es autoritär wirken, wenn der Dialekt mitten in einem Satz aufgegeben wird. Umgekehrt kommt Gemütlichkeit auf, wenn wieder auf den Dialekt zurückgegriffen wird. Dies bestätigt Frühmanns Aussage, dass das Hochdeutsche nicht als vertraute Sprache daherkommt, auch für uns Schweizer und Schweizerinnen nicht. Kaspars verbales Herumscherzen funktioniert auch hier in beiden Sprachen, sowohl auf Züritüütsch als auch auf Hochdeutsch. Und manchmal wechselt er spielerisch hin und her. Die Kinder rufen Kaspar korrigierende Wörter und Sätze im PausenplatzJargon zu – zu diesem ist übrigens in englischsprachigen Grossstädten wie New York City schon lange das pure Spanisch als Majoritätssprache geworden. Zeichnend schreiben Die Zeichnungen der Kinder ganz unterschiedlicher Herkunft – Portraits von Karagöz Pulicinella – erzählen kleine Geschichten, die in diesem Beitrag nicht weiter ausgeführt werden sollen. Sie geben uns weder feste Befunde auf ADHS noch auf albernes oder auffälliges Verhalten. Aber gemeinsam mit dem Kind eröffnen sie verschiedene Sichtweisen und Wege zu neuen Lösungen. Manchmal verschwindet das Problem schon beim Zeichnen selbst. Es sind Mitteilungen in einer gefühlsnahen Sprache – kleine Tagebücher –, leicht verständlich und trotzdem auch mysteriös. Die Kinder werden sich zeichnend ihrer Umwelt bewusst: Durch Perspektiven, die bedeutsam sind, durch den Prozess der Selbsterfahrung, psychomotorisch durch Farben und Linien. Sie lernen Transferleistungen (Skript, Rhythmik und Musik, Skizzen, Kaspartheater) zu machen. Wir schmunzeln, staunen, erschrecken, lachen und freuen uns als Leser und Leserinnen, als Zuhörer oder Zuschauerinnen. Wenn im Anschluss an das Zeichnen ein Kind fragt: «Geben Sie mein Bild dem Kaspar?», zeigt dies die hohe Popularität des Kaspars, Schwerpunkt live und unplugged, cool und unverändert aktuell. Provokativ albernes Verhalten, in ein Rollenspiel (Setting) und Objektspiel eingebunden, entspricht der adäquaten Befriedigung und dem Annerkennungsbedürfnis aller Kinder. Sie erhalten Lob in einer Rolle, welche sie von der Sprache her nicht überfordert. In vielen Spielsequenzen werden sprachliche und migrationsspezifische Leiden verarbeitet. Kontakt: Marianne Feder Kunst- und Musiktherapeutin GPK Balgriststrasse 21 8008 Zürich Wichtige Nebenrollen Telefon 044 382 16 83 [email protected] Kaspars besonderes Merkmal: er treibt Nebenrollen voran, welche die Störenfriede viel bedeutsamer erscheinen lassen. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb sich Milan und Amir lieber anderen Charakteren als dem des Kaspars zuwenden. In der Gruppenbehandlung haben die beiden angefangen, durch neue Rollen Vertrauen aufzubauen. Sie spielen zur Zeit die Wächter eines Schlosses, das vom bösen Räuber überfallen wird. Aus dem Kaspartheater haben sich neue Rollen entwickelt. Amir spielt den Wachhund. Die beiden haben Verantwortung übernommen, sie müssen die Mädchen (Prinzessinnen) beschützen. Der Kaspar fliegt wie eine bedeutungslose Requisite durch die Luft – manchmal gerade dann, wenn der Hausabwart und der Verwalter vor der Tür stehen. Ihnen könnte erklärt werden, dass die Kunsttherapeutin Edith Kramer die Kunst mit Kindern als zwingend schlampig und von der Improvisation lebend bezeichnet hat. Oder es liesse sich in die dadaistische «Kasparrolle» des Fred Schneckenbauers kriechen und ausrufen: «... Seid ihr alle da? Ai, ai, ai, zuviel der Ehr’ Das ist die ganze Prominenz. Die Frau Professor, der Herr Direktor, der Assessor und die Frau Direktor und alles was sonst mit Tor bezeichnet wird am End!» (Hiermit verabschiedet sich die AuTorin) Quellen Bilder: Migrantenkinder aus Brasilien, Portugal, Italien, Albanien, Kroatien und der Türkei haben 2006 in einem Industriequartier einer Einschulungsklasse des Kantons Zürich den Kaspar gezeichnet. Literatur: – Feder, M.: Walking Cure, Ethnopsychoanalyse, Verständnis und Wirkung in der Übersetzung fremdsprachiger Lieder – Feder, M.: Journal Psychoanalytisches Seminar PSZ 40/Dez. 2002 – Kultursensibilisierung und Interkulturelle Kompetenzen in der Arbeit mit alternden Migranten in der Psychiatrie, Fachzeitschrift Ergotherapie 6/05 – Frühmann, R.: Metareflexionen zur Überwindung durch poetisches Sagen, In: Poesie und Therapie, Paderborn, Jungfernmann Hrsg. Petzold Orth, 1985 – Klöppel, R. / Vliex, S.: Helfen durch Rhythmik, Gustav Bosse Verlag, 2004 – Rothschild, B.: Narr und Gesellschaft, Abschied vom Narren? Der Narr, Studia Ethnographica Friburgensia 17, 1991 – Sherzer, D. und J. (Hrsg.): Humor and Comedy in Puppetry, Bowling Green, Popular Press, Ohio 43403, 1987 26
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