Kaspar Hauser beim Schloss Wanghausen

Kaspar Hauser beim Schloss Wanghausen
Die Bedeutung der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine von ÖsterreichEste und der europäischen Hochfinanz für sein tragisches Schicksal
„Meine feste Überzeugung ist, dass nicht Baden, nur Bayern ein
sittliches Interesse an der Beseitigung der landläufigen HauserGeschichte hat …“
Hauser-Kritiker Antonius van der Linde 1886
„So unerwartet für unsere Zeiten solch eine Begebenheit sich ereignen
konnte, so ist es doch beruhigend, dass die Justiz unausgesetzt diese Sache verfolgt, und dass durch die allerhöchste Gerechtigkeitsliebe Seiner
Majestät des Königs von Bayern Licht in dieses Dunkel kommen
möge …“
Hauser-Verteidigerin Caroline von Albersdorf 1839
© Dr. Werner Robl, Berching, Mai 2015, aktualisiert im Dezember 2016
Inhaltsverzeichnis
Hinführung..............................................................................................................................................4
Die Wanghausen-Theorie.......................................................................................................................9
Kaspar Hauser und seine Herkunft.......................................................................................................12
Hinweise dafür, dass Kaspar Hauser im Innviertel bei Burghausen interniert war................................14
Hinweise für eine Internierung Kaspar Hausers bei Wanghausen an der Salzach:................................22
Wanghausen Schauplatz der „Napoleoniden-Theorie“?.......................................................................59
Kurbayerische Patrioten: Die Freiherren von Prielmayer von Priel.......................................................69
Johann Nepomuk von Prielmayer: Fall und Wiederaufstieg.................................................................72
Erzherzogin Maria-Leopoldine von Österreich-Este, Kurfürstin von Bayern..........................................79
Maria-Leopoldine und ihr erster Sohn..................................................................................................87
Der Zeuge Johann Samuel Müller.........................................................................................................90
Kaspar Hausers Verlies bei Wanghausen..............................................................................................96
Die Dalbonne, ihr französischer „Major“ und Maria-Leopoldine........................................................101
Die Dalbonne und Johann Samuel Müller im Haus Majthényi............................................................110
Die Niederschlagung der Affäre Dalbonne..........................................................................................115
Der von Müller genannte, bei den Ermittlungen übergangene Mittäterkreis ....................................124
Der Pfarrer Ludwig Würth...................................................................................................................125
Der Publizist Eduard Maria Oettinger.................................................................................................128
Der Landgerichts-Advokat Christian Lampert.....................................................................................131
Pfarrer Johann Adam Leydel...............................................................................................................133
Landgerichts-Aktuar Karl Mayer.........................................................................................................135
Zur Glaubwürdigkeit des Johann Samuel Müller.................................................................................138
Die Wegsperrung Kaspar Hausers aus Sicht der Beteiligten................................................................141
Die Freimaurerei und die Erweckungsbewegung als Tathintergrund..................................................143
Das Rätsel des „Universitätsfreunds“ .................................................................................................145
Die Geschichte mit dem Tattenbach-Erbe...........................................................................................148
Der ominöse Kommilitone – ein Anti-Bonapartist?.............................................................................151
Jakob von Abele, der Mitstudent Karl Mayers in Landshut............................................................151
Julius Carl Graf von Soden und das Erlanger Freimaurertum.........................................................154
Karl Mayers Verbindungen nach Erlangen..........................................................................................159
Karl von Soden und die Sache mit Gunzenhausen..............................................................................162
Eine englische Privatdetektivin: Caroline von Albersdorf....................................................................167
Geburt Kaspar Hausers in Ansbach?...................................................................................................175
Ein weiteres Mal: Der Ermittlungsunwille der bayerischen Behörden ...............................................177
Vertuschung ohne Ende......................................................................................................................182
Schlussfolgerungen aus ihrer Korrespondenz: Maria-Leopoldines Charakter.....................................188
Maria-Leopoldine in der Nähe von Wanghausen................................................................................190
Maria-Leopoldine und Napoleon Bonaparte......................................................................................196
Kaspar Hausers Schicksal unmittelbar nach seiner Geburt ................................................................199
Die Bedeutung der Protestanten im Hausruckviertel für den Fall Kaspar Hauser...............................205
Geld regiert die Welt – auch Bayern!..................................................................................................209
Das ungarische Experiment mit Kaspar Hauser...................................................................................213
Das „Kind Europas“ ein Kind der Familie Rothschild?.........................................................................227
Neuauflage: Kaspars Mythos als ungarischer Magnat........................................................................234
Die zweite Ungarnreise Hickels und ihr planmäßiges Scheitern..........................................................239
Die Agententätigkeit Lord Stanhopes für Maria-Leopoldine...............................................................242
Johann Ludwig Klüber und der Fall Kaspar Hauser.............................................................................250
Stanhope in der Zwickmühle..............................................................................................................261
2
Das Leben des Gerichtspräsidenten Paul Anselm von Feuerbach.......................................................268
Paul Anselm Feuerbach und der „Erbprinz“ Kaspar Hauser ...............................................................275
Lord Stanhope und der Tod Kaspar Hausers.......................................................................................282
Die Familien von Arco und von Berchem in der Mordsache Kaspar Hauser........................................290
Arnold von Mieg und das große Arrangement in Bayern....................................................................294
Ferdinand Sailer und der tiefe Fall des Fürsten von Oettingen-Wallerstein........................................304
In dubio pro reo..................................................................................................................................316
Die Verbrechen an Kaspar Hauser – eine summarische Darstellung...................................................318
Maria-Leopoldine als Projektionsfigur für Kaspar Hauser...................................................................328
Ausblick...............................................................................................................................................333
Nachträge:...............................................................................................................................................338
Weltliteratur oder Nebelkerze? Über Jakob Wassermanns „Caspar Hauser“.....................................338
Die Vollstreckungsmethoden der Geheimbünde im 18./19. Jahrhundert...........................................343
Kaspar Hauser und Caroline von Albersdorf?......................................................................................345
Der Kupferstecher Angelo alias August Dalbon...................................................................................352
3
Hinführung
Vor fast 200 Jahren, exakt am Dienstag nach Pfingsten 1828, kritzelte in einer Nürnberger Polizeiwache ein staksiger, des Sprechens
und Gehens kaum mächtiger Bursche seinen Namen auf einen Zettel:
„Kaspar Hauser“. Dabei stammelte er vor sich hin: „Ich möcht a
söchäna Reiter wern, wia mei Voter gwen is …“
Wer kennt ihn nicht, diesen Findling Kaspar Hauser?
Wer er war, woher er kam, welches Familienschicksal er in sich
trug, beschäftigte bald nach seinem Auffinden ganz Europa - die einfachen Leute ebenso wie Justiz und Polizei, Bürgerliche und Adelige,
selbst Fürsten und Könige. Und dies geschah nicht nur zu seiner Zeit,
sondern weit darüber hinaus. Alsbald rankten sich unzählige Anekdoten, Legenden und Theorien um Kaspar Hausers Existenz. Doch je
mehr man sich darum bemühte, Licht in das Dunkel der Abstammung
zu bringen, desto weniger gelang es. So blieb dieser seltsame Findling
bis zum heutigen Tag ein Unerkannter, ein Rätsel!
Seinen Grabstein im Ansbacher Stadtfriedhof zieren die lateinischen Worte, die einst Regierungspräsident Joseph von Stichaner
verfasst hat:
HIC JACET CASPARUS HAUSER
AENIGMA SUI TEMPORIS
IGNOTA NATIVITAS
OCCULTA MORS
MDCCCXXXIII
Abb. 1: Kaspar Hauser. Kolorierte
Federzeichnung von Johann Georg
Laminit, 1828.
HIER LIEGT KASPAR HAUSER
DAS RÄTSEL SEINER ZEIT
UNBEKANNT SEINE HERKUNFT
GEHEIMNISVOLL SEIN TOD 1833
Dabei standen die Chancen zunächst gar nicht schlecht, seine Herkunft aufzudecken, denn die Suche begann bereits unmittelbar nach
seiner Ankunft in Nürnberg. Doch selbst diejenigen Leute, welche
sich um ihn kümmerten und ihn deshalb am allerbesten kannten,
wurden sich über seine Person nicht einig und zerfielen am Ende in
zwei verfeindete Lager: Den Anti-Hauserianern, wie man sie später
nannte, galt Kaspar als Wichtigtuer, Rosstäuscher und Hochstapler,
den Hauserianern als eine bedauernswerte, vom Schicksal getroffene Kreatur: ein Opfer der Sensationshascherei und des Unverständnisses seiner Mitmenschen.
Als Kaspar Hauser nach fünf mehr oder weniger fruchtlos verbrachten Jahren im Ansbacher Schlossgarten einen tragischen Tod
fand, war man schnell mit Erklärungen zu Hand, die das „de mortuis
nil nis bene - über Tote nur im guten Ton“ grob missachteten:
Er selbst hätte womöglich Hand an sich gelegt, um Aufmerksam-
Abb. 2: Grabmal Kaspar Hausers auf
keit zu erhaschen!
dem Ansbacher Stadtfriedhof.
4
Diese Unterstellung, die man durchaus als boshaft bezeichnen kann und sich obendrein in einer ausge sprochen Hauser-unfreundlichen Pressearbeit niederschlug, rief aber auch Gegenreaktionen hervor:
Freunde und Gönner erklärten den seltsamen Kauz zum unschuldigen Opfer und verklärten ihn ob seiner
kindlichen Naivität. Viele mögen dabei mitmenschliche Motive getragen haben. Der eine oder andere
überzog jedoch, stilisierte den Toten hoch zum Märtyrer der bürgerlichen Revolution in Deutschland
oder zum Bauernopfer rücksichtsloser Großmachtpolitik.
Früh dominierte in der öffentlichen Diskussion die Meinung, Kaspar sei ein bedeutsamer Spross des
südwestdeutschen Hochadels, der wahre Erbe des Großherzogtums Baden, der durch einen perfiden
Plan um Titel, Thron und Erbe betrogen worden war. Wir werden darauf zurückkommen. Da es nicht ge lang, hier kurzfristig und unwiderlegbar Klarheit zu schaffen, wucherte alsbald das Dickicht an Theorien,
Spekulationen, „Entdeckungen“ über seine Herkunft und sein Leben vor sich hin und bildet heute jenen
dichten, nahezu undurchdringlichen Wust von weit über 3000 belletristischen, wissenschaftlichen und
pseudowissenschaftlichen Publikationen, in denen man sich vor allem deshalb leicht verlieren kann, weil
ein guter Teil davon ausgesprochener Tendenzliteratur entspricht, d. h. Machwerken, die mit wenig lauteren Motiven verfasst wurden. Kaspar Hauser wurde am Ende zur bloßen Projektionsfigur, z. B. zum politischen Joker gegen Aristokratie und Monarchie, wohingegen der Mensch Kaspar Hauser ganz und gar
auf der Strecke blieb!
Nun sollte man annehmen, dass nach Überwindung feudaler Herrschaftsformen und zwei überstandenen Weltkriegen in Deutschland dieses Überstrapaziert-Werden ein glückliches Ende gefunden und
den Weg zu einem entspannteren und unvoreingenommeneren Hauser-Bild frei gemacht hätte, doch
weit gefehlt!
Inzwischen droht Kaspar Hauser neues Ungemach, verkommt er doch in einer durchökonomisierten
Welt zunehmend zu einem Spielball kommerzieller Interessen, zu einer Art von Markenzeichen, mit
dem man treffliche Renditen erzielen kann!
Ganz unverkennbar geht es heute vielfach nur
darum, das Kulturlabel „Kaspar Hauser“ mit medialem Aufwand zu vermarkten, lässt sich doch damit
im Gegensatz zur bloßen historischen Recherche
Geld verdienen. Dem unglückseligen Drang zur Vermarktung entgeht in unseren Tagen selbst manches
„Kaspar-Hauser-Festival“ nicht. Nicht selten werden
Programmhefte mangels „Stoff“ mit haarsträubenden Inhalten gefüllt. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an ein öffentliches Referat mit dem
ebenso reißerischen wie unsinnigen Titel „Kaspar
Hauser und Adolf Hitler“, aber auch an die von bekannten Massenmedien in Auftrag gegebenen „SpeAbb. 3: Kaspar Hauser in Ansbach.
zialgutachten“, deren Ergebnisse - nie in einer seriösen Fachzeitschrift wissenschaftlich publiziert - lange Zeit sensationshaschend ausgeschlachtet und
über die diversen Kanäle auflagesteigernd weiterverbreitet wurden. Erst jüngst ist es etwas ruhiger um
Kaspar Hauser geworden, scheint doch inzwischen das Thema etwas „abgelutscht“. Dabei ist das Ge heimnis um den Findling so evident wie eh und je.
Die vorliegende Übersichtsarbeit bemüht sich, billige Effekthascherei zu vermeiden und sie verspricht
von vornherein nicht, alle offenen Fragen zu beantworten. Wegen der thematischen Beschränkung setzt
die Lektüre die Kenntnis wenigstens der wichtigsten biographischen Eckdaten Kaspar Hausers voraus.
Wer sich zu Hausers Eckdaten auf die Schnelle online informieren will, sieht heute als Erstes in der Online-Enzyklopädie Wikipedia unter dem betreffenden Stichwort nach, sei aber insofern gewarnt, als der
Artikel entgegen allen lexikalischen Gepflogenheiten seit einigen Jahren gezielt in Richtung „BetrügerTheorie“ manipuliert wird und unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit alles andere als Vollstän 5
digkeit und Objektivität ausstrahlt. Es ist geradezu eine Tragik, im Diskussionsteil der Seite miterleben zu
müssen, wie der sich hinter einem Pseudonym versteckende, durchaus gebildete Administrator seinen
intellektuellen Hochmut und seine Häme gegenüber Andersdenkenden auslebt, weswegen er aus
Mangel an emotionaler Intelligenz als Diskussionspartner immer mehr gemieden wird, deshalb zuneh mend zum Monologisieren gezwungen ist und damit die eigenen, mitunter durchaus beachtlichen Rechercheergebnisse konterkariert. Für die vorliegende Arbeit macht dieser Anonymus, der in Stil und Dik tion ganz in der Tradition eines Antonius van der Linde lebt und wie dieser von Interessen im Hinter grund gesteuert wirkt, durch eine ebenso pauschale wie oberflächliche Aburteilung allerdings unfreiwil lig Werbung.1
Mit derartigen Quellen ist Kaspar Hauser erneut in genau die Ecke gedrängt, aus dem er u. E. herausgeholt gehört, nämlich in die Ecke des a-priori-Schuldigen, des abgefeimten Hochstaplers, der seinerzeit
nichts anderes zu tun hatte, als seine Unterstützer und die halbe Welt an der Nase herumzuführen.
Was die haarsträubenden Schlüsse und Behauptungen anbelangt, die Kaspar Hauser betreffen, seien
zur Demonstration noch einige herabwürdigende Beispiele aus dem speziellen Bereich der medizinischen
Stellungnahmen, herausgegriffen, denn dies ist ein Feld, bei dem wir besonders meinen, aufgrund langjähriger Berufserfahrung ein Wörtchen mitreden zu können.
Als wenig gewinnbringend erachten wir z. B. die Veröffentlichung des Psychiaters Karl Leonhardt, 2 der
Kaspar Hauser nonchalant eine „histrionische Persönlichkeitsstörung“ unterstellt – wohl wissend, dass
das Modell der Persönlichkeitsstörungen ein inzwischen veraltetes Artefakt der klinischen Psychiatrie zur
Deskription anderweitig unerklärlicher Phänomene darstellt, und wohl wissend, dass das unterstellte
„Übermaß“ an auffälligen Verhaltensweisen allenfalls an einer „normalen“ Grundgesamtheit zu messen
wäre, der anzugehören Kaspar Hauser aufgrund seiner Kerkerhaft und Sozialdeprivation nicht die ge ringste Chance hatte. Nicht viel anders verhält es sich mit der vom selben Autor unterstellten „Pseudodemenz“. Formal korrekt definiert, bleibt die Diagnose bei Kaspar Hauser schon deshalb eine plumpe Unterstellung, weil zum einen der zuvor genannte Mangel erneut vorliegt und zum anderen der Betreffende
aufgrund einer Ferndiagnose verkrankt wird, ein höchst zweifelhaftes Unterfangen vor allem in der
Psychiatrie!
Auch prinzipiell berechtigtere Feststellungen, etwa das Fehlen von Hypovitaminosen und sonstigen
Mangelzuständen bei Kaspar Hauser, die der Neurologe und Psychiater Günter Hesse zur conditio sine
qua non seiner Kerkerhaft erhob, verlieren ihre Beweiskraft im negativen Sinn, wenn man zugesteht,
dass Kaspar Hauser eben gar nicht lebenslang inhaftiert gewesen sein muss, sondern einige Jahre seiner
Kindheit in relativer Freiheit verbrachte.
Dass er bei der nachfolgenden Dunkelhaft, die man entgegen der Ansicht Hesses durchaus als Isolationsfolter bezeichnen könnte, eine „retrograde Amnesie“ für die Zeit vor seiner Internierung entwickelte,
braucht ebenfalls nicht verwundern. Kaspar Hauser selbst bestätigte diese Art des Gedächtnisverlustes,
wenn er z. B. in einem Polizeiverhör über ein Detail seiner Haft sagte: „Dass mir dies gelehrt worden ist,
davon bin ich lebhaft überzeugt, es ist mir desfalls jedoch durchaus nichts erinnerlich …“3 An anderer Stelle äußerte er sich noch präziser: „Der Zeit meiner Jugend, welche ich außer der Gefangenschaft verlebt,
bin ich mir nicht bewusst; alle meine Erinnerungen rühren aus der Zeit her, wo ich in einem engen Raum
und von aller menschlichen Gesellschaft entfernt gehalten worden bin.“ 4 Die Hauser’sche Amnesie erwies
1 Wir ersparen uns, hier die unzähligen Anmerkungen unter der Gürtellinie aufzuführen, die allerdings einen kritischen Leser nur zur Lektüre stimulieren, nicht davon abhalten dürften. Was das mehrfach vorgetragene, umso
haltlosere Totschlagargument des Antisemitismus anbelangt, so verwahren wir uns allerdings ausdrücklich und
behalten uns im Wiederholungsfall dieser Falschbehauptung entsprechende Schritte vor.
2 Karl Leonhard: Kaspar Hauser und die moderne Kenntnis des Hospitalismus. In: Confinia Psychiatrica. 13, 1970.
3 Hermann Pies: Kaspar Hauser - Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse, 2 Bände, Stuttgart 1925; Online-Do kument http://gutenberg.spiegel.de/buch/1448/1, keine Angaben zur Seitenzahl, nur Angabe des Kapitels, hier
Kap. 18. Im Weiteren zitiert als Pies, Augenzeugen, Kapitel.
4 Hermann Pies: Kaspar Hauser, eine Dokumentation, Ansbach 1966, S. 174. Im Weiteren zitiert als Pies, Doku mentation, Seitenzahl.
6
sich zwar hinterher als teilreversibel, kostete den Findling aber vermutlich gerade deswegen das Leben.
Über die spekulativen Diagnosen, die Hesse in einem Rundumschlag dem seiner Meinung nach zum Typ
„Flachlandtiroler“ gehörigen Kaspar Hauser unterstellte (Temporallappen-Epilepsie, Depressives Syndrom, Hirnleiden, Simulation, Autoaggression, Exostosen der Schädelgrube, lävoversiver Paroxysmus),
schweigen wir uns lieber aus, mit ernstzunehmender Aufarbeitung hat dies nichts zu tun, schon eher mit
ärztlicher Selbstgefälligkeit. Derselbe Autor fühlte sich übrigens an anderer Stelle auch bemüßigt, Jesus
Christus als religiöse Projektionsfigur ein pathologisches Persönlichkeitsprofil zu unterstellen. Dies sagt
wohl alles.
Doch selbst als „exakt naturwissenschaftlich“ bezeichnete Methoden haben ihre Tücken, wenn sie von
vornherein nicht ganz tendenzfrei projektiert werden. Beispielgebend sind die zur Erbprinz-von-BadenTheorie angestellten Gen-Analysen von 1996 und 2002, mit denen man durch Überstrapazieren der molekulargenetischen Methode zunächst geglaubt hat, alles beweisen zu können, am Ende aber gar nichts
bewiesen und erst recht nichts ausgeschlossen hat.
Nach so vielem Wirrwarr selbst in der modernen Kaspar-Hauser-Forschung sind wir an dieser Stelle
gut beraten, uns ohne Ranküne alle divergierenden Meinungen anzuhören und ihnen jenes Quantum an
Wahrheit und Information zu entnehmen, auf das es ankommt. Dabei wird man paradoxerweise durchaus auch bei ausgesprochenen Hauser-Gegnern fündig. Vornehmlich wollen wir uns aber auf die Primärstimmen konzentrieren und besonders aufmerksam den Worten Kaspar Hausers lauschen, ohne ihm
gleich bei jedem zweiten Wort Unglaubwürdigkeit und Unvermögen zu unterstellen.
Soweit zum eigenen Vorgehen. Wir sind davon überzeugt, dass es gerade Kaspar Hauser selbst ist, der
am meisten zur Lösung seines Falles beitragen kann, selbst nach fast 200 Jahren. Er verstand es sehr
wohl, sich präzise und in den allermeisten Fällen auch wahrheitsgetreu zu artikulieren, und es steht zu
vermuten, dass es mehr an seinen Rezipienten als an ihm selbst lag, wenn sich Missverständnisse einschlichen. Unter diesen Prämissen haben wir es in der vorliegenden Arbeit bewusst vermieden, allzu viel
überflüssige Sekundärmeinung einfließen zu machen.
Für den Einsteiger gibt die Publikation der Historikerin Anna
Schiener von 2010 eine gute, unprätentiöse Erstübersicht. 5 Diese ist
allerdings keine Forschungsliteratur, sondern eine eher an Laien gerichtete Synopse, und sie befasst sich in keiner Weise mit den Inhalten unserer Arbeit. Von Schloss Wanghausen und den weitreichenden Schlüssen, die sich daraus ergeben, konnte die Autorin naturgemäß nichts wissen. Alles in allem entsteht aber durch das subtile
Vorgehen ein gut lesbarer Einstieg in die Thematik und damit ein relativ tendenzfreies Hauser-Bild, bereits ein Fortschritt per se. Besonders wohltuend ist es, dass die Autorin tunlichst vermied, selbst
einen Universalschlüssel zum Verständnis des Geheimnisses „Kaspar
Hauser“ liefern zu wollen.
Nachdem wir jedoch den frühen Schriften über Kaspar-Hauser
den Primat eingeräumt haben, wollen wir darauf hinweisen, dass inzwischen eine ganze Reihe von Werken des 19. Jahrhunderts zum
Thema Kaspar Hauser im Internet kostenlos zugänglich sind, darunter auch fast alle Veröffentlichungen seiner Begleiter und unmittel- Abb. 4: Anna Schiener: Der Fall Kasbaren Zeitgenossen. Siehe z. B. unter dem Stichwort „Kaspar Hau- par Hauser, Regensburg 2010.
ser“ bei „Google Books“ oder „Bavarica - digitale Volltexte der bayerischen Landesbibliothek“.
Im Folgenden sollen nicht alle Aspekte des Lebens Kaspar Hausers neu aufgerollt werden, sondern nur
bestimmten Aspekte. Vor allem wollen wir die komplexen Zusammenhänge herausarbeiten, die seine
5 Anna Schiener: Der Fall Kaspar Hauser, Regensburg 2010. Von den genannten medizinischen Gutachten hat sich
Anna Schiener allerdings u. E. etwas zu sehr beeindrucken lassen.
7
zahlreichen Kontaktpersonen zu ihrem Handeln motiviert haben. Am Ende ist es möglich, Eckpunkte zu
einer neuen Herkunfts-Hypothese liefern, die sich deutlich von der bisherigen Erbprinzen- und der Betrü ger-Theorie abhebt.
8
Die Wanghausen-Theorie
Peter Vornehm, Rektor und Stadtheimatpfleger a. D.
aus Töging am Inn, publizierte im Jahr 2012 im „Oettinger Land“, der heimatkundlichen Reihe des Landkreises
Altötting, das Ergebnis seiner Recherchen im Stadtarchiv
Burghausen, in dem sich aus dem vorigen Jahrhundert
ein Brief-Konvolut zu Kaspar Hauser erhielt. 6 Herr Vornehm gestattete uns freundlicherweise, seine Erkenntnisse zur Herkunft des Findlings in den Grundzügen hier
vorzustellen - Erkenntnisse, die sich unter dem Überbegriff „Wanghausen-Theorie“ subsumieren lassen. Vereinzelt steuern wir dazu eigene Hintergrundinformationen
bei.
Die „Wanghausen-Theorie“ ist im Grunde genommen
kein Produkt jüngster Zeit, sondern stammt bereits aus
dem 19. Jahrhundert. Spätestens seit der Zeit, als das Schloss Pilsach bei Neumarkt in der Oberpfalz als
der Verschlussort des jungen Kaspar Hauser propagiert wurde, geriet die „Wanghausen-Theorie“ in Misskredit und Vergessenheit.
Abb. 5: Peter Vornehm bei der Arbeit.
Es war Philip Henry, 4. Earl of Stanhope und Pair of
England (*07.12.1778, +02.03.1855), der erste Vermutungen in Richtung Wanghausen anstellte. Der germanophile, dauerreisende Engländer spielt im Weiteren noch eine
große Rolle. Stanhope hatte sich seit 1830 des jungen
Kaspar Hausers angenommen und im Dezember 1831 sogar die Pflegschaft für ihn an sich gezogen, brach aber
schon vor dessen Tod mit ihm und sammelte stattdessen
Hinweise, die Hauser posthum als Betrüger abstempelten, wohl um sich selbst vom Vorwurf der Agententätigkeit und Vorteilnahme rein zu waschen. Dabei brachte der
Lord das Innviertel zwischen Burghausen und Tittmoning
als Herkunftsregion ins Spiel. Stanhope fühlte sich sogar
bemüßigt, im Jahr nach Kaspars Tod darüber einen Brief
an König Ludwig I. zu richten.7
„Kaspar Hauser sei … ein Bewohner eines kleinen Weilers auf der österreichischen Seite der
Salzach gewesen, die einen Teil der nordöstlichen
Grenze von Bayern bildet. Diese Weiler liegen gegenüber den bayerischen Städten Burghausen
und Tittmoning, und es sei wahrscheinlich, dass Abb. 6: S. W. Reynolds: Portrait des Philip Henry
Kaspar Hauser durch Altötting kam, dort die ka- Earl of Stanhope.
tholischen Beigaben erhielt, die er bei sich führte,
und dann durch Neumarkt und Regensburg nach Nürnberg kam …“8
6 Peter Vornehm: Wuchs Kaspar Hauser im Schloss Wanghausen auf? Ging er in Burghausen zur Schule, in: Oettinger Land, heimatkundliche Schriftenreihe für den gesamten Landkreis Altötting, Jahresfolge 2012, Band 32, S.
61ff. Im Weiteren abgekürzt mit Vornehm, Hauser, Seitenzahl.
7 Johannes Mayer: Lord Stanhope. Der Gegenspieler Kaspar Hausers, Stuttgart 1988, S. 513. Im Weiteren abge kürzt mit Mayer, Stanhope, Seitenzahl.
8 Mayer, Stanhope, S. 552.
9
Von einem Schloss Wanghausen ist bei Stanhope allerdings noch keine Rede, auch nicht von einer adeligen Abstammung. Stanhope unterstellte Hauser vielmehr eine bürgerlich-handwerkliche Existenz, etwa
als Schneider oder Handschuhmacher. Dabei nahm er eine Spekulation des Lehrers Johann Georg Meyer
auf, bei dem Kaspar Hauser zuletzt gewohnt hatte. 9
Immerhin: Lord Stanhope, der Kaspar Hauser gut kannte, ging von einer Herkunft aus dem Innviertel
bei Burghausen und/oder Tittmoning aus!
Kein Wunder, wenn das Schloss Wanghausen bei Burghausen an der Salzach ins Visier einiger KasparHauser-Forscher geriet. Wer den zündenden Gedanken hatte, ist nicht bekannt. Nicht auszuschließen ist,
dass sich unabhängig von den Äußerungen Stanhopes eine Ortstradition oder wenigstens ein Gerücht zu
Kaspar Hauser erhalten hatte, wovon wir heute nichts mehr wissen.
In den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die „Wanghausen-Theorie“ Ge genstand eines ausgiebigen Briefwechsels. Der damalige Besitzer von Schloss Wanghausen, Dr. Dr. Josef
Brunnhölzl, korrespondierte mit einigen Kaspar-Hauser-Forschern seiner Zeit, vornehmlich mit Dr. Julius
Trumpp, Autor des Buches „Kaspar Hauser, Napoleon und Stephanie“ (1953) und Bernhard Wunsch aus
Kiel, dem später Trumpp das geistige Eigentum bzw. die „Prioritätenrechte“ - heute würde man sagen
das „Copyright“ - an der Wanghausen-Theorie zuerkannte. Darüber hinaus kontaktierte Dr. Brunnhölzl
auch Ulrich Struwe aus Princeton/USA, den oben erwähnten Dr. Günter Hesse aus Karlsruhe und Dr.
Hans Rauscher aus Rosenheim. Die Korrespondenz, von der sich leider nur der Empfänger-, nicht der Ab sender-Schriftwechsel erhalten hat, kam nach Dr. Brunnhölzls Tod über einen Bekannten und Kollegen,
den soeben genannten Röntgenologen Dr. Rauscher, an das Stadtarchiv Burghausen. 10
Um welches Schloss handelt es sich
konkret?
Schloss Wanghausen liegt schräg gegenüber von Burghausen auf dem rechten Ufer der Salzach, zu Füßen des
Steilufers, in der ehemaligen Hofmark
Ach und somit seit 1816 auf österreichischem Hoheitsgebiet. Der hohe, viergeschossige Bau mit seinem sich zum Fluss
hin erstreckenden Park, der von einem
Jagdhaus abgeschlossen wird, ist über die
südliche Salzach-Brücke Burghausens
leicht zu erreichen. Der ehemalige Rittersitz geht in den Anfängen bereits auf das
frühe 13. Jahrhundert zurück; im Jahr
1240 und im Meier-Helmbrecht-Epos
1270 erfuhr er als „Wanchusen“ seine
erste Erwähnung. Hierzu mehr weiter unten. Von Hochmittelalter bis 1779 und
nochmals kurz zwischen 1809 und 1816
gehörte das Schloss Wanghausen zu Bayern, genauer gesagt, zur Burg und zum
Ab.b. 7: Das Schloss Wanghausen im Jahr 2011 (Wikipedia).
Gericht Burghausen am anderen Ufer der
Salzach. Im Lauf der Zeit erfuhr das Anwesen etliche Besitzerwechsel sowie mehrere An- und Umbauten.
Eine grundlegende Neukonstruktion erfolgte im 17. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert kamen der
Treppenaufsatz am Nordostgiebel und ein Wohnerker im Stil der Neugotik hinzu.
Dass die Mauern des Untergeschosses sehr alt sind und vielleicht abschnittsweise auf die Gründerzeit
9 Pies, Augenzeugen, Kap. 9.
10 Vornehm, Hauser, S. 77.
10
zurückgehen, erkennt man noch heute an ihrer Stärke und zusätzlich angebrachten, wuchtigen
Stützpfeilern an der Außenseite.
Im Jahr 1964 ging der ehemalige Adelssitz von einem Wiener Vorbesitzer auf den Burghausener Zahn arzt Dr. Dr. Brunnhölzl über, der wenig später mit dem Kaspar-Hauser-Forscher Dr. Julius Trumpp Be kanntschaft machte. Der Journalist hatte zuvor das oben erwähnte Buch über Kaspar Hauser veröffentlicht, konnte aber in ihm, da es schon im Jahr 1953 erschien, naturgemäß noch keine Erwähnung des
Schlosses an der Salzach machen. Dieses Büchlein über Kaspar Hauser ist mit rhetorischer Brillanz ver fasst und zeugt von profunder Kenntnis der Quellen und Zusammenhänge, der Autor neigte aber leider
an einigen Stellen zu intellektuellem Hochmut und verfiel in genau denselben Fehler, den er glaubte, an deren Hauser-Forschern vorwerfen zu müssen, nämlich ins ungesunde Präjudizieren jenseits jeglicher Ar gumentation. So wird diesem Werk trotz seiner interessanten Rückschlüsse und Folgerungen eine breitere Anerkennung versagt geblieben sein. In der heute etablierten Hauser-Literatur findet man kaum einen
Hinweis darauf, zumal der Autor auch in die Nähe der Nationalsozialisten gerückt wurde.
Jahre nach der Veröffentlichung ließ sich der Autor von der „Wanghausen-Theorie“ überzeugen. Er
war aber wegen seines vorgerückten Alters nicht mehr imstande, selbst zur Förderung ihrer Bekanntheit
publizistisch beizutragen. Allerdings standen die Chancen für eine Anerkennung der Theorie auch
schlecht, denn durch die Veröffentlichungen der Schriftstellerin Klara Hofer (inklusive eines Romans) und
des Kaspar-Hauser-Forschers Dr. Fritz Klee war nach 1929 das Wasserschlösschen Pilsach bei Neumarkt
in der Oberpfalz als potentieller Verlies-Ort Hausers zum absoluten Favoriten der Hauser-Szene aufgestiegen.
11
Kaspar Hauser und seine Herkunft
In Anbetracht der Subjektivismen und Konjekturen, welche sich bis zum heutigen Tag in der Sekundär literatur angehäuft haben und die Person, um die es geht, Kaspar Hauser, nahezu verschütten, wollen wir
uns im Folgenden weitgehend in die Primärquellen über Kaspar Hauser zurückziehen, wie bereits eingangs angekündigt. Dass dies überhaupt möglich ist, haben wir vor allem dem Fundus an Abschriften zu
verdanken, die Hermann Pies aus dem inzwischen verlorenen Aktenbestand zu Kaspar Hauser angefertigt
hat.
Wenn man die Protokolle und Texte, die noch zu Hausers Lebzeiten oder kurz danach über ihn niedergeschrieben wurden, sorgfältig auswertet, kommt man zum Schluss, dass der Findling eine gewisse Entwicklung durchgemacht hat, was die Kenntnisse über seine Herkunft anbelangt. Seinen Andeutungen
und Bemerkungen kommen ganz unterschiedliche Qualität und Signifikanz zu - je nachdem, wann und
unter welchen Umständen sie fielen.
Während z. B. kurz nach der Auffindung in Nürnberg die Aussagen Kaspar Hausers zum großen Teil
noch fragmentiert und inkohärent, häufig auch symbolträchtig und rätselhaft, immer aber schwer interpretierbar ausfielen, so gibt es doch eingestreut auch deutliche Indizien dafür, dass er schon von Beginn
an über gewisse Details seines Herkommens Kenntnis hatte, die weiterzugeben ihm schwerfiel oder ganz
konkret verboten worden war. Verständlicherweise wurden diese Äußerungen vornehmlich von erklärten
Hauser-Gegnern wie Merker, Stanhope, Meyer und van der Linde zur Diskreditierung herbeizitiert, um
von der hauserophilen Fraktion mit Daumer, Pies u. a. prompt konterkariert zu werden. Wie wohl die ersten zur Überinterpretation neigten, gibt es jedoch keinen Grund, die Angaben als nichtsnutzig zu erklä ren. Nehmen wir also die Informationen aus den späten Verhörprotokollen einfach so, wie sie sind.
Wie sich Wissen und Nicht-Wissen kurz nach seiner Auffindung in Kaspar Hauser mischten, zeigt z. B.
ein kurzer Dialog, der sich damals zwischen ihm und dem Polizei-Rottmeister Johann C. Wüst entspann.
Er wurde von letzterem erst viel später, am 5. März 1835, auf Stanhopes Betreiben zu Protokoll gegeben:
„Ich fragte ihn darauf: Wo kommen Sie her? Er antwortete: Das darf ich nicht sagen. Ich fragte
weiter: Warum dürfen Sie es nicht sagen? Hierauf Kaspar Hauser: Weil ich es nicht weiß …“!11
Hatte sich Kaspar verplappert? „Woaß nit - weiß nicht“ war
seine stereotype Antwort auf alle weiteren Fragen.
Unabhängig davon scheint Kaspar in seinem späteren Leben mehr und mehr seine Herkunft erinnert und auch durch
Erkundigung gewisse Details darüber in Erfahrung gebracht zu
haben. So verriet er sich gegenüber Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, Präsident des Appellationsgerichtes Ansbach, seinem Mentor und Freund. Dies geschah nach dem Attentat, bei dem er von einem Unbekannten am Kopf schwer
verwundet worden war:
„Wenn ich auch diesmal davonkomme, werde ich
doch von dem Mann noch umgebracht werden. Mein
Gefühl hat es mir immer gesagt. Er selbst hat es auch
gesagt, dass er mich noch umbringen wird. Er muss es Abb. 8: Paul Johann Anselm Ritter von Feuja tun - er hat gewiss erfahren, dass ich meine Gefan- erbach, Präsident des Appellationsgerichtgenschaft beschrieben, dass ich genau den Weg ange- es Ansbach.
geben habe, den er mich früher bis nach Nürnberg ge11 Pies, Dokumentation, S. 12. und Hermann Pies: Die Wahrheit über Kaspar Hausers Auftauchen und erste Nürn berger Zeit, Stuttgart 1956, 2. Auflage 1987, S. 105. Im Weiteren abgekürzt mit Pies, Wahrheit, Seitenzahl.
12
führt hat … Er muss mich umbringen, weil er fürchten muss, dass ich mich nach und nach an das
erinnere, was mit mir geschehen ist und wo ich gefangen gewesen bin …“12
Kaspar Hauser hatte in den bekannten Quellen seinen Weg gar nicht so genau angegeben, wie er hier
in den Raum stellt. Er verriet also einen erweiterten Wissensstand, preisgeben wollte er ihn aber während seiner letzten Lebensphase in Ansbach nicht mehr, war er doch bereits als abgefeimter Lügner ab gestempelt und im Haus des Lehrers Meyer auch ohne rechte Vertrauensperson. So hielt er sein inzwischen erworbenes Wissen zurück und erging sich allenfalls in vagen Andeutungen. Dieser innere Rückzug
lag vielleicht auch daran, dass er über seine Leben als solches und seine weitere Zukunft in Ansbach pessimistische Gedanken entwickelt hatte – Gedanken, welche ihn unter Entwicklung eines gewissen gesellschaftlichen Mimikry mehr und mehr davon abhielten, Außenstehenden sein Innenleben preiszugeben.
Ihm unter diesem Aspekt vorsätzliche Lügenhaftigkeit und Geheimniskrämerei zu unterstellen, wie es
z. B. sein Ansbacher Hausherr Johann Georg Meyer in peinlich-pedantischer Weise tat, ist unsinnig und
inadäquat. „Trauer und Zorn über den Pädagogen …“ vermerkte bereits zur Zeit Kaspars der bayerische
Innenminister Ludwig von Oettingen-Wallerstein indigniert in einem Verhörprotokoll.13
Als Gedächtnisstütze mag Kaspar Hauser ein eigenes Tagebuch gedient haben. Schon im Nürnberger Haus des Gymnasialprofessors Georg Friedrich Daumer, der nur zwölf Jahre
älter als Kaspar war, hatte er begonnen, ein solches zu führen,
und er nahm es nach Ansbach mit. Von seinem Pflegevater
Philip Henry Stanhope darauf angesprochen, gab er diesem
widerwillig ein in lichtblaues Papier geheftetes Büchlein als
sein persönliches Tagebuch zu erkennen, verhinderte jedoch,
dass er darin las. Kurze Zeit später ließ er es für immer
verschwinden.
„Dieses Buch enthält Sachen, die für mich sind, und wovon
weder der Herr Graf (freilich Stanhope) noch andere etwas
wissen brauchen …“
So äußerte sich Kaspar dezidiert gegenüber seinem Hausherrn und verweigerte sogar die Sendung des Tagebuchs an
Gerichtspräsident Anselm von Feuerbach, der anderweitig
sein ganzes Vertrauen genoss. Als der Polizei-Oberleutnant Joseph Hickel das Tagebuch schließlich beschlagnahmen wollte,
meinte Kaspar: „Ich habe es unlängst verbrannt …“
Abb. 9: Der Lehrer Johann Georg Meyer, in
Nach Kaspar Hausers Tod wurde das ominöse Tagebuch
dessen Haus Kaspar Hauser starb. Meyer
unterrichtete zu dieser Zeit an der 1828 nicht aufgefunden, nur ein paar tagebuch-ähnliche Notizen.
gegründeten israelitischen Schule Ansbach. Dabei war es dem Innenminister in München so wichtig, dass
er eigens danach fahnden ließ.14
Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist Folgendes:
Es gibt keinen Zweifel: Kaspar Hauser wusste mehr über seine Herkunft, als er preiszugeben bereit
war - schon zu Beginn seines „Eintritts in die große Welt“, wie er sein neues Leben nannte, und erst
recht zu dessen Ende. Sprach am Anfang eher Unvermögen aus seinem Verhalten, dann am Ende eher
Unwillen.
Begeben wir uns nun in die Quellen, um Kaspars Herkommen unter einem neuen Blickwinkel zu be leuchten.
12 Pies, Dokumentation, S. 67.
13 Pies, Dokumentation, S. 211.
14 Hermann Pies: Die amtlichen Aktenstücke über Kaspar Hausers Verwundung und Tod, Bonn 1928, S. 102, 119,
127, 198. Im Weiteren abgekürzt mit Pies, Tod, Seitenzahl.
13
Hinweise dafür, dass Kaspar Hauser im Innviertel bei Burghausen interniert war
1. Kaspar Hauser trug anlässlich seiner Auffindung in Nürnberg einen Empfehlungsbrief bei sich,
gerichtet an den Rittmeister Friedrich von Wessenig, Sohn eines Kulmbacher Kreisdirektors,
nunmehr Chef der 4. Eskadron des 6. Bayerischen Chevauxlegers-Regiments. Von Wessenig
wohnte im ersten Stock des Gasthofes „Schwarzes Kreuz“ in der Irrerstraße 19 in Nürnberg. Im
Regiment des Rittmeisters soll dem Wortlaut des Schreibens nach der angebliche Vater Kaspar
Hausers einst gedient haben.
Abb. 10: Faksimile des sog. Rittmeister-Briefes.
Die 4. Eskadron war erst 4 Jahre zuvor, 1824, von Neumarkt in der Oberpfalz nach Nürnberg
verlegt worden. Zur angenommenen Geburtszeit Hausers – wir nehmen vorweg: deutlich vor
1812 - war das 6. Chevauxlegers-Regiment „Herzog von Leuchtenberg“ in Bamberg stationiert gewesen. Im Jahr 1810 wurde es im Rahmen der napoleonischen Kriege zu einer kriegerischen Ex pedition nach Nordtirol und im Jahr 1812 nach Frankreich entsandt, um danach unter maximalen
Verlusten mit Napoleon nach Russland zu ziehen. Im Jahr 1815 musste es völlig neu aufgestellt
werden. Danach wurde es nach Nürnberg verlegt. 15
Wenn Friedrich von Wessenig in diesem Regiment des 1824 verstorbenen Eugène de Beauhar nais diente, dann war die Adressierung des Briefes an ihn insofern pikant, als sich später erweisen wird, dass Kaspar Hauser u. U. ein direkter Abkömmling des Hauses Beauharnais war!
Der Brief war vermutlich erst kurz zuvor vom vormaligen Bewacher Kaspar Hausers in deutscher Schrift verfasst worden. Diese Person, von der im Folgenden noch viel die Rede sein wird,
nannte Kaspar allzeit einfach „den Mann, bei dem ich immer gewesen“.
15 Wir folgen hier Caroline Gräfin Albersdorf: Kaspar Hauser oder Andeutungen zur Enthüllung mancher Geheimnisse über Caspar Hauser …, Regensburg 1837, S. 15,17. Im Weiteren abgekürzt mit Albersdorf 1837 und Seitenangabe.
14
Dabei lag ein Zettel in lateinischer Schrift, der eine Erklärung der angeblichen Mutter Kaspars enthielt und
hinfort den Namen „Mägdlein-Zettel“ trug (Bild links).
Da beide Schreiben auf gleichem Papier mit gleicher
Tinte und graphologischen Analogien verfasst wurden
und absichtsvoll heraus gekratzte, dadurch etwas unleserlich gewordene Handwerkssiegel mit den potentiellen Initialen G. T. R., C. J. R. oder G. J. R. trugen, ging man
alsbald von einer Fälschung aus und vermutete, dass
beide Briefe erst kurz zuvor aus derselben Hand in Mittelfranken entstanden, zumal das Wasserzeichen im Papier auf die Firma J. Reindel, Papiermühle in Mühlhof,
Königliches Landgericht Schwabach, hindeutete. 16
Was das Handwerkssiegel anbelangt, so war man sich
des Akronyms allerdings nicht sicher, sonst hätte man
nicht zwei weitere Schreibvarianten angeboten.
Während dem „Mägdlein-Zettel“ in Bezug auf den
hier behandelten Gegenstand keine größere Bedeutung
zukommt, finden sich in dem Rittmeister-Brief gleich
zwei wichtige Textstellen.
Abb. 11: Faksimile des sog. Mägdlein-Zettels.
Beginnen wir zunächst mit der bezeichnenden Überschrift:
„Von der Baierischen Gränz
dass Orte ist unbenant
1828 …“
Wenn diese Aussage stimmt, dann darf man davon ausgehen, dass Kaspar Hauser und sein Verwahrer tatsächlich von der Grenze des Königreichs Bayern kamen! Später wird die Angabe durch
Kaspar Hauser und seinen Mörder wörtlich bestätigt. Hierzu mehr weiter unten.
Notabene:
Burghausen und das benachbarte Schloss Wanghausen liegen in der Tat an der bayerischen
Grenze zu Österreich. Diese wurde durch den Wiener Kongress 1814/15 definiert und durch
Vertrag am 1. Mai 1816 als völkerrechtlich bindend sanktioniert.
Eine Grenzlage trifft jedoch in keiner Weise auf das Wasserschloss Pilsach bei Neumarkt in der
Oberpfalz zu, selbst wenn dies mitunter fälschlich behauptet wurde!
2. Der Nürnberger Bürgermeister Jakob Friedrich Binder, der erste Vormund Kaspar Hausers, berichtete in seiner „Öffentlichen Bekanntmachung vom 7. Juli 1828“ Folgendes:
„Zu bemerken ist, dass er (Kaspar Hauser) die bayerische Mundart spricht, wie man sie
in der Gegend von Regensburg, Straubing, Landshut, vielleicht auch Altötting, Burghausen hört. Er sagte z. B. ’hoamweisen’ statt ’heimweisen’, ’a söchenes möcht ich’ statt ’ein
solches möchte ich’, ’er kümmt schon, wenn i a Reiter wer, wie mei Voter oaner gwen is’
statt ’er kommt schon, wenn ich ein Reiter werde, wie mein Vater einer gewesen ist’
etc.“17
16 Pies, Dokumentation, S. 33.
17 Jakob Friedrich Binder: Bekanntmachung (Einen in widerrechtlicher Gefangenschaft aufgezogenen und gänzlich
15
Dieser Hinweis auf einen altbayerischen, ja innviertler Dialekt ist in der Tat von großer Bedeutung! Im oberpfälzisch-fränkischen Übergangsgebiet des Schlosses Pilsach hätte man sich entgegen den Behauptungen Fritz Klees, die sehr zur Verwirrung beitrugen, 18 ganz anders ausgedrückt:
Die Stereotypien Hausers, die er nach seiner Auffindung ständig wiederholte, z. B. „Bua“ oder
„Bue“ (für alle Mitmenschen), „woaß net“ oder „hoamweisn“ liefern den Beweis. In Pilsach hätten sie „Bou“, „woiß niat“ und „hamweisn“ lauten müssen! Dafür verbürgen wir uns, da wir
selbst in derselben Dialektzone leben und die Mundart beherrschen!
Zugegebenermaßen finden sich allerdings selbst bei Hermann Pies alternativ die Versionen
„hamweisn“ und „woiß nit“.19 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Begriffe meist in Verhör-Protokollen Kaspar Hausers auftauchten, in die sowohl Frager als auch von Schreiber eigene landsmannschaftliche Tönungen hineingebracht haben konnten. Im Übrigen hatte Kaspar Hauser bei
seiner Auffindung einen aktiven Wortschatz von kaum mehr als 50 Wörtern; alles Weitere dürfte
er zunächst durch den Wärter Hiltel gelernt haben, der seinerseits das Oberpfälzische sprach.
Wenn Kaspar Hauser allerdings an anderer Stelle sagte: „Er kimmt scho“, dann scheidet das
Oberpfälzische definitiv aus. Dasselbe gilt für das von ihm gebrauchte Dialektwort „einkenten“
als Synonym für „einheizen“.20 Dieses Wort schrieb Daumer dem Bewacher Kaspars zu, wobei er
eindeutige Beweise für eine Beheizung von Kaspars Verlies nicht annahm. „Einkenten“ ist im
bayerisch-österreichischem Grenz- und im Alpenraum noch heute weit verbreitet, existiert allerdings nicht nördlich der Donau und am allerwenigsten in der Oberpfalz.
Das fränkische Idiom, das ist sicher, lernte Kaspar Hauser nie, dazu fehlte ihm jegliche Sprachfähigkeit und Stimmanlage.21
Demnach scheidet eine fränkische oder anderweitige Herkunft Kaspar Hausers außerhalb Altbayerns oder nördlich der Donau aus!
Hausers Mentor Anselm Ritter von Feuerbach, geboren im thüringischen Jena, aufgewachsen im
Hessischen und ab 1814 in Franken tätig, tat sich sehr schwer, den Hauser'schen Kauderwelsch,
der ihm fremd war, zu verstehen.22
3. Nach einer aus den Archiven spurlos verschwundenen, aber von Bürgermeister Binder glücklicherweise transkribierten Asservatenliste von 1828 soll Kaspar Hauser bei seiner Auffindung in
Nürnberg folgende Gegenstände bei sich getragen haben. 23
1. Ein kleines Gebetbuch mit dem Titel: „Geistliches Vergissmeinnicht, d. i. schöne auser lesene und eifrige Morgengebether einer frommen Seele“, gebunden von Johann Micha el Seidl, bürgerlicher Buchbinder in Altötting.
2. Ein kleiner Rosenkranz von Horn mit einem metallenen Kreuz, „nach Altöttinger Art“.
3. Ein deutscher Schlüssel (Derjenige des Verlieses?).
4. Eine gedruckte Piece.
18
19
20
21
22
23
verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jungen Menschen betreffend), vom Magistrat der Königlich-Bayerischen
Stadt Nürnberg, Nürnberg 7. Juli 1828, S. 2. Im Weiteren abgekürzt mit Binder, Bekanntmachung, Seitenzahl.
Fritz Klee: Neue Beiträge zur Kaspar-Hauser-Forschung, Nürnberg 1929, Kap. 2. Reskript ohne Seitenzahl, deshalb nur Kapitelangabe. Im Weiteren zitiert mit Klee und Kapitelangabe.
Pies, Wahrheit, S. 62.
Johannes Mayer, Jeffrey M. Masson: Anselm von Feuerbach, Georg Friedrich Daumer, Eduard Feuerbach: Kaspar
Hauser, Frankfurt 1995, S. 265. Im Weiteren abgekürzt mit Mayer-Masson und Seitenzahl.
Schiener, Hauser, S. 135.
Anselm Ritter von Feuerbach: Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, Ansbach 1832, S. 48f. Im Weiteren abgekürzt mit Feuerbach, Hauser, Seitenzahl.
Binder, Bekanntmachung, S. 8.
16
5. Eine ähnliche Piece, betitelt „Geistliche Schildwacht“ (gedruckt in Prag).
6. Eine dergleichen, mit geschriebenen Rosenkranz-Gebeten und mehreren gedruckten
Gebeten und Bildnissen; darunter
1. ein sehr kräftiges Gebet, dadurch man sich aller heiligen Messen sc. theilhaftig
machen kann sc. (ohne Jahrzahl). Gedruckt und zu finden in Burghausen.
2. Gebet oder Aufopferung seiner selbst vor dem Hochwürdigen Gut (ohne
Jahrzahl). Burghausen, gedruckt und zu finden bei Jakob Luzenberger
Churfürstlichen Regie (…)
3. Gebet zu dem heiligen Schutzengel (ohne Jahrzahl). Salzburg, zu haben bei
Franz Xaver Oberer.
4. Die drei theologischen Tugenden sc. (ohne Jahrzahl). Salzburg, zu haben bei
Franz Xaver Oberer.
5. Kunst, die verlorene Zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen sc. (ohne
Jahrzahl). Gedruckt und zu finden in Burghausen.
6. Gebet zu dem heiligen Blut (ohne Jahrzahl). Gedruckt in Prag.
7. Gebet zu der unbefleckten Empfängnis Mariä sc. im Jahr 1770.
(Alle, sowohl gedruckte als auch geschriebene Gebete, dem Anschein nach alt und lange
aufbewahrt.)
7. Ein viereckig zusammengeschlagenes Papier, worin sich eine kleine Quantität
Goldsand befindet, endlich
8. Einige leinene, blau und weiß geblümte Lumpen.
Aufgrund des Erhaltungszustandes scheinen all diese Dinge bereits lange vor Hausers Freilassung angeschafft worden zu sein und damit aus dem Fundus
seines Gefangenenwärters zu stammen. In einem
der Gebetbücher soll ein Name eingeschrieben gewesen sein, der jedoch bis zur Unleserlichkeit
durchgestrichen worden war, was ebenfalls auf
Fremdbesitz hindeutet.24 Kaspar selbst konnte keinerlei Angaben dazu machen, wie diese Dinge in
seine Tasche gekommen waren. Der Ansicht G. Hesses, dass es sich um spezielle Heilmittel und Talis- Abb. 12: Historischer Rosenkranz aus Altötting.
mane gegen die „Fallsucht“ gehandelt habe, wollen
wir uns nicht anschließen; das ist reine Fantasie.
Was besonders heraussticht, ist ein Druck- oder Schriftwerk aus Burghausen, die „Kunst, die verlorene Zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen“. Es ist schwer vorstellbar, dass es für dieses
sonderbare, aber in verblüffender Weise auf Kaspar Hauser gemünzte Motiv einen allgemeinen
Absatzmarkt gegeben hätte. Deshalb ist denkbar, dass es extra für ihn angeschafft worden war.
Schon Anselm von Feuerbach, der noch persönlich die Dinge in Augenschein genommen hatte,
meinte in seiner Hauser-Schrift von 1832, dieses Stück spiele „höhnend“ auf Kaspar Hauser an.25
Rosenkranz und Goldsand wiederum waren nur in Altötting erhältlich. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass Devotionalien aus diesem Wallfahrtsort in Bayern weit herumgetragen wurden,
ist die massive Häufung der Druck-/Herstellungsorte Burghausen, Salzburg, Altötting mehr als ein
Zufall!
24 Pies, Wahrheit, S. 212.
25 Feuerbach, Hauser, S. 12.
17
Die Tatsache, dass fast alle Artikel aus derselben Grenzgegend zwischen den Flüssen Salzach
und Inn stammten, ist ein weiteres gewichtiges Indiz dafür, dass Kaspar und sein Bewacher exakt aus dieser Gegend stammten oder kamen!26
Bleibt noch nachzutragen, dass es sich bei der Mitgabe der besagten „katholischen“ Artikel mög licherweise um ein Ablenkungsmanöver handelte, denn weiter unten werden wir gewisse Indizi en dafür beibringen, dass Kaspar Hauser von einem protestantischen Verschwörer-Kreis inter niert und wieder freigelassen wurde.
4. Im Textteil des „Rittmeister-Briefes“ behauptete der „Mann“, also Kaspar Hausers Gefangenenwärter:
„Ich habe ihm (freilich Kaspar) nur bis Neumark27 geweißt, da hat er selber zu ihnen
hingehen müssen …“
Im Klartext: Kaspar sei nur bis Neumark(t) von ihm begleitet worden, dann habe dieser allein
weitergehen müssen!
Auch wenn diese Aussage aus mehreren Gründen wenig glaubwürdig ist – wir werden auf Kaspars „Reise zu den Menschen“ weiter unten noch ausführlich zu sprechen kommen -, so wird sie
doch liebend gern von den Verfechtern der Pilsach-Theorie als Argument dafür in Feld geführt,
dass eben das Schloss Pilsach und kein anderes den Kerker Kaspars enthalten habe. Immerhin
liegt Schloss Pilsach nur ca. 5 Kilometer von der Stadt Neumarkt in der Oberpfalz entfernt!
Gerade diese Argumentation ist nicht
haltbar, denn um von Pilsach nach
Nürnberg zu gelangen, hätte es eines
Umweges nach Neumarkt gar nicht
bedurft! Vielmehr hätte man die Stadt
südlich liegen lassen können, um direkt
nach Westen die Route nach Berg und
Altdorf und dann weiter nach Nürnberg
zu nehmen. Warum sollte der „Mann“
mit Kaspar Hauser, der kaum einen
Schritt selbständig gehen konnte und
weite Strecken getragen werden musste,
den höchst überflüssigen Umweg
genommen haben?
Abb. 13: Szene aus Terra X von 2002.
Im Übrigen bezeichnete „der Mann“ nach Hausers Erzählung die Stadt Nürnberg als „großes
Dorf“. Dies spricht dafür, dass Kaspar Hauser vor Nürnberg mit Städten irgendwelcher Art gar
nicht konfrontiert gewesen war. Andernfalls hätte ihm sein Begleiter den Begriff „Stadt“ beizeiten beibringen können.
Unter diesen Prämissen drängt sich der Gedanke auf, dass mit „Neumark“ möglicherweise ein
ganz anderes und weniger städtisches Neumarkt gemeint war!
Wenn man von Burghausen aus über Altötting die Route nach Nürnberg nimmt, erreicht man in ca. 35
km Luftlinie ein anderes Neumarkt, nämlich den Ort Neumarkt-Sankt Veit an der Rott. Auch dieser Ort
wurde im Volksmund ganz einfach „Neumark“ genannt. Ein Fußmarsch von Burghausen in Richtung Neumarkt-Sankt Veit korreliert entgegen den Behauptungen Fritz Klees 28 gut mit den Angaben Kaspars,
wenngleich sich diese, zu verschiedenen Zeitpunkten gemacht, in anderen Punkten widersprechen. Vor 26 Vornehm, Hauser, S. 73.
27 Damals eine durchaus übliche Schreibweise.
28 Klee, Hauser, Kap. 4.
18
weg ein paar Erläuterungen:
Wie Kaspar anlässlich seiner Freilassung berichtete, war er wegen Ungeschicks und Schmerzen in
den Beinen zunächst kaum in der Lage, frei zu gehen. Immer wieder musste er streckenweise mit
gekoppelten Armen von seinem Begleiter auf den Rücken genommen und geschleppt werden.
Erst nach längerem Training sei er imstande gewesen, selbstständig ca. 40 bis 50 Meter frei zu
gehen. Dazwischen hätte ihn der „Mann“ wegen Erschöpfung immer wieder mit dem Gesicht
nach unten auf den Boden legen müssen, wo er für längere Zeit einschlief. Allein nach dem Anlegen der „Nürnberger Kleidung“ sei er mindestens 10 Mal derart auf die Erde gelegt worden, ehe
er in Nürnberg anlangte. Kaspar fand sich schließlich mit geschwollenen Füßen und dem Rittmeister-Brief in der Tasche auf dem dortigen Unschlitt-Platz wieder. Wie er durch Nürnberg
selbst gekommen war, konnte er nicht beschreiben; es entzog sich seiner Kenntnis.
Wenn man nun in Betracht zieht, dass Kaspar pro Marschtag kaum mehr als 3 bis 4 Kilometer zu rücklegen konnte und dann eine längere Schlafphase brauchte, um sich zu erholen, dann wäre
innerhalb von geschätzten 14 Tagen die Strecke von Burghausen nach Neumarkt-Sankt Veit unter
Mithilfe theoretisch möglich gewesen. Es handelte sich dabei allerdings um eine Distanz, welche
auch für Neumarkt in der Oberpfalz nach Nürnberg gilt.
Einiges spricht aber dafür, dass Kaspar Hauser weder Neumarkt-St. Veit von Burghausen aus,
noch Nürnberg von Neumarkt in der Oberpfalz aus zu Fuß erreicht hat. Denn Kaspar Hauser hat
in einem Verhör am 6. November 1829 seine früheren Angaben folgendermaßen relativiert:
„Vor allem muss ich bemerken, dass ich bei meinem Eintritt in die große Welt, oder als
ich hier zum Bewusstsein gekommen bin, so oft mir das Gesicht durch die Sonne oder in folge allgemeiner Ermüdung vergangen, ich jederzeit gesagt habe: es wird Nacht. In meiner Lebensgeschichte habe ich daher auch oft vom Nachtwerden gesprochen, was nur in
dem oben erwähnten Sinne zu verstehen ist. Übrigens kann ich über die Dauer meiner
Reise nach Tag und Nacht nicht urteilen. Wenn ich jedoch berücksichtige, dass ich während meiner Hierherschaffung nur ein einziges Mal Brot, und das in geringer Quantität,
gegessen habe, dass ich nicht mehr denn dreimal Wasser getrunken, auf der ganzen Tour
mein Wasser nur einmal abgeschlagen, eine Leibesöffnung aber gar nicht gehabt habe,
so möchte aus diesen Umständen wohl mit Bestimmtheit anzunehmen sein, dass ich
nicht länger denn eine Nacht und einen Tag unterwegs gewesen, dass ich nimmermehr
aber viel länger denn diese Zeit unterwegs gewesen. Dass jedenfalls aber auch in dieser
Zeit nur ein sehr geringer Raum von mir und meinem Führer durchwandert worden sein
kann, ist mit Bestimmtheit anzunehmen, weil ich, als des Stehens und Gehens durchaus
unkundig, nur wenige Schritte gehen, dann ausruhen musste und dann erst wieder gehen
konnte.“29
Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, dass Kaspar Hauser an anderer
Stelle von „zwei Tagen und drei Nächten“ 30 sprach, was diese Aussage wieder abschwächt. Woraus folgt, dass er selbst über sein Fortkommen anhaltend im Unklaren blieb.
Eines erscheint jedoch relativ sicher: Wenn Kaspar Hauser die Route von Wanghausen nach
Nürnberg hinter sich brachte und dabei, was durchaus möglich ist, auch Neumarkt-St. Veit passierte, dann ging er diese Strecke nur zum allergeringsten Teil zu Fuß!
Den überwiegenden Rest muss er in einem Wagen oder Fuhrwerk zurückgelegt haben, vermutlich getarnt! Später werden wir näher eingrenzen, um welche Art von Wagen es sich handelte.
29 Pies, Dokumentation, S. 178.
30 Pies, Wahrheit, S. 224.
19
Mitunter hat man unterstellt, dass ein
solcher Transport nur unter Einsatz von
Opium möglich gewesen wäre. Dieses
war damals unter dem Namen „Laudanum“ tatsächlich verfügbar. Kaspar gab
selbst Anlass zur Vermutung, dass er von
seinem Gefangenenwärter in seinem Verlies immer wieder betäubt worden sei: Er
hätte nach Trinken von „garstigem“ Wasser immer lange, lange Zeit geschlafen,
danach sei sein Kerker gesäubert und er
selbst mit frischer Nahrung und Kleidung
versorgt gewesen, so berichtete er. Als Abb. 14: Historische Laudanum-Fläschchen.
ein gewisser Dr. Preu später Kaspar ein
mit ein paar Tropfen „Tinctura opii“ durchmischtes Wasser reichte, beschrieb dieser beim Trinken
das Wasser als „genauso schlecht, wie ich es zuweilen im Gefängnis bekommen habe“. Das Gegenargument, Kaspar hätte dabei eine Abhängigkeit oder wenigstens sichtbare Zeichen des Mor phinismus entwickeln müssen, greift nicht. Beides ist bei sporadischer oder zeitlich befristeter
Gabe von Opiaten in keiner Weise zu erwarten, auch nicht nach jahrelanger Anwendung!
Allerdings muss man auf die Annahme einer Opium-Sedierung gar nicht zurückgreifen, wenn
man einen Wagentransport Kaspars nach Nürnberg postuliert. Sein Mentor Anselm von Feuerbach versicherte seinerzeit glaubhaft, dass Kaspar noch im Jahr 1832, also 4 Jahre nach seiner
Entdeckung, beim Fahren mit einem Wagen immer den Schlaf eines „Scheintoten“ geschlafen
habe. Er sei sofort nach Aufnahme der Fahrt in einen „förmlichen Todesschlaf“ gefallen und
kaum mehr zu erwecken gewesen, selbst wenn der Wagen anhielt. Und wenn man ihn aus dem selben nahm, auf die Beine stellte, schüttelte und rüttelte, dann wachte er dennoch noch nicht
auf.31 Wir haben keinen Grund, an Feuerbachs Aussage zu zweifeln. Man kennt denselben Effekt
auch bei kleinen Kindern (zu denen Kaspar Hauser in Bezug auf sein Empfinden zählte): Wenn sie
im Kinderwagen über holpriges Pflaster gefahren werden, schlafen sie sofort ein!
Übrigens erklärte Anselm von Feuerbach, der u. E. mittels seiner emotionalen Intelligenz und
Geistesschärfe weitaus authentischer über Kaspar Hauser berichtete, als seine Kritiker glauben
machen wollten, genauso wie wir die Widersprüche in den Reiseangaben Kaspars mit einem längeren Wagentransport. Wie sonst auch wäre Kaspar bis Nürnberg gelangt, ohne irgendjemandem aufzufallen? Dafür spricht auch die Tatsache, dass Kaspar möglicherweise um halb Nürnberg
herum bis zum sogenannten Spittler-Tor transportiert wurde, eher er selbst hinab zum UnschlittPlatz ging.32 Dies geschah vielleicht, um seinen wahren Anreiseweg zu verschleiern. Als selbständiger und argloser Fußgänger hätte er sich der zusätzlichen Mühe sicherlich nicht unterzogen,
sondern wäre von einem der Südost-Tore Nürnbergs hereingekommen! Wegen der Unzuverlässigkeit der damaligen Augenzeugen (Weickmann, Beck, Wüst) können wir uns allerdings über
Kaspars ersten Gang durch Nürnberg nicht sicher sein.
Die eingangs genannte Aussage des Rittmeister-Briefes, „Kaspar habe von Neumarkt aus selbst
nach Nürnberg gehen müssen“, entbehrt somit jeglicher Grundlage, und zwar sowohl, was Neumarkt in der Oberpfalz anbelangt, welches sowieso nicht auf der Route nach Nürnberg lag, als
auch Neumarkt-St. Veit. Allenfalls bis dorthin könnte aber Kaspar, so er wirklich von Burghausen
kam, seinen qualvollen Marsch bewältigt haben. Weiter kam er jedoch zu Fuß nicht, sondern er
wurde offensichtlich (tagsüber?) in einem Wagenversteck transportiert, was die Konsequenz
nach sich zieht, dass wenigstens eine weitere Person in das schreckliche Geheimnis um Kaspar
eingeweiht gewesen sein muss. Dass Kaspar selbst von diesem Transport nichts zu berichten
31 Feuerbach, Hauser, S. 52f.
32 Pies, Dokumentation, S. 14.
20
wusste, haben wir versucht, plausibel zu erklären.
Bei der Fahrt nach Nürnberg hätte Kaspar Hauser nicht zwangsläufig die Donau bei Regensburg
passieren müssen, denn die Route der heutigen B299 über Neustadt an der Donau wäre die bei
weitem kürzeste und bequemste gewesen. Interessanterweise soll aber Kaspar genau diesen
Sachverhalt dem Schuhmachermeister Georg Leonhard Weickmann erzählt haben, unmittelbar
bei seinem Auftauchen in Nürnberg, wie ein Verhörprotokoll von 1829 wiedergibt. Fünf Jahre
später wiederholte Weickmann auf Betreiben Lord Stanhopes diese Aussage. 33 Nun steht aber
fest, dass Weickmann in beiden Verhören nicht die Wahrheit gesagt hatte, 34 außerdem ist es
höchst unwahrscheinlich, dass Kaspar vor Nürnberg eine größere Stadt gesehen hat. 35
5. Verweilen wir am Ende kurz bei einem Phänomen, welches in der Hauser-Forschung bislang
keine Beachtung fand. Es geht um den Familiennamen „Hauser“ und um seine regionale Häufung
und Deutung. Nach eigenen Angaben hatte Kaspar Hauser in seinem Verlies, angeleitet durch
den „Mann“, notdürftig schreiben gelernt. So war er im Stande, nach seiner Auffindung in Nürnberg 1828 seinen Namen relativ zügig und gut leserlich auf ein Stück Papier zu übertragen. Seine
Initialen K. H. waren sogar in ein Taschentuch eingestickt, welches er damals bei sich trug. 36
Der Familienname „Hauser“ ist in ganz Deutschland
kein seltener. Massiv gehäuft findet er sich, wie eine
aktuelle Analyse der Telefonbucheinträge ausweist,
im westlichen Baden-Württemberg und im Schwarzwald, womit die Badener Theorien um Kaspar
Hausers zunächst eine gewisse Unterstützung erfahren. Wenn man von den Großstädten München und
Berlin absieht,37 findet sich ein weiterer Schwerpunkt
in der mittleren Oberpfalz (bei Schwandorf) und –
eher flächenhaft verteilt – auch im Südosten Oberbayerns, also in der hier besonders interessierenden
Gegend.
Es stellt sich die Frage, ob es sich bei dem Namen,
der dem Findling mitgegeben wurde, um einen Neologismus handelt, der dann vielleicht Bezug auf die
beiden „-hausen“-Orte der Wanghausen-Theorie nämlich „Burg-hausen“ und „Wang-hausen“ nahm, 38
Abb. 15: Häufigkeit des Namens „Hauser“ in oder um einen Namen mit einem ganz konkreten
Deutschland.
Bezug zu einer ganz bestimmten Familie.
Wir werden auf diese Frage zurückkommen.
33 Pies, Wahrheit, S. 56 und 215.
34 Er hatte Kaspar weder am Neuen Tor in Nürnberg abgegeben, noch war beim ersten Kennenlernen der angebliche „Zeuge“ Beck zugegen gewesen.
35 Sein Begleiter sagte ihm kurz vor der Freilassung, „in dem großen Dorfe“, nämlich Nürnberg, würde er seinen
Vater treffen. Im Falle eines Zwischenaufenthaltes in Regensburg wäre doch eine Erklärung des Begriffs „Stadt“
fällig gewesen, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Zu Benutzung der Wege mehr im nächsten Kapitel.
36 Feuerbach, Hauser, S. 11. Pies, Dokumentation, S. 180.
37 In Großstädten findet eine Häufung schlichtweg ihre Begründung durch die Einwohnerkonzentration.
38 Der Polizeisoldat Joseph Blaimer und nach ihm Ivo Striedinger wiesen darauf hin, dass Hauser seinen Namen
zunächst fehlerhaft geschrieben hatte – mit einem kleinen „h“ am Anfang! Vielleicht hatte er das von einer Vor lage her so erinnert. Pies, Wahrheit, S. 231. Ivo Striedinger: Neues Schrifttum über Kaspar Hauser, in: Zeitschrift
für Bayerische Landesgeschichte, 6. Jg. 1933, Seite 415ff. Im Weiteren abgekürzt Striedinger und Seitenzahl.
21
Hinweise für eine Internierung Kaspar Hausers bei Wanghausen an der Salzach:
Wenn nach diesen Ausführungen das Innviertel bei Burghausen als Herkunftsregion Kaspar Hausers in
den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt ist, so bedarf es doch zusätzlicher Indizien, um die Wanghau sen-Theorie sozusagen „wasserdicht“ zu machen.
Seit Bestehen der Erbprinz-von-Baden-Theorie und der Pilsach-Theorie ist es den Hauserianern zur
Selbstverständlichkeit geworden, Kaspar Hauser eine adelige Provenienz und ein Schloss als früheres Zuhause zu unterstellen. Aber muss dem wirklich so sein? Kam nicht jedwedes Gebäude, welches nur bau lich dazu geeignet war, als Verwahrungsort in Frage, also auch ein Bürger-, Handwerker- oder Bauernhaus? Oder konzentriert sich die Suche ausschließlich auf eine Behausung des Adels und im vorliegenden
Fall auf das Schloss Wanghausen? Mit diesen Fragen wollen wir uns im Folgenden beschäftigen.
Es finden sich in der Tat triftige Argumente dafür, dass Kaspar in einem adeligen Haus lebte und
erzogen wurde, eher er für Jahre in seinem Kerker verschwand. Ob dies auf Dauer geschah oder nur
zeitweise, wollen wir zunächst offen lassen. Dass Kaspar Hauser nicht von Anfang an völlig weggesperrt
war, sondern geraume Zeit in relativer Freiheit und in einer zivilisierten Umgebung zugebracht haben
muss, daran gibt es nach aussagekräftigen Analysen seiner Lernprozesse und Sprachentwicklung keinen
Zweifel mehr. Vielmehr besteht breite Übereinstimmung darüber, dass Kaspar Hauser zunächst ähnlich
einem normalen Kleinkind aufgewachsen sein muss.
Was spricht konkret für ein adeliges Umfeld Kaspar Hausers in den ersten Lebensjahren?
1. Ab dem Jahr 1830 mehrten sich die Gerüchte, dass Kaspar Hauser ursprünglich aus Ungarn
oder wenigstens aus dem Osten Europas gekommen sei. Zur damit verbunden Geschichte einer
Gouvernante namens Dalbonne und den Hintergründen erfährt man mehr weiter unten. Anlass
zur Vermutung gab die Tatsache, dass Kaspar in Sprachtests bei Wörtern und Begriffen in ungari scher und polnischer Sprache mit deutlicher Gemütsbewegung und einem frappierenden Wortverständnis reagiert hatte. Ähnliches galt auch für den nur in adeligen Haushalten gebräuchlichen, französischen Ausdruck „mon cher“, den Kaspar Hauser selbst aus seinem Gedächtnis hervorkramte, allerdings ohne seine nähere Bedeutung angeben zu können. 39
Nach den Sprachtests meinte Kaspar, „er habe die ihm vorgesprochenen Worte und Begriffe vor
langer Zeit von seiner Kindsmagd gehört“.40 Später ergänzte er, „Da fällt mir auch eine Stube ein,
auf der Erde lag Stroh und Tiere darauf, dort war ich mit meiner Kindsmagd einmal …“41
Eine ähnliche Betreuungsperson bestätigte er auch im sogenannten Schlosstraum, in dem er
nach Anselm von Feuerbach „auf einer noch sehr niedrigen Stufe seiner geistigen Entwicklung“
Szenen seiner Kindheit knapp unterhalb der Bewusstseinsebene im Traum erlebte und anschließend nacherzählen konnte. Kaspar sprach damals von einem „Frauenzimmer“, das ihn in einem
Herrschaftshaus herumgeführt habe. Wenn man in Betracht zieht, das Kaspar Hauser von Anfang
an über eine ausgesprochene Reinlichkeit und einen bis zur Pedanterie gehenden Ordnungssinn
verfügte - beides Attitüden, die er nie in einem Kerker erlernt haben konnte -, dann kommt man
in der Tat nicht umhin, von einer Früherziehung in adeligem Umfeld auszugehen.
Die Suche nach Kaspars Wurzeln in Ungarn, in die man zuvor große Hoffnung gesetzt hatte, verlief bekanntlich ergebnislos. Es erwies sich, dass Kaspar zwar einzelne Wörter und Floskeln in der
ungarischen oder einer anderen Ostsprache, jedoch in keiner Weise zusammenhängende Sätze
39 Pies, Dokumentation, S. 91.
40 Pies, Dokumentation, S. 79.
41 Bericht Ottos von Pirch, in: J. Hitzig: Annalen der … Criminal-Rechts-Pflege, Bd. 7, Berlin 1830, S. 456.
22
und komplexere Sachverhalte verstehen konnte. Die Enttäuschung war daraufhin groß! Der Sachverhalt erscheint uns bedeutsam, ohne dass wir daraus gleich auf eine Vorspiegelung falscher
Tatsachen schließen, wie damals leider im Rahmen der Kaspar-Hauser-Schelte durch Stanhope,
Hickel, Meyer u. a. geschehen.
Die Lösung des Rätsels besteht darin, dass Kaspar Hauser als Kleinkind von einer oder mehreren ausländischen Kindermädchen betreut worden war, welche in ihr offizielles Deutsch Begriffe und Kosenamen ihrer Heimat wie „baba“ oder
„motka“, aber auch Gebetsanteile einfließen ließen, um dem Kind emotional näher zu kommen.
Ein persönlicher Aufenthalt in einem Ost-Land
war dazu gar nicht nötig, ein aktives Erlernen der
formellen Sprache mit großem Wortschatz und
komplexer Grammatik nicht möglich, allenfalls
ein intuitives, passives Verstehen der Sprache
auf emotionaler Ebene. Dementsprechend reagierte Kaspar Hauser später auch emotional, als
er nach vielen Jahren die längst vergessenen
Worte seiner frühen Kindheit wieder hörte.
Doch wo hat man Kindermädchen mit einem
entsprechenden Sprachhintergrund zu suchen?
Wenn man schon nicht in Ungarn fündig wird,
dann am ehesten im Vielvölkerstaat Österreich
Abb. 16: Kaspar Hauser in dem von Anselm von
mit seinen Adnexen, wo außer Deutsch eben Feuerbach herausgegebenen Buch.
auch Ungarisch, Polnisch, Tschechisch usw. gesprochen wurde, und speziell das Dienstpersonal entsprechende Reisefreiheit genoss, somit
auch von weit hergeholt werden konnte.
Damit wären wir bereits bei einem ersten Argument dafür angelangt, dass der kleine Kaspar
dem Anschein nach nicht nur in einem Schloss und in adeligem Umfeld, sondern auch im Vielvölkerstaat Österreich aufgewachsen sein sollte! Dazu gehörte das Schloss Wanghausen, aber
auch weitere Adelshäuser, auf die wir noch zurückkommen.
Für ein Adelshaus spricht übrigens auch die Tatsache, dass Kaspar Hauser den Angaben seines
Ziehvaters Daumer zufolge als sein Grundnahrungsmitttel im Kerker eindeutig ein feines Brot,
aus einem einen sog. „Vorlauf“ aus Roggen, identifizierte, ein Brot, welches damals nur zu
besonderen Gelegenheiten (Feste, Hochzeit) oder in herrschaftlichen Haushalten gebacken und
gegessen wurde. Ein gemeines Bauernbrot lehnte Kaspar nach seiner Auffindung heftig ab. 42
Möglich ist auch, dass sich seine „Kindsmagd“ (oder eine seiner Kindsmägde, falls es mehr als
eine gab) mit einem Bauern oder Häusler der Umgebung liiert oder bekannt gemacht hatte. Der
kleine Kaspar Hauser scheint jedenfalls dessen Haus besucht zu haben, wenn folgendes Traum bild stimmt: Er habe seine Magd in einer einfachen Stube mit Stroh und Schweinen gesehen!
Diese Szene steht in diametralem Gegensatz zum erinnerten Schloss, aber wir werden dazu in
Bälde das plausible Substrat liefern!
42 Mayer-Masson, S. 264.
23
2. Kaspar Hauser muss in dieser Zeit auch eine höherwertige medizinische Versorgung und eine
erste Schulausbildung mit Schreiben, Lesen, Rechnen und Zeichnen erhalten haben.
So wurden z. B. bei der medizinischen Begutachtung Kaspars durch einen gewissen Dr. Osterhausen an beiden Oberarmen die Inokulationsstellen einer vorangegangenen Pockenimpfung gefun den.43 Daraus ergibt sich bezüglich seiner Gefangenschaft – nicht seiner Geburt! – ein „Terminus
ante quem non“, nämlich das Jahr 1807! Denn seit diesem Jahr wurden im Königreich Bayern als
erstem Land der Welt gegen die Pocken Reihenimpfungen durchgeführt, im Burghausener Land
entweder durch den Kreis-Medizinalrat Dr. Plöderl, oder aber, wie Peter Vornehm vermutet,
durch den Medizinal-Chirurgen Johann Baptist Burghauser aus Ach (+29.06.1824) bzw. den Stadtund Landgerichtsarzt Dr. Joseph Beck. 44 Dr. Burghauser ließ damals in Burghausen auch die
Knabenschule renovieren. Im geschichtlichen Teil dieser Arbeit diskutieren wir die Alternative,
dass Kaspar Hauser die Pockenschutzimpfung u. U. vor 1813 im französisch besetzten Laibach
oder Triest erhielt. Die Pockenimpfung geschah anfangs noch unter Inkaufnahme massiver,
manchmal sogar lebensbedrohlicher Nebenwirkungen, von denen Kaspar aber offensichtlich
verschont blieb. Selbst für die Zeit seiner Kerkerhaft deutet alles darauf hin, dass er von robuster
Natur war und im Grunde genommen gesund. Wir möchten aber nicht verschweigen, dass die
Impfnarben vereinzelt auch dementiert wurden. 45
Kaspar Hauser scheint in seinen frühen Jahren auch die Grundlagen im Lesen und Schreiben erlernt zu haben und täglich „über die Grenze zur Schule gegangen“ zu sein. Dies erzählte er einem
gewissen Johann Merk, seines Zeichens Reitknecht beim Rittmeister Friedrich von Wessenig in
Nürnberg.46 Später entwickelte er auch eine trainierte Hand im Malen und Zeichnen, z. T. in Schablonen-Technik. Die Voraussetzung hierzu kann schon früh geschaffen worden sein.
Wieder handelt es sich hier um Sachverhalte von hoher Signifikanz:
Wanghausen war im gesamten Innviertel, aber wahrscheinlich sogar in ganz Bayern das einzige
Schloss an einer Grenze, von dem aus man in einem kurzen Fußmarsch über die Salzach-Brücke
in die benachbarte Schulstadt Burghausen zum Unterricht gelangen konnte!
Damit scheiden weitere Schlösser des
Innviertels als Aufenthaltsort Kaspar
Hausers aus, denn keines von ihnen
lag bei einem Unterrichtsort jenseits
der bayerischen Grenze! Allenfalls
Tittmoning an der Salzach oder
Braunau am Inn wären als Schul- und
Lernstädte am Fluss noch in Frage gekommen, doch finden sich hier keine
für die Internierung Kaspar Hausers
geeigneten Adelssitze. Speziell zwischen Burghausen und Tittmoning
waren die Hochufer der Salzach dicht Abb. 17: Burg und Stadt Burghausen um 1700. Im Vordergbewaldet, sodass größere Ansiedlun- rund die Salzachbrücke.
gen und Brückenbauwerke ganz fehlen. Auch die Burg in Burghausen, welche zur napoleonischen
Zeit Hauptquartier der bayerischen Truppen an der Grenze zu Österreich war, geht als Verwah rungsort nicht durch; Kaspar hätte hier mit Sicherheit nicht längere Zeit unter Verschluss gehalten werden können, ohne entdeckt zu werden.
43
44
45
46
Pies, Dokumentation, S. 192.
Vornehm, Hauser, S. 77.
Mayer-Masson, S. 266.
Pies, Wahrheit, S. 212.
24
Dass Kaspar Hauser in der Tat eine Art von Basisunterricht erhielt, ist auch aus einem anderen
Grund sicher: Nur so erklären sich seine rapiden Lernfortschritte nach seiner Auffindung: Kaspar
erinnerte damals das bereits früher Erlernte! Als dieser verborgene Schatz früherer Kenntnisse
und Fertigkeiten komplett gehoben war, fiel Kaspar Hauser jedoch nachweislich in die Mittelmä ßigkeit eines eher unbegabten Schülers zurück und stagnierte in seinen weiteren Lernfortschritten. Dies wurde von vielen Seiten bestätigt und gab auch Anlass zu Zerwürfnissen, z. B. mit dem
Lehrer Meyer.
Dabei erhebt sich die interessante Frage, ob Hauser öffentlichen Schul- oder Privatunterricht erhalten hatte. Der Hauser-Gegner Dr. Julius Meyer zitiert in seinen 1872 veröffentlichten „Authen tische Mitteilungen über Kaspar Hauser“ seinen Vater Johann Georg Meyer folgendermaßen:
„Ebenso auffallend wie sein Dialekt musste mir stets sein Schulton erscheinen, in den er
ebenfalls beim Lesen und Memorieren gewöhnlich verfiel. Einen Leseton, wie ich ihn bei
Kaspar Hauser oft nicht verkennen konnte, trifft man nur in Schulen, vorzüglich in Landschulen an, deren Lehrer noch dem Mechanismus huldigen. Nie habe ich noch gefunden,
dass sich ein solcher Ton beim Privatunterrichte herausbildet, am allerwenigsten, wenn
ihn Lehrer erteilen, wie sie Kaspar Hauser hatte. Ich kann nicht begreifen, wie seine frühern Lehrer diesen Umstand gleichgültig ansehen konnten. Es müsste nur sein, dass sie
mit den Eigentümlichkeiten vieler Volksschulen ganz unbekannt geblieben wären. Seinem
Lesetone nach hatte Kaspar Hauser früher eine gewöhnliche Schule besucht, und es dürfte dies umso wahrscheinlicher sein, als er bei seinem Erscheinen in Nürnberg schon ziemlich wacker schreiben und, wie behauptet wird, auch lesen konnte …“47
Um einen solchen Unterricht zu erhalten, hätte Kaspar Hauser den Ort Ach, in dem Wanghausen
liegt, gar nicht verlassen müssen. Es gab dort nachweislich eine eigene Dorfschule, wobei die
Herrschaft Wanghausen sogar das Schulpatronat und die Schulvogtei innehatte. 48 Alternativ wäre
sogar die Dorfschule im nahen Hochburg in Frage gekommen, welche kurz zuvor ein großes
Talent aus einfachsten Verhältnissen heraus hervorgebracht hatte. Der spätere Lehrer und
Komponist Franz Xaver Gruber, Sohn eines Leinenwebers in der sog. Steinpointner Sölde, war
dort von ca. 1793 an von Lehrer Andreas Peterlechner unterrichtet worden, bis er selbst 1806
Volksschullehrer wurde und 1818 die Musik zum berühmtesten Lied aller Zeiten komponierte:
„Stille Nacht, heilige Nacht“!
Es muss also triftige Gründe gegeben haben, Kaspar Hauser nicht in diese Schulen, sondern in
eine jenseits der Grenze in der Nachbarstadt Burghausen gelegene Ausbildungsstätte zu geben,
oder er erhielt eben dort doch jenen Privatunterricht, den der Lehrer Meyer zwar ausschließen
wollte, welcher aber für einen Adelsspross, der nicht allgemein bekannt werden sollte, die
angemessenere Form der Unterweisung gewesen wäre. Es konnte ja durchaus ein
Landschullehrer sein, der ihn dort insgeheim unterrichtete. Dass Kaspar dabei nicht in einer
offiziellen Schülerliste auftauchte, ist selbstredend. Peter Vornehms Nachforschungen in den
Schülerlisten von Burghausen verliefen ergebnislos, wobei diese Akten auch gar nicht vollständig
erhalten sind, und der Name „Kaspar Hauser“ sowieso nicht der authentische Schülername
gewesen sein muss.
Damit wird klar, dass im selben Maß, wie Burghausen als Unterrichtsort Kaspar Hausers in den
Vordergrund rückt, Pilsach als sein früherer Aufenthaltsort ausscheidet. Weder gab es in
Pilsach einen Fluss, noch einen Unterrichtsort, noch eine Grenze, die zum Erreichen desselben
hätte überschritten werden können!
Dessen ist sich auch Heimatforscher Vornehm sicher: „Pilsach, niemals!“, resümierte er mit Recht
in einem Artikel der Passauer Neuen Presse vom 13. Januar 2013.
47 Hier zitiert nach Pies, Augenzeugen, Kap. 9.
48 Benedikt Pillwein: Geschichte, Geographie und Statistik des Erzherzogthums Oesterreich, Band 4, Linz 1832, S.
445.
25
3. Von diesem Punkt unserer Untersuchung an fügt sich ein Indiz ans andere:
So hatte z. B. Kaspar Hauser dem Reitknecht Johann Mathias Merk von „fünf Rössern“ berichtet,
die an seinem früheren Aufenthaltsort gestanden seien, darunter ein weißes Reitpferd, welches
er gerne gefüttert habe: „Es waren fünf söchtene dort, wo i gwesn …“ Kaspars vertrauter Umgang
mit Pferden war kein Einzelfall: Wann immer er in Nürnberg solche sah, legte er jegliche Scheu
ab und streichelte sie ohne Vorbehalt, auch lernte er später ganz passabel reiten, wie Johann Ha cker, der Kutscher des Rittmeisters von Wessenig, berichtete. 49
Vielleicht kamen ihm dabei seine Früherfahrungen in Wanghausen zu Gute.
In der Tat standen am Schloss Wanghausen Reitpferde in einer Stallung bei
sogenannten „Zuhaus“, welches heute
abgerissen ist. Auch das „Jagdhaus“
am Ende des Wanghausener Schlossparks – auch „Salettl“ genannt – war
im Bereich seiner Wagen-Remisen für
die zeitweise Unterbringung von
Pferden geeignet.
Dass mit dieser Ross-Geschichte endgültig ein städtisches Bürgerhaus oder
ein einfaches Bauernhaus als perma- Abb. 18: Wanghausen 1721, Stich von Michael Wening.
Rechts im Bild die ehemaligen Stallungen und Ökonomiegenenter Unterbringungsort Kaspar
bäude.Das „Salettl“ stand zu dieser Zeit noch nicht.
Hausers ausscheidet, versteht sich
von selbst. Die Haltung von Reitpferden war damals mit wenigen Ausnahmen ein Privileg des Adels und des Militärs.
4. Damit leiten wir über zur näheren Umgebung des Schlosses Wanghausen. Man erinnere sich:
Als Kaspar Hauser von seinem Wächter aus dem Verlies entlassen wurde, um seinen Weg nach
Nürnberg anzutreten, war er zunächst tagsüber als Kind des Dunkels in keiner Weise zu opti schen Sinneseindrücken fähig – sei es die Landschaft, sei es die Orte betreffend, durch die er
kam, sei es in Bezug auf das Aussehen und das Gesicht des Mannes, der ihn trug und führte. Von
dieser Tagblindheit berichtete nicht nur Vormund Jakob Friedrich Binder am 7. Juli 1828 in seiner
Bekanntmachung, sondern später auch Kaspar Hauser selbst, in seiner „Lebensbeschreibung“,
und am ausführlichsten der unabhängige Gutachter Dr. Osterhausen. Kasper Hauser brauchte
nachweislich sehr lange, ehe er sich nach seinem Leben im Dunkeln an normale Lichtverhältnisse
und optische Eindrücke gewöhnt hatte und das zunächst bestehende Chaos an Farben und
Formen zu interpretierbaren Bildern zusammenfügen konnte. 50 Dass man sich diese Tagblindheit
nicht als ein Nicht-Sehen, sondern vielmehr als ein unverträgliches Zu-Viel-Sehen vorzustellen
habe, schilderte Feuerbach mit den authentischen Worten Kaspar Hausers. 51 Ähnlich hatte durch
die Inhaftierung Kaspars Zeitgefühl gelitten, so dass er den Wechsel nach Nürnberg gar nicht
zeitgerecht hätte wiedergeben können, selbst wenn er es gewollt hätte. Wir haben dieses
Phänomen bereits weiter oben verdeutlicht.
Sehr wohl und von Anfang an scheint Kaspar Hauser zu selektiven akustischen, olfaktorischen
und taktilen Sinneseindrücken im Stande gewesen zu sein, was ihm bei seinem Abtransport aus
dem Gefängnis zugute kam. Beim Hören und Fühlen verfügte er sogar über eine bis zum Extrem
49 Pies, Dokumentation, S. 173.
50 Feuerbach, Hauser, S. 51 und 79.
51 Feuerbach, Hauser, S. 77ff.
26
gesteigerte Sensibilität, wie Georg Friedrich Daumer berichtete. 52 Dementsprechend nahm er die
Körperbewegungen, Lautäußerungen und auch Lageveränderungen seines Bewachers so gut
wahr, dass er später in seiner Lebensbeschreibung durch einen Analogieschluss davon berichten
konnte: Er sei nach der Freilassung zunächst auf dem Rücken des Mannes einen kleinen Berg,
und dann – nach einer ebenen Zwischenstrecke – „auf einen langen und hohen Berg hinaufgetragen oder gezogen worden, immer weiter fort, bis es Tag wurde …“53
Eine ähnliche Angabe machte Kaspar bei einem Polizeiverhör am 6. November 1829:
„Er nahm mich so, wie ich in meinem Gefängnisse gekleidet war, auf den Rücken und
trug mich, mit einem Hute bedeckt, gleich vom Kerker aus ins Freie, unmittelbar darauf
eine Anhöhe, bald nachher aber einen größeren Berg hinauf …“54
Dennoch gab es bei dieser Schilderung kontroverse Erklärungen. Wir sind deshalb gut beraten,
nochmals den Text lesen, den Kaspar in ungelenkem Deutsch als allererstes niederschrieb:
„…wie er mich aus den Gefängniß raus getragen, hat, da habe er sich bickgen müßen und
hat mich über einen kleinen Berg hinauf getragen, da habe ich schon zum weinen angefangt, da hat der Mann gesagt, ich soll aufheren, sonst bekome ich keine Roß, wie aber
ich über den Kleinen Berg, hinauf gekomen bin, da hat mich so gefrohren, weil ich die
Luft niemals gehabt habe, und ein so schröcklicher Geruch ist mich angefallen, dass es
mir weh gethan habe, und dan sind mir auf den zweyten Berg gekomen, und da habe ich
eingeschlaffen, dieses kan ich aber nicht sagen, obe der Berg lange dauert hat oder kurz
und wie weit er mich getragen hat, dieses kann ich auch nicht sagen …“55
Bleiben wir also bei Bild der zwei Berge und überprüfen wir die Gegend von Wanghausen.
Es ist kaum anzunehmen, dass
der „Mann“ Kaspar Hauser
über die Salzach-Brücke mitten
durch den Ort Burghausen geschleppt hätte, um mit ihm den
Weg nach Nürnberg aufzunehmen. Die Entdeckungsgefahr
war viel zu groß!
Gesetzt den viel wahrscheinlicheren Fall, Kaspar wurde nach
Verlassen des Schlosses in der
Kälte der Nacht mit einem
Kahn über die nahe Salzach
übergesetzt – was er selbst Abb. 19: Einer der möglichen Wege Kaspar Hausers über 2 Berge
nach seiner Befreiung aus dem Kerker bei Schloss Wanghausen.
nicht berichten konnte, weil er
derartige Transporte gar nicht wahrnahm -, dann präsentierte sich am linken Ufer der Salzach gerade die beschriebene Topographie:
•
52
53
54
55
Gegenüber von Wanghausen folgt nach einem Anstieg der Uferböschung eine
Zwischenebene, danach der weitere Anstieg auf das linke Hochufer der Salzach, ehe man
auf der Höhe die relativ flach verlaufende Route nach Altötting und Neumarkt-Sankt Veit
aufnehmen kann! Man beachte hierzu das Bild aus dem Urkataster: Die Topographie
korrespondiert mit Kaspars Angaben bis ins Detail! Allerdings bliebe zu klären, warum
Georg Fr. Daumer: Mittheilungen über Kaspar Hauser, Heft 1 und 2, Nürnberg 1832, S. 9ff.
Hier zitiert nach Albersdorf 1837, S. 29.
Pies, Augenzeugen, Kap. 18. Pies, Dokumentation, S. 175.
Aus Kaspars erstem Aufzeichnungsfragment, in Pies, Augenzeugen, Kap. 15. Satzzeichen aus Gründen der Les barkeit angepasst.
27
ihn zu Beginn des 2 Berges ein schrecklicher Geruch befiel.
•
Alternativ ist denkbar, dass Kaspar auf österreichischer Seite erst die Anhöhe hinter dem
Schloss und dann den steilen Berg auf die Hochebene des Weilhart hinaufgetragen wurde, um dort betäubt auf einen Wagen verladen zu werden, der, mit einer Plane bedeckt,
die Route nach Nürnberg aufnahm und dabei die Salzach-Brücke bei Burghausen überquerte. So wäre alles noch diskreter vonstattengegangen als auf der anderen Route, bei
der ja eine Flussüberquerung per Kahn nötig wurde.
•
Der Lehrer Daumer meinte seinerzeit, Kaspar sei beim ersten Anstieg an beiden Seiten
angestoßen. Er ging deshalb von einer Kellertreppe (als Pseudo-Berg 1) und einer nachfolgenden Anhöhe aus.56
Wir werden nicht mehr zweifelsfrei entscheiden können, welche Version die richtige ist. Aber
jedenfalls hatte Kaspar Hauser, wenn man die Wanghausen-Theorie zugrunde legt, exakt beobachtet und wahrheitsgetreu berichtet!
Wieder fällt die eklatante Diskrepanz zu Pilsach auf: Es gibt dort zwar mehrere Berge, aber keinen, über den man den Weg nach Nürnberg hätte aufnehmen können, und erst recht keinen
zweifach gestaffelten wie bei Wanghausen. Das Konstrukt Fritz Klees, der „Mann“ hätte am sogenannten Ottenberg bei Pilsach mit Kaspar Hauser das „Bergsteigen“ geübt, klingt in diesem Zusammenhang geschraubt, ja nachgerade lächerlich! 57
Nach dem Anstieg auf das Salzach-Ufer muss es für Kaspar Hauser relativ eben und flach dahingegangen sein, so wie es zwischen Burghausen und Altötting überwiegend der Fall ist. Dies sagte
er selbst, und dies machten allein seine Gehversuche erforderlich; steil bergauf oder bergab
hätte er kaum das Laufen lernen können! Und erneut ergibt sich eine erhebliche Diskrepanz zur
Umgebung von Pilsach und Neumarkt, welche Kaspar Hauser anlässlich der Besichtigung eines
vermeintlichen Kerkers in Mariahilf bei Neumarkt, zwei Jahre nach seiner Auffindung, mit
eigenen Augen sah und in einem Protokoll vom 14. Juni 1830 generell als Verlies-Gegend
ausschloss:
„Hier gibt es überall so schreckliche Berge und lauter Wald. Aus einer bergigen Gegend
kann ich aber nimmermehr nach Nürnberg geführt worden sein, und ich musste es auf
dem Transport dorthin doch wohl wenigstens einmal bemerkt haben, dass der Weg
durch den Wald geht. Ich meine auch, dass der Boden auf meinem Transport nach Nürnberg ungleich sandiger und gelblicher war als er in der ganzen Gegend ist, die wir durchreist haben …“58
Auch die Schilderung gelblicher Sande und Tone passt weitaus besser zur Salzach-Gegend als zu
Neumarkt, wo der Dogger-Sandstein immer rotbraun meliert ist oder wie im Rest von Franken
ins Braune geht, ansonsten aber auf der Höhe der weiß-graue Kalkstein und Dolomit des Ober pfalzer Weißjura vorherrscht. Man beachte zum Vergleich die Abbildung des Salzach-Prallhanges,
Geotop-Nr. 171A008 in Geotop-Kataster Bayern, der exakt die von Hauser beschriebene Farbe
wiedergibt. Die gegenläufigen Angaben Fritz Klees sind auch hierzu völlig aus der Luft gegriffen! 59
Unglaublich, dass sich aufgrund derart eindeutiger Äußerungen des Betroffenen überhaupt
eine Pilsach-Theorie breit machen konnte!
56
57
58
59
Pies, Augenzeugen, Kap. 5.
Klee, Kap. 5.
Pies, Dokumentation, S. 196.
Klee, Kap. 6.
28
5. Fokussieren wir nun auf das Schlossgebäude von Wanghausen selbst:
Anlässlich seiner Ungarnreise im Sommer 1831 passierte Kaspar Hauser zusammen mit Baron
Gottlieb von Tucher und Oberleutnant Joseph Hickel in einiger Entfernung das Schloss in Petronell, kurz vor dem Donauknie zwischen Hainburg und Pressburg/Bratislava. Weil sich Kaspar
plötzlich an seine Kindheit erinnert sah, wünschte er, das Gebäude in Petronell näher betrachten
zu können. Gottlieb von Tucher hinterließ dazu einen Tagebucheintrag:
„Bei dem Traunischen Schloss nächst Petronell äußerte er wieder dasselbe Verlangen,
dasselbe zu sehen. Wir stiegen deshalb aus. Schon von weitem hatte er gesagt, dass ihm
die Türme nicht recht seien, sie müssten höher sein, aber Türme seien es gewesen. Sonst
sei das Schloss sehr ähnlich. Am Eingangstor stehen auf den beiden Pfosten steinerne
Pferde; so ungefähr sei es auch. Nur sei auf dem Tor etwas anderes, was er nicht benennen könne. Der Eingang war ganz anders, nämlich auf der anderen Seite des Schlosses …“60
Wenn man zeitgenössische Darstellungen der Schlösser Wanghausen und Petronell vergleicht, erkennt man trotz unterschiedlicher Größe und Proportion
der Gebäude in der Tat gewisse Ähnlichkeiten:
Beide Schlösser weisen drei WohngeAbb. 20: So dürfte Kaspar Hauser beide Schlösser erlebt ha- schosse auf, an den Ecken waren sie
ben: Wanghausen nach dem Stich von Wening - Petronell flankiert mit stilistisch etwas unternach einem alten Stich, zur besseren Vergleichbar-keit sei- schiedlichen Ecktürmen.
tengespiegelt.
Der Eingang zum Schlossareal, bei welchem Kaspar ebenfalls gewisse Ähnlichkeit erkannte, lag in
Wanghausen nicht auf der Sichtseite des Schlosses, sondern seitlich des Schlosses. Dieser hat
sich nicht erhalten, so dass über die Konfiguration keine Aussage möglich ist. Lediglich der Größenunterschied und die Viereckanlage finden hier keine plausible Erklärung. Deshalb ist denkbar, dass sich Kaspar an diesem 11. Juni 1831 bei Petronell noch an ein weiteres Schloss
erinnerte, von welchem alsbald die Rede sein wird.
Als Kaspar Hauser in Ansbach lebte, schrieb er auf Wunsch
Anselms von Feuerbach ex post seinen Schlosstraum vom 15.
August 1828 nieder, was später Anlass zu Spekulationen bot:
„Es kam mir vor, als wäre ich in einem sehr, sehr
großen Hause. Da schlief ich in einem sehr kleinen
Bette. Als ich aufstand, kleidete mich ein Frauenzimmer an. Nachdem ich angekleidet war, führte sie
mich in ein anderes großes Zimmer, in welchem ich
eine sehr schöne Kommode, Sessel und ein Sofa sah.
Von da führte sie mich in ein anderes großes Zimmer,
worin Kaffeetassen, Schüssel und Teller waren, die
wie Silber aussahen. Von diesem Zimmer aus führte
sie mich in ein größeres Zimmer, in welchem sehr vie- Abb. 21: Schloss und Park Wangle und sehr schön gebundene Bücher standen. Von hausen, mit Teich und Springbrunndiesem Zimmer aus führte sie mich einen langen en.
60 Johannes Mayer, Peter Tradowsky: Kaspar Hauser. Das Kind von Europa, in Wort und Bild dargestellt. Stuttgart
1984, S. 486. Im Weiteren abgekürzt mit Mayer-Tradowsky und Seitenzahl.
29
Gang vor und über eine Treppe hinab. Nachdem wir die Treppe hinunter gegangen
waren, gingen wir im Innern des Gebäudes einen Gang herum, an dessen Wand Porträts
hingen. Aus den Bogen dieses Ganges konnte man in den Hof hinaussehen. Ehe wir den
Gang ganz umgangen hatten, führte sie mich zu einem mitten im Hofe befindlichen
Springbrunnen hin, an welchem ich eine sehr große Freude hatte. Von dem führte sie
mich wieder zu demselben Bogen, und dann kehrten wir auf dem Bogengange denselben
Weg wieder zurück bis zur Treppe. Als wir zur Treppe kamen, sah ich ein Bildnis stehen,
welches in Ritterkleidung ausgeschnitten oder ausgehauen war. Das Bildnis hatte auch
ein Schwert in der linken Hand. Oben am Handgriff war ein Löwenkopf angebracht.
Dieser Ritter stand auf einer viereckigen Säule, welche mit der Treppe verbunden und
angemacht ist. Nachdem ich den Ritter eine Zeitlang angesehen hatte, führte mich das
Frauenzimmer die Treppe hinauf, den langen Gang vor und wollte mit mir zu einer Türe
hineingehen. Diese Tür war aber verschlossen. Sie klopfte an, allein man machte nicht
auf. Dann ging sie mit mir schnell zu einer anderen Tür, und, während sie dieselbe öffnen
wollte, erwachte ich …“61
Baron von Tucher berichtete 1831 über denselben Traum, verlegte ihn allerdings auf ein anderes
Datum, nämlich in die Nacht vom 30. zum 31. August 1828. Tucher vermerkte zunächst, dass das
Traumbild genau dann in Kaspar Hauser aufgestiegen war, als beide gemeinsam die Nürnberger
Burg besichtigt hatten, insofern ist es denkbar, dass sich Anteile derselben mit der Imagination
Hausers vermischten.
Die Schlosstreppe wurde von Kaspar Hauser als „sehr schön“ beschrieben, viele Räume im Erdgeschoss hätten breite Flügeltüren und eine prunkvolle und reichhaltige Ausstattung gehabt. Deutlicher als bei der Feuerbach'schen Beschreibung war nun von Gebäude- und Zimmerfluchten die
Rede, die sich um einem großen zentralen Platz mit einem Röhrenbunnen gruppiert hätten. Außerdem fand eine Gemäldegalerie, eine von Säulen und Wandbildern gezierte Außenfassade und
die bereits geschilderte, große Ritterstatue am Treppenfuß Erwähnung. 62
Dass das von Hauser beschriebene Schloss allein wegen der geschilderten Größenverhältnisse nicht Pilsach gewesen sein kann, liegt auf der Hand, ebenso
wenig Schloss Beuggen am Oberrhein, welches in
der Vergangenheit als weiterer Verliesort gehandelt
wurde. Hierzu mehr später. Zum Vergleich gibt der
nebenstehende Ausschnitt aus dem Katasterplan
von ca. 1820 die Situation in Pilsach wieder: Das im
Vergleich zu Wanghausen um ein ganzes Stockwerk
kleinere und gedrungene Gebäude ohne Ecktürme
lag inmitten eines großen Weihers und konnte nur
über eine Brücke erreicht werden. Kein Innenhof,
keine großen Gänge oder Zimmerfluchten im InneAbb. 22: Schloss Pilsach im Urkataster von ca.
ren, kein Spring- oder Röhrenbrunnen – für diesen
1820.
wäre gar kein Platz gewesen.
Das von Kaspar Hauser erinnerte Schloss konnte kein derartiger Landsitz gewesen sein, sondern
muss einem groß-herrschaftlichen Schloss, vielleicht sogar einer Residenz entsprochen haben, ei nem weitläufigen Gebäudekomplex, dessen Einzelkörper sich um einen großen Zentralplatz gruppierten. Im geschichtlichen Teil dieser Arbeit werden wir einen Situations- und Zeitrahmen erarbeiten, der einen vorübergehenden Aufenthalt des ca. 3-jährigen Kaspar Hausers in einem entsprechenden Schloss im Herzogtum Krain in den Raum stellt – kurz vor seiner Dauerunterbrin 61 Pies, Dokumentation, S. 53ff.
62 Hermann Pies: Kaspar Hauser, Fälschungen, Falschmeldungen und Tendenzberichte, Ansbach 1973, S. 336ff.
Pies, Dokumentation, S. 53ff.
30
gung in Wanghausen. Die Kriterien dortiger, in Frage kommender Schlösser passen exakt zu Kas pars Schilderung, auch gewisse Züge des Schlosses Petronell finden sich wieder. Sollten sich allerdings Erinnerungsfragmente zu Schloss Wanghausen in Kaspars Traumbilder gemischt haben,
dann finden wir trotz derselben Einschätzung, die für Pilsach oder Beuggen gilt, wenigstens
Übereinstimmung in folgenden Punkten:
•
Kaspar Hauser erinnerte einen sogenannten Röhrenbrunnen, der ihn sehr beeindruckte.
An anderer Stelle sprach er von Springbrunnen. Ein Röhrenbrunnen mit einer Zentralsäu le und Wasserspeiern oder ein Springbrunnen mit Teich sind nur möglich, wenn an der
Stelle des Wasseraustritts ein gehöriger Wasserdruck herrscht. Dies war weder in der
von Hauser und Tucher besichtigten Nürnberger Burg noch in der Residenz Laibach der
Fall, wo sich allerdings große Ziehbrunnen befanden.
Prädestiniert für einen Röhren-/Springbrunnen war Schloss Wanghausen, wegen der Lage an einem mächtigen
Quellhorizont. So zeigt ein historisches
Gemälde bereits in der Zeit um 1750
einen Springbrunnen mit eindruckvoller Fontäne. Dieser Springbrunnen im
Schlosspark existiert noch heute. Ein
weiterer Röhrenbrunnen zum Wasserschöpfen mag sich hinter dem Schloss
am Hangfuß befunden haben – gerade
dort, wo heute die Teerstraße vorbeizieht. Die Quellwasserversorgung des
Schlosses Wanghausen macht es wegen des Wassergefälles bis zum heutigen Tag möglich, im obersten Stock- Abb. 23: Ausschnitt aus einem Großgemälde des
werk des Schlosses einen inneren Schlosses Wanghausen, von unbekannter Hand.
Wandbrunnen zu betreiben!
•
Des Weiteren sprach Kaspar Hauser im Protokoll Baron Tuchers von einem Innentreppenhaus mit einer großen breiten Treppe, „4- oder 5mal gebrochen“, wobei er aber, sich
jeweils um 90 Grad wendend, eine 4fach gebrochene Treppe demonstrierte. Hier wird
eine Treppe beschrieben, wie sie sich im Mitteltrakt des Schlosses Wanghausen findet.
Hier wäre auch die repräsentative Aufstellung eines Steinmonumentes, wie von Kaspar
beschrieben, möglich gewesen.63
Damit hat es sich allerdings bereits mit den Gemeinsamkeiten zwischen Schloss Wanghausen
und Kaspars Traumschloss. Der Rest von Kaspars Schilderung dürfte, wie gesagt, eher einem an deren als dem Schloss Wanghausen zuzuordnen sein, wenn nicht die Burganlage von Burghausen
selbst das Vorbild gab. Bezüglich des geschilderten Interieurs sind heute sowieso keine Vergleiche mehr möglich, allerdings deutet auch hier das Meiste an Kaspars Schilderung auf ein Residenzschloss hin.
Alles in allem erscheint es nicht sicher, aber immerhin möglich, dass Kaspar Hauser Teile des
Wanghausener Schlosses im Traum erinnert hat. Schloss Pilsach oder Beuggen scheiden als
Substrat der Schlossträume definitiv aus!
63 Pies, Fälschungen, S. 336ff. Pies, Dokumentation, S. 53ff.
31
6. Weitere Beispiele belegen, dass Kaspar Hauser trotz seiner bruchstückhaften Erinnerung
durchaus zu präzisen Angaben im Stande war. So antwortete er, als der Lehrer Daumer ihn fragte,
ob er nicht auch ein Wappen gesehen habe, er wisse zwar nicht, was dieses genau sei, doch inwendig über der Tür in der Mauer habe er ein Bild gesehen:
„Er zeichnete hierauf dasselbe; es war gleichwohl nichts anderes als ein nur mangelhaft
dargestelltes Wappen. Es befand sich darin ein Quadrat und in diesem ein aufrecht stehendes Tier von unbestimmter Gattung; außerdem machte er noch drei mit den Spitzen
zusammenlaufende Dreiecke hinein …“64
Kaspar sollte dieses und ein weiteres
Wappen, welches er vor seinem geistigen Auge gesehen hatte, nachzeichnen.
Da er sich nur schwer an Details erinnerte, half Daumer nach und zeigte ihm ein
Wappen mit zwei Löwen, die zwei gekreuzte Schwerter hielten. Hauser
schaute sich das Wappen an:
„Ja, so kämen die Spitzen wohl
heraus, die ihm im Sinne lägen;
aber oben sei noch etwas gewesen. Er zeichnete darauf eine Abb.g 24: Die Wappen-Skizzen des Kaspar Hauser.
über dem Wappen befindliche
Krone.“65
So entstand das zweite, nebenstehend abgebildete Wappen.
Die eigenartigen Windmühlenflügel im linken Wappen wurden später als atypisches Tatzenkreuz
gedeutet, so wie es sich zum Beispiel im Wappen des Deutschen Ordens wiederfindet, allerdings
auch klein als Emblem eines „Ordens am Bande“, in vielen anderen Wappen.66
Die Hauser'schen Wappenbilder wurden alsbald herangezogen, um die Erbprinz-von-BadenTheorie zu untermauern, denn man glaubte, ein von Hauser gezeichnetes Wappen in Schloss
Beuggen am Oberrhein entdeckt zu haben, ein Wappen, das genau seinen Skizzen entsprach.
Schon vor Hausers Auffindung in Nürnberg ging das Gerücht, in Beuggen sei ein hochadeliger Ge fangener lange Zeit widerrechtlich eingekerkert gewesen. Ein in lateinischer Sprache verfasster
Hinweisbrief, der am 22. September 1816 rheinabwärts in einer Flaschenpost aufgefunden wurde, untermauerte dieses Gerücht. Die Unterschrift soll, anagrammatisch verschlüsselt, auf Kaspar
Hauser hingewiesen haben: Statt „S. Hanès Sprancio“ sei „Sein Sohn Caspar“ zu lesen!67
Wir wollen uns mit dieser recht abenteuerlichen Theorie nicht weiter auseinandersetzen, aber
zugegebenermaßen bestehen zwischen den Wappenentwürfen Kaspar Hausers und einem am
sogenannten Teehaus in Beuggen angebrachten Wappen gewisse Ähnlichkeiten. Dass das Wappen allerdings nicht inwendig angebracht war, wie Kaspar berichtet hatte, sondern außen, störte
dabei niemanden. Ein Befund von Beweischarakter liegt hier also nicht vor!
64 Georg Fr. Daumer: Kaspar Hauser. Sein Wesen, seine Unschuld, seine Erduldungen und sein Ursprung, Regensburg 1873, S. 432f. Im Weiteren abgekürzt mit Daumer, Wesen und Seitenzahl.
65 Pies, Dokumentation, S. 54.
66 Pies, Fälschungen, S. 331.
67 Zur Übersicht z. B. Schiener, Hauser, S. 173ff.
32
Wie nebenstehende Abbildung zeigt und Ivo Striedinger erstmals als Gegenargument vorbrachte, finden sich Züge der Hauser'schen Wappen genauso gut beim bis 1835 gebräuchlichen
Bayerischen Staatswappen:
Schwert und Zepter gekreuzt, aufsitzende Krone, Löwen, Tatzenkreuze als Ordens-Emblem.
Das Streifenmuster könnte mit einiger Fantasie auch als missglücktes Rautenmuster gedeutet werden. Embleme des
Deutschordens konnte Kaspar außerdem reichlich in Nürnberg
gesehen haben.68
In diesem Zusammenhang interessiert nun besonders, ob sich in
und am Schloss Wanghausen ein Wappenbild erhalten hat, das
Abb. 25: Bayerisches Staatswap- dem Hauser'schen Wappenbild entspricht, so wie er es in seipen um 1820.
nem Schlosstraum – über der Tür, in der Mauer – gesehen hatte.
In der Tat wird man in Wanghausen fündig, allerdings auch nur an der Außenfassade. Im Inneren
ist uns bei der Ortsbesichtigung ein Wappen nicht aufgefallen.
Über dem Hauptportal des Schlosses an der zur Salzach gewandten Fassade, d. h. schräg „über
der Tür, in der Mauer“, sieht man ein großes Relief mit einem Wappenbild. Allein, es hat mit Kaspar Hausers Skizzen nichts zu tun, sondern stammt von Baron von Wening-Ingenheim, welcher
1848 das Schloss übernahm.
Abb. 26: Die Wappen an der Fassade und dem Portal von Schloss Wanghausen.
Sollte hier zuvor das Wappen der Familie von Prielmayer, also der Familie, welche zur Zeit Kaspar
Hausers Schloss Wanghausen besaß, angebracht gewesen sein, so hätte dies wenig mit Kaspar
Hausers Wappen zu tun, denn der Prielmayer'sche Wappenschild zeigt einen über Eck stehenden
Sparrenfirst mit zwei Sternen und Anker; der Turnierhelm trägt eine sogenannte Heidenkrone
mit quergeteiltem Stern, also nichts von dem, was Kaspar Hauser gezeichnet hat.
68 Striedinger, S. 446.
33
Siehe hierzu das nebenstehende Prielmayer-Siegel
sowie das Portrait Korbinians von Prielmayer unten.69 Das Prielmayer-Wappen befindet sich verkleinert am neugotischen Portalgewand von Schloss
Wanghausen (siehe oben).
Alle Wappen von Schloss Wanghausen zeigen also
nur wenig bis keine Ähnlichkeit mit den Wappenbildern Kaspar Hausers. Ergibt sich hieraus ein fundamentaler Widerspruch zur die Wanghausen-Theorie
oder gar ein Ausschlussgrund? Waren dies wirklich
die einzigen Wappen, die Kaspar erinnern konnte, Abb. 27: Erhaltenes Prielmayer-Briefsiegel
oder hatte er womöglich ein ganz anderes Wappen aus einer bayerischen Siegelsammlung (Intervor dem inneren Auge? Wenn nicht in Wanghausen - netauktion).
wo konnte der kleine Kaspar ein Wappen gesehen haben, das ihn so beeindruckte, dass er es
später im Traum wieder erlebte?
Begeben wir uns mit ihm auf seinem vermuteten Schulweg hinein in die Stadt Burghausen:
Das markanteste und wohl auch hübscheste, im sogenannten Salzach-Stil erbaute Stadthaus von
Burghausen ist der sogenannte „Stadtsaal“. Der eindrucksvolle Bau entstand zur Mitte der 16.
Jahrhunderts. Es diente bis 1779 als Sitz des Rentamtes Burghausen, bis 1802 als bayerisch-kurfürstliches Regierungsgebäude. Bei diesem Gebäude flankieren drei dekorative RenaissanceTürmchen ein großes Prunkwappen des Kurfürstentums Bayern aus Stuck, das weit und breit seinesgleichen sucht. Gerade auf diesem Wappenbild finden sich nun alle Wesensmerkmale wieder,
die Kaspar Hauser später gezeichnet hat!
Abb. 28: Der Stadtsaal in Burghausen mit seinem Wappen.
Kein Zweifel: Wenn der kleine Kaspar Hauser in Burghausen zur Schule gegangen ist, dann
muss er dieses repräsentative Großwappen wiederholt gesehen und vermutlich auch bewundert haben. Es konnte sich ihm so einprägen, dass er es später in seinem Schlosstraum erinnerte, wenngleich an anderer Stelle.
So fügen sich nach ersten Hindernissen nicht nur der Schlosstraum, sondern auch die Wappenbil der Kaspars zwanglos in die Wanghausen-Theorie ein!
69 Martin C. W. von Wölckern: Beschreibungen aller Wappen der fürstlichen, gräflichen, freiherrlichen und adeli chen jetztlebenden Familien im Königreich Bayern, Dritte Abtheilung, Nürnberg 1827, S. 223f.
34
7. Über nichts hat es in der Vergangenheit soviel Verwirrung und Fehlinformation gegeben wie
über Kaspar Hausers Verlies. Befeuert wurde dieser Wirrwarr vor allem durch die Pilsach- und
Beuggen-Theorie, und die damit verbundene Tatsache, dass man sich die Beschaffenheit des je weiligen Verlieses so hinbog, wie man es brauchte, wobei man geflissentlich die Tatsache ignorierte, dass sich Kaspar Hauser selbst sehr dezidiert und unzweideutig zur Beschaffenheit seines
früheren Aufenthaltsortes geäußert hatte.70
Der Nürnberger Bürgermeister Jakob Friedrich Binder war der erste, welcher 1828 öffentlich bekannt machte, dass Kaspar Hauser,
ehe er nach Nürnberg kam, über lange Jahre
in einem „dunklen, von außen kaum belichteten Raum zu ebener Erde“ verwahrt worden
sei und dort vor sich hin vegetiert habe. 71 Seine Angaben kamen aus erster Hand. Des Weiteren war von einem „gestampften, trockenen Erdboden“ in „gelblicher Farbe“ die
Rede, auf dem Kaspar saß, mit einer Exkavation und einem Behältnis zur Verrichtung der Abb. 29: Szene aus der Fernsehdokumentation „KasNotdurft, inkl. eines Holzdeckels.72 Der später par Hauser„, Serie Terra X, 2002.
hineingeschobene „unter der Erde liegende Keller“ war bereits ein Fehlschluss Georg Friedrich
Daumers gewesen.73 Binder hatte von ebenerdiger Lage berichtet.
Kaspar Hauser erwähnte, dass immer nach dem nächtlichen Schlaf sein Gefängnis aufgeräumt
und mit frischem Brot und Wasser versehen gewesen sei, was nun klar darauf hindeutet, dass
eine Versorgung tagsüber zur Entdeckung von außen hätte führen können. Damit scheidet ein
Keller innerhalb eines Hauses mehr oder weniger aus.
Alles deutet vielmehr auf ein ebenerdiges Außengebäude hin, das nur im Dunkeln unentdeckt
vom Bewacher aufgesucht werden konnte!
Kaspar Hauser selbst bezeichnete seinen damaligen Lebensraum als „Loch“ oder „Käfich“.74 Nur
spärlich erhellt und belüftet, wurde Kaspars Gefängnis von zwei kleinen, nahezu quadratischen
und verglasten Fensteröffnungen oben an der Decke belichtet, denen von außen ein Holzstoß
vorgestellt war, „über dem Kaspar gerade noch den Gipfel eines Baumes erkennen konnte“.75
Speziell auf den Holzstoß legte sich Kaspar Hauser in einem Verhör am 7. November 1829 präzise
fest:
„Gleichwohl aber getraue ich mir schon aus meinen Wahrnehmungen, aus der Entfer nung und den inzwischen erlangten Begriffen von aufgeschichtetem Holz, sogenannten
Holzstößen, mit Bestimmtheit angeben zu können, dass es Holz gewesen ist, welches sich
vor den Fenstern meines Aufenthaltsortes befunden hat.“ 76
War im Binder'schen Protokoll noch von einer Holzbohlen-Decke die Rede, so belegen die weite ren Quellen, dass das Verlies überwölbt gewesen sein muss: „Oben auf der Decke sei es wie z. B.
70 Zu Kaspar Hausers Angaben mehr bei Pies, Dokumentation, S. 26f., 194ff., Augenzeugen, Kap. 15, Fälschungen,
S. 336ff., Daumer, Hauser, S. 41 u. a., Antonius van der Linde: Kaspar Hauser, Band 1, Seite 201ff. Im Weiteren
abgekürzt mit Linde 1 oder 2 und Seitenzahl.
71 Binder, S. 2.
72 Pies, Augenzeugen, Kap. 15.
73 Mit der Ebenerdigkeit hat Daumers Argument, Kaspar sei bei seiner Freilassung eine Kellertreppe
hinaufgetragen worden, an Plausibilität verloren! Daumer, Hauser, S. 42, Fußnote.
74 Feuerbach, Hauser, S. 41.
75 Pies, Dokumentation, S. 174ff. und 194.
76 Kaspar Hauser, zitiert in Pies, Dokumentation, S. 177.
35
in einem Keller gewesen“, meinte Kaspar im ältesten Fragment seiner Aufzeichnungen, was für
ein gemauertes Gewölbe spricht.77 Kaspar Hauser ging übrigens von Sandsteinwänden aus, so,
wie er sie in Nürnberg und Ansbach zu sehen gewohnt war. Er war sich aber dessen nach eige nem Bekunden keineswegs sicher, so dass auch anderes Wandmaterial in Frage kommt.
Dass in dem Raum ein von außen beheizbarer Ofen im Form eines Bienenkorbes gewesen sei,
wie Binder angab, bleibt ebenfalls fraglich, denn Daumer dementierte diese Sichtweise aufgrund
der Angaben Kaspars,78 und dieser selbst überging das Detail später bei all seinen Verhören
(Quellen oben). Dennoch sei die Temperatur in seinem „Loch“ immer relativ gleich gewesen, was
für eine gute Isolierung nicht nur gegen Schall, sondern auch gegen Kälte und Hitze spricht.
Exakt sind die wiederholt von Kaspar vorgebrachten Größenangaben: Der Innenraum habe in
etwa 6 bis 7 Schuh Länge, 4 Schuh Breite und 5 Schuh Höhe aufgewiesen, wobei 1 Schuh Nürn berger Maßes damals eine Länge von 30,375 cm bedeutete. 79 Dies entspricht einem sehr kleinen
Verlies von nur 2,10 m Länge, 1,2 m Breite und 1,5 m Höhe.
Dass dieser dunkle, ruhige Raum Kaspar Hauser, nachdem sich er erst einmal an ihn gewöhnt
hatte, trotz aller Beschränkungen eine fast uterine Geborgenheit und Behaglichkeit gab, ist
unbenommen. Damit erklärt sich z. B. Kaspars eigenartiges Verhalten nach dem ersten Mordversuch im Hause Daumers, bei dem er auf dem Abtritt von einem maskierten Unbekannten mit ei nem Hackmesser schwer verwundet wurde. Kaspar flüchtete sich damals, anstatt ins Freie oder
hinauf in die Obergeschosse, wo die „Mutter“ weilte, hinab in den Keller des Hauses, also gerade
dorthin, wo es dunkel und still war und er sich geborgen und sicher fühlen konnte. Dies war eine
nur allzu menschliche Verhaltensweise, wenn man seinen Werdegang im „Loch“ berücksichtigt!
Im Daumer'schen Keller mit seiner fest verschlossenen Luke herrschte eine wohltuende Abge schiedenheit, und der schwer verletzte Kaspar gab solange keinen Laut von sich, bis er schließlich
aufgefunden wurde. In Anbetracht seiner spezifischen Vergangenheit ist es völlig unverständlich,
dass Kaspar Hauser damals wegen angeblich widersinnigen Fluchtverhaltens mit dem Verdacht
der demonstrativen Selbstverwundung überzogen wurde.
Findet sich im Schloss Wanghausen
Schloss ein als Dauerversteck tauglicher
Raum?
Begeben wir uns ins Souterrain des
Schlosses. Das Hauptgebäude ist nicht
unterkellert, dagegen finden sich im
südöstlichen Anbau aus jüngerer Zeit
zwei Gewölbekeller, deren einer vermauert war und erst von Dr. Brunnhölzl
nach einer handschriftlichen Notiz wiederentdeckt wurde. Dieser Keller passt
in einigen Attributen zu Kaspar Hausers
Kerkerbeschreibung: Er weist teilweise
einen gestampften, gelblichen LehmboAbb. 30: Peter Vornehm mit der Besitzerin des Schlosses
den auf, er ist gewölbt, die Belüftung Wanghausen, Marga Brunnhölzl, im Keller des Anwesens.
mündet außen in zwei Kellerfenster.
Aufnahme des Alt-Neuöttinger-Burghauser Anzeigers vom
Drei Phänomene lassen dennoch an 7. Februar 2013.
Kaspar Hausers Aufenthalt in diesem
Keller zweifeln:
77 Pies, Augenzeugen, Kap. 15.
78 Mayer-Masson, S. 265.
79 Pies, Augenzeugen, Kap. 15, Dokumentation, S. 174.
36
•
Die Fläche des Kellers ist mit ca. 20 qm deutlich überdimensioniert. In diesem Keller hätte sich Kaspar Hauser, soweit es seine Fessel eben zuließ, erheben und herumgehen kön nen. Doch dies war nach seinen Aussagen nicht der Fall.
•
Der Keller ist durch den Lüftungsschacht zwar gut belüftet, allerdings so zugig, dass er
erst kürzlich innen durch ein modernes Isolierfenster verschlossen wurde. Im Winter
wäre dieser Keller durch kalte Fall-Luft stark ausgekühlt, bei Schließen der Luke wäre er
ohne Frischluftzufuhr gewesen.
•
Der dritte Einwand ist der gewichtigste: Der Luftschacht des Kellers beginnt unter dem
Gewölbe-Scheitel und führt ca. 2 Meter nach oben zu den beiden kleinen Außenfenstern. Kaspar Hauser hätte diese Fenster im Sitzen nie sehen, geschweige denn dahinter einen vorgestellten Holzstapel und einen Baum erkennen können! Dazu hätte er den
Schacht hinaufkriechen müssen, was er für sein Verlies jedoch eindeutig dementiert hatte: Er sei immer nur an eine Wand angebunden gesessen und gelegen und habe dennoch
in dieser Körperhaltung die Fenster und den Blick nach außen wahrgenommen!
Die Widersprüche zu Hausers Kerkerbeschreibung lösen sich auf, wenn man in Betracht zieht,
dass Kaspar Hauser gar nicht in diesem Keller des Anwesens, sondern in einem Beigebäude untergebracht war. Genau dies stellt eine Verschwörungsgeschichte in den Raum, welche wir wegen ihrer Bedeutung für den Fall Kaspar Hauser im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlich be sprechen werden. Ein tatsächlich noch heute existierendes Beigebäude, das wir konkret im Verdacht haben, Kaspar Hauser als Verlies gedient zu haben, bekommt dabei eine ausführliche Wür digung in Wort und Bild!
Abschließend wollen wir auf die weitaus größeren Diskrepanzen zwischen Kaspars Beschreibung
und den angeblichen Verliesen in Pilsach und Beuggen zurückkommen: In beiden Schlössern
müssen flache, eher konstruktiv bedingte Hohlräume unter einem Fehlboden als Verwahrungsort
herhalten, ein Gewölbe fehlt gänzlich. Das Pilsacher Verlies weist ebenso wie das in Beuggen nur
eines statt zwei Fenster auf, es war in keiner Weise schallisolierend, so dass man Schreie oder ein
Randalieren durchaus im ganzen Schloss gehört hätte. Hauser hat einmal von einem solchen Versuch berichtet, weswegen er von seinem Bewacher geschlagen wurde, kurz vor seiner Freilassung. Außerdem stand direkt neben dem Pilsacher Schloss die Pfarrkirche von Pilsach. Deren
Glocken läuteten regelmäßig. Dagegen hatte Kaspar präzise berichtet, nie einen Glockenklang
vernommen zu haben. Das Pilsacher Versteck war obendrein nur durch einen sehr niedrigen Vorraum, durch den man kriechen musste, vom Treppenhaus und/oder der Küche aus zu erreichen,
der Boden wies lockeren Bauschutt und Sand auf, eine denkbar ungünstige Konstellation für die
Ver- und Entsorgung eines Dauergefangenen.
Speziell ein Nachttopf, so wie ihn Hauser beschrieb, hätte im losen
und staubigen Schutt über dem Gewölbe keinen rechten Halt gefunden. Und wie soll man sich bei den Pilsacher und Beuggener PseudoVerliesen in mehreren Metern Höhe vorstellen, dass ein Holzstapel
dem Fenster vorgestellt worden sei? Allein in Pilsach lag das einzige
Luftloch in 3 Metern Höhe, kein Holzstapel konnte bis dahin reichen,
ohne seine Stabilität zu verlieren! Wenn Kaspar Hauser mit seinem
Blickwinkel von unten dann auch noch dahinter einen Baum hätte erkennen sollen, dann müsste dieser, da er bedingt durch den Pilsacher
Weiher ja in erheblicher Distanz zum Schloss gestanden wäre, von giAbb. 31: Das Pilsacher gantischer, übernatürlicher Größe gewesen sein! In Beuggen ging gar
Pferdchen.
der Blick auf den Rhein hinaus, in dem sicher kein Baum stand!
Außerdem hatte Kaspar klar Holzdecken und Fehlböden in seinem Verlies ausgeschlossen und
37
ein niedriges Gewölbe angedeutet.80
Dies ist nur eine kleine Auswahl der Diskrepanzen zu Hausers authentischen Angaben, die sich
bei der Pilsach-Theorie nach Klee ergeben! 81 Bei solch eklatanten Widersprüchen vermag jetzt
auch nicht mehr beeindrucken, wenn in Schloss Beuggen an einem Balken ein aufgemaltes Ross
in Rötelfarbe und in Pilsach zwei echte Spielzeug-Rösser aufgefunden wurden, allerdings wieder um nicht die, welche Kaspar Hauser beschrieben hatte (mit eingesetzten Mähnen aus Rosshaar
anstatt ohne). Dass dann 1982 in Pilsach bei einem Umbau ein doch noch passendes Pferdchen –
oder vielmehr ein Torso desselben – nachgeschoben wurde, schlägt dem Fass den Boden aus!
So wunderbar die Pilsach-Geschichte von Klara Hofer kreiert und von Fritz Klee ausgebaut und
mit den entsprechenden Persönlichkeiten – einem Freiherren von Grießenbeck, einem Jäger namens Franz Richter als Wärter – ausstaffiert wurde:
Nach allen Belegen, welche in dieser Arbeit zusammengetragen wurden, sind Schloss Pilsach
und Beuggen als Verwahrungsorte Hausers definitiv auszuschließen!
8. Der Geleitbrief Kaspar Hausers, den er dem Rittmeister Fritz von Wessenig in Nürnberg prä sentierte, spiegelt eine gewisse Kenntnis des Schreibers im Militärwesen wider. So war z. B. die 4.
Eskadron des 6. Chevauxlegers-Regiments erst 1824 von Neumarkt in der Oberpfalz nach Nürnberg verlegt worden – ein Sachverhalt, welcher Zivilpersonen nicht unbedingt bekannt gewesen
sein dürfte. Kaspar Hauser selbst sprach davon, vom „Mann“ zuvor entsprechend instruiert worden zu sein, dass sein Vater ein „Schwoliger“ = Chevauleger gewesen sei, und dass er selbst ein
solcher werden möchte.
Dabei war dem Jungen nachweislich der Ausdruck „Akobifedern“ = Jakobifedern bekannt; er gebrauchte dieses Wort schon kurz nach seiner Entdeckung beim Verhör durch den PolizeiOffizienten Röder, nämlich auf die Frage hin, worauf er in seinem Verlies gelegen habe. Jakobife dern, das war ein Wort, das zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend aus dem baye risch-österreichischen Soldatenjargon kam. Man bezeichnete damit die Strohsäcke, auf welchen
die gemeinen Soldaten im Feld zu liegen kamen. 82 Der Name rührt daher, dass früher um die Zeit
des Jakobstages (25. Juli) das neu geerntete Getreide gedroschen und dabei Stroh gewonnen
wurde.
Es besteht also Grund zur Annahme, dass der Wärter Kaspars beim Militär gedient oder wenigstens Kontakt zu Soldaten hatte.
In diesem Zusammenhang wird man hellhörig, wenn man vernimmt, dass der damalige Besitzer
des Schlosses Wanghausen, Johann Nepomuk von Prielmayer, einen Bruder namens Baron Joseph Georg Prielmayer, geb. am 9. Februar 1778 in Burghausen, hatte, der erst Unter- und dann
Oberleutnant im 1. Bayerischen Dragoner-Regiment und damit ein Offizier der „Schwoliger“ war.
Ein Armeebefehl vom 22. Dezember 1808 berichtet unter § 6 davon, dass der Unterleutnant Joseph Baron Prielmayer zum Oberleutnant befördert worden sei. In diesem Rang soll er am 5. Ko alitionskrieg teilgenommen haben. In der Schlacht bei Eggmühl wurde er tödlich verwundet; er
starb am 27. April 1809 an seinen Verletzungen in „Lanquart“, wohl Langquaid in Niederbayern.
Nach der verheerenden Niederlage Napoleons in Russland drei Jahre später war es mit der Herrlichkeit der gesamten leichten Reiterei Bayerns für längere Zeit vorbei; fast alle Chevauxlegers
fanden im Osten den Tod!
Mit der Familie von Prielmayer wollen wir uns in der Folge noch ausführlicher beschäftigen.
Einstweilen genügt der Hinweis, dass der „Mann, bei dem Kaspar immer gewesen“, eine Person
80 Mayer-Masson, S. 265f.
81 Klee, Kap. 2.
82 Pies, Wahrheit, S. 108, Pies, Dokumentation, S. 11.
38
von besonderer Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit und obendrein mit soldatischem Hintergrund gewesen sein sollte, wollte er Kaspar Hauser konsequent bewachen. Dabei bietet sich die
reizvolle Spekulation an, ob er nicht einst im Regiment des Barons Prielmayer gedient hatte, vielleicht sogar sein früherer Adjutant oder ein anderweitig treu Untergebener gewesen war. Eine
Person aus soldatischem Milieu verfügte am ehesten über die Eigenschaften und Gewaltmittel,
um einen Gefangenen wie Kaspar Hauser über lange Zeit in Schach zu halten und ihn, wie mögli cherweise geschehen, auch umzubringen.
9. Nun gibt uns eine wichtige Quelle Grund zur Annahme, dass der eigentliche Beruf von Kaspars Wärter doch ein ganz anderer als der eines Soldaten war.
Wir zitieren aus den ersten Aufzeichnungen Georg Friedrich Daumers, welche in Form einer Tucher'schen Abschrift für Anselm von Feuerbach erhalten blieben und von Johannes Mayer veröf fentlicht wurden:
„In seinem Käfig, sagte er, habe er öfter schlechtes Wasser bekommen, worauf er eingeschlafen sei. Sei er aus diesem Schlaf erwacht, so habe er wieder gutes Wasser gehabt,
was aber nicht gelangt habe, so dass er habe Durst leiden müssen. Ohne Zweifel war ein
schlafmachendes Mittel unter das Wasser getan worden, durch welches auch nach dem
Schlaf ein krankhaft vermehrter Durst entstand, der verursachte, dass seine gewöhnliche
Portion Wasser ihm nicht genügte.
Ehe er aus seinem Gefängnis gebracht worden, sei ihm ein Wasser aufgedrungen wor den, welches schlechter als je gewesen. Auf dem Rücken des Mannes, der ihn herausge tragen, sei er sodann eingeschlafen. Im Hause eines Apothekers habe er einmal etwas
Ähnliches gerochen als das schlechte Wasser. Offenbar war damals der Schlaftrunk stärker als je bereitet worden, um ihn in eine lange Betäubung zu versetzen. Auch sein vieles
Trinken nach dem Erwachen aus dieser Betäubung erklärt sich daraus.
Als er auf dem Wege das erste Mal erwacht sei, habe er einen abscheulichen Geruch in
der Nase gehabt. Auf die Frage: ob etwa wie vom Abtritte oder wie vom Kirchhof oder
wie sonst, sagte er; ’wie von toten Tieren’. Später sagte er, es habe nicht ganz so gerochen, wie von einer toten Maus oder einem toten Hunde, sondern die meiste Ähnlichkeit
habe der Geruch mit einem Tierknochen gehabt, den er einmal auf einem Spaziergange
im Vorbeigehen gerochen und der ihn sehr widerlich afficiert habe …“83
„Auf einmal brach er los und riss sich den Verband herab. Man hatte einen Umschlag aus
Leim gemacht, und wahrscheinlich war der hart gewordene Leim, der auf der empfindlichen Stelle einen großen Reiz verursachen musste …, die Ursache des neuen Ausbruchs …“84
(Professor Wurm:) „Die Sonnambüle (eine Testperson) gab an, er (Kaspar) sei bei einer
Fallmeisterei herausgebracht worden … Vielleicht ist er schlafend auf dem Schinderkarren fortgeschafft worden …“85
Wir erfahren hier relativ authentisch, sogar aus dem Mund Kaspar Hausers selbst, vom Geruch
toter Tiere, genauer von ausgebeinter Knochen und stinkendem Knochenleim. Diesen Geruch
kann aber nicht der Mann selbst, der Kaspar aus seinem Verlies trug, an sich gehabt haben, sondern höchstwahrscheinlich der Wagen, mit dem er von diesem anschließend fortgeschafft wur de. Obiges Zitat aus Kaspars ersten Lebenserinnerungen belegt nämlich, dass sich der üble
Geruch erst einstellte, als er von ersten kleineren Berg auf den zweiten, größeren Berg getragen
83 Mayer-Masson, S. 262f.
84 A.a.aO., S. 255.
85 A.a.aO., S. 263.
39
wurde. Daumer nahm wie sein Bekannter, Prof. Wurm, an, Kaspar Hauser sei auf einem „Schinderkarren“ transportiert worden. Dies mag zutreffen, aber Kaspar kann dem soeben Vernommenen nach erst auf diesen Karren zum Weitertransport gelegt worden sein, als der zweite Berg bereits hinter ihnen lag und er sich bereits an den Geruch gewöhnt hatte. Dies hat aber insofern
seine Plausibilität, als ein Schinderkarren in der Regel von einem Maulesel gezogen wurde, und
dieser durch den Steilanstieg schon mit dem leeren Karren so gefordert gewesen sein kann, dass
der Mann Kaspar lieber weiter auf seinem Schultern trug als das Gefährt zusätzlich zu beschweren.
Diese Angaben sind aber umso bedeutsamer, als Kaspar Hauser bekanntermaßen einen besonders feinen Geruchssinn besaß. Wir können uns deshalb in diesem Punkt Daumer und Wurm nur
anschließen und bekräftigen:
Was hier beschrieben wurde, ist in der typische Geruch, der dem Gefährt eines Wasenmeisters
anhing – mit nichts anderem zu verwechseln!
Die Wasenmeister, auch Fallmeister, Abdecker, Schinder, Kafitter genannt, gehörten
seit Menschengedenken einem zwar respektierten, aber sozial verfemten, weil anrüchigen Berufsstand an. Abgesondert von
der sonstigen Gesellschaft, übten sie traditionell neben der Beseitigung von Tierkadavern (Vierbeiner) auch das Scharfrichteramt aus, von dem allein sie aber in der Regel nicht leben konnten. Sie vermehrten
sich ausschließlich durch Eheschließungen
innerhalb der eigenen Kaste und bildeten
so ganze Clans oder Sippen, die durch Inzucht vital gehalten wurden. Erst ab der
Mitte des 19. Jahrhunderts lockerten sich
diese Regeln, und die Wasenmeisterei ging
in die Verantwortung der Ortsverwaltungen über.
Abb. 32: Durch einen Querbalken vom Kirchenvolk abgetrennter Randsitz des Wasenmeisters als Ausdruck der
gesellschaftlichen Sonderstellung. Barockes Kirchengestühl auf der Empore der Kirche Mariahilf in Berching, der
Heimatstadt des Autors.
Die Wasenmeister waren wegen ihres ständigen Umgangs mit kranken und toten Tieren im Grund genommen besser anatomisch und
patho-anatomisch ausgebildet als die damaligen Ärzte. Deshalb waren die Wasenmeister – in
geheimer Zunft und mit mündlicher, von Generation zu Generation weitergegebener Tradition
organisiert – nicht nur als Tier-, sondern auch als Menschen-Heilpraktiker und Volksmediziner
hochgeschätzt, wobei man sie allerdings in der Regel wegen ihres „unehrlichen Berufs“ nur
heimlich aufsuchte.
Kaspars Nase scheint auf die Gerüche, die mit einer Abdeckerei verbunden sind, geradezu ge schult gewesen zu sein. So berichtete Georg Friedrich Daumer:
„Anfänglich aber … roch er z. B. tierische verweste Substanzen oder ausgetrocknete Knochen auf eine weite Entfernung, sogar die Ausdünstung des Gottesackers vom Garten des
Herrn Kaufmanns Scharrer, also über 400 Schritte weit …“86
Mit der Annahme, dass Kaspars Bewacher ein Wasenmeister oder wenigstens dessen Knecht
oder Geselle war, erklären sich auf einen Schlag mehrere Phänomene seiner Geschichte:
•
Einem Wasenmeister darf man als aktiv tätigem Heilpraktiker am ehesten den
Besitz und den sicheren Umgang mit der „Tinctura Opii“ zutrauen – gerade so,
86 Pies, Wahrheit, S. 185.
40
wie sie bei Kaspar mit ziemlicher Sicherheit zum Einsatz kam. Bei einem solchen
hätte ein solcher Gebrauch auch nicht auffallen müssen, wie der Polizeirat Merker später monierte.87
•
Zu den typischen Werkzeugen eines Wasenmeisters gehörte jenes Hack- oder
Schlachtmesser, mit dem Kaspar am 17. Oktober 1829 im Hause Daumer fast ermordet wurde.
•
Auch trugen die Wasenmeister in der Regel jene dunkle Kluft, welche Kaspar an
dem Attentäter, den er selbst als seinen ehemaligen Bewacher beschrieb, entdeckt hatte.
•
Ein Wasenmeister gehörte wegen seines Status außerhalb der bäuerlichen und
bürgerlichen Gesellschaft, als Angehöriger eines „unehrlichen Berufs“, genau zu
dem Personenkreis, welchem man die Bewachung eines Entführten über lange
Zeit am ehesten zutraut. Mit einem Wasenmeister war nicht gut Kirschen essen,
also mieden die Leute in jeder Hinsicht den offenen Umgang mit ihm, was ihm
sein heimliches Agieren mit einem Gefangenen erleichterte.
•
Ein Wasenmeister hatte auch jenes niedere Bildungsniveau, das der sogenannte
sog. Rittmeister-Brief widerspiegelt. Dort finden wir den zu einem Abdecker
bestens passenden Vorschlag an Rittmeister Fritz von Wessenig:
„wen Sie im nicht Kalten, so müßen Sie im abschlagen oder in Raufang
auf henggen - Wenn Sie ihn nicht behalten, so müssen Sie ihn abschlagen
oder im Rauchfang aufhängen …“
„Abschlagen“ und „Aufhängen“, das war der typische Jargon eines Schlächters –
oder eben eines Wasenmeisters!
•
Der Montur eines Wasenmeisters mag ein gewisser Geruch angehaftet haben,
wenn auch weitaus geringer als seinem Gefährt. Als Kaspar nach dem Hackmesser-Attentat, das er selbst eindeutig seinem früheren Bewacher zuschrieb,
davon berichtete, er habe den Mann hinter dem Paravent des Abtritts zwar nicht
gesehen, aber „gerochen“, so mag dies ein Korrelat dieses Geruchsphänomens
gewesen sein.88
•
Ein Wasenmeister verfügte über einen speziellen Karren, den bereits genannten
Schinderkarren, so dass für den Transport Kaspars kein Wagen auszuleihen war,
was ja mit einer gewissen Entdeckungsgefahr verbunden gewesen wäre. Um einem Schinderkarren, auf dem tote Tiere, Knochen und ggf. auch Hingerichtete
transportiert wurden, machte jeder vernünftige Mensch, nicht zuletzt auch die
Gendarmerie, einen großen Bogen. Die Wagen hatten wegen der Seuchengefahr
sogar die strenge Auflage, auf abgeschiedenen Wegen zu fahren. Damit konnte
der verdeckte Wagentransport Kaspars nach Nürnberg völlig unbehelligt vonstatten gehen!
•
Nicht zuletzt lieferte Kaspars Bewacher den Findling gerade auf dem Unschlittplatz in Nürnberg ab, also dort, wo einst Abdecker-Material beim sogenannten
Unschlitt-Haus abgegeben werden musste. Das Unschlitt, der Talg von toten
Tieren, den man früher in gehörigen Mengen zum Seifensieden brauchte, kam
zum kleineren Teil von den Fleischern und Metzgern, zum größeren Teil von den
Abdeckern! Wenn ein Schinderkarren vor Nürnberg in Richtung Unschlittplatz
unterwegs war, so stieß sich keiner daran, selbst an jenem Pfingstmontag nicht,
87 Johann F. K. Merker: Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger, Berlin 1830, S. 29, Fussnote.
88 Linde 1, S. 166.
41
denn tote Tiere mussten ja auch an einem Feiertag entsorgt werden. Sogar die
ungestörte Passage eines Stadttores war mit einem solchen Gefährt möglich.
Dass dies konkret stattfand, steht allerdings in Zweifel, denn Kaspar berichtete,
das Nürnberger Pflaster hätte seinen Füssen weh getan, was ja für einen
längeren Fußmarsch durch die Stadt spricht.
Im einstigen Rentamt Burghausen (1705-1802) gab es insgesamt 39 Wasenmeister, einer weiterer war zugleich Scharfrichter auf der Burg. Dieser wohnte lange Zeit am anderen Ufer der Salz ach, in Ach bzw. Wanghausen, und besorgte nebenbei auch die dortige Abdeckerei! Dieser Status
galt z. B. noch für den Abdecker Simon Joseph Jakob, den Sohn eines Landshuter Scharfrichters,
der 1739 eine Tochter des Burghausener Scharfrichters Anton Langmayer namens Maria geheiratet hatte. In Burghausen übernahm er den Scharfrichterposten nur deshalb, weil Matthias
Langmayer, der Sohn des soeben genannten, im Jahr 1737 in die Wasenmeister-Familie des
nahen Hochburg eingeheiratet hatte. Man sieht daran, wie sehr zu dieser Zeit die Abdecker-Familien beiderseits der Salzach verbunden waren.
Als jedoch nach dem Frieden von Teschen 1779 das Innviertel rechts
der Salzach österreichisch wurde, waren derart pragmatische Regelungen hinfällig: Der Scharfrichter Joseph Jakob musste nun seinen
Dienstsitz in Ach aufgeben und auf die andere Fluss-Seite umziehen,
in den sogenannten „Prechtlturm“, unterhalb des 5. Vorhofes der
Burghausener Burganlage. Von hier aus verrichtete er sein Scharfrichter-Handwerk auf der Burg (wobei der Hinrichtungsplatz deutlich außerhalb derselben gelegen war), daneben leitete er auch die
Abdeckerei in Daxenthal bei Haiming.
Joseph Jakob übte sein Amt über 44 Jahre aus, bis zum Jahr 1783.
Dreizehn Jahre später kam er zu Tode. Nach dem Vater übernahm
vorübergehend für 7 Jahre sein Sohn Anton Jakob das Scharfrichteramt, ehe er als Wasenmeister in den Gerichtsbezirk Mauerkirchen
nach Neuhaus umzog. Im Jahr 1790 bekam deshalb sein jüngerer
Abb. 33: Der Prechtlturm der
Bruder Johann Basilius Jakob die Scharfrichter-Stelle in Burghausen,
Burg Burghausen.
zusammen mit der Daxenthaler Abdeckerei.
Dieser „Scharfrichter-Jackl“ wurde 1802 bei Auflösung des Rentamtes Burghausen arbeitslos,
nahm allerdings von Kurfürst Maximilian IV. Joseph eine ansehnliche Jahrespension von 300 Gulden entgegen, bis zu einer „anderweitigen Anstellung“.89 Dass Johann Jakob bei seiner guten Altersversorgung eine weitere Anstellung als Wasenmeister suchte oder fand, ist uns nicht be kannt; insofern hätte dieser letzte Scharfrichter seiner Dynastie prinzipiell die Überwachung des
in Wanghausen eingesperrten Kaspar Hausers übernehmen können. In Wanghausen oder Ach ist
er allerdings nicht nachzuweisen. Wir glauben auch deshalb nicht an seine Beteiligung am Fall
Hauser, weil er nachweislich am 22. April 1829 im relativ hohen Alter von 72 Jahren verstarb.
Dass dieser greise Mann noch im Jahr vor seinem Tod einen Kaspar Hauser nach Nürnberg ge bracht hätte, ist nicht plausibel. Und als Ausführender des Hackmesser-Attentats scheidet er de finitiv aus.
Ab 1810 waren zu beiden Seiten der Salzach die Bayern erneut für wenige Jahre die Landesherr en. Da es auch in dieser Zeit keinen Sinn ergeben hätte, tote, verwesende Pferde und Rinder aus
den tiefen Uferzonen über die Steilhänge nach oben zu transportieren, blieb vis-à-vis von Burghausen, am jenseitigen Ufer der Salzach, die Abdeckerei bestehen, um neben Ach und Wanghausen auch die toten Vierbeiner aus der Burghausener Unterstadt, nicht sehr viel an der Zahl,
zu entsorgen. Nichtsdestotrotz kann der dortige Abdecker nicht viel zu tun gehabt haben, denn
er stand in Konkurrenz mit den weitaus größeren Abdeckereien von Burghausen und Hochburg.
89 A. Buchleitner: 600 Jahre Rentamt Burghausen, Burghausener Geschichtsblätter, 47. Folge, 1992.
42
Nach der Revision des „peinlichen Rechts“ durch Paul Anselm von Feuerbach, welche 1813 in die
Neufassung des Bayerischen Strafgesetzbuches mündete, wurden Hinrichtungen durch das Beil
zur Ausnahme. In Burghausen fanden seitdem überhaupt keine öffentlichen Hinrichtungen mehr
statt. Damit war für den dortigen Abdecker der lukrative Nebenberuf des Scharfrichters entfal len, und insgesamt ein Weg vorgezeichnet, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts in die völlige
Abschaffung des Abdecker-Berufes mündete und die Tierkörperverwertung in kommunale Hände gab.
Damit wenden wir nun speziell den letzten Abdeckern von Ach und Wanghausen zu.
Um 1770 kam der Abdecker von Ach aus einem Ableger der großen Sippe der Leingartner, wie
uns der Abdecker-Experte Hans Matschek aus Braunau mitteilte. Johann Michael Leingartner
stammte aus Vilsbiburg und war mit Elisabeth Santner aus einer weiteren große Abdecker-Sippe
verheiratet. Da dieser Leingartner auch als „Zöllner zu Wanghausen“ fungierte, war er nicht al lein von der Abdeckerei abhängig und genoss ein relativ gutes Einkommen, wenngleich sein Amt
als Zöllner genauso wie das des Abdeckers zu den „unehrlichen“, also ständisch nicht anerkannten Berufen zählte. Wie es scheint, wurde zu Leingartners Zeit, als vor dem Bayerischen Erbfolge krieg und dem Frieden von Teschen das bayerische Rentamt Burghausen noch weit nach Osten
über die Salzach hinaus reichte, am rechten Ufer der Salzach nicht ein Grenzzoll in Ach, sondern
ein Brücken- und Wegezoll in Wanghausen erhoben, direkt zu Füßen des Schlosses.
Abb. 34: Der Bräutigam Simon Drechsler wird im Trauungsbuch von Maria Ach als Neubesitzer der
Mathiesen-Sölde im Weiler Neubruch bei Wanghausen bezeichnet, seine künftige Gattin Anna Maria als
die Tochter des Vilsbiburger Abdeckers Leingartner. Als Trauzeugen fungieren Mathias Hamberger,
bisheriger Besitzer der Mathiesen-Sölde, außerdem der Mesner Jakob Kugler und der Wasenmeister Caspar
Hamberger aus Hochburg.
Ab 1779 aber entfiel die Zöllnerei, und die Abdeckerei von Ach ging in Ermangelung eines männ lichen Nachfahren auf die Tochter Anna Maria Leingartner90 über, welche in eine andere große
Abdecker-Sippe mit dem Familiennamen Traxler alias Drechsler einheiratete. In den Matrikeln
von Maria Ach ist die kirchliche Eheschließung des Anna Maria Leingartner mit Simon Drechsler
unter dem 16. Juli 1781 registriert.91
90 Geboren am 8. Juli 1774 Vgl. hierzu und bei den folgenden Personenangaben die Matrikel der Pfarrei Maria Ach
unter: http://www.data.matricula.info/php/main.php.
91 Der ausführliche Text der Urkunde: „16:to (decimo sexto) Julii inito prius coram me contracto sponsalicio, tribus
factis denuntiationibus et nullo detecto impedimento ego J:(osephus) A:(loisius) Mader B.(aptizans) et C:(urator) an:(imorum) loci matrimonio conjunxi Simone(m =den Simon) Traxler(,) des achtbaren Johan(n) Draxlers ge westen Abdeckers des Mörtherrgricht (Mördergerichts) Au, und Margreth Haringerin(,) dessen Eheweibs(,) legi-
43
Aus der Ehe der Drechslers gingen in den Jahren 1784, 1790, 1792 drei Jungen hervor, welche
alle früh verstarben.92
Abb. 35: Taufbucheintrag des Kindes Mathias Drechsler vom 12. Juli 1784: Vater Simon Drechsler, Wasen meister von Ach, Mutter Anna Maria Leingartnerin, Taufpatin Anna Maria Angerin, Wasenmaisterin von
Hochburg. Der aus anderen Einträgen für die Anna Maria klar erkennbare Familienname „Leingartner“ ist
hier als „Weingartner“ - so hieß der Hufschmied von Ach - verschrieben.
Für das Verständnis des weiteren Schicksals der Drechsler ist der Taufeintrag des letzten Sohnes
vom 9. Dezember 1792 bedeutsam. In ihr wird Simon Drechsler nun nicht mehr als Wasenmeister von Ach bezeichnet, sondern als „Weißriemler und Häusler im Neubruch“.
Abb. 36: Taufbucheintrag aus Maria Ach, vom 9. Dezember 1792. In der linken Spalte steht „Simon Drechs ler, Weißriemler und Häusler im Neubruch“ , in der Spalte daneben „Anna Maria Leingartnerin“.
Es handelt sich hier um Informationen mit weitreichenden Konsequenzen:
Nach dem Frieden von Teschen 1779 war das Rentamt Burghausen hinter die Salzach zurückver legt worden. Für den Wasenmeister von Ach, das nun wieder in Österreich lag, war damit eine
der wichtigsten Geschäftsgrundlagen weggefallen, die Entsorgung der Tierleichen der Stadt
Burghausen. Es bot sich deshalb an, die Abdeckerei von Großtieren in die Wasenmeisterei
Hochburg zurückzuverlagern. Simon Drechsler erhielt dafür im Ausgleich die Mathiesen-Sölde in
Ober-Wanghausen,93 genauer gesagt im Weiler Neubruch,94 wo er sich auf die Tätigkeit des
timum filium (legitimen Sohn) beeder seeligen Eltern, als angehender Besi(t)zer der Mathiesensölde am Neu bruch allhier, mit der Anna Maria(,) des achtbaren Leingartner gewesten Abdeckers zu Vilzbiburg + seelig, bey
Johanna Schil(l)ingerin(,) dessen Eheweib annoch bey Leben(,) ehelich erzeugten Tochter. Testes (Zeugen): Ma thias Hamberger bisheriger und nun abgehender Besi(t)zer der Mathiesen=Sölde, et Jacob Kugler, hiesiger Mes ner, et Caspar Hamberger, Abdecker zu Hochburg.“ Die Übersetzung des lateinischen Satzes lautet: „Nachdem
sie schon zuvor vor mir offiziell Verlobung geschlossen hatten, habe ich, Joseph A. Mader, Taufpriester und Ku rat der örtlichen Seelen, am 16. Juli nach dreifacher Anzeige und Ausschluss eines Ehehindernisses in die heilige
Ehe verbunden, wie folgt.“ Josephus Aloisius Mader war zwischen 1780 und 1784 Kurat und Provisor der Pfarre
Maria Ach bei Wanghausen. Die Familien Draxler/Traxler/Drechsler, Hamberger, Leingartner und Schillinger
waren samt und sonders große Abdecker-Sippen, die durch Einheirat und Inzucht alle miteinander verwandt
waren und bayernweit ein großes Netzwerk bildeten. Zum Halsgericht Au in der Hallertau vgl. A. Widmann:
Stock, Galgen und Halsgericht im Markt Au in der Hallertau, 500 Jahre Gerichtsbarkeit …, in Amperland, Bd. 36,
2000, S. 255-257.
92 Mathias, geb. am 12. Juli 1784, Johann Baptist, geb. am 5. Juli 1790, Johann Evangelist, geb. am 9. Dezember
1792. Alle drei Jungen starben kurz nach der Geburt, wie an Kreuzen in den Taufbucheinträgen zu erkennen ist.
Vgl. Taufbuch 2 (1784-1799) der Pfarre Maria Ach, a. a. O.
93 Die höher gelegenen Ortsteile von Wanghausen wurden nach der Josephinischen Landesaufnahme 1763-1787
von den flussnahen mit dem Vorwort „Ober“ unterschieden. Das Schloss Wanghausen lag demnach in „UnterWanghausen“.
94 Der Name kommt von einer zu Siedlungszwecken frisch gerodeten Waldterrasse. Vgl. Das Deutsche Wörterbuch
von Jakob und Wilhelm Grimm, Bd. 13, Leipzig 1854-1961, Sp. 658.
44
„Weißriemlers“95 spezialisierte. Ein Ausbau dieses Geschäftes war dem Simon Drechsler allerdings in der Folge nicht möglich, da hierfür mit dem Tod seiner Jungen mehr oder weniger die
Voraussetzung entfallen war. Simon und Anna Maria Drechsler fristeten also in der Folge in ihrem
Söldnergütl am Waldrand hinter Wanghausen ein mehr oder weniger armseliges Leben.
Die Herstellung von Riemen nach dem Weißgerbe-Verfahren, die manche spezialisierte Abdecker
als sogenannte „Weißriemler“ betrieben, benötigte überwiegend Schweineleder, bei dessen Erzeugung man nicht so sehr marktabhängig war, wenn man zusätzlich zum Erwerb von Schweinshäuten die Schweinezucht selbst betrieb, was nun auch in der kleinsten Sölde gelang. Simon
Drechsler züchte also Schweine und verwertete neben deren Fleisch vor allem die Häute, die er
mit Alaun und Kochsalz gerbte und daraus die feinen Riemen für die Dreschflegel und andere
landwirtschaftliche Geräte der Bauern schnitt, die auf der bäuerlichen Hochebene des Weilhardt
bis Hochburg durchaus benötigt wurden. Daneben ließen aus dem vergleichsweise feinen
Schweinsleder auch höherwertige Utensilien herstellen, wie z. B. Handschuhe oder Buchrücken
für den städtischen Markt in Burghausen. Mit den Kriegen von 1805 und 1809, die der ganzen
Gegend unendlich viel Leid und schlimme Not brachten, mag allerdings auch dieses Geschäft
zurückgegangen sein, wenngleich ab 1809 das Innviertel und Bayern für 7 Jahre nochmals vereint
waren. Wie lange die Drechslers vor Ort durchhielten, ist nicht bekannt; ihre Spur verliert sich im
19. Jahrhundert. Als einzige potentielle Verwandte findet man in den Matrikeln von Maria Ach
eine Inwohnerin gleichen Familiennamens, die 1847 in Ach ohne Angehörige oder Nachfahren
verstarb. Diese Frau könnte einer Schwester Simon Drechslers entsprechen. 96
Als Ach/Wanghausen ab 1816 endgültig zum Grenzort geworden war und nun auf Dauer vom
Hinterland und vom Vorderland gleichermaßen abgeschnitten blieb, 97 ließ sich dort kein richtiger
Abdecker mehr nieder. Die Gerberei konnte sich allerdings in gewisser Weise halten. Wie eine
historische Aufnahme des Jahres 1908 zeigt, hatte sich zu diesem Zeitpunkt beim „Salettl“
(Jagdhaus) erneut eine Gerberei etabliert!
Es liegt nahe, in Simon Drechsler den Gefangenenwärters Kaspar Hausers zu sehen! 98 Seine
Frau Anna Maria Drechsler, geb. Leingartner, könnte wiederum diejenige gewesen sein, welche
Kaspar Hauser über Jahre das Essen kochte, die Kleidung wusch und bei seiner Freilassung den
oben vorgestellten Mägdlein-Zettel schrieb.99
95 Innviertlerisches Synonym für Abdecker, wobei das beschriebene Schneiden von Tierhäuten zu Riemen auf eine
Art von Spezialisierung und damit eine Betriebsreduktion und -konzentration hinweist. Vgl. Joh. v. Delling: Bei träge zu einem Baierischen Idiotikon …, Teil 1, München 1820, S. 203.
96 Im Sterbebuch von Maria Ach ist für den 17. Januar 1847 die ledige Inwohnerin Maria Drechsler als Todesfall
dokumentiert. Diese Frau aus der untersten sozialen Schicht dürfte bei einem Sterbealter von 60 Jahren im Jahr
1787 geboren sein und entspricht damit möglicherweise einer Schwester Simon Drechslers.
97 Ersteres vorwiegend aus geographischen Gründen (am Fuße eines Steilufers), zweites aus politischen Gründen.
98 Alternativ ist ein angestellter Gehilfe/Tagelöhner in dieser Funktion zu diskutieren, denn Simon Drechsler war
zum Zeitpunkt der Freilassung Kaspar Hausers bereits relativ alt, um die 70 Jahre (was allerdings ein zusätzliches
Motiv zur Freilassung abgegeben hätte). Nach dem Hackmesser-Attentat des Jahres 1829 war Kaspar Hauser
sicher, dass sein vormaliger Bewacher der Täter war, er enthielt sich jedoch wegen dessen Maskierung einer Altersangabe. Mehr als einen Monat später gab eine gewisse Margaretha Stenglin zu einem Tatverdächtigen, der
sie einige Tage nach dem Attentat nach Kaspar Hausers Befinden gefragt hatte, an, dieser sei ca. 40 Jahre alt
gewesen. Eine Identität dieses Mannes mit dem Attentäter ist jedoch nicht anzunehmen, da er eindeutige andere Handschuhe trug als dieser. Pies, Dokumentation, S. 73.
99 In einer Aufstellung aller bayerischen Abdecker-Familien, die über 91000 Namenseinträge enthält, findet sich
bei einem Erfassungszeitraum von ca. drei Jahrhunderten der Name Traxler bei 233, der Name Leingartner 275
Mal, wobei beide Familien im Gebiet beiderseits von Inn und Salzach ihren regionalen Schwerpunkt hatten. Vgl.
Reinhard Riepl: Abdeckerliste von Bayern, Stand 2011, online unter http://www.reinhardriepl.homepage.tonline.de/adsrlist.pdf.
45
Als Kaspar Hauser entweder schon 1812 100 oder erst um 1814101 in Wanghausen eintraf, dürfte
Simon Drechsler knapp über 50 Jahre alt gewesen sein, und wegen des Alters und der misslichen
Lebenssituation willentlich bereit, ein aus dubiosen Händen kommendes Kleinkind zur weiteren
Beaufsichtigung und Verwahrung zu übernehmen. In dieser frühen Zeit durfte das Kind noch
gewisse Freiheiten genießen und alle jene Erfahrungen, mit Wappen, Schloss und weiteren
Szenen, machen, die ab 1828 nach und nach als Erinnerungsfragmente in Kaspar Hausers
Bewusstsein auftauchten.
Zwei besonders signifikante Begebenheiten, die später der Garde-Leutnant Otto von Pich
aufzeichnete, wollen wir an dieser Stelle im Originalzitat vorstellen:
„Herr Binder fragte ihn: wie bist du denn überhaupt auf den Gedanken von der Kinderfrau gekommen? Du hast uns doch früher nie davon gesagt? - ’Wie mir der Herr (Otto
von Pirch) die Worte gesagt hat, – da – ja da fällt mir auch eine Stube ein, auf der Erde
lag Stroh, und Thiere darauf – wohl Schweine – dort mit meiner Kinderfrau einmal.’ –
Erinnerst du dich denn, fragte ich ihn, ob deine Kindsmagd dich auf dem Arm getragen
hat, oder an der Hand geführt? - ’Nicht geführt’, antwortete er, ’auf dem Arm getragen.’
(…)
Lachend rief er: ’Ja, so hab ich's auch an meinen Pferdchen gehabt’ – (im Gefängnis) –
’bis er mir es wegnahm, und die Riemchen dafür gab.’ (…)102
Die Schweine, die in der Stube 103 lagerten und die Riemchen als Spielzeug, das sind authentische Äußerungen Kaspar Hausers, die sich perfekt in die einstige Sölden-Szenerie im Neubruch
bei Wanghausen einfügen. Zusammen mit dem oben erwähnten „Meierhof am Schloss“ sind
das harte, belastbare Indizien dafür, dass die Wanghausen-Hypothese stimmt!
Doch damit nicht genug:
Kaspar Hauser berichtete wiederholt über die roten und blauen „Bänder“, die seine
handgeschnitzten Pferdchen zierten, und neben diesen und einem Holzhund die einzigen
Spielzeuge in seinem Kerker darstellten. Einmal mehr bestätigt dabei Kaspar unseren Verdacht:
„Das eine Pferd, deren beide gleich groß gewesen und hölzerne Schweife hatten, war mit
rothen, das andere mit blauen Bändern, 7-8 Stückchen an der Zahl, belegt. Jedes Band
war 10 bis 12 Zoll (ca. 30 cm) lang und 1 Zoll (2,54 cm) breit, entweder aus leinen Zeuch
oder von Leder …“104
Später konnte Kaspar dem Herrn Daumer gegenüber das Material als Leder präzisieren und das
Leinen105 ausscheiden. Daumer bewunderte Kaspars feine Beobachtungsgabe, denn er habe
dabei sogar die Poren der Haut seiner Hand inspiziert und sie „große Löcher“ genannt:
100Der Rittmeister-Brief behauptet den Oktober 1812 als Zeitpunkt des Auffindens.
101 Die Möglichkeit dieses Zeitpunktes wird in der vorliegenden Arbeit noch ausführlich begründet.
102 Bericht Ottos von Pirch, in J. E. Hitzig: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege …, Bd.
2, Berlin 1830, S. 456.
103 Das muss kein Schweinestall gewesen sein, wie man meinen könnte, denn zur damaligen Zeit wurden Schweine
mangels Mastfutter noch wenig zugefüttert, sondern freilaufend gehalten und nur im Herbst zur Eichelmast in
den Wald getrieben. Schlachtzeit war der Frühwinter, wenn die Fressperiode zu Ende war, und in den
kommenden Wintermonaten das Fleisch zum Wursten, Räuchern und Kochen verwendet und die
Schweinshäute gegerbt und zu verkaufbaren Waren gefärbt, geschnitten und genäht wurden. Es konnte
durchaus vorkommen, dass ein Wurf Ferkeln mit der Muttersau vorübergehend in der guten Stube zur weiteren
Aufzucht Platz fand und einem Kleinkind namens Kaspar Hauser gezeigt wurde. Schweine sind im Übrigen allen
Gerüchten zum Trotz sehr reinliche Tiere.
104 Linde 2, 226.
105 Feuerbach sprach in seinem Mémoire, II 1, gar von seidenen Bändern.
46
„Als er nun diese Entdeckung gemacht, verglich er
die Streifen oder Bänder, mit
denen er seine hölzernen
Thierbilder zu schmücken
pflegte, mit seiner Hand und
fand, dass auch diese Bänder ähnliche Löcher hatAbb. 37: Schweinsleder mit seinen typischen Poren.
ten …!“106
Nun wird jedem Kundigen klar sein, dass nur Schweins-, keinesfalls aber Rindsleder die von
Kaspar bemerkten Löcher aufweist. Sie rühren von den ausgezogenen Borsten der Schweine her.
Bei Kaspar Hauser mögen geschnitzte Pferdchen noch als normales, weit verbreitetes
Kinderspielzeug durchgehen, aber ein Satz gefärbte Schweinslederriemen und all das weitere
Lederzeug auch?
Wir sind uns sicher, dass all dies aus der Werkstatt des „Weißriemlers“ Drechsler stammte.
Auf der Urmappe aus der Zeit um 1830 lässt sich das Weißriemler-Anwesen klar verorten. Es lag
am Waldrand und war das kleinste Anwesen weit und breit, ohne Scheune, dafür mit Stube und
Stall unter einem Dach!
Abb. 38: In der Franziszeischen „Urmappe“ ist das Anwesen des Simon Drechsler als „Weißrinder“ - an Stelle von „Weißriemler“ - verschrieben. Es handelte sich um das kleinste Söldner-Gut weit und breit. Links ist
sein Abstand (roter Punkt) zum Schloss Wanghausen (blauer Punkt) deutlich gemacht: ca. 1,8 km Luftlinie.
Um dem Leser den Aspekt der ehemaligen Mathiesen-Sölde optisch zu verdeutlichen, folgt auf
der nächsten Seite eine historische Malerei der sogenannten Steinpointner Sölde. Dies war jene
direkt neben der großen Wasenmeisterei von Hochburg gelegene Leinweberei, die den
Komponisten des Liedes „Stille Nacht, heilige Nacht“ hervorbrachte. Franz Xaver Gruber wurde
am 5. November 1787, also nur wenige Jahre, bevor Kaspar Hauser in der Gegend eintraf, in
diesem Haus geboren.
Man erkennt im Vergleich mit dem Grundriss der Urmappe, dass das nachfolgend abgebildete
Wohnstallgebäude im alpenländischen Stil in keiner Weise dem Grundriss der Steinpointner Söl de entspricht. Dagegen passt es gut zu Mathiesen-Sölde am Neubruch, wenn man von den größeren Dimensionen, vor allem von der deutlich längeren Bauart absieht. Dass in einem solchen
Haus ein Kaspar Hauser mit seiner Kindsmagd (etwa Frau Drechsler?) in der bescheidenen
Wohnstube einen Wurf Ferkel besichtigen konnte, wird an dieser Abbildung augenscheinlich.
106 Linde 2, 228.
47
Abb. 39: Gemälde der Steinpointer Sölde. Darüber die maßstabsgleichen Grundrisse der Urmappe: Links
die Leinweberei der Familie Gruber, deren Grundriss dem abgebildeten Haus in keiner Weise entspricht, in
der Mitte die Abdeckerei der Familie Hamberger, rechts die Mathiesen-Sölde des Ehepaars Drechsler.
Weitere Phänomene, welche nach der Auffindung Kaspar Hausers auffielen, aber bisher keine
rechte Erklärung fanden, werden durch Kaspars zeitweisen Aufenthalt in der Sölde im Neubruch
plötzlich verständlich:
•
Es spricht z. B. Einiges dafür, das der kleine Kaspar in
der Sölde im Neubruch
auch das Häuten der toten
Schweine beobachten konn
te. Als ihm nach seiner
Auffindung in Nürnberg
von der Frau Hiltel der zentimeterdicke „Schmutz in
Rollen“107 abgezogen wurde, rief er, unter Verwendung eines Begriffs, den er
in seinem Verlies am
Abb. 40: Schlachtung eines Schweins auf dem Weilhart, um 1900.
Schloss kaum erlernt haben
konnte, ängstlich aus:
„Mutter, die Haut!“108
•
Unmittelbar nach seiner Auffindung hatte Kaspar eine auffallende Körperhaltung, den
Schneidersitz, und bis zuletzt eine so zarte Konstitution seiner Hände gezeigt, dass seine
Kontaktpersonen meinten, er sei in seinem Vorleben ein Schneider- oder Handschuhmachergeselle gewesen.109
107 O-Ton Hiltel! Pies, Wahrheit, S. 254.
108 Linde 2, S. 230.
109 Schneider oder Schneidergeselle: Beck und Hiltel in Nürnberg. Schneider oder Handschuhmacher: Ehepaar
48
Dass diese Feststellungen nicht an den Haaren herbeigezogen sind, ist dem Leser nun klar, denn
genau die erwähnten Handwerke betrieb ja der Weißriemler Simon Drechsler: Er schneiderte im
Neubruch u. a. Riemen und fabrizierte Handschuhe aus Schweinsleder! Diese Kunstfertigkeit
mag auf Kaspar Hauser abgefärbt haben, wenngleich er zum betreffenden Zeitpunkt noch ein
kleines Kind war. Jedenfalls vermerkte sein Lehrer Meyer später:
„Das Leder und die Mache der Handschuhe verstand er so vortrefflich, dass er,
zur größten Verwunderung des Fabrikanten, wiederholt aus einem Dutzend
Handschuhen das in jeder Beziehung beste Paar schnell herausfand. Erwägt man
dabei, daß Kaspar im Vestnerturm zuerst sich immer wie ein Schneider hinsetzte,
und daß seine Hände einer Gewöhnung an grobe Arbeit zu widersprechen
schienen, so könnte man bald versucht werden, ihn für einen Schneider oder
Säckler oder Handschuhmacher zu halten …“110
Es ist durchaus möglich, dass Kaspar in etwas fortgeschrittenem Alter zeitweise auch an
den praktischen Tätigkeiten des Weißriemlers Drechsler Anteil nahm, denn Kinderarbeit
war ja damals nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
•
In Kaspar Hausers Gefängnisleben war, den eigenen Berichten
nach, auffallend vieles aus Leder:
Neben den Bändern an den
Pferdchen auch seine speziell gefertigten, schwarze Lederhosen,
welche rückseitig einen Schlitz
zur Erledigung der „Leibesöffnung“ hatten, der Gurt, mit dem
er am Boden festgeschnallt war,
ein Lederkittel und nach seiner
Freilassung auch vorübergehend
ein Bauernhut.111 Das alles kam
wohl aus der eigenen Produktion
Abb. 41: Der Weißgerber, Kupferstich v. Chr. Weigel, 1698.
der Drechslers. Nun ist nicht anzunehmen, dass ein Weißriemler
über all die chemischen Färbemittel verfügte, die zu seiner Zeit gerade aufkamen, aber
es gab auch bewährte Färbeverfahren mit Pflanzenextrakten, 112 und die Schwarzfärberei
von Leder mit Eisenvitriol war weitverbreitet und billig. 113 Bei Handschuhen wurde zu
Kaspar Hausers Zeit speziell die Farbe Gelb bevorzugt, da sie der Naturfarbe des Schwei neleders am nächsten kam und bei Vielbenutzung jederzeit ein Nachfärben ermöglichte.
Dazu brauchte man lediglich etwas Schüttgelb und Bleiweiß, alternativ kamen zerriebene, gelbe Tone der Salzach-Gegend für Ockertöne in Frage. So nimmt es z. B. kein Wunder, wenn der Hackmesser-Attentäter, den Kaspar Hauser zweifelsfrei als seinen vormaligen Bewacher identifizierte, neben der schwarzen Kluft besonders feine, gelbe Handschuhe trug. Diese kamen nach unserem Dafürhalten ebenfalls aus der eigenen Werkstatt!
Meyer in Ansbach.
110 Linde 2, S. 199.
111 Hier und im Folgenden bewusst zitiert nach Antonius van der Linde, der mit seiner akribischen Sammlung von
Attitüden und Aussehen Kaspars Hausers (aus verschiedenen Quellen) versuchte, diesen zum Betrüger zu stem peln. Vgl. Linde 2, S. 261.
112 Vgl. Z. B. J. R.: Neu-eröffnete Guldene Kunst-Pforte …, Nürnberg 1734, S. 183ff.
113 Vgl. Z. B. die, bewährten, bereits im Liber Illuministarum aus dem 15. Jhd. festgehaltenen Rezepturen (BSB Cmg
821).
49
•
In seinen ersten Jahren auf der Sölde konnte Kaspar Hauser auch ganz konkret den
Umgang mit Packriemen erlernt haben. Zumindest erklärt sich dadurch, warum er bei
seiner Reise nach Ungarn im Jahr 1831 auffallend geschickt beim Packen des Gepäcks
vorging.114
•
Es fiel in seiner Zeit in Nürnberg auch auf, dass seine geschickte Balance auf einem
Pferderücken in Diskrepanz dazu stand, dass er von Reiten selbst gar nichts verstand, ja
nicht einmal einen Steigbügel benützen konnte. 115 Nun, auf einer Abdeckerei gab es ein
Maultier resp. einen Mausesel, auf dem er sehr gut das passive Sitzen auf einem
Reittier erlernen konnte. Zum Reiten selbst war aber dieses Tier nicht vorgesehen, nur
zum Tragen von Lasten und zum Ziehen des Schinderkarrens; insofern trug es weder
Sattel noch Steigbügel.
Abb. 42: Der Karren eines Abdeckers mit einem toten Pferd, auch Schinderkarren genannt. Undatierte Zeichnung von Thomas Rowlandson (1756–1827).
•
Als Kaspar Hauser noch unter dem
Schock des Hackmesser-Anschlags
stand,
verriet
er
dem
Gerichtspräsidenten von Feuerbach
in Panik: „Er muss mich umbringen,
weil er fürchten muss, dass ich mich
nach und nach an das erinnere, was
mit mir geschehen ist, und wo ich
gefangen gewesen bin … Er wird
mich gewiss umbringen, und wenn
er nicht anders kann, durch einen
Schuss.
Er
ist
ein
guter
116
Schütze …“
Der Hinweis, der
Kaspar zuletzt spontan entfuhr,
findet in Simon Drechsler seine Begründung: Als Abdecker hatte er im
Abb. 43: Der große Weilharter Forst, zwischen 1810
Fall eines Kriegseinsatzes nicht zur
und 1816 K. W. = Königlicher Wald. Roter Punkt = Sölwaffen-tragenden Truppe gehört, de der Drechsler, blauer Punkt = Schloss Wanghausen.
114 Sittenberger, S. 264.
115 Pies, Wahrheit, S. 235f.
116 Notiz aus Feuerbachs Nachlass, in: Pies, Dokumentation, S. 67.
50
insofern konnte er von daher weder Flinte/Büchse noch Schießkunst davongetragen
haben. Dass er ein zugelassener Jäger gewesen wäre, ist noch viel weniger anzunehmen.
Nichtsdestotrotz stand ihm als Abdecker das Recht zum Führen einer Feuerwaffe zu: Die
Abdeckereien waren aus seuchenhygienischen Gründen außerhalb der Ortschaften und
Weidegründe und meistens am Waldrand gelegen: So auch die ehemaligen MathiesenSölde! Die gelagerten Tierabfälle locken nicht selten Raubwild an, das es ggf. mit einem
Gewehr zu vertreiben galt. Speziell die Wolfsplage war zu dieser Zeit noch enorm, und im
riesigen Weilharter Forst,117 der direkt an die Sölde der Drechslers angrenzte (siehe
Bild),118 sicherlich von besonderer Problematik. Der „gute Schütze“ wiederum rührte
aber nicht von Simon Drechslers Warnschüssen gegen Raubwild her, sondern von der
Wilddieberei, der er vermutlich genauso heimlich frönte wie viele seiner bäuerlichen
Nachbarn, die ausnahmslos am Jagdrecht des Adels nicht teilnahmen. 119 Kaspar Hauser
wusste also in diesem Punkt sehr genau Bescheid!
•
Als Lederfabrikanten fertigen
die Drechslers sicherlich auf
Bestellung auch Buchrücken
aus Schweinsleder an. Da diese
nicht selten mit goldenen Lettern und Rändern beschriftet
und verziert wurden, dürften
sie zeitweise über Blattgold
verfügt haben, das nach einem
handwerklichen Verfahren in Abb. 44: Goldsand
mehreren Schritten auf das Leder geleimt wurde. Blattgold hatte allerdings seinen Preis.
Es ist gut möglich, dass die abgeschabten Überreste, die zwangsläufig anfielen, aber als
Blattgold nicht mehr weiterverwendet werden konnten, nicht geschmolzen, sondern gesammelt und feinstem Sand untergemischt wurden, denn diesen Goldsand konnte man
als mehrfach verwendbaren Löschsand (Vorläufer des Löschpapiers) in höheren Kreisen
absetzen. Es ist gut möglich, dass Simon Drechsler Kaspar bei seiner Freilassung bewusst
damit ausstattete, damit er mit ihm in Nürnberg etwas Kleingeld erwerben konnte.
In der Quintessenz dieser Beobachtungen kann Kaspar Hauser nicht die ganze Zeit bei Wanghausen eingesperrt gewesen sein, sondern er genoss als Kind immer wieder Tage in relativer
Freiheit, war auch zu einem Schulbesuch in Burghausen imstande und eignete sich nach und
nach gewisse Fertigkeiten und Kenntnisse an, die zwar durch seine nachfolgend lange Dunkelhaft
wieder verschüttet wurden, aber nicht so vollständig, dass nicht nach 2 Jahrzehnten völlig unreaktivierbar gewesen wären. Dass er allerdings in der Handschuhmacherei oder Riemenschneide rei das Gesellen-Diplom ablegt hat, wie einige Zeitgenossen hinterher spekulierten, ist äußerst
unwahrscheinlich, denn so lange währte sein Leben in Freiheit nicht.
Spätestens 1816, als das Land an der Salzach zurück in die Hände der Österreicher gefallen war
und diese dort wieder eine funktionierende Verwaltung aufgebaut hatten, wurde es riskant,
117 Bis 1779 kurfürstlicher, von 1779 bis 1809 kaiserlicher, von 1810 bis 1816 dann königlicher und ab 1916 endgültig kaiserlicher Wald!
118 Der nahe Weilharter Forst diente den Drechslers sicherlich auch zum herbstlichen Auftrieb der Schweine im
Rahmen der Eichel- und Bucheckern-Mast.
119 Die Wilderei war sicherlich strengstens verboten und somit riskant, aber in Notzeiten unvermeidlich und auch
insofern möglich, als eine konsequente Überwachung des Waldes, wie sie zu Zeiten des zuständigen
Forstgerichts Burghausen noch gegeben war, unter den Durchmärschen und kurzfristigen Wechseln der
staatlichen Zuständigkeit 1809/129 und 1816 nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Man darfb es als Zeichen der
Ohnmacht verstehen, wenn im Jahr 1811 die Regierung des Salzachkreises die Landgerichte zu verschärfter
Wachsamkeit gegenüber der Wilddieberei aufrief. Eine funktioneirende Forstverwaltung war also zu diesem
zeitpunkt von bayerischer Seite aus noch gar nicxht aufgebaut worden..
51
einen Jungen, von dem im Grunde genommen alle wussten, dass er auf dubiosem Weg bei der
Familie Drechsel gelandet war, ständig frei herumlaufen zu lassen. So werden alsbald die
Zeiträume, in denen er weggesperrt war, zugenommen haben, bis er schließlich über ein Jahrzehnt gar nicht mehr ans Tageslicht kam und sein Gedächtnis dabei schweren Schaden nahm.
Als Verwahrungsort kommt die Sölde im Neubruch nicht in Frage, denn dort herrschte ungünsti ger Publikumsverkehr. Ganz anders jedoch war die Situation im Schlosspark von Wanghausen,
denn dieser war nach Osten, Norden und Westen mit einer hohen Mauer umgeben und nach
Süden, im waldigen Uferberg, wenigstens soweit abgezäunt und mit Bäumen verdeckt, so dass
auch hier kein Unbefugter Zutritt fand.
Im Schloss selbst lebte damals wahrscheinlich als Einzelperson die ca. 54-jährige Baronesse Anna
von Prielmayer. Die Schwester des Schlossbesitzers von Wanghausen war, soweit wir wissen, wie
ihre Geschwister hoch verschuldet.120 Nach den Kirchenmatrikeln von Maria Ach verstarb sie im
Jahr 1830 im Alter von 68 Jahren im Schloss Wanghausen an Entkräftung und wurde anschlie ßend im Friedhof von Maria Ach begraben.
Da Kaspars Schlossträume am ehesten mit seiner frühsten Kindheitsphase (als Säugling) zu verbinden sind, ist es gut möglich, dass es diese Baronesse gewesen war, der man primär das Kind
anvertraute hatte, vielleicht über ihren Bruder Johann Nepomuk aus Landshut oder direkt über
den Entführerkreis aus Bayern, der später zu Besprechung kommt.
Mag sein, dass Simon Drechsler als Tagelöhner der Frau Baronin in Hof und Garten zur Hand
ging, mag sein, dass im Gegenzug Anna von Prielmayer das Kind den Drechslers zeitweise zur
praktischen Ausbildung übergab – eben solange, bis dessen Herkunft nicht länger verheimlicht
werden konnte. Ein Intermezzo der kurzfristigen Verwahrung des Kindes bei Vöcklabruck haben
wir lange Zeit für möglich gehalten,121 schließen es aber inzwischen weitgehend aus. Mehr lässt
sich aktuell zu dieser dunklen Phase in Kaspars Leben nicht sagen.
Wie es sich im Einzelnen auch zugetragen haben mag: Ab einem bestimmten Zeitpunkt verschwand Kaspar Hauser auf Dauer in einem Verlies des verschwiegenen, von außen nicht zugänglichen Schlossparks von Wanghausen. Doch auch als Gefangener wurde er dort von Simon
Drechsler weiter aufgesucht und mit dem Nötigsten zum Überleben versorgt.
Es war wohl auch Simon Drechsler, der aufgrund seiner Beziehungen zur Abdecker-Szene immer
wieder Opium besorgte und es Kaspar Hauser ins Trinkwasser mischte, wenn gewisse Maßnahmen an ihm zu verrichten waren. Mit demselben Trick betäubte er viele Jahre später den heran gewachsenen jungen Mann kurz vor seiner Freilassung und schleppte ihn anschließend auf dem
Rücken die besagten beiden Anhöhen hinauf, eher er ihn oben auf den Schinderkarren lud. Nachdem sich Kaspars Gehversuche in kürzester Zeit als insuffizient erwiesen hatten, karrte er ihn,
über weite Strecken betäubt, mittels eines Karrens über die alte Salzstraße (heute B 299) via Altötting, Neumarkt-St. Veit122, Vilsbiburg,123 Landshut und Neustadt an der Donau 124 nach Nürnberg, ohne dass sich ihnen wegen der Scheu vor einem Abdecker und seinem Gefährt jemand in
den Weg gestellt hätte.
Dass der Transport schwerpunktmäßig nachts und auf den einsamen Wegen des Viehtriebs und
der jüdischen Händler125 stattfand, und dass Kaspar beim Transport unter einer regendichten Pla120 Vgl. Anzeige im K. b. Kreisamtsblatt von Oberbayern, vom 6. November 1860, und weitere Angaben im Kapitel
zur Familie Prielmayer.
121 Zu den Argumenten mehr später.
122 So erwähnt im Rittmeister-Brief, wobei die Schreibweise „Neumarck“ damals durchaus korrekt war.
123 Wo Simon Drechslers Schwiegervater gelebt und gewirkt hatte.
124 Weniger weahrscheinlich lief die Route über Regensburg. Kaspar hatte zwar nach seiner Auffindung von
Regensburg gesprochen, es stellte sich jedoch später heraus, das ihm dieses Wort nur in den Mund gelegt
worden war.
125 Beide fielen oft zusammen, das sowohl der Viehtrieb wegen der Seuchengefahr als auch die jüdischen Händler,
52
ne verborgen war, entsprach ganz dem damaligen Usus, wie folgende Passage aus einer Wasenmeister-Verordnung beweist:
„Der Transport der gefallenen Tiere hat er in einem keine Flüssigkeit durchlassenden Karren, gehörig bedeckt, in der Regel bei Nacht auf einsamen Wegen zu vollziehen.“126
Ob sich Simon Drechslers Tätigkeit als Abdecker, Weißriemler und Bewacher Kaspar Hausers mit
einem vorangegangenen Militärdienst in den napoleonischen Kriegen vereinbaren lässt, müssen
wir offenlassen, selbst wenn sich in Kaspar Hausers Erzählungen dafür gewisse Indizien finden
(z. B. die erwähnten „Jakobifedern“). Zwar bedurfte auch ein Heer der Abdeckerei, so dass ein
Militäreinsatz Simon Drechslers vor 1810 nicht auszuschließen ist, aber Simon Drechsler konnte
den Soldatenjargon auch während der Besatzungszeit im Innviertel von durchziehenden Truppenkontingenten gelernt haben.
Im Zusammenhang mit Simon Drechsler und seiner Frau stellt sich abschließend die Frage, wie
der Name „Kaspar Hauser“, zu Stande gekommen sein könnte, der bekanntermaßen dem Entführten von seinem Bewacher in Schrift und Wort eingeübt und bei seiner Freilassung mitgegeben worden war.127
Der Vorname „Kaspar“ war im Gegensatz zu allen anderen Abdecker-Sippen Bayerns sowohl
beim Neuöttinger Zweig der Familie Leingartner, als auch bei der eng verwandten Familie Hamberger hochbeliebt, ja geradezu ein Leitname: In der Abdeckerliste von R. Riepl findet er sich in
beiden genannten Familienverbänden sage und schreibe 22 Mal! Zur Erinnerung: Auch der Hochburger Abdecker, der den Drechslers als Trauzeuge gedient hatte, hieß Caspar – und gleichermaßen sein Vater vor ihm und sein Taufpate, ein Leingartner aus Neuötting! 128 Vor diesem Hintergrund ist es gut denkbar, dass eine Anna Maria Drechsel, gebürtige Leingartnerin, der alten Familientradition ihrer Familien entsprechend dem namenlosen Kleinkind, das ihr soeben zur
weiteren Aufsicht übergeben worden war, kurzerhand den Namen „Kaspar“ verlieh – genau so,
wie es im Mägdlein-Zettel steht. Die Taufe müsste allerdings schon zuvor, i. d. Regel unmittelbar
nach der Geburt, vollzogen worden sein.
Selbst wenn Name „Hauser“ im Bereich des ehemaligen Rentamtes Burghausen als Familienname nicht sehr häufig vertreten war (vereinzelt in Burghausen und Tittmoning), so war er den
Drechslers doch bestens bekannt. Vor ihrer Generation hatte eine kinderreiche Familie Hauser in
nur 3 Kilometern Entfernung am Südrand des Weilhart einen großen Gutshof innegehabt, der in
etwa auf der halben Strecke zwischen der Weißriemlerei im Neubruch und der großen Wasenmeisterei in Unterweitzberg gelegen war. Kurz nach 1800 war allerdings die Familie Hauser ausgestorben, nur der Hausname „Hauser“ blieb auf dem Hof. Als der Findling Kaspar Hauser seiner
Freilassung entgegensah, waren auch die letzten Hauser auf den Nachbarhöfen von Edlach und
die traditionell große Teile des Viehtriebs besorgten, wegen der noch kurz zuvor bestehenden Kopfsteuer die
größeren Städte und Ansiedlungen mieden. Auf den Viehtriebswegen hatte auch der Maulesel, der den Schin derkarren zog, im Gegensatz zur Commercial- und Landstraße genügend natürliche Futter- und Tränkstellen zu
erwarten. Vgl. hierzu Werner Robl: Der historische Viehtrieb in der Oberpfalz und im Bayerischen Wald …, Berching 2016, online: http://www.robl.de/viehtrieb/viehtrieb.html. Dass Kaspar Hauser auf keiner normalen Landstraße befördert wurde, hat er selbst bestätigt: „Während der ganzen Reise kam ich auf keinen Fahrweg, geschweige denn auf eine Chaussee.“ Auch eine Stadt scheint er unterwegs nicht gesehen zu haben – also auch
nicht Regensburg -, sonst hätte sein Begleiter vor Nürnberg schwerlich sagen können, dass „in dem großen
Dorfe“ sein Vater wohne. Vgl. Linde 2, S. 266f..
126 Auszug aus der Wasenmeister-Verordnung Oberbayern von 1862. Die Regelung dürfte schon zuvor so gegolten
haben.
127 Vgl. Pies, Wahrheit, S. 223 und 227.
128 Eintrag in den Taufmatrikeln von Hochburg, am 21. Februar 1762: Kind „Joannes Casparus“, Vater: „Casparus
Hamberger“, Pate: „Patrino Joanne Casparo Leingartner Excoriatore Neoödtingano“. Da des letzteren Gattin
Anna Maria hieß, könnte es sich um die Mutter der Gattin Simon Drechslers gehandelt haben.
53
Nogham verstorben, der Name „Hauser“ also vor Ort Geschichte!129
Es spräche für eine
gewisse Findigkeit der
Drechslers, wenn sich
nun diesen ihnen bestens bekannten und
quasi frei gewordenen
Familiennamen ausgeliehen hätten, um ihren
Häftling damit zu benennen. Selbst im Fall der
Enttarnung hätten sie
niemanden vor Ort kom- Abb. 45: Um 1830 war der Hof mit dem Namen „Hauser“ ein Vierseithof von
stattlicher Größe.
promittiert!
Wie auch immer es sich im Detail zugetragen haben mag: Es gilt festzuhalten, dass der Vorname „Kaspar“ und der Familiename „Hauser“ direkt aus dem Erfahrungshorizont des Simon
Drechsler und seiner Frau kamen!
Ein triftiges Indiz, ja geradezu den Beweis dafür, dass Kaspar Hauser in der Tat mit dem Weiler
Neubruch und der Familie der Drechsler zu assoziieren ist, liefert unfreiwillig sein ehemaliger
Ziehvater und posthumer Gegner, Lord Philip Henry Stanhope. Unmittelbar, nachdem Kaspar
Hauser in Ansbach eines unnatürlichen Todes verstorben war, im April 1834, bemühte sich der
englische Lord, die von ihm inzwischen präferierte Betrüger-Theorie dadurch zu untermauern,
dass er die Herkunft Kaspar Hausers folgendermaßen beschrieb:
„Kaspar Hauser sei von Beruf ein Schneider- oder Handschuhmacher-Geselle gewesen
und ein Bewohner von einem kleinen Weiler auf der österreichischen Seite der Salzach,
die einen Teil der nordöstlichen Grenze von Bayern bildet. Diese Weiler liegen gegenüber
den bayerischen Städten Burghausen und Tittmoning, und es sei wahrscheinlich, dass
Kaspar Hauser durch Altötting kam, dort die katholischen Beigaben erhielt, die er bei sich
führte, und dann durch Neumarkt und Regensburg nach Nürnberg kam …“130
Was es mit dem Schneider- oder Handschuhmacher-Gesellen auf sich hat, hat der Leser bereits
erfahren.131 Stanhope beschrieb aber zusätzlich sehr genau den richtigen Ort:
Der Weiler Neubruch war in der Tat der einzige auf der österreichischen Seite der Salzach, der
als Unterbringungsort Kaspar Hausers in Frage kam, denn noch weiter südlich von Burghausen
folgten bis Tittmoning nur unbewohnte Uferwälder und Schwemmland-Zonen.
Aus Stanhopes Briefen an König Ludwig von Bayern 132 erfährt man, dass ihm der Polizeipräsident
von München, Ritter von Menz, den entscheidenden Tipp gegeben hatte. Stanhope drängte hier auf König Ludwig I., Ermittlungen aufnehmen zu lassen, doch dieser lehnte kühl ab und ließ von
Menz durch eine angebliche Erkrankung entschuldigen. Hinterher müssen Stanhope und seine
Helfer von Seiten der bayerischen Regierung unter Druck gesetzt worden sein, die Sache nicht
129 Die Information entnehmen wir dem Sterbebuch von Maria Ach, das in folgenden Jahrgängen Einträge zu den
Hausers aufweist: 1748, 1749, 1750, 1751, 1754, 1755, 1757. Den letzten Hauser, den man mit dem Hof assoziieren könnte, war ein Mathias Hauser des Jahres 1805. In den Jahren 1806 und 1807 werden noch zwei HauserTöchter auf den Nachbarhöfen erwähnt, danach bricht die Reihe vollständig ab.
130 Mayer, Stanhope, S. 552. Die Information stammt aus einem Dokument im Kent Archiv der Stanhopes.
131 Lord Stanhope hatte dazu nochmals die frühesten Kontaktpersonen Kaspar Hausers in Nürnberg befragt, u. a.
die Schuhmacher Weickmann oder Beck und den Reitknecht des Rittmeisters Friedrich von Wessenig, Johann
Merk, von dem ja die geradezu intime Information stammte, dass Kaspar zur Schule über eine Grenze gegangen
war. Siehe oben.
132 Wiedergegeben bei Striedinger, ab S. 476.
54
weiter zu verfolgen, denn man findet man in den Aufzeichnungen von Merker, Hickel und Meyer,
die in Absprache mit Stanhope die Betrüger-Hypothese verfolgten, nicht die geringste
Erwähnung davon. Stanhope selbst scheint allerdings nicht ganz locker gelassen zu haben. Fünf
Jahre später, im Jahr 1839, trat er eine Reise an, die ihn in „Gegenden des heutigen Österreichs
führte, die damals als deutsch galten“, und wir vermuten, dass er Wanghausen und den Weilhart
aufgesucht hat. Johannes Mayer hat in seiner Stanhope-Biographie von dieser Reise berichtet,
leider aber nicht das Resultat mitgeteilt. 133
Nun hat das besagte Zitat von
Stanhope weitreichende Konsequenzen
– auch in anderer Hinsicht: Er selbst
musste sich bei seiner Spur absolut
sicher sein, das ein Kapsar Hauser
dabei nicht etwa als Adelsspross, der
dort zur unfreiwilligen Pflegschaft war,
enttarnt wurde, sondern nur als der
Bauerntölpel, als den ihn schon der
Polizeiwachmeister Wüst hingestellt
hatte. Alles andere hätte nicht nur
Stanhopes
Betrüger-Theorie
ad
absurdum geführt, sondern ihn selbst
umso mehr belastet!
Abb. 46: Äußerung des Polizei-Rottmeisters Johann Christoph Wüst vom 5. März 1834. In: Wichtige Aufklärungen
über Kaspar Hausers Geschichte, durch den Grafen Stanhope dem Polizeirath Merker mitgeteilt, Berlin 1834, S. 13. Der
Satz wurde später von Wüst zurückgezogen.
Stanhopes Drängen auf Ermittlungen bei Wanghausen setzt also voraus, dass Johann Simon und
Anna Maria Drechsler schon im Jahr 1834 aus der Gegend verschwunden waren und als
Kornzeugen nicht mehr zur Verfügung standen. Unter diesem Aspekt sticht es ins Auge, dass man
nach dem Tode Kaspar Hausers von den beiden nicht die geringste Spur findet. 134 Ehe nicht das
Gegenteil bewiesen ist, ist es nicht einmal ausgeschlossen, dass nicht nur Kaspar Hauser, sondern
wenig später auch diese beiden gezielt aus dem Weg geräumt wurden.
Soweit zu unseren Überlegungen zur lokalen Weißriemlerei rechts der Salzach, die sich recht ein deutig mit einer Unterbringung Kaspar Hausers im Neubruch und in Wanghausen vereinbaren
läßt, ja diese sogar stark untermauert. Kein Zweifel: Es handelt sich um eine heiße Spur!
9.
Bei der Erarbeitung des geschichtlichen Hintergrundes werden wir in der Folge noch
viele weiteren Indizien und Argumente beibringen, die speziell den Schlosspark von Wanghausen
als Verlies-Ort Kaspar Hausers endgültig festmachen, doch bitten wir an dieser Stelle den Leser
um Geduld!
10. Wir kommen zum vorläufig letzten und einem besonders wertvollen Merkmal, das
Wanghausen in Bezug auf Kaspar Hauser ins rechte Licht rückt. Erste Hinweise hierauf haben wir
wiederum Peter Vornehm zu verdanken:
Der Heimatforscher hatte sich ein weiteres, rätselhaftes Schriftstück der Geschichte Kaspar Hau sers vorgenommen und bietet hierfür eine Erklärung an, an die außer ihm noch niemand gedacht
hat. Es handelt sich um den sogenannten „Spiegelschrift-Zettel“, also jene Notiz, welche Kaspar
Hauser am 14. Dezember 1833 nach eigener Aussage von einem Unbekannten im Ansbacher
Hofgarten bekommen haben soll, ehe ihm dieser mit einem plötzlichen Dolchstoß die todbrin133 Mayer, Stanhope, S. 554.
134 Abgesehen von einer potentiellen Schwester namens Maria. Das sorgfältig und weitgehend lückenlos geführte
Sterbebuch von Maria Ach verzeichnet z. B. in den folgenden Jahrzehnten weder des Simon Drechsler, noch
seiner Frau Anna MariaTod!
55
gende Wunde beibrachte.
Bei der Bewertung wollen wir bewusst die Diskussion darüber zurückstellen, ob Kaspar Hauser
wirklich durch einen Fremden ermordet wurde oder durch Eigenverletzung einen Mordversuch
vortäuschen wollte. Unseres Erachtens sprechen alle Argumente für die erste Version, dies tut
aber an dieser Stelle nichts zur Sache.
Als Kaspar Hauser nach seiner tödlichen Verwundung im Haus des Lehrers Meyers auf seinem
Krankenlager lag, tat er laut und deutlich kund, im Ansbacher Hofgarten sei ein lila-seidener Damenbeutel mit einem Zettel liegen geblieben, den ihm der Unbekannte übergeben hatte, ehe er
zustach. Man suchte nach diesem Beutel, und prompt wurde er gefunden. Das nach Art eines Bil let-doux über Eck gefaltete Blatt (Originalaufnahme weiter unten) enthielt einen in Spiegelschrift
geschriebenen Spruch:
Abb. 47: Der Spiegelschrift-Zettel - Faksimile.
Hauser wird es Euch ganz
genau erzählen können, wie
ich aussehe, und wo her ich bin.
Dem Hauser die Mühe zu ersparen
will ich es euch selber sagen, wo her ich komme - -.
Ich komme von von - - der Baierischen Gränze - Am Fluße - - - - Ich will Euch sogar noch den
Namen sagen: M. L. Ö.
Herrn Vornehm, der in der handgeschriebenen
Briefliteratur des 19. Jahrhunderts versiert ist, ist
der Ansicht, dass die bislang ungeprüft bis in
jüngste Publikationen übernommene Abkürzung
M. L. Ö. hinterfragt gehört.
Das gewichtigste Indiz hierfür liefert der Zettel
selbst:
Abb. 48: Oben das Vergleichswort „Mühe“, un-
Sieben Zeilen über dem abschließenden Akronym ten das Akronym. Man beachte die unterschiedfindet sich das Wort „Mühe“ mit großen M am An- liche Schreibweise der Anfangsbuchstaben!
56
fang. Dieser Buchstabe ist gänzlich anders ausgeführt als der erste Buchstabe des Akronyms. Da
weitere doppelgliedrige Buchstaben im Alphabet nicht vorkommen, kommt alternativ für Peter
Vornehm nur ein verderbtes großes W in Frage!
Dieser Umstand veranlasste den Töginger Heimatforscher zu folgender Ergänzung der letzten
fünf Zeilen des Zettels:
Ich komme von von A C H
Der Baierischen Gränze N A (H)
Am Fluße S A L Z A
Ich will euch sogar noch den
Namen sagen: W. L. Ö.
Die Basisstriche markieren bei dieser Interpretation die Zahl der fehlenden Buchstaben; Hauser selbst wies noch auf dem Sterbebett darauf hin, dass sie unter Umständen
mit unsichtbarem Bleiweiß beschrieben waren. Da der Schreiber des Zettels zu Fehlern
neigte, ließ er in der viertletzten Zeile einen
Strich für den Buchstaben H versehentlich
weg. Dass der Fluss Salzach hier als „Salza“
geschrieben ist, entspricht ganz dem Usus
der Zeit. Man vergleiche hierzu nachfolgenAbb. 49: Fotografie des originalen Spiegelschriftzet- den Ausschnitt aus einem Lehrbuch sowie
den Wanghausen-Stich von Michael Wening
tels.
weiter oben!
Abb. 50: Aus einem bayerischen Geographiebuch von 1810.
Vor allem aber gibt ein Buchstabe W in der letzten Zeile einen sehr wichtigen Hinweis. Das Akronym könnte nach Peter Vornehm lauten:
W. L. Ö. = Wanghausen, Land Österreich!
Vornehms Deutung ist schlüssig. Dennoch sind wir gut beraten,
die traditionelle Alternative M. L. Ö. nicht ganz aus den Augen
verlieren. Denn offenkundig entspricht der erste Buchstabe des
Spiegelbriefzettels auch nicht dem üblichen W der deutschen Abb. 51: Das „W“ der im 19. Jhd.
Kurrentschrift, das ja aus einer schwungvollen Dreifachrolle be- üblichen deutschen Kurrentssteht und keinerlei Haken und Schnörkel aufweist (siehe neben- chrift rechts zum Vergleich.
57
stehendes Bild). Deshalb ist es nicht ganz auszuschließen, dass der seitenverkehrt schreibende
Verfasser des Spiegelschrift-Zettels doch eine M-Variante verwendete, über die er eben
zusätzlich verfügte. Außerdem lautet der letzte Satz: „Ich will euch sogar noch den Namen
sagen.“ Den Namen wessen? Es bleibt unklar, ob sich dies auf das Vorangegangene und damit
einen Ort bezieht oder einen neuen Sachverhalt bzw. eine Person andeutet. Bei einer
Ortsangabe hätte man vielleicht eher erwartet: „Ich will euch sogar noch den Ort sagen“ oder
wenigstens „den Namen des Ortes“.
Genau genommen stellt der erste Buchstabe des Akronyms eine Neuschöpfung dar, unvereinbar mit allen bekannten Schreibweisen der in Frage kommenden Buchstaben M und W!
Damit beinhaltet die Abkürzung vielleicht beide Komponenten. Entschloss sich der Schreiber
etwa bewusst dazu, den beiden unteren Ebenen der Verschlüsselung – Spiegelschrift und Akronym – noch eine dritte als Buchstaben-Neuschöpfung zur Verwirrung des Lesers hinzuzufügen?
Hier unsere Deutung des eigenartigen Phänomens:
Der maniriert ausgeführte Großbuchstabe ist der Intention des Schreibers nach ganz gewollt
ein Chimäre: halb W, halb M, halb Orts-, halb Personenangabe!
Doch auf welche Person sollte das enthaltene M hinweisen, wenn schon das W dem Ort Wanghausen vorbehalten war?
z. B. Maria Leingartner, Österreich?
Nach ausgiebiger Recherche und langer und reiflicher Überlegung fokussieren wir auf eine ganz
andere, im Gegensatz zur ersteren hochadlige Person und interpretieren:
M. L. Ö. = Maria-Leopoldine von Österreich
Gemeint ist die habsburgische Gattin Karl Theodors, des letzten Kurfürsten von Bayern, aus der
bayerisch-pfälzischen Linie der Wittelsbacher. Was es mit dieser Dame auf sich hat, und worin
ihre Verbindung zur Wanghausen-Theorie besteht, dazu mehr im Weiteren!
Zuvor fahren aber wir fort mit der Wertung des Schlosses Wanghausen und beschäftigen uns mit
einer Theorie zur Herkunft Kaspar Hausers, die möglicherweise ungerechtfertigt in Vergessenheit
geriet.
58
Wanghausen Schauplatz der „Napoleoniden-Theorie“?
Dr. Julius Trumpp hatte ein unmittelbar nach Hausers Tod in Nürnberg kursierendes Gerücht über die Vaterschaft
Napoleons aufgenommen, ein Gerücht, welches nach Johannes Mayer
seinerzeit speziell vom Wiener Kongress aus propagiert worden war. 135 In
seinem Buch von 1953 vertrat er mit
Vehemenz die Ansicht, Kaspar Hauser
sei ein illegitimer Sohn Napoleon Bonapartes aus einer Liaison mit der
Ziehtochter Stephanie de Beauharnais
gewesen, die ab 1806 Großherzogin
von Baden war. Trumpp begründete
seine Theorie u. a. mit der großen Abb. 52: Bilder aus Dr. Julius Trumpp: Kaspar Hauser, Napoleon und
Ähnlichkeit zwischen Napoleon und Stephanie, ein Tatsachenbericht, Gerabronn 1953, Abbildungen zwiKaspar. So zeigte er Bilder der beiden schen S. 96 und 97.
Männer, welche in der Tat auf den ersten Blick erhebliche Analogien aufweisen.
Was ist von derartigen Vergleichen, die von anderer Seite auch
zwischen Kaspar Hauser und Großherzog Karl von Baden angestellt
wurden, prinzipiell zu halten? Betrachten wir hierzu nebenstehende
Bilder. Sie belegen u. E. zum Teil dieselbe Ähnlichkeit, zum Teil aber auch
das Gegenteil dessen, was Julius
Trumpp durch seinen Bildvergleich
zu beweisen suchte.
In der Zeit vor der genetischen
Diagnostik durch DNA-Fingerprint
fußten amtliche Gutachten zur Vaterschaft auf der sogenannten polysymptomatischen Ähnlichkeitsdiagnose, einer Methode, welche zur
Zeit der Weimarer Republik von Siemens, Weitz und Verschuer zu einer
Abb. 53: Links oben: Großherzog Karl I. von Baden, 1811. Links unten:
höchstmöglichen Validität hin entwiGroßherzogin Stephanie de Beauharnais, 1806/1907. Mitte oben: Kaspar
ckelt worden war. Verschuer, ein
Hauser, 1832. Mitte unten: Napoleon I. 1797. Rechts oben: Napoleon I.
Forscher von großer Reputation, ge1812 (Spiegelbild). Rechts unten: Stephanie de Beauharnais.
riet zur Zeit des Nationalsozialismus
in Verruf; seine Methode ist heute in Vergessenheit geraten. Zur polysymptomatischen Ähnlichkeitsdiagnose wurden damals neben Blutgruppen und speziellen Blutfaktoren nicht weniger als zehn, meistens
sogar noch mehr Körpermerkmale herangezogen, darunter das Nasenrücken- und flügelprofil, die Ohrmuschelkonfiguration, die Haarfarbe und -form, die Hautfarbe und -pigmentierung, Form und Struktur
der Regenbogenhaut, weitere Formmerkmale von Kopf, Stirn und Gesicht, Merkmale der Augenpartien
und Augenbrauen, der gesamte Ober- und Unterlidraum, Merkmale im Hand- und Fußbereich und das
135 Mayer, Stanhope, S. 166.
59
Hautleistensystem als Ganzes. Nun wenn möglichste viele Parallelen zwischen zwei Personen nachzuweisen waren, glaubte man in Vaterschaftsfragen eine einigermaßen schlüssige und unzweideutige Festlegung treffen zu können.
Wenn es damals einer derartigen Summation von gleichen oder ähnlichen Körpermerkmalen bedurfte, um eine
Vaterschaft auch nur wahrscheinlich zu machen, wie unsinnig und frustran muss dann der Vergleich von gemalten Portraits ausfallen, welche nur einen Bruchteil der benötigten
Merkmale wiedergeben und obendrein der Subjektivität
des Malers und des Laien-Betrachters unterworfen sind!
Mit anderen Worten: Mit derartigen Bildvergleichen ist
viel und gleichzeitig nichts bewiesen!
Dr. Trumpp scheint sich dieses Mangels bewusst gewesen zu sein, ohne es zugegeben. Also beschränkte er sich
nicht auf den bloßen Bildvergleich, sondern brachte auch
alle möglichen Parallelen der Männer in Bezug auf Wesenszüge und Charaktermerkmale vor, um seinen „Tatsachenbericht“, der in Wirklichkeit doch nichts anderes als eine reizvolle Spekulation war, zu untermauern. Die Erbprinz-vonBaden-Theorie verwarf Trumpp dagegen mit Vehemenz,
womit er sich ganz klar gegen den Mainstream seiner Zeit
stemmte.
Dennoch ist eine Vaterschaft Napoleons bei Kaspar Hauser eine verführerische Hypothese, allerdings hinsichtlich Abb. 54: Kaspar Hauser, Abbildung in Rudolf
der Wanghausen-Theorie aus einem ganz anderen Grund:
Giehrls Hauser-Apologie.
Kaspar Hausers Geburt wurde durch den
„Mägdlein-Zettel“ auf den 30. April 1812 terminiert. Dies muss nicht den Tatsachen entsprochen haben. Entsprechend der bereits fortgeschrittenen körperlichen Entwicklung bei Kaspars
Auffindung könnte man auch für ein Geburtsjahr
1811 oder 1810 oder sogar noch früher plädieren. Wir werden weiter unten valide Belege dafür beibringen, dass die Geburt Kaspars tatsächlich bereits in den Jahren 1809 oder 1810 erfolgte. Diese Jahre waren, dies sei nur nebenbei bemerkt, in Bayern Kriegsjahre – mit vielen
äußeren und inneren Verwerfungen.
Im Jahr 1809 schlug für Burghausen, Wanghausen und das gesamte Innviertel beiderseits
der Salzach eine Schicksalsstunde. Denn endlich
bestand durch das Eingreifen der französischen
Armee für das Kurfürstentum Bayern die reelle
Abb. 55: Kartendetail von 1779: Das südliche Innviertel mit
Chance, aus der österreichischen Hegemonie bedem angrenzenden Rentamt Burghausen.
freit zu werden!
Seit dem Frieden von Teschen im Jahr 1779 stand das Innviertel rechts der Salzach unter der
Souveränität Österreichs, was das Kaiserhaus in Wien nicht daran hinderte, auch die Grenzregionen
jenseits des Inns und das Rentamt Burghausen unter Druck zu setzen und sogar zeitweise unter seine
60
Kuratel zu nehmen (z. B. vor 1805, zuletzt noch Anfang 1809). Im 3. und 5. Koalitionskrieg kamen die
Franzosen als Invasoren hinzu: Das Grenzland hatte unter den Truppenaufmärschen schwer zu leiden.
Obendrein hatte der leitende Minister Bayerns, Graf Maximilian von Montgelas, im Jahr 1802 die
Regierung Burghausen aufgehoben und das Rentamt als Verwaltungseinheit abgeschafft. Im Jahr 1807
ging für Burghausen auch der Titel „Hauptstadt“ verloren; der Ort sank zur strategisch eher
unbedeutenden Grenzstadt im beiderseitigen Aufmarschgebiet herab, und die Bevölkerung und das
Umland litten Not und Drangsal durch die vielen Truppendurchzüge. Erst im Jahr 1809 wurden die
Gebiete links der Salzach, wenig später auch diejenigen rechts der Salzach den Österreichern wieder
entrissen, und zwar durch das militärische Eingreifen Napoleons Bonaparte!
Napoleon weilte also im Frühjahr 1809, zum vermuteten Zeugungszeitraum Kaspar Hausers, leibhaftig mit einer Armee von ca. 100 000 Mann an den Ufern der Salzach!
Am 27. April musste die österreichische Besatzung Burghausen verlassen; sie brannte beim Rückzug
die vier österreichischen Joche der Salzach-Brücke nieder, um eine rasche Verfolgung durch die Franzo sen zu verhindern. Tags darauf rückte das französische Heer unter Napoleon Bonaparte heran. Der Korse
übernahm kampflos Burg und Stadt Burghausen von den Österreichern und ließ trotz Hochwassers und
schlechten Wetters die vom Feind zerstörte Salzach-Brücke kurzfristig wieder gangbar machen. Dazu
mussten jedoch Teile seines Heeres mittels eines Schiffspontons, den die Burghausener zuvor den Öster reichern entwendet hatten, die Salzach überqueren, um am anderen Ufer beim Schloss Wanghausen
einen Brückenkopf zu errichten. Die Rekonstruktion der Brücke gelang in weniger als drei Tagen. Über
den Ponton gingen hinterher die leichten französischen Truppen, wohingegen das schwere Gerät die wiederhergestellte Salzach-Brücke nahm.
Abb. 56: Napoleon beim Brückenschlag vor Wanghausen. Gemälde von Clemens Johann Evangelista della Croce
(1782-1823), gemalt um 1810 für den Händler Philip Jakob Mayr, einst in Burghausen gestohlen, heute im
Stadtmuseum München befindlich. Gut erkennbar in direkter Verlängerung des Schiffsponton das Schloss Wanghausen, mit einem südlichen Beigebäude. Der Ortssage nach entging Napoleon damals einem Attentat. Am gegen überliegenden Ufer der Salzach hatte der Achmüller sein Gewehr auf Napoleon angelegt, als ihn seine Frau, die um
das Leben ihrer achtköpfigen Familie fürchtete, vom Fenster wegriss.
61
Während des provisorischen Brückenschlages lagerte Napoleons Heer direkt gegenüber von Schloss
Wanghausen, wie der auf der anderen Seite gelegene „napoleonische Feldherrenhügel“ belegt, der
schon im Urkataster von 1820 verzeichnet ist und heute „Napoleonshöhe“ heißt. Von diesem Hügel aus,
der jetzt eine kleine Kriegerkapelle aus nachnapoleonischer Zeit trägt, soll der Feldherr die Arbeiten von
1809 persönlich überwacht haben. Er soll – denn den zeitgenössischen Berichten nach müsste Napoleons eigentlicher Beobachtungsstand etwas weiter nördlich gelegen gewesen sein.
Was liegt näher als die Annahme, dass Napoleon Bonaparte damals auch Schloss Wanghausen auf der
österreichischen Seite besetzen ließ oder gar selbst dort nächtigte? Könnte es sein, dass er in dieser
Nacht mit einer ortsansässigen Schönheit einen Bastardsohn zeugte, der vielleicht später aus politischen
Gründen im Schloss Wanghausen interniert wurde und noch viel später den Namen Kaspar Hauser erhielt?
Leider besagt die Tradition etwas anderes:
Während die Stadt Burghausen durch die Kriegsgräuel darbte und litt, nahm der französische Kaiser
mitten in der Stadt im „Taufkirchen-Palais“ Logis, in den sogenannten „Wasserzimmern“! Wanghausen
wird nichtsdestoweniger besetzt worden sein. Es könnte anderen Teilen des französischen Generalstabs
als Quartier gedient haben, denn der Platzmangel im engen Salzachtal war damals enorm! Schloss Wanghausen hatte übrigens schon einmal Franzosen beherbergt, allerdings in einer ganz anderen Situation: Im
Jahr 1794, während des 1. Koalitionskrieges, waren hier von den Österreichern 47 französische Kriegsge fangene versperrt worden, die anschließend durch Fleckfieber und Ruhr ums Leben kamen, darunter ein
14-jähriger Tambour namens Emanuel Moulin. Ihre Leichen fand man 1967 auf einem Acker bei Wang hausen. In diesem Jahr 1809 war allerdings Frankreich die Siegernation, und binnen weniger Tage wurde
das gesamte Innviertel beiderseits der Salzach zur französischen Besatzungszone.
Am 2. Mai verließ Napoleon Burghausen wieder, das er zuvor „la ville souterraine - die unterirdische
Stadt“ genannt hatte. Alle Bürgerhäuser waren inzwischen von seinen Soldaten geplündert, viele Möbel
verheizt, die Vorräte aufgezehrt. Im Jahr darauf, am 12. September 1810, erfolgte per Staatsvertrag die
offizielle Rückgabe des Innviertels, des Salzburger Landes und teilweisen Hausruck-Viertels an Bayern.
Soviel zum Lauf der Geschichte.
Dass Napoleon im Krieg wie alle
großen Feldherren seiner Zeit Mätressen mit sich führte und Kriegsbräute nahm, ist unbenommen. Zum
Teil rekrutierten sich diese Damen
aus den Mädchen der besetzten
Länder, die Napoleon zur Unterhaltung nächtens zu sich kommen ließ.
Eine davon namens Emilia Kraus
war in Burghausen dabei. Diese bürgerliche Dame hatte Napoleon allerdings schon von Paris aus mit sich
genommen! Sie wurde im darauffol- Abb. 57: Der „Napoleonshügel“ auf dem Urkataster von 1820.
genden Jahr in Wien von einem Kind Napoleons entbunden, welches er anerkannte.
Die Idee, das Napoleon in Burghausen ein illegitimes Kind mit einer Einheimischen gezeugt hätte, ge rät unter diesem Aspekt nahezu zur Unmöglichkeit. Außerdem bekannte sich Napoleon in der Regel zu
seinen illegitim gezeugten Kindern und verschaffte ihnen bedarfsweise auch Titel und Besitz, wie ein wei teres Beispiel des Folgejahres mit seiner Mätresse Maria Walewska erweist.
Warum also ein Kind in Wanghausen verschwinden lassen?
62
Den Gedanken, dass Napoleon bei oder in Wanghausen ein Kind gezeugt hätte, das dann später dort
versperrt worden wäre, darf man getrost fallen lassen – selbst wenn er theoretisch im Raum steht!
Dr. Trumpp schloss sich allerdings seinerzeit, als er von
Wanghausen erfahren und seiner Überzeugung Ausdruck
verliehen hatte, dass Kaspar Hauser als Napoleon-Sohn dort
interniert war, auch nicht dieser Sicht der Dinge an, sondern
hegte ganz andere Vorstellungen. Er war davon überzeugt,
dass Napoleon Kaspar Hauser, verführt von seiner aufreizenden Stieftochter Stephanie de Beauharnais, in Rastatt gezeugt hätte, welches Napoleon bei seiner Rückreise nach
Frankreich im Herbst 1809 kurz tangierte. Ein Schriftstück
Trumpps, das erklärt hätte, wie dieser Sohn gerade nach
Wanghausen gelangte, kam vermutlich nicht mehr zustande.
Julius Trumpp war damals schon hochbetagt, und wir kennen keine Unterlagen dazu.
Notabene: Dies ist eine Variante der Badener HauserTheorie, allerdings nicht im Sinn der sog. Erbprinzen-Theorie, die bis heute in aller Munde ist, sondern der NapoleoAbb. 58: Napoleons Wappen von 1805. Man niden-Theorie, die auf dem Wiener Kongress zur Sprache
vergleiche mit Kaspars Wappenbildern!
kam!
In der Tat ergibt die Trumpp'sche Zeugungshypothese einen plausiblen Rechtfertigungsgrund dafür,
ein Kind verschwinden zu lassen, denn staatspolitischen Rücksichten hätte sich auch ein Napoleon Bonaparte nicht entziehen können: Die Zeugung eines Kindes mit der eigenen, gerade mal 20 Jahre alten Ad optivtochter wäre in der Tat ein unerhörter Skandal gewesen – nicht vergleichbar mit den soeben er wähnten Affären Napoleons, die in außereheliche Kindschaften mündeten. Vielmehr wäre im vorliegenden Fall gewissermaßen einen Akt der Familienschändung vorgelegen, eine Verhöhnung des eigenen
Schwiegersohnes und des Großherzogtums Baden zugleich, und nicht zuletzt einen Affront, der beim
Ruchbar-Werden Napoleons zweite Ehe mit Erzherzogin Marie-Louise von Österreich und seine ganzen
weiteren Großmachtpläne erheblich gefährden musste.
Trumpp glaubte, bei allen möglichen Gelegenheiten ein heimliches Verhältnis Stephanies zu ihrem
Ziehvater nachweisen zu können. Wir verweisen hierzu auf die Angaben in seinem Buch. 136 In der Tat finden sich davon unabhängig Anzeichen dafür, dass Stephanie Napoleon in gewisser Weise liebte (bzw.
umgekehrt), zur Jahreswende 1808 intensiven Kontakt zu ihm suchte und ihn sogar extra bitten ließ, bei
ihr in Mannheim aus Schutzgründen den Minister Bignon als Vertrauensmann und Nachfolger Talleyrands zu installieren, aber ja nicht bei ihrem ungeliebten Gemahl in Karlsruhe. 137
Wenn dies so stimmt, dann sticht ein Eintrag in Napoleons Itinerar für den 15. April 1809, also wäh rend seiner Anreise ins Kriegsgebiet ins Auge: Während der Korse bei der Fahrt nach Bayern und Österreich seinen Schlaf fast immer in seinem Reisewagen suchte, um rasch vorwärts zu kommen, traf er an
besagtem Tag tagsüber in Durlach „die Familie“ des Großherzogs von Baden und verschwand dabei für
zwei Stunden in einem Boudoir! Die „Familie“ des Großherzogs, das war im Wesentlichen nur seine Ad optivtochter Stephanie, die von ihrem Mann seit 3 Jahren getrennt lebte. Das „Il s'y repose deux heures er legt sich dort für zwei Stunden zur Ruhe“ – so vermerkt von seiner Adjutanz! - war ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, der sich bei Napoleon in diesen Tagen nie wiederholte! Ein ungewolltes Kind
136 Julius Trumpp: Kaspar Hauser – Napoleon und Stephanie – der Tatsachenbericht, Gerabronn 1953, S. 70ff.
137 Die Annahme einer frühen Liebschaft zwischen Napoleon und Stephanie findet sich in einem Augenzeugenbericht vom 3. Januar 1808 bestätigt. Demnach habe Stephanie ihren Gatten „le monstre“ betitelt und über Napo leon den Satz herausfahren lassen: „L'empereur ne m'aime plus“, was nun voraussetzt, dass Napoleon sie we nigstens zuvor tatsächlich geliebt habe. Am 12. Dezember 1808 schickte sie Napoleon ihren flehentlichen Hilferuf. Vgl. Edmond Bapst: À la conquête du trône de Bade …, Paris 1930, S. 135, 173 und 334f. Im Weiteren abgekürzt mit Bapst und Seitenzahl.
63
könnte durchaus Resultat dieser äußerst ungewöhnlichen Ruhepause in Durlach gewesen sein. 138 Hinterher präsentierte sich Stephanie als geliebte Frau: Sie soll deutlich besserer Laune gewesen sein und in
Mannheim einige fröhliche Feste gefeiert haben. 139
Zwar gäbe prinzipiell auch die Rückreise Napoleons nach Frankreich mit Aufenthalt in Rastatt am 24.
Oktober ein Treffen mit Stephanie her, wie von Trumpp einst angenommen; dieses könnte allerdings nur
sehr kurz gedauert haben, denn die Reise ging laut Itinerar unverzüglich weiter. 140 Stattgefunden hat es
unseres Wissens sowieso nicht, denn man wird Edmond Bapst glauben dürfen, wenn er berichtet, dass
Napoleon damals die persönliche Kontaktaufnahme zu seiner Adoptivtochter Stephanie wie zu seinem
Schwiegersohn ganz bewusst vermied und letzterem über seinen Minister Champagny nur seine Unzufriedenheit über die Verhältnisse in Baden ausrichten ließ.
Die Ehe Stephanies de Beauharnais mit Großherzog Karl von Baden war auch in dieser Zeit faktisch noch nicht vollzogen und intime Kontakte nahezu ausgeschlossen; das ungleiche Paar lebte, von
gegenseitigem Misstrauen und
Vorwürfen überzogen, konsequent
getrennt, von wenigen offiziellen
Anlässen abgesehen, bei denen
man sich im Beisein Dritter traf.
Napoleon Bonapartes Dynastiepläne in Baden waren durch diese
Konfrontation konterkariert. Ob
dies aber in Rastatt als Anfeindungsgrund genügt, bleibt dahingestellt, denn nicht minder zerrüttet war die kaiserliche Ehe selbst – Abb. 59: Stephanie entgegen allen Regeln der Courtoisie auf dem Schoß
mit Josephine de Beauharnais: Napoleons. Abbildung aus E. Bapst, n. S. 84.
Noch im selben Jahr, am 15. Dezember 1809, gab Napoleons die längst geplante Scheidung von Josephine öffentlich bekannt.
Unter ganz anderem Licht präsentiert sich aber Napoleons Verhalten vom Herbst 1809, wenn man
eine vorherige Liebschaft mit Stephanie im Frühjahr unterstellt, die er zwischenzeitlich bereut hätte.
Nun hat aber die Napoleoniden-Theorie in Zusammenhang mit Stephanie nur solange ihre Gültigkeit,
als sich für sie kein gewichtiger Ausschlussgrund findet.
Laut einer Meldung der Carlsruher Zeitung vom 29. Dezember soll aber Stephanie de Beauharnais an
ihrem Namenstag, dem 26. Dezember 1809, gemeinsam mit ihrem Mann Karl im Mannheimer Theater
gesichtet worden sein:141
„Gestern Abends erschien das hochverehrte und geliebte Fürstenpaar in dem festlich
erleuchteten Theater, wo ihm die lebhaftesten Äußerungen der Freude, Liebe u. Ergebenheit
entgegenkamen. Heute (Anm.: am 27. Dezember) sind Sc. Hoheit der Erbherzog nach Carlsruhe
zurückgereiset.“
138 Albert Schuermans (Herausgeber): Itinéraire général de Napoléon, 2. Auflage 1911, S. 294. Bapst weiß von die sem Treffen nichts, vgl. Bapst, S. 177.
139 Bapst, S. 177.
140 Schuermans, Itinéraire, S. 307.
141 Die Quelle verdanken wir dem freundlichen Hinweis von Frau Petra Grill. Vgl. Carlsruher Zeitung Nr. 207, vom
29.12.1809, S. 826, URL: http://digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/pageview/1422196.
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Widerlegt eine solche Meldung eine außereheliche Schwangerschaft Stephanies in dieser Zeit?
In der Tat sieht es auf den ersten Blick hin so aus! Der Leibesumfang einer hochschwangeren Prinzes sin im 9. Monat wäre im Theater sicherlich nicht übersehen worden – weder von Seiten der Öffentlich keit noch von Seiten ihres ungeliebten Mannes Karl!
Auf den zweiten Blick hin stellt sich die Sachlage allerdings anders dar:
Wir halten diese Zeitungsmeldung für eine aus politischem Kalkül gezielt platzierte „Ente“, die dem
Kaiserhof in Frankreich eine Einmütigkeit des Herzogspaares vorspiegeln sollte, die realiter gar nicht bestand. Für diese Einschätzung spricht zunächst der Ort der Veröffentlichung – ausgerechnet Karls Residenzort Karlsruhe, aber nicht Stephanies Mannheim! - und eigenartig unverbindliche Formulierung der
Anzeige. So findet sich hier die vage Angabe eines Theaterbesuchs, wohingegen verschwiegen wird, dass
an diesen Tag die Oper „Achilles“ von Ferdinando Paer im Großherzogtum Baden uraufgeführt wurde,
was die Leserschaft sicher interessiert hätte. 142 Eine intakte Ehe des Erbprinzenpaares vorzuspiegeln, war
für die damaligen Zeitungsmacher wegen der demonstrierten Loyalität zum Regime opportun, hing doch
ihr eigenes Schicksal am seidenen Faden! Unter strenger Beobachtung des französischen Geheimdienstes stehend, mussten die Redakteure und Verleger äußerst vorsichtig sein. So genügte z. B. schon ein unbedeutender Anlass, um das Redaktionsteam der „Rheinische Bundes-Zeitung“ arbeitslos zu machen: Am
9. Februar 1809 führte ein einziger, angeblich unbotmäßiger Artikel über die Schlacht von Eylau zum Verbot des Blattes, und am 21. März 1809 folgte der offizielle Antrag Frankreichs, auch die „Mannheimer
Zeitung“ einzustellen, was allerdings im Gegensatz zum ersten Fall von der badischen Regierung nicht
mehr vollzogen wurde.
Die Tatsache, das sich Stephanie und Karl damals nur extrem selten, dann gezwungenermaßen und am
besten gar nicht trafen, stößt also diese Zeitungsmeldung über einen angeblich gemeinsamen
Theaterbesuch nicht um, sondern wird durch die Art ihrer Präsentation noch bekräftigt.
Nicht zuletzt untermauert aber unsere Einschätzung, dass das Treffen realiter gar nicht stattfand, die
Schilderungen dieser Zeit durch Edmond Pabst. Der französische Diplomat folgte zwar u. E. eine falsche
Hauser-Spur in Baden, verfügte aber über zuverlässige Gewährsleute. Im Fußnotenapparat seines Werkes findet sich eine Fülle von zeitgenössischen Quellen bzw. Zeugenaussagen aus der Entourage des Paares, die ein entsprechendes Licht auf Stephanie und ihren Mann werfen. 143
Was deutet bei den Pabst'schen Quellen für die Jahre 1809/10 auf eine außereheliche, verheimlichte
Schwangerschaft Stephanies hin?
Espressis verbis zunächst nichts, Pabst war ja auch die Erprinzen-Geschichte des Jahres 1812 fixiert.
Wenn man jedoch zwischen den Zeilen liest, findet sich eine ganze Menge von Verdachtsmomenten, und
es werfen sich etliche Fragen auf:
•
Zunächst fällt der schon oben erwähnte Umstand auf, das Napoleon nach dem 5. Koalitionskrieg
bei seiner Rückkehr nach Frankreich eigenartigerweise die persönliche Begegnung mit seiner Adoptivtochter Stephanie mied, obwohl sie problemlos möglich gewesen wäre. Nochmals: Dieses
Verhalten muss einen triftigen Grund gehabt haben! War es ein Ausdruck schlechten Gewissens
bei dem frisch mit der österreichischen Kaisertochter verlobten Kaiser?
•
Stephanie verbrachte in diesem Sommer auffallend viele Wochen außerhalb des Großherzogtums Baden und ihrer Mannheimer Residenz, in Straßburg oder Plombières – meist in Gesellschaft ihrer Verwandten, Josephine de Beauharnais, deren Stern als Kaiserin bereits gesunken
war. Deckte Josephine eine heimliche Schwangerschaft Stephanies? Unter dem Aspekt ihrer Mitwisserschaft gewinnt auch eine letzte, geheimnisvolle Andeutung Josephines, die auch an Zar
Alexander I. von Russland ging und durch den Auszug aus dem Memoiren eines französischen
142Vgl. Rheinische Correspondenz, Bd. 2, Heft 1 (1. Januar 1810), S. 3f. In: Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe.
Digitale Edition, http://www.weber-gesamtausgabe.de/A031189 (Version 2.0 vom 4. Mai 2016)
143Vgl. Bapst, S. 171ff. und 191ff.
65
Pairs gestützt wird, eine ganz neue Bedeutung! Diese Stephanie de Beauharnais betreffende Passage fand sich im Nachlass Gottliebs von Tucher in Nürnberg und wurde von Johann Mayer ausführlich in seinem Werk über Stanhope kommentiert, wenngleich bezogen auf die ErbprinzenTheorie, von der sich in dem Schreiben kein Wort findet! 144
•
In den letzten Monaten des Jahres 1809 erhöhte Napoleon von Paris aus plötzlich massiv den
Druck auf Stephanie und Karl, sich endlich als trautes, liebendes Paar der Öffentlichkeit zu prä sentieren – zunächst ohne den geringsten Erfolg. Die politische Raison hätte diese Reaktion
schon seit 1806 erfordert, doch Napoleon hatte sich bis zu diesem Herbst dieses Jahres nicht besonders engagiert gezeigt. Warum dieses plötzliche Umschwenken, dieser neue Tenor in Inhalt
und Diktion? Wollte Napoleon mit diesem Manöver, da er womöglich inzwischen über eine
Schwangerschaft Stephanies in Kenntnis gesetzt war, von Gerüchten über seine eigene Person als
Kindsvater ablenken?
•
Zu einer Schwangerschaft Stephanies passt
auch, dass Napoleon sie und ihren Mann im
November 1809 plötzlich und ohne Verzug
nach Paris zitierte – offenkundig in großer Aufregung. Auffallenderweise folgte aber nur Stephanie dieser Einladung, nachdem sie höchstwahrscheinlich Karl durch ihre Hofdame, Comtesse Walsh, die sie nach Karlsruhe gesandt
hatte, hatte ausladen lassen.145 Ihre Abreise
nach Paris erfolgte laut E. Pabst am 5., laut
Carlsruher Zeitung am 6. Januar 1810, laut letzterer Quelle mit einem Zwischenaufenthalt in
Karlsruhe von Neujahr 1810 bis zum 5. Januar,
was wir ebenfalls nicht glauben, da es allein
wegen des Umwegs unsinnig gewesen wäre.146
Wie dem auch sei – Karl blieb trotz kaiserlichen
Befehls zum Rapport mit einer Ausrede zuhause, Stephanie reiste!
•
Was mit Stephanie nach ihrer Abreise geschah,
bleibt im Dunklen. Wir wissen weder etwas
Abb. 60: Wie ihre Tante Josephine ließ sich Stephaüber ihre Aufenthaltsorte noch über den weitenie de Beauharnais entsprechend den Regeln der
ren Ablauf der Dinge. Es ist durchaus denkbar, Empiremode gerne mit hoher Taille und wallenden
dass sie in dieser Zeit irgendwo zwischen Kleidern konterfeien. Ein Schwangerschaft hätte
Mannheim und Paris von einem Napoleon- unter solchen Kleidern durchaus für längere Zeit
Sohn niederkam und diesen nach der verborgen werden können. Gravur von A Keßler
Entbindung weggab. Ihrem kaiserlichen nach einem Gemälde von Schroeder.
Ziehvater präsentierte sie nachweislich erst
lange nach Abschluss des Wochenbetts, im Februar oder März 1810, und schon am 20. März
erfolgte die Abreise von Paris in Richtung Baden.
144 Vgl. Mayer, Stanhope, S. 157ff.
145 Edmond Bapst stellt diese Aktion als beiderseitige Absprache dar, wonach sich Karl sogar hinterher für einen
Tag zu einem persönlichen Austausch nach Mannheim begeben hätte. Der dazu gehörige Brief des Ministers
Bignon an den Kollegen Champagny (Pabst, S. 183, Fussnote 1) spricht aber nur von einem Briefkontakt seitens
der Prinzessin, woraufhin Karl auf eine Mitreise nach Paris verzichtet hätte. Also auch hier ist kein persönlicher
Kontakt belegt, bei welchen Karl von einer Schwangerschaft seiner Gattin hätte Augenschein nehmen können!
Vgl. Pabst, S. 183, Fußnote 1.
146 Vgl. Carlsruher Zeitung Nr. 3 vom 5.1.1810, S.9, und Nr. 5 vom 8.1.1810, S. 18.
66
•
Wie durch ein Wunder präsentierte sich Stephanie 2 Tage später zusammen mit ihrem Mann,
Großherzog Karl, als trautes Paar der Öffentlichkeit von Straßburg, anlässlich des Auftritts von
Napoleons Verlobter, Erzherzogin Marie-Louise von Österreich! Wie kam dieser abrupte Umschwung in der Beziehung der beiden zustande? Handelte es sich nur um den Befehl Napoleons
oder doch um eine gehörige Erleichterung auf beiden Seiten?
•
Wenig später waren Stephanie und Karl auch bei den Hochzeitsfeierlichkeiten in Paris zugegen,
und noch im selben Sommer verbrachte das Paar, das sich noch kurz zuvor ignoriert und bekriegt
– hatte, gemeinsame Tage im Schloss von Baden, wonach wenig später die erste gemeinsame
Tochter Louise entspross (geb. am 5. Juni 1811).
Für diesen abrupten Stimmungswandel hat es bisher keine plausible Erklärung gegeben!
Die Bereinigung einer verheimlichten und am Ende elegant gelösten Kindschaftsaffäre – weg mit dem
Kind, so als hätte es dieses nie gegeben! - ergibt sehr wohl ein schlüssiges Motiv für die neue, ja erstmali ge „entente cordiale“ zwischen Stephanie und dem vormaligen „Monster“ Karl!
Was Stephanie anbelangt, so mag sie allerdings die Neuentdeckung der Liebe nur spielt haben, denn
schon mit der Rückreise aus Paris ließ sie sich im Gegensatz zu ihrem Mann auffallend viel Zeit. Und im
Sommer 1811, kurz nach der Entbindung von ihrer Tochter Louise, erteilte ihr strenger Ziehvater Napoleon über seinen Außenminister B. Maret und seinen badischen Gesandten de Moustier Stephanie eine
harsche Rüge, sie solle nun gefälligst an die Seite ihres Mannes treten und konsequent ihren ehelichen
und repräsentativen Pflichten nachkommen.147
Soweit zu einer schier unglaublichen Wende im Verhältnis zwischen Stephanie de Beauharnais und ihrem Mann, Erbprinz Karl Ludwig Friedrich, der 1811 als Erzherzog die Regierungsgeschäfte im Großher zogtum Baden übernahm. Es ist frappierend, dass sich das Verhältnis zwischen beiden genau in dem Moment normalisierte, also Stephanie möglicherweise ein Kind aus der Beziehung mit Napoleon ausgetragen und mit dessen Beseitigung demonstriert hatte, dass ihr doch an einem guten Verhältnis zu ihrem
Mann Karl lag.
Vor diesem biographischen Hintergrund gewinnt die Stephanie-Napoleoniden-Theorie des Julius
Trumpp einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit, selbst wenn es an hieb- und stichfesten Beweisen
mangelt. Man muss einräumen: Vieles spricht für eine verheimlichte Schwangerschaft der Stephanie
de Beauharnais in dieser Zeit, und nichts eindeutig dagegen!
Ungeklärt bleibt allerdings, warum und über welche Wege ein so gezeugtes und geborenes Kind im
weit entfernten Wanghausen gelandet wäre. Und warum verschwand es am Ende in einem Verlies,
anstatt ganz beseitigt oder einer anderen Mutter oder einem Waisenhaus untergeschoben zu werden.
Warum war zur Problemlösung ein lange währendes Schwerverbrechen nötig, das erst dann sein Ende
fand, als Napoleon schon 13 Jahre nicht mehr an der Macht und 7 Jahre nicht mehr am Leben war?
Es bleiben also viele Fragen offen!
So sollten sich wenigstens einige weitere Indizien ergeben, ehe es sich lohnt, die Spur der Trumpp' schen Napoleoniden-Hypothese weiterzuverfolgen. Vor allem bedarf es einer plausiblen Erklärung dafür,
über welche Vermittlungspersonen der Weg des Kindes nach Wanghausen gebahnt wurde. All dies ist
beim Stand der Dinge nicht erkennbar, wir werden aber im Folgenden darauf zurückkommen!
Kaspar Hauser als illegitim gezeugter Sohn Napoleons anlässlich seines Kurzaufenthaltes in Burghausen geht jedoch, wir wollen es nochmals wiederholen, nicht durch!
147Correspondance de Napoleon, Brief 18078 vom 24. August 1811.
67
Zwei Phänomene weisen die Richtung, in der wir uns zunächst weiter bewegen wollen:
•
Wenn Kaspar Hauser in Wanghausen und Umgebung aufgezogen wurde, dann war er zu dem
Zeitpunkt, als dies geschah, als kleiner Bajuware ein Kind des Landes. Vielleicht lag gerade darin
der Grund, dass er sich, nachdem er das Laufen gelernt hatte, in Obhut des Abdecker Drechsler
und seiner Frau noch relativ frei bewegen und durch Vermittlung der Baronesse von Prielmayer
in den Genuss von gesundheitlicher Versorgung und Schulunterricht kommen konnte.
•
Um 1816, als die Österreicher plötzlich wieder das Sagen in Wanghausen hatten, verschwand er
von der Bildfläche, bis zu jenem Jahr 1828, in dem er sich plötzlich weit weg von Wanghausen, in
Nürnberg, unter den Menschen wiederfand.
Dies ist für uns der Ansatz, den wir nun weiterverfolgen wollen.
Es folgt als Erstes die längst überfällige Darstellung der Schlossbesitzer von Wanghausen. Zum vollen
Verständnis ihrer Dynastie müssen wir etwas weiter ausholen.
68
Kurbayerische Patrioten: Die Freiherren von Prielmayer von Priel
Die Familie von Prielmayer, welche zu Kaspar Hausers Zeit das Schloss Wanghausen in ihrem Besitz
hielt, hatte in ihren Anfängen eine Familie einen untadeligen Ruf in Kurbayern besessen.
Stammvater der jüngeren Linie, die aus dem Ort Priel
in Niederbayern stammte, war Korbinian Prielmayer
(1643-1707). Der „hervorragendste in dieser Familie“ arbeitete sich als Sohn eines Tagelöhners bzw. Schrannenknechts nach einer gymnasialen Laufbahn im Hofdienst
vom einfachen Laufburschen zum höchsten kurbayerischen Regierungsbeamten hoch!148
Im Rahmen dieser steilen Karriere unter Kurfürst Ferdinand Maria avancierte Korbinian Prielmayer 1687 zum
Leiter des Inneren Archivs und 1689 zum Leiter der Geheimen Kanzlei. Im Jahr 1694 wurde er wegen seiner
Verdienste um Kurbayern geadelt und durfte sich künftig
Korbinian Reichsfreiherr von Prielmayer von Priel nennen, mit einem doppeltem „von“. Zusammen mit Kaspar
von Schmid entwickelte er die bayerische Neutralitätspolitik gegenüber Frankreich; beim Friedensschluss
von Rijswijk im Jahr 1697 war er federführend beteiligt.
Diese Karriere setzte sich auch unter dem Kurfürsten
Maximilian I. Emanuel fort: Ab 1698 bekleidete Korbinian von Prielmayer das Amt eines Hofkammerpräsidenten und leitenden Ministers. Zu Beginn des Spanischen
Erbfolgekrieges 1702 wurde er Bayerischer Geheimer DiAbb. 61: Carl G. von Amling: Korbinian von Priel- rektor der Kriegskanzlei, mit Zuständigkeit für die Ausmayer, Graphik von 1697 (Stadtmuseum Mün- rüstung und Versorgung der kurfürstlich-bayerischen Archen).
mee. Als Max Emanuel nach der Niederlage bei Höchstädt ins belgische Exil gehen musste (1704-1714), blieb Korbinian von Prielmayer zunächst als Berater
bei der Kurfürstin in München, folgte aber später seinem Landesherrn nach Belgien ins Exil nach, wo er
1707 in Morimond im Hennegau verstarb. Aus seiner Ehe mit Marie Mechthild, Gräfin von Aham auf
Burgstall, hatte er drei Söhne und vier Töchter. 149 Seiner Familie hinterließ der kenntnisreiche Sammler
etliche Gemälde und Tapisserien aus Flandern sowie ein ansehnliches Barvermögen, vor allem aber umfangreichen Grundbesitz in Poing, Oberpframmern, Dobl, Rohr und Kirchheim, sowie die Hofmark Hien heim.
Korbinians Sohn, Franz Bernhard von Prielmayer (1668-1733), wurde nach einer juristischen Ausbildung in München ab 1700 Kastner des Rentamtes Burghausen und in dieser Funktion zu einer Symbolfi gur des Widerstandes gegen die Österreicher. Durch die Türkenkriege bereits kriegserfahren, setzte er
sich beim Volksaufstand von 1705/1706 als Kommandant der Landesdefension in Burghausen mit an die
Spitze der bayerischen Volkserhebung, nahm dabei u. a. am Kongress der Landesdefension in Braunau
1705 teil und half, Burghausen vorübergehend von den Österreichern zu befreien.
148 Otto T. von Hefner: Adelicher Antiquarius, München 1867, S. 234.
149 Allgemeine Deutsche Biographie, Band 26, Philipp von Hessen bis Pyrker, Stichwort „Prielmayer“, Leipzig 1888,
S. 586ff.
69
In der Schlacht von Aidenbach mussten
die Aufständischen eine schlimme Niederlage einstecken. Franz Bernhard von
Prielmayer trat am 11. Januar 1706 mit
einer Abordnung der kurbayerischen
Landesdefension zu Friedensverhandlungen in Salzburg an, drei Tage später kapitulierte Burghausen als letzte Stadt unter der
zuvor von ihm geleiteten, provisorischen
Regierung. Franz Bernhard von Prielmayer
ging vorübergehend in Haft.
Es war derselbe Franz Bernhard von Prielmayer, der 1721 nach Erlöschen der Fa- Abb. 62: Die Schlacht von Aidenbach 1706.
milie Schwarz die Hofmark Ach erwarb und
das dortige Schloss Wanghausen zum Familiensitz erhob. Außerdem hatte er die Hofmarken Redenfeld
und Ritzing erworben, in letzterer gründete er eine Brauerei. Er soll auch den Titel „kurfürstlicher Regimentsrat und Truchsess“ innegehabt haben. 150 Franz’ Bernhards Bruder Valentin Anton (+1739) war seinerseits kurbayerischer Truchsess.151
Es handelte sich also bei der Familie von Prielmayer um eine altbayerische Patrioten-Familie, welche
über zwei Generationen hinweg eng mit dem kurfürstlichen Hof verbunden war und das Land Österreich zu seinen erklärten Feinden zählte!
Franz Bernhards Sohn und Nachfolger in Burghausen, Regierungsrat Franz Ferdinand von Prielmayer,
Herr zu Ach und Wanghausen, ließ im Jahr 1770 beim sogenannten Goldbrünnl in Ach zusammen mit
dem Rentmeister von Burghausen, Maximilian Freiherr von Berchem (+1777), die schöne barocke Wall fahrtskirche Maria Ach errichten, von der bereits mehrfach die Rede war. Man erwarb dazu zwei Reliqui en, die 1776 beigesetzt wurden, außerdem verlieh Papst Pius VI. zur Förderung der Wallfahrt einen Ablass. Von diesem Herrn wurde somit in Ach und Wanghausen „alles in besseren Stand gesetzt“.152 Dies
hinderte Franz Ferdinand jedoch nicht daran, Chef einer Geheimloge der Rosenkreuzer zu werden. Mehr
hierzu weiter unten.
Der Friede von Teschen 1779 bedeutete für die Familie von Prielmayer eine empfindliche Zäsur:
Wanghausen ging für die in kurbayerischen Diensten stehenden Prielmayers als Sitz und ständiger Aufenthaltsort verloren, da es ab sofort auf österreichischem Hoheitsgebiet und damit im Feindesland
lag!
Franz Ferdinand von Prielmayer wechselte in das Hofkastenamt nach Landshut. Für die Jahre 1787 bis
1789 ist er in den Akten des Staatsarchivs Landshut als Regierungsrat von der Ritterbank und als Rent meister in Landshut dokumentiert.153 Im Churbayerischen Intelligenzblatt von 1787 ist sogar davon die
Rede, dass Franz Ferdinand, immer noch Herr auf Ach und Wanghausen, im selben Jahr die Kanzlerstelle
von Landshut übernahm; laut einer anderen Quelle lag der Zeitpunkt sogar noch etwas früher. 154 Franz
Ferdinand scheint ziemlich alt geworden zu sein; er starb am 1. Oktober 1800 und überlebte wohl seinen
Sohn Siegmund. Nach ihm, im Jahr 1801, verstarb auch seine Gattin Maria Anna Carolina Franziska Katherina, Reichsfreifrau von Prielmayer, in Landshut.
150 Otto Dorfner: Heimatkundliche Informationen, in: Mitteilungsblatt Kirchdorf am Inn, 30. Jahrgang, Nr. 10, Oktober 2006.
151 Aus dem Zeitungsarchiv Burghausen, Online-Dokument.
152 Benedikt Pillwein: Geschichte, Geographie und Statistik des Erzherzogthums Oesterreich, Band 4, Linz 1832, S.
447.
153 Hof- und Staatskalender Bayern 1799, S. 257.
154 Churbaierisches Intelligenzblatt 1787, S. 76. Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens, ein Beitrag zur
Geschichte Bayerns, Berlin 1906, S. 254.
70
Franz Ferdinand von Prielmayer hatte also seinen festen Wohn- und Amtssitz auf Dauer nach Landshut
verlegt, nachdem eine Amtsausübung in Burghausen aus dem Schloss Wanghausen heraus, das nun auf
österreichischem Hoheitsgebiet lag, nicht mehr sinnvoll möglich war. Begraben ließ er sich allerdings in
der Wallfahrtskirche Maria Ach in Wanghausen, wo man noch heute eine Gedenktafel rechts am Beichtstuhl vor dem großen Gitter findet.
Der nächste von Prielmayer, Siegmund Ferdinand Anton Korbinian von Prielmayer (+16.03.1787), war
wie sein Vater erst Hofkastner und ab 1784 Regierungskanzler von Landshut. Er wählte ebenso wie sein
Vater Landshut als Erstwohnsitz. Ungeachtet dieses Ortswechsels befand sich zum Ende des Kurfürstentums Bayern die Familie von Prielmayer auf dem Höhepunkt ihres Ansehens und ihrer Reputation.
Ihr österreichischer Besitz Wanghausen war jedoch, auf fremdem Territorium liegend, zur Nebensache geworden.
71
Johann Nepomuk von Prielmayer: Fall und Wiederaufstieg
Siegmunds Sohn, der Urenkel des berühmten Korbinian von Prielmayer, hieß Johann Nepomuk Franz
Xaver von Prielmayer (*16.12.1758 in Landshut, +27.02.1837). Auf diesen Mann ist nun ein besonderes
Augenmerk zu werfen, denn er besaß das Schloss Wanghausen genau zu der Zeit, als Kaspar Hauser der
Wanghausen-Theorie zufolge dort untergebracht war – zwischen 1810 und 1828.
Wie seine Altvorderen plante Johann Nepomuk zunächst eine gehobene Beamtenlaufbahn in kurbayerischen Hofdiensten, dazu nahm er kurz vor 1780 das Studium der Rechte an der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt auf. Im Jahr 1781 zählte er dort als „Landshutanus Boj.“ zu den „Inscripti illustres“.155
Nach Abschluss des Studiums im Jahr 1784 war Johann Nepomuk zunächst Adjunkt seines Vaters in
Landshut; im Jahr 1787 übernahm er als dessen Nachfolger die Leitung des Salzamtes Landshut, in der
hochrangigen Funktion des Hofkastners. 156 Es handelte sich hier, wenn man so will, um eine Art von Erbfolge im Amt, bereits in der dritten Generation.
Ein weiterer Aufstieg in das Amt des Kanzlers blieb ihm
aber verwehrt, und zwar genau von dem Zeitpunkt an, als die
Linie der bayerisch-pfälzischen Wittelsbacher im Kurfürstentum erlosch, und sich im von den Österreichern bedrohten
Bayern eine neue politische Führung unter Maximilian IV. Joseph von Pfalz-Zweibrücken und eine neue politische Doktrin unter dem führenden Minister Maximilian Graf von
Montgelas etablierten.
Im Jahr 1798 oder 1799 schlug Johanns Nepomuks Bewerbung um den Posten als Regierungskanzler von Landshut
fehl, wie ein Protokoll des Geheimen Staatsrats vom 25. Mai
1799 ausweist: Man gab damals dem bürgerlichen Regierungsrat Adam den Vorzu – für Johann Nepomuk kein geringer Affront! Aber selbst seine Tage als Hofkastner waren bereits gezählt!
Die Degradierung des Johann Nepomuk von Prielmayer
war damals beileibe kein Einzelfall. Ab dem Jahr 1800 erfolgAbb. 63: Herzog und Kurfürst Maximilian IV. ten in Bayern durch das neue Regime zahlreiche UmbesetJoseph von Pfalz-Zweibrücken, der nachmali- zungen innerhalb der Regierungsbeamtenschaft, so auch in
ge erste König von Bayern.
Landshut, wo auch einige andere Leute ihren angestammten
Posten verloren. Es war der neue Kurfürst persönlich, der nun
ohne Angabe von Gründen verfügte, dass Johann Nepomuk von Prielmayer als Hofkastner die Regierung
zu verlassen habe!157 Die Relegation folgte einem komplexen Muster, das sowohl einen ökonomischen als
auch einen hochpolitischen Hintergrund aufwies:
•
Der neue Herzog und Kurfürst aus der zuvor eher unbedeutenden Pfalz-Zweibrückener Linie der
Wittelsbacher ging alsbald mit dem Ersten Konsul der Französischen Republik, Napoleon Bonaparte, ein Militärbündnis ein, welches den bayerischen Staatshaushalt extrem belastete. Kein
Wunder, wenn man den überfrachteten Beamtenapparat im Gegenzug entlasten wollte.
•
Der wichtigere Grund für die Entlassung des Johann Nepomuk dürfte allerdings in der Neuaus richtung der Politik gelegen haben: Unter dem leitenden Minister Graf Maximilian von Montge-
155 Annales Ingolstadii 1826.
156 R. und H. Angermüller (Herausgeber): Joachim Ferdinand von Schidenhofen. Ein Freund Mozarts, Bad Honnef
2006, S. 35. Hof- und Staatskalender 82, S. 131.
157 Georg K. Mayr (Herausgeber): Sammlung der Churpfalz=Baierischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen von Sr. Churfürstlichen Durchlaucht Maximilian Joseph IV, Band 1, München 1800, S. 74.
72
las ging ab sofort darum, vor allem diejenigen Beamten im Hofdienst auszuschalten, die man für
die Gewährsleute Österreichs hielt, oder – drastischer ausgedrückt -, diejenigen, die im Verdacht
standen, im Auftrag der Österreicher in Bayern zu spionieren! Dabei erwischte es auch den Johann Nepomuk von Prielmayer! Es ist plausibel, dass er allein durch seine Beziehungen ins
Grenzland, nach Burghausen, Ach und Wanghausen, unter Verdacht kam!
Dennoch scheint seine Demission nicht gleich gegriffen zu haben, denn aus einem Protokoll des Geheimen Staatsrates vom 7. September 1802 geht hervor, dass es bis zu diesem Termin noch nicht gelungen
war, den suspekten Hofkastner aus seinem Amt zu entfernen: Als eine Person, „der als Hofkastner Jurisdiction ausübet, solle er in einem anderen Gericht beibehalten werden, weil rücksichtlich der Universität
in Landshut ein Mann von mehr wißenschaftlichen Verdiensten zu wählen wäre …“, lautete ein von unbekannter Seite vorgebrachter Antrag.158
Man hatte also inzwischen vom Vorhaben der Entlassung Abstand genommen, stattdessen plädierte
man für eine Versetzung! Dies mag beamtenrechtliche Gründe gehabt haben. Auffallenderweise argu mentierte man aber mit einem fachlichen Einwand: Johann Nepomuk von Prielmayer sei ein Mann von
mangelnder Qualifikation, was man auch als Schlampigkeit in der Amtsausübung lesen kann. Vielleicht
sollte man die Disqualifikation mit dem Hinweis abmildern, dass der neue Kurfürst im Jahr 1800 die
bayerische Landesuniversität von Ingolstadt nach Landshut verlegt hatte und nun darauf erpicht war, die
von ihm protegierten Landshuter Professoren mit Regierungspfründen zu versehen.
Aber auch Unregelmäßigkeiten finanzieller Art stehen als Versetzungsgrund im Raum: Als Peter Vornehm im Staatsarchiv Landshut nachfragte, wurde ihm mitgeteilt, ein Akt über Schulden des Herrn von
Prielmayer aus dem Jahr 1807 sei im Jahr 1930 an das Hauptstaatsarchiv München überstellt worden!
Jahrzehnte später, 1860, ist im Kreis-Amtsblatt von Oberbayern vermerkt, dass eine im Besitz des königlichen Revierförsters Karl Freiherrn von Prielmayer befindliche Bundes-Kapitals-Schuld-Urkunde (fol.
127/226 zu 250 fl. und 2,5 Prozent verzinslich), ursprünglich auf Rosa Gruber lautend und später umgeschrieben auf Johann Nepomuk Freiherrn von Prielmayer und dessen beide Schwestern Antonie und
Anna von Prielmayer, abhanden gekommen, sprich gestohlen worden sei. Der Inhaber der Urkunde wurde aufgefordert, sie binnen der nächsten 6 Monate zurückzugeben, da sie ansonsten entwertet würde. 159
Demnach scheint Johann Nepomuk von Prielmayer tatsächlich verschuldet gewesen zu sein, wobei es
sich offensichtlich um eine Familienschuld handelte! Darin unterschied sich die familie Prielomayer
allerdings nicht im Geringsten vom Rest des bayerischen Adels.
Ein weiterer und vielleicht der wichtigste Beweggrund dafür, ihn loszuwerden, lag vermutlich darin,
dass man ihn umstürzlerischer Umtriebe verdächtigte, als heimliches Mitglied des verbotenen
Illuminatenordens. In diesem Zusammnhang gab es freilich eine nicht unerhebliche familiäre
Vorbelastung: Johann Nepomuks Großvater, Franz Ferdinand von Prielmayer, hatte als sogenannter
„Meister vom Stuhl“, d. h. an oberster Stelle, eine 1776 in Burghausen gegründete, vornehmlich
alchemistisch tätige Geheimloge geleitet, welche zur Rosenkreuzerloge des Freiherrn Ecker von
Eckhoffen zählte. Weil sich dieser Geheimbund in Konkurrenz zu einer entsprechenden Bewegung in
Ingolstadt setzte, war durch Adam Weishaupt der Illuminatenorden überhaupt erst gegründet worden. 160
Franz Ferdinand von Prielmayer war demnach ein Untergrundmann der ersten Stunde, und Burghausen
eine der Keimzellen der Geheimbünde des 18. Jahrhunderts! Im Jahr 1781 bestand in Burghausen auch
eine Untergruppierung der dem Illuminatenorden nahestehenden Loge „St. Théodore de bon conseil“,
der vorübergehend auch Graf Maximilian von Mongelas anhing, ehe er sich in Regierungsverantwortung
zu einem entschiedenen Geheimbund-Gegner entwickelte. Es muss sich um einen eingeschworenen
Verein gehandelt haben, deren Köpfe wir nicht kennen. In einem internen Bericht der Illuminaten wird in
der Regierung von Burghausen lediglich ein Mitglied des Ordens enttarnt, der junge Freiherr von
Armannsperg.161
158 Staatsrat, S. 323.
159 Kreisamtsblatt OB 101, 1860, S. 409.
160 Richard Koch: Mozart - Freimaurer und Illuminaten, Reichenhall 1911, S. 40.
161 Engel, Illuminaten, S. 316.
73
Der Rosenkreuzer Franz Ferdinand scheint eines Tages zum größeren Konkurrenzorden der Illuminaten
übergetreten zu sein, denn dieser zählte ihn später zu seinen Mitgliedern, Seite an Seite mit so berühm ten Leuten wie z. B. Johann Wolfgang von Goethe. Weil sich die Geheimgesellschaft mit ihrem radikalaufklärerischen Programm und dem Ziel der Errichtung eines fürsten- und religionslosen Weltstaates gegen die herrschende Monarchie in Bayern stellte, wurde sie am 2. März 1785 amtlich verboten.
Als am 13. Oktober 1786 in Landshut nach dem nach Weißhaupt führenden Illuminaten, Regierungsrat
Franz Xaver von Zwackh, gefahndet wurde, nahm Kanzler Prielmayer als Regierungsvertreter bei den
Hausdurchsuchungen teil und konnte die Betreffenden vermutlich rechtzeitig warnen; er war also selbst
offensichtlich nicht oder noch nicht enttarnt worden, was auch ein Bericht des Vorjahres bestätigt. 162
Die 1773 gegründete und noch heute bestehende Freimaurerloge „Zur Kette“ zählt einen Herrn von
Prielmayer auch zu den Geheimzirkeln Münchens, genauer zur dortigen „Winkelloge zum guten Rat“. 163
Diese war wiederum aus der sogenannten „Pörtner-Loge“ hervorgegangen und soll in sich „die Elite des
bayerischen Adels und Beamtentums (z. B. Prielmayer, Montgelas, Törring-Seefeld) versammelt haben“.
Wir gehen davon aus, dass auch hier konkret Franz Ferdinand von Prielmayer gemeint ist. 164
Minister von Montgelas, selbst ehemaliges Mitglied des Ordens, erneuerte 1799 und dann wieder
1804 das Verbot des Illuminatenordens unter Androhung der Todesstrafe. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass man von Regierungsseite aus noch immer mit einem Fortbestehen des Ordens im Untergrund rechnete.165
Es ist demnach gut denkbar, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass Johann Nepomuk von Prielmayer,
der hautnah durch seinen Vater den Aufstieg und die Verfolgungen des Geheimbundes der Illuminaten
mitbekommen hatte, selbst Mitglied der Illuminaten oder einer geheimen Auffangorganisation nach
deren Verbot war.
So gab es genug Gründe für eine Ächtung des Johann Nepomuk von Prielmayer. Um 1800 fiel er beim
bayerischen Hof in Ungnade, vielleicht als Bauernopfer des neuen Politikstils, vielleicht aufgrund
persönlicher Verfehlungen oder eben wegen subversiver Aktivitäten!
Im Jahr 1803 wurde Johann Nepomuk tatsächlich seines Amtes als Hofkastner in Landshut enthoben,
aber als Rentbeamter dort weiterbeschäftigt. Die Umbesetzung kam faktisch einer Degradierung gleich,
aber wenigstens konnten er und seine Familie in finanziell einigermaßen gesicherter Position in Landshut
bleiben.
Für die folgenden vier Jahre breitet sich über Johann
Nepomuk von Prielmayer das Dunkel der Geschichte. Erst
im Jahr 1807 taucht er wieder aus der Versenkung auf, wie
Phönix aus der Asche, und wir finden ihn nun nicht nur als
Regierungsbeamten in Landshut wieder, sondern sogar im
begehrten Hofamt eines königlichen Kämmerers, womit er
plötzlich zu den 500 wichtigsten Männern in Bayern
gehörte!
Was war geschehen? Konkretes wissen wir nicht, aber
wir versuchen weiter unten, eine plausible Hypothese für
den kometenhaften Wiederaufstieg anzubieten!
Die Hof- und Staatshandbücher des Königreichs Bayern Abb. 64: Annonce im Königlich-Bayerischen
vermerken für das Jahr 1807 Johann Nepomuk von Regierungsblatt von 1807.
Prielmayer als königlichen Kämmerer, d. h. als einen Mann, der allein dem Oberst=Kämmerer=Stab
unterstellt ist. Auch im Königlich-Bayerischen Regierungsblatt erschien eine entsprechende Annonce.
162 Engel, Illuminaten, S. 254f. und 316.
163 Information aus http://www.afuamvd.de
164 Information aus http://www.freimaurerei.de/2035.0.html
165 Engel, Illuminaten, S. 251 und 262.
74
Und in den Ordenslisten des Königs ist Johann Nepomuk nun ebenfalls aufgeführt! 166
Der Wiederaufstieg erfolgte genau zu der Zeit, als sich in Bayern die politische Großwetterlage gedreht
hatte: Im Frieden von Pressburg war am 26. Dezember 1805 das mit Napoleon verbündete Bayern als Königreich proklamiert, und am 1. Januar 1806 wurde Kurfürst Maximilian IV. Joseph offiziell zum König
Maximilian I. von Bayern erhoben.
Johann Nepomuk von Prielmayer gehörte ab sofort zum Hofstaat Seiner Majestät, des Königs von
Bayern!
Fünf Jahre später erfolgte eine weitere Aufwertung, denn am 9. November 1812 wurde Johann Nepomuk von Prielmayer unter dem Titel des königlichen Kämmerers samt seinen Geschwistern in die
Freiherren-Klasse des Königreichs Bayern aufgenommen, nachdem in der Zwischenzeit der alte kurfürstliche Titel nicht mehr gegolten hatte und einzelne Mitglieder der Familie sogar mit dem Titel Baron hatten
vorlieb nehmen müssen (ohne das „von“; siehe oben beim Bruder und der Schwester des Johann
Nepomuk!). Ab Ende des Jahres 1812 durfte sich Johann Nepomuk von Prielmayer wieder offiziell wie
seine Altvorderen „Freiherr von Priel, Hienham, Tobl und Rohr“ nennen.167 Dass der Name Wanghausen
hier nicht auftaucht, ist klar: Der Besitz lag im Feindesland! Die Rehabilitation des Johann Nepomuk von
Prielmayer war jedoch mit dieser Renoblilitierung abgeschlossen.
Dass Johann Nepomuk in den schwierigen Jahren seiner Karriere mit seiner Familie zurück nach Wang hausen gezogen wäre, ist nicht anzunehmen. Auch nach 1800 hatte das Burghausener Land wegen der
Grenzlage keinen dauernden Frieden gefunden und war wiederholt von den Österreichern oder den
Franzosen militärisch besetzt worden – in Aktionen, die der ortsansässigen Bevölkerung große Kontributionen abverlangten.
Zur Zeit des Kurfürstentums war übrigens ein Vetter des Johann Nepomuk von Prielmayer, Franz Xaver
von Prielmayer (*19.12.1767), Appellationsgerichtsrat in München für den Isarkreis gewesen und 1795
als einfaches Mitglied in den kurfürstlichen Hofrat berufen worden. Was aus ihm später wurde, ist uns
nicht bekannt. Dieses Mitglied der Familie lebte in München in der Max-Vorstadt, im PrielmayerGässchen Nr. 8.
Ein weiterer Vetter hieß Johann de Deo Rupert Anton (*22.05.1793).168
Bleibt am Schluss zu erwähnen, dass am 18. September 1828 Johann Nepomuks Frau, Freifrau Maria
Christina, geb. von Lemmingen auf Culmann, im Alter von 65 Jahren in Landshut an Pleura- und Perikardergüssen starb.169
Die Baronesse Anna von Prielmayer, eine Schwester des Johann Nepomuk von Prielmayer, die bereits
in Zusammenhang mit Kaspar Hauser erwähnt wurde, hat in dieser Zeit wahrscheinlich in Wanghausen
gelebt. Zumindest starb sie dort am 15. August 1830 im Alter von 68 Jahren an „Entkräftung“ und wurde
drei Tage später vom Pfarrer Paulus Zeitler im Friedhof von Maria Ach begraben.
Abb. 65: Tod der „hochwohlgeborenen Baronesse Anna von Prielmayr“, Eintrag im Sterbebuch von Maria Ach.
166 Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Baiern 1824, München 1824, S. 77 und 615.
167 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1814, S. 666.
168 Karl H. Ritter von Lang: Adelsbuch des Königreichs Bayern, München 1815, S. 206f.
169 Landshuter Wochenblatt, Sept. 1828.
75
Ihr Bruder Johann Nepomuk von Prielmayer blieb aber Zeit seines Lebens in Landshut. Zwei Jahre vor
seinem Tod, 1835, ist er dort als bayerischer Kämmerer und „für den hiesigen Adel“ als Mitglied des örtlichen Armenpflegerates vermerkt, er scheint also seine lokale Reputation erhalten oder wiedererlangt zu
haben. Um den Familienbesitz in Wanghausen, der inzwischen unter österreichischer Verwaltung stand,
wird er sich zuletzt kaum mehr persönlich gekümmert haben.
Über seinen Sohn Johann Franz von Prielmayer konnten wir nicht mehr in Erfahrung bringen, als dass
er als junger Bursche Page am Hof in München war. Sein Kollege August von Platen berichtete, er sei dort
ein kleines Licht und eine Art von Witzfigur gewesen:
„Prielmayer war ein sauertöpfischer, unjugendlicher Mensch, der von fast nichts als Politik
sprach, sonst aber brav. Er war übrigens die Witzwurfscheibe der anderen …“170
Was aus diesem „sauertöpfischen“ Jüngling später wurde, bleibt offen. Wir wissen nur, dass er sich
am 13. November 1812 als Student der Rechte an der Universität Landshut einschrieb. Von ihm ging auf
jeden Fall das Schloss Wanghausen im Jahr 1837 auf die Familie von Wening-Ingenheim über.
Soweit in aller Kürze zum Leben und Schicksal des Johann Nepomuk von Prielmayer und seiner Familie.
Gelingt es mit diesen Informationen zur Besitzerfamilie, Kaspar Hauser in oder bei Schloss Wanghausen besser zu verorten?
Es schälen sich folgende Grundtatbestände heraus:
•
Zur Zeit der österreichischen Besetzung des Innviertels zwischen 1779 und 1809/1810 und danach ab dem Mai 1816 konnte sich Johann Nepomuk von Prielmayer weder um sein Schloss in
Wanghausen persönlich kümmern, noch über dieses frei verfügen oder längere Zeit dort wohnen. Auch die ihm zustehende Patrimonialgerichtsbarkeit über Ach und Wanghausen blieb in
dieser Zeit vakant, denn er zählte als bayerischer Regierungsbeamter und zuletzt Mitglied des
Hofstaates aus österreichischer Sicht zu den erklärten Landesfeinden! Wie wenig Wanghausen
schon vor der Jahrhundertwende in seiner Verfügungsgewalt stand, dokumentiert eine Episode
aus dem 1. Koalitionskrieg: Im Jahr 1794 hatten die Österreicher das Schloss beschlagnahmt und
in ein Lager für französische Kriegsgefangene umfunktioniert! 47 französische Soldaten fanden
damals in Wanghausen durch Fleckfieber und Ruhr den Tod.
•
An den Besitzrechten in Wanghausen scheint allerdings nicht
gerüttelt worden zu sein; dagegen stand spätestens ab 1816 –
nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses! - das Schloss
Wanghausen und der Ort Ach Abb. 66: „Schematismus des Erzherzogtums Österreich ob der
unter ständiger österreichischer Enns„ 1825, „Verzeichnis der sämmtlichen Herrschaften, Landgüter
Verwaltung, wobei der Verwal- und Freysitze; dann der landesfürstlichen und Minizipalstädte und
tungssitz zuletzt im 30 km ent- Märkte“.
fernten Schloss Mamling lag, und die Verwaltung dem Oberbeamten Wenzel Schüga, Patrimonialrichter zu Braunau (+11.11.1864), oblag. So liest man im „Schematismus des Erzherzogtums Österreich ob der Enns“ aus dem Jahr 1825. 171
Für den Fall Kaspar Hauser hat das Phänomen der österreichischen Fremdverwaltung in Wanghausen erhebliche Konsequenzen, wenn man seinen dortigen Aufenthalt unterstellt:
170 G. von Laubmann, L. von Scheffler: Die Tagebücher des Grafen August von Platen, Bd. 1, Stuttgart 1896, S. 53.
Im Weiteren abgekürzt mit Platen, Tagebücher und Seitenzahl.
171 „Schematismus des Erzherzogtums Österreich ob der Enns“, 1825, S. 371.
76
•
Lediglich zwischen dem vermuteten Zeugungs-/Geburtstermin und dem Beginn des Schulalters
Kaspar Hausers (1809/10 bis 1816) lag, wie bereits mehrfach erwähnt, das Schloss Wanghausen
im bayerischen Herrschaftsgebiet. Für diesen Zeitraum ist es tatsächlich plausibel, das Kaspar
sozusagen als ein in Bayern anerkannter Adelsspross zum Teil in den Schlossräumen von
Wanghausen, zum Teil im Haushalt der Drechsler versorgt wurde und dabei gewisse Freiheiten
genoss, zumindest zeitweise.
•
Mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses war die kurze bayerische Phase in Wanghausen vor bei und das Schloss stand fortan unter österreichischer Kuratel. Dabei müssen wir beim Stand
der Dinge offen lassen, in welchem Umfang diese Fremdverwaltung auf den Unterhalt des
Schlosses Einfluss nahm, ob es sich hierbei lediglich um einen formalen Akt resp. um Übernahme
der Patrimonialgerichtsbarkeit in Ach und Wanghausen handelte, die einem Bayern ja nicht
zustand, oder um mehr.
Abb. 67: Postkartenmotiv Wanghausen, Ach und Burghausen, um 1900. Rechts Schloss Wanghausen, links
Burghausen mit der Salzachbrücke, Mitte rechts der Ort Ach mit der Wallfahrtskirche Maria Ach.
•
Es ist beim Stand der Dinge nicht abschließend zu entscheiden, ob Kaspar Hauser in einem
Verlies beim Schloss verschwinden musste, um seine Entdeckung durch die Österreicher zu
verhindern, oder ob er nun gerade auf Veranlassung der wiedereingesetzten österreichischen
Verwaltung verschwand, damit ihn die Gegenseite nicht entdeckte?
•
Des Weiteren stellt sich die Frage, ob der Karriereschub des Johann Nepomuk von Prielmayer
etwas mit dem Fall Kaspar Hauser zu tun hat? Er trat im Jahr 1812 ein, exakt in dem im
„Mägdlein-Zettel“ behaupteten Geburtsjahr Kaspars Hausers, u. E. 2 bis 3 Jahre, nachdem Kaspar
Hauser geboren worden war.
Auf all diese offenen Fragen lässt der aktuelle Kenntnisstand keine abschließenden Antworten zu.
Am Ende dieses Abschnitts kann man sich aber gewisser Eindrücke nicht erwehren:
•
Die eigenartige Nähe und zugleich Ferne des Schlosses Wanghausen zum Königreich Bayern, die
Tatsache, dass es unmittelbaren Zugriffen und Ermittlungen aus Bayern heraus spätestens ab
1816 entzogen war, spricht vielleicht doch für ein vorheriges, später aber durchkreuztes
77
Interesse von Teilen der bayerischen Politik, Kaspar Hauser außer Landes, eben in Wanghausen,
verschwinden zu lassen.
•
Dass man Kaspar nicht ganz beseitigen ließ, lag vielleicht daran, dass ihn irgendjemand zu einem
gewissen Zeitpunkt als Faustpfand zur Durchsetzung wie auch immer gearteter Interessen noch
benötigte.
•
Ob dies mit der traditionellen Erbprinz-vonBaden-Theorie zu tun hat, wollen wir zunächst nicht entscheiden. Wir haben allerdings kein einziges Indiz dafür gefunden, dass
diese Theorie in Bezug auf Wanghausen bedeutsam wäre, und werden weiter unten
gewichtige Indizien für ihre Widerlegung liefern. Die dazugehörigen Schloss-Beuggenund Schloss-Pilsach-Geschichten stehen
nach der Analyse der Kerkerräume außer
Diskussion. Sie sind obsolet.
•
Die Aussetzung einer hohen Belohnung von
10 000 Gulden zur Aufklärung des Mordfalles Kaspar Hauser durch den bayerischen
König Ludwig I. im Jahr 1834 bekäme dann
einen Beigeschmack, wenn man unterstellt,
dass man im Königshaus von seinem Schicksal in Wanghausen wusste. In diesem Fall
wäre die Belohnung nur ein raffiniertes Ablenkungsmanöver gewesen, denn auf fremdem Hoheitsgebiet hätte sie nie richtig greifen können! In dieselbe Richtung deutet ja
der Umstand, das Stanhope 1834 mit seinem Wunsch nach Ermittlungen in der Salzach-Region bei König Ludwig I. auf taube
Ohren stieß.
Abb. 68: Johann Lorenz Kreul: Kaspar Hauser, Pastell
von 1830. Zu erkennen sind Hausers Narben auf der
Stirn und an der rechten Schläfe, die von den Attentaten von 1829 und 1830 stammten.
•
Handelte es sich also am Ende doch um ein Intrigenspiel am bayerischen Königshof? Und worin
bestand die Rolle des Landes Österreich?
•
Weiter oben haben wir dem ersten Buchstaben der Abkürzung des Spiegelschrift-Zettels W/M. L.
Ö. ganz bewusst neben Wanghausen eine Persönlichkeit des bayerischen Hofes unterlegt. Liegt
in dieser Person der Schlüssel zu Kaspar Hauser?
Begeben wir uns nun unter anderem Blickwinkel auf die Suche, hinein in das Königreich Bayern!
78
Erzherzogin Maria-Leopoldine von Österreich-Este, Kurfürstin von Bayern
M. L. Ö. könnte Maria-Leopoldine von Österreich-Este bedeuten. Liegt in dieser hochstehenden Person am Bayerischen Hof der Schlüssel zu Kaspar Hauser?
Maria-Leopoldine von Österreich-Este, verwitwete Kurfürstin von Bayern und verheiratete „von Arco“,
war tatsächlich für einige Jahre als Mutter Kaspar Hausers in aller Munde – zumindest in München, wo
sie zur Zeit seiner Lebens unter den Menschen in der Herzog-Max-Burg residierte!
Folgendes liest man in Eduard Vehses 1853 erschienener Geschichte der Höfe der Häuser Baiern, Wür temberg, Baden und Hessen – in zwei verschiedenen Bänden:
Abb. 69: Links oben: Auszug aus Vehses Werk über den Hof Maximilians IV. Josephs von Bayern, Seiten 207 und 208.
Links unten und rechts: Auszug aus Vehses Werk über den Hof Großherzogs Ludwig's (von Baden), „des letzten der
ächten Zähringer„, S. 293 und 294.
Eduard Vehse war ein Historiker, der mit derartigen populärwissenschaftlichen Meldungen ein großes
persönliches Risiko einging, denn nicht nur die Höfe Bayerns und Badens, sondern auch das Kaiserreich
Österreich hatten höchstes Interesse daran, dass solche Berichte unterblieben. Prompt wurde er auch
hinterher dafür diskreditiert. Dabei handelte es sich um etwas ganz anderes als um billigen Straßen klatsch:
„In den höheren Münchner Zirkeln ist die Meinung vorherrschend, dass Hauser einer regierenden Familie angehört habe. Von den höchsten Stellen wird alles aufgeboten, um der Sache auf
die Spur zu kommen …“
So meldete z. B. der Ansbacher Hofrat Eugen Hofmann zwar verschlüsselt, aber relativ unmissverständlich am 18. Januar 1834 an den Staatsrat von Klüber. 172
Aufmerksam wurden wir auf die Kurfürstin Maria-Leopoldine jedoch nicht durch die zitierten Textstellen Vehses, sondern über eine ganz andere Schiene:
Für das Jahr 1824 ist schriftlich bezeugt, dass Johann Nepomuk von Prielmayer, der Schlossherr von
Wanghausen, mit der Kurfürstin-Witwe, wie sie am Königshof auch genannt wurde, eine Geschäftsbeziehung entwickelte!
Beide handelten damals in personam einen Tauschvertrag aus. Der königliche Kämmerer erhielt aus
Händen der Kurfürstin die Hofmark Freinberg bei Frontenhausen, inklusive Patrimonialgerichtsbarkeit.
Dem Freiherrn war an dieser Hofmark vermutlich deshalb gelegen, weil sie seinem Amtssitz in Landshut
172 Linde 2, S. 2. Zu beiden mehr weiter unten!
79
relativ nahe lag. Die Hofmark hatte zuvor den Freiherren von Lerchenfeld gehört. 173
Sowohl von Prielmayer als auch die Kurfürstin-Witwe verfügten schwerpunktmäßig über Landbesitz im
westlichen Donaugau und in Niederbayern, der erstgenannte bei Neustadt und Saal an der Donau
(Hienheim, Teuerting) sowie in der Hallertau (Rohr), die zweitgenannte bei Neuburg an der Donau, vor
allem bei Rennertshofen und in Stepperg, wo sie zwischen 1804 und ca. 1824 in einem eigenen Schloss
residierte.
Man beachte: Die Kurfürstin trug den Namen MariaLeopoldine von Österreich. Dies waren genau die Initialen der Variante „M. L. Ö.“ des Hauser'schen Spiegelschrift-Zettels!
Für uns war dies Grund genug, der Lebensgeschichte
dieser Frau nachzugehen und dabei auf mögliche Bezüge zum Innviertel, zu Wanghausen und zur Familie von
Prielmayer zu achten. Nicht zuletzt interessierte uns natürlich die Frage, ob diese Hochadelige als Mutter Kaspar Hausers in Frage kommt.
Wir verfügen heute über eine detaillierte Schilderung
ihres Lebens, aus der Hand der im HStA München
beschäftigten Historikerin Sylvia Krauss-Meyl, die das
umfangreiche Brief-Corpus der Kurfürstin mit mehreren
hundert erhaltenen Briefen auswertete und bei der
Erstellung ihrer Arbeit – quasi an der Quelle sitzend –
über weiteres, exzellentes Quellenmaterial aus dem
Geheimen Hausarchiv der Wittelsbacher verfügte. 174
Bevor wir uns in die biographischen Details hinein bewegen, wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass in der
Abb. 70: Maria-Leopoldine von Österreich-Este,
Vergangenheit bereits über eine andere hochadelige
Gemälde aus unbekannter Hand.
Österreicherin als Mutter Kaspar Hausers mit denselben
Initialen spekuliert wurde: Maria Luise von Österreich hieß die Tochter Kaiser Franz’ II. aus der Ehe mit
Maria Theresia von Neapel-Sizilien. Die Erklärungsmodelle zu dieser Hochadeligen, welche eine nahe
Verwandte der Kurfürstin Maria-Leopoldine war und am 11. März 1810 keinen Geringeren als den
französischen Kaiser Napoleon Bonaparte ehelichte, sind nicht minder fantasievoll als die der Erbprinzvon-Baden-Theorie, vor allem dann, wenn sich beide verknüpfen. 175 In der Kaspar-Hauser-Forschung fanden sie keine große Beachtung.
Erzherzogin Maria-Leopoldine Anna Josephine Johanna von Österreich-Este lautete der ausführliche
Name der letzten Kurfürstin von Bayern. Sie wurde am 10. Oktober 1776 als dritte Tochter des Erzherzogs Ferdinand Karl von Österreich und seiner Frau Maria Beatrix von Modena in Mailand geboren. Da mit war sie eine leibliche Cousine des österreichischen Kaisers. Je zur Hälfte italienischen und österreichi schen Geblüts, wuchs sie zunächst am erzherzoglichen Hof ihrer Eltern in Mailand auf, weswegen sie im
Titel „Erzherzogin von Österreich“ den Zusatz „von Este“ trug.
In das Rampenlicht der bayerischen Geschichte trat Maria-Leopoldine von Österreich bereits als blutjunges Mädchen, als sie am 15. Februar 1795 im Alter von 19 Jahren auf Betreiben des österreichischen
Kaiserhauses den Kurfürsten Karl Theodor von Pfalz-Bayern heiraten musste. Dies geschah ausschließlich
173 Königlich-Bayerisches Intelligenzblatt des Unterdonaukreises, Passau 1824, S. 175.
174 Sylvia Krauss-Meyl: Das „Enfant terrible“ des Königshauses. Maria-Leopoldine, Bayerns letzte Kurfürstin (1776–
1848), Regensburg, 3. Auflage 2013.
175 Linde 1, S. 374f. Und Annchen Kröger: Briefe an Kaspar Hauser, Sinsheim 2003.
80
aus dynastischen Gründen, denn der amtierende Kurfürst von Bayern war damals schon 71 Jahre alt und
ein unattraktiver, alternder Greis. Weil er in erster Ehe keinen Nachfolger gezeugt hatte, bestand Gefahr,
dass Bayern nach seinem Tod an die unbedeutende Pfalz-Zweibrückener Linie der Wittelsbacher ging.
Damit wären die Großmachtpläne Österreichs zerstört worden. Der Wiener Hof plante im Einklang mit
Kurfürst Karl Theodor nichts weniger, als die Kurpfalz künftig mit den österreichischen Niederlanden zu
vereinigen und im Gegenzug das Kurfürstentum Bayern an Österreich zu annektieren. Daher also die österreichische Mitwirkung bei dieser Ehe.
Die politische Selbständigkeit Bayerns hing damals am seidenen Faden!
Die Fürstenehe konnte bei einem Altersunterschied
der Partner von sage und schreibe 52 Jahren nicht gut
gehen und fand wohl auch keinen faktischen Vollzug.
Mit großem Selbstbewusstsein und erstaunlichem Gespür für die politischen Notwendigkeiten rächte sich die
junge Maria-Leopoldine an ihrem Gatten, wegen des
Schindluders, das mit ihr getrieben worden war:
Schon kurz nach den Hochzeitszeremonien verweigerte die Braut jeden körperlichen Kontakt zum alten Kurfürsten, und ihre Ehe blieb bis zum Tod desselben im
Jahr 1799 – von ihr so gewollt – kinderlos! Am Ende
wäre der in Bayern wenig heimisch gewordene Kurfürst
Karl Theodor, der sich den Tauschplänen mit Österreich
bereits gänzlich verschrieben hatte, sogar bereit
gewesen, einen durch seinen Obersthofmeister Karl
Philipp Vieregg gezeugten und von Maria-Leopoldine
ausgetragenen und entbundenen Bastardsohn als Sohn
und legitimen Nachfolger und Erben anzuerkennen.
Die junge Kurfürstin war nicht nur wegen dieses Vor- Abb. 71: P. G. Batoni: Kurfürst Karl Theodor von der
schlags außer sich vor Empörung! Nach heftigen Ausein- Pfalz und Bayern, Gemälde von 1774.
andersetzungen mit Karl Theodor begann sie aus einer gewissen Rebellion heraus, aber ganz im Bewusstsein ihrer weiblichen Kräfte, ihren verständnislosen Gatten und seine Hofschranzen demonstrativ zu de mütigen:
Indem sie ihren ganzen Charme und ihre südländische Heißblütigkeit auslebte, begann MariaLeopoldine am bayerischen Hof nicht nur einem, sondern gleich einem ganzen Dutzend von Männern
den Kopf zu verdrehen! Dazu zählte als erster der italienische Gardeoffizier Carlo Antonio Graf
d'Antonelli, der mit ihr in flagranti ertappt wurde und deshalb den Hof in München verlassen musste. Es
folgten der Minister Maximilian Graf Montgelas, der Kämmerer und spätere Hofratsvizepräsident Karl
von Arco, der Hofmusiker Franz Eck, der ehemalige Augsburger Domherr und berüchtigte Schürzenjäger
Graf Karl von Rechberg und einige andere mehr.
Indem sie sich ständig wechselnden Liebhabern hingab, mischte Maria-Leopoldine ohne Rücksicht auf
Scham und Reputation den in Dekadenz verfallenen Hofstaat auf. Mit dem designierten Nachfolger ihres
Horror-Gatten Karl Theodor und künftigen König von Bayern, Maximilian IV. Joseph von Pfalz-Zweibrücken, soll sie schon beim ersten Kennenlernen im Bett gelandet sein. Des Weiteren zählte auch ein
designierter Papst zu ihren Opfern: Annibale della Genga alias Papst Leo XII. Am pikantesten ist jedoch
ihr intimes Verhältnis mit dem Parvenu Graf August Karl von Reisach, der sich den Posten eines Leiters
der Neuburger Landesdirektion durch Vergiftung seiner Frau erschwindelte, hinterher als Generalkommissär in Augsburg den Fiskus durch Hinterziehung und Unterschlagung um 848 000 Gulden prellte und
schließlich steckbrieflich gesucht wurde, ehe er sich als Überläufer zu den Preußen rettete. 176 Wie lange
176 Siehe z. B. Eduard Vehse: Geschichte der Höfe der Häuser Baiern, Würtemberg, Baden und Hessen. Zweiter und
Vierter Theil, Hamburg 1853, S. 294ff.
81
diese Beziehung andauerte, ist uns nicht bekannt.
Ob die junge Maria-Leopoldine mit ihrer Art der sexuellen Befreiung das erreichte, was sie sich
ersehnte, und ob sie am Ende mit diesem Lotterleben glücklich war, bleibt dahingestellt. Offenkundig
handelte es sich um die spezifische Rache der Maria-Leopoldine am österreichischen Kaiserhof in Wien,
mit dem sie innerlich brach, weil er sie schamlos verkuppelt hatte. Und dies – obwohl inzwischen sogar
ihre aus Italien vertriebenen Eltern dort weilten!
Wie nicht anders zu erwarten, stieß das
skandalöse Liebesleben der jungen Kurfürstin
bei den offiziellen Regierungsorganen auf Ablehnung, und zwar auf beiden Seiten. Weil sie
sich aber von Anfang an offen zum designierten Kurfürsten von Bayern, Maximilian IV. Joseph, bekannte, erwarb sie sich wenigstens
die Anerkennung und den Respekt des künftigen bayerischen Königshauses, welches ihr
später ihre Eskapaden nachsah und sie sogar
in einigen Strafsachen deckte. So pflegte König
Ludwig I., der Sohn und Nachfolger Max’ Josephs, als König von Bayern nach eigenem Bekunden mit Maria-Leopoldine wegen ihres klaren Urteils in politischen Dingen gerne Konversation.177 Von ihm ist das Bonmot überliefert:
Abb. 72: König Ludwig I. von Bayern - Vasenbild.
„Allein Maria-Leopoldine ist es zu verdanken, dass die Wittelsbacher noch in Bayern
herrschen!“
Wie zielgerichtet und überlegt die Kurfürstin beim
Machtwechsel in Bayern vorgegangen war, erkennt
man daran, dass sie kurz vor dem Tod ihres ungeliebten Gatten auf die Frage Herzog Wilhelms von PfalzBirkenfeld, ob sie ein Kind vom Kurfürsten erwartete,
geistesgegenwärtig mit einem „Nein“ antwortete, obwohl sie damit nicht ganz die Wahrheit sprach. Jedenfalls munkelte man, sie sei damals schwanger gewesen, wenn auch nicht vom Kurfürsten. Dies zu beweisen, wäre ihr allerdings schwer gefallen!
Wenig später war Maria-Leopoldine sicher schwanger. Noch waren auf dem Grab ihres ungeliebten Gatten Karl Theodor die Blumen nicht verwelkt, als der
Leibesumfang der Fürstin eine immer deutlichere
Sprache zu sprechen begann. Als man ihr unter die
Nase rieb, der Vater des Ungeborenen sei der Graf
Max von Tauffkirchen, bekundete sie amüsiert, es sei
ihr am liebsten, den Hofmusikus Eck, der ihr hoffnungslos ergeben war, als Vater unterschieben zu
können. Doch dies verbot das Hofprotokoll; es wäre
fürwahr eine nicht standesgemäße Verbindung gewe- Abb. 73: Herzog Wilhelm von Pfalz-Birkenfeld.
sen!
Gemälde in Privatbesitz
177 Karl O. von Aretin: Maria-Leopoldine, Erzherzogin von Österreich. In: Neue Deutsche Biographie, Band 16, Ber lin 1990, S. 183.
82
Da Maria-Leopoldine inzwischen alle moralischen Hemmungen abgelegt zu haben schien, und die Ge rüchte über ihre amourösen Abenteuer nicht verstummen wollten, ja sogar anonyme Spottschriften über
ihre Liebeshändel in München in Umlauf kamen und bei der Bevölkerung reißenden Absatz fanden, ent schieden schließlich die Höfe von Bayern und Österreich in geheimer Absprache, sie noch im Jahr 1799
zur Besserung außer Landes zu schicken, nach Laibach im heutigen Slowenien, damaliges Herzogtum
Krain.
Die gerade 23-jährige MariaLeopoldine gehorchte notgedrungen. Ihr selbst wäre das Kloster
Frauenchiemsee als Exilort lieber
gewesen, doch sie fand kein Gehör.
So soll sie nach S. Krauss-Meyl tatsächlich über zwei Jahre in Laibach
incognito gelebt haben und im Palais des Grafen Franz Anton von
Lantieri von ihrem unehelichen
Sohn niedergekommen zu sein.
Damit ist allerdings höchst ungewiss, ob die Geburt in Laibach
stattfand. Denn der „palazzo Lantieri“, in dem einst auch so berühmte Leute wie Metastasio, Casanova, Goethe, Schiller und sogar Abb. 74: Potentielle Aufenthaltsorte der Maria-Leopoldine bei der Familie
Lantieri.
Papst Pius VI. ein und aus gingen,
stand nicht in Laibach, sondern in Gorizia (Görz). Außerdem besaßen die Lantieris in Wippach ein
ansehnliches Schloss, und ihre Stammburg thronte über dem dazwischen gelegenen Reifenberg. MariaLeopoldine ist also ab 1799 in einem Dreieck zwischen Gorizia, Triest und Laibach zu verorten, wobei sie
die italienisch sprechenden Landesteile sicherlich bevorzugte. Es gelang uns aber ebenso wenig wie
zuvor S. Krauss-Meyl, ihren Aufenthaltsort, in dem sie unter einem Decknamen lebte, zu konkretisieren.
Nach zwei Jahren, also viel später, als zunächst geplant, kehrt Maria-Leopoldine ohne Sohn nach München zurück. Vielleicht war für diese späte Rückkehr der Krieg verantwortlich, in dem der bayerische Hof
wegen des Angriffs der Franzosen München räumte und nach Nordbayern ins Exil floh. Erst im April 1801
war diese Kriegszeit zu Ende und erst im Mai darauf wünschte die Kurfürstin-Witwe, nach Bayern zurückzukehren, was durch einen Brief an Kaiser Franz I. dokumentiert ist. Die konkrete Rückkehr nach Bayern
fand erst im September 1801 statt. Über die beiden zurückliegenden Jahre ließ die Kurfürstin in der Folge
kein Wort verlauten, vielmehr hüllte sie sich bis zu ihrem Tod in eisernes Schweigen.
Das Kind der Kurfürstin blieb wie von Erdboden verschluckt, der Name des Vaters und sein weiterer
Lebensweg konnten nie ermittelt werden. Man munkelte, das Kind sei in Triest auf ein ausländisches
Schiff gebracht worden!
Zurück am bayerischen Hof, versuchte Maria-Leopoldine in der von ihr bereits bekannten Konsequenz,
ihr Leben auf neue Beine zu stellen. Zwar waren ihr die Mittel und Wege der Verführungskunst nicht
abhanden gekommen, und sie wird auch in ihrem weiteren Leben immer wieder bei Bedarf darauf
zurückgreifen, aber zunächst scheint sie den festen Vorsatz zu einem Neubeginn gefasst zu haben.
83
Maria-Leopoldine entsagte der Münchner Hofgesellschaft, derer sie überdrüssig geworden war,
verzichtete im Jahr 1802 auf ihre Residenzen in
München und am Starnberger See (Schloss Berg)
und erwarb das weiter von München entfernte,
aber sehr reizvoll über der Donau-Mündung des
Flüsschens Ussel gelegene Gut und Schloss Stepperg, nur wenige Kilometer westlich von Neuburg
an der Donau. Die Kurfürstin-Witwe ließ das heruntergekommene Anwesen renovieren, sie erlernte dort die praktische Landwirtschaft und bemühte sich auch um die ortsansässige Bevölkerung,
was ihr deren Sympathien einbrachte. Das Leben
an der frischen Luft, die körperliche Tätigkeit unter
Abb. 75: Schloss Stepperg.
ihren Bauern und die konkrete Sorge um die Dinge
des täglichen Lebens taten Maria-Leopoldine offensichtlich gut.
So wurde aus einer verzogenen und verwöhnten jungen Dame eine engagierte und geschäftstüchtige Gutsverwalterin, die von sich selbst nicht weniger verlangte
als von ihre4n Untergebenen.
Dabei entfaltete die Kurfürstin ihr eigentliches Talent.
Mit erstaunlichem Gespür für alles Kaufmännische brachte
sie unter der Expertise von anerkannten Finanzexperten
wie z. B. Joseph von Utzschneider nicht nur die eigenen
Güter und Ländereien zu wirtschaftlichem Erfolg, sondern
erwarb im Lauf der kommenden beiden Jahrzehnte ein
umfangreiches Immobilienvermögen in ganz Bayern, das
sie nicht minder erfolgreich verwaltete.
Abb. 76: Inschrift über den Tor der GutsverwaltIm Rahmen dieser geschäftlichen Tätigkeit mag die Kur- ung Stepperg, einem von Kurfürstin MariaLeopoldine 1805 errichtetem Gebäude.
fürstin mit dem Kämmerer Johann Nepomuk von Prielmayer den bereits erwähnten Vertrag für die Hofmark
Freinberg geschlossen haben.
Mehrere zum bayerischen Hof gehörige und unter dem letzten Kurfürsten heruntergekommene Brauereien entwickelte sie unter Anwendung moderner Produktionstechniken zu florierenden Unternehmen,
so die Brauerei in Rennertshofen (bei Stepperg, ihrem Wohnort), in Freising und in Haag. Schließlich erwarb sie die große Brauerei Kaltenhausen bei Salzburg, nachdem das Land Salzburg 1808 nach Aufhe bung des Erzbistums an das Königreich Bayern
gefallen war.
Erst in fortgeschrittenem Alter gab die Kurfürstin ihre Immobiliengeschäfte auf, überließ
die Güterverwaltung ihren Söhnen und verlegte
sich ganz auf Finanzgeschäfte.
Selbst mit gewagten Spekulationen hatte sie
Erfolg, agierte dabei allerdings nicht selten am
Rande der Legalität, handelte u. a. mit Aktien,
z. B. die gerade erst erfundene Dampfeisenbahn betreffend, und verband sich mit Bankhäusern wie Seligmann/von Eichthal, später
auch mit Oppenheim oder Rothschild.
Abb. 77: Die Brauerei Kaltenhausen einst.
84
Am Ende ihres Lebens nannte man Maria-Leopoldine nicht zu Unrecht „die reichste Frau Bayerns“.
Geiz und Geldgier der Kurfürstin-Witwe wurden dabei sprichwörtlich!
Geschäftlicher Erfolg bedeutet nicht unbedingt zwischenmenschlichen Erfolg:
Das Privatleben der Kurfürstin blieb zerrüttet, nicht zuletzt wegen ihres cholerischen, meist unberechenbaren und fordernden Wesens.
In der Hoffnung, endlich eine stabile Liebesbeziehung eingehen zu könnten, heiratete sie am 4. No vember 1804 Graf Ludwig von Arco, ein in Bayern lebendes Mitglied der ursprünglich aus Norditalien
stammenden Familie von Arco, mit dessen Bruder Karl sie bereits zuvor ein Verhältnis gehabt hatte. Die
Ehe stand unter keinem guten Stern. Der Graf verdächtigte Maria-Leopoldine schon kurz nach der Trauung der Untreue, warf ihr ein Verhältnis mit dem Pfarrer von Stepperg, Aloys Mayerhofer, vor und zog
sich nach München in sein Stadtpalais zurück, während Maria-Leopoldine bis ca. 1814 durchgehend in
Stepperg blieb. Diese Affäre zu Beginn der Ehe warf sogar Wellen bis an den österreichischen Hof, wie
eine chiffrierte Depesche vom 25. Dezember 1804 belegt. 178 Maria-Leopoldines Vater, Erzherzog
Ferdinand, konnte sich in seiner Aversion bestätigt fühlen: Er war von Anfang an strikt gegen die Ehe mit
Ludwig von Arco gewesen.179
Das ungleiche Paar traf sich auch später nur zu seltenen Gelegenheiten; nur die Urlaube verbrachte
man gerne zusammen. Allerdings scheint es nach einigen Zerwürfnissen doch zur Versöhnung
gekommen sein, denn am 6. Dezember 1808 und drei Jahre später, am 13. Dezember 1811, erblickten
zwei als „ehelich“ bezeichnete Söhne des Paares das Licht der Welt. Diesen Kindern war die Kurfürstin in
der Folge eine fürsorgliche Mutter.
Nach einem ereignisreichen Leben fand Maria-Leopoldine im Alter von 71 Jahren, am 23. Juni 1848,
bei Wasserburg am Inn einen plötzlichen, unnatürlichen Tod: Beim Aufstieg auf den sogenannten AchatzBerg bei Wasserburg traf plötzlich ein führerlos den Berg herabrollendes Fuhrwerk ihre Kutsche und warf
diese um. Wenige Minuten später verstarb die Kurfürstin an schweren inneren Verletzungen. Wir werden
auf dieses mysteriöse Ereignis zurückkommen. Da die Kurfürstin Zeit ihres Lebens ebenso geizig wie reich
gewesen war, verbreiteten böse Zungen nach dem tödlichen Unfall die Falschinformation, sie sei von
ihrer eigenen Geldschatulle erschlagen worden.
Soweit in Kürze das Leben dieser interessanten Frau.
Der Dichter August von Platen diente zwischen 1806 und 1814 als Kadett und Page am Münchner Hof
und erlebte Maria-Leopoldine aus nächster Nähe. Sein ungeschminkter Bericht findet sich auf der folgenden Seite. Die Rede ist hier u. a. von ihrem Mann, Graf Ludwig von Arco, aber auch von einem potentiellen Liebhaber namens Graf Rechberg. Derer gab es am bayerischen Hof mehrere, u. a. den späteren Minister Alois von Rechberg, den Oberstkämmerer Max von Rechberg und den nachmaligen Regierungspräsidenten und Präsidenten des Münchner Oberappellationsgerichts, Graf August von Rechberg (17831846). Letzterer wird uns später in Zusammenhang mit Kaspar Hauser und dem badischen Flügeladjutanten Johann H. D. von Hennenhofer noch begegnen.
178 Eberhard Weis: Montgelas, 1759–1799: Zwischen Revolution und Reform, Band 2, München 2005, S. 30.
179 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 120.
85
Abb. 78: G. von Laubmann, L. von Scheffler: Die Tagebücher des Grafen August von Platen, Bd. 1,
Stuttgart 1896, S. 50f. (Umbruch geändert).
86
Maria-Leopoldine und ihr erster Sohn
Notabene: Die Kurfürstin-Witwe (oder auch das Haus Habsburg) ließ zwischen 1799 und 1801 den ersten Sohn aus unbekannter Verbindung spurlos verschwinden! Diese geheimnisvolle Episode aus MariaLeopoldines Leben macht jeden Kaspar-Hauser-Forscher hellhörig, spiegelt sich doch hierin das Schicksal
eines Kindes, das möglicherweise eine ähnliche „Karriere“ wie Kaspar Hauser nahm: Verlassen, weggesperrt, eventuell gezielt beseitigt, und alles aus politischer Räson und/oder persönlicher Vorteilnahme
heraus!
Kein Wunder, wenn sich schon damals Stimmen erhoben, die ernsthaft bezweifelten, dass die junge
Kurfürstin die ganze Zeit bis zu ihrer Rückkehr nach Bayern in Laibach und Umgebung geblieben sei. Sie,
die ja bereits wegen ihrer an Nymphomanie grenzenden Libertinage verschrien war, soll ihr Kind nicht in
Laibach zurückgelassen, sondern ganz woanders untergebracht haben!
•
So berichtete z. B. der Historiker und Publizist Dr. Eduard Vehse, Maria-Leopoldine hätte den Paderborner Fürstbischof, Franz Egon von Fürstenberg, um Hilfe angefleht, anschließend mit dessen Hilfe ihr Neugeborenes heimlich nach Paderborn gebracht und dort einer Postmeisterfamilie
zur Pflege gegeben, ehe sie das Kind, welches von nun ab den Namen „von Ocra“ trug,180 nach
zehn Jahren wieder abholte und in einem Schloss im Salzburgischen unterbrachte. Der Sachverhalt wurde nie aufgeklärt.181
•
Die heutigen Nachfahren der Kurfürstin gehen davon aus, das erste Kind der Maria-Leopoldine
sei zu einem Förster namens „Hohenadel“ ins Berchtesgadener Land gebracht worden, um dort
anonym aufzuwachsen. Auch für diese Version gibt es keinen triftigen Beleg. 182 Der Name „Hohenadel“ taucht allerdings in Zusammenhang mit der Fahndung nach dem Kerkermeister Kaspar
Hausers auf: So hieß der Vorgesetzte des Mesners Philipp Schrey, der angeblich Hauser in Mariahilf bei Neumarkt eingesperrt haben soll. 183 Dieser Verdacht wurde noch 1829, noch zu Lebzeiten
Kaspar Hausers, als unbegründet entlarvt. Ober sich hier später für die Nachfahren der Familie
von Arco eine Verwechslung ergeben hat?
Wir halten beide Geschichten für wenig wahrscheinlich.
An diesem Punkt ihrer Biographie angelangt, ist es allerdings nicht mehr zu umgehen, die Frage zu
überprüfen, ob die Kurfürstin Maria-Leopoldine für den Fall Kaspar Hausers auf andere Weise eine Be deutung erlangt haben könnte.
Es stellen sich konkret die Fragen der Mutterschaft, der Mittäter- oder Mitwisserschaft oder einer
anderen Form der Mitwirkung.
Als Erstes ist im Grundsatz die Frage zu beantworten, ob nicht schon das erste, von der Bildfläche verschwundene Kind Maria-Leopoldines Kaspar Hauser gewesen sein könnte. Jedenfalls machte ein solches
Gerücht, als man von Kaspar Hausers Schicksal erfahren hatte, im München die Runde!
•
Kaspars Alter wurde bei seiner Auffindung im Jahr 1828 aufgrund der Angabe im Mägdlein-Zettel, wegen des „dünnen Flaums auf seinem Kinn und Lippen“ und seiner noch nicht voll entwickelten Weisheitszähne erst auf 16 bis 17, schließlich auf 18 Jahre geschätzt. 184
•
Auf ein Alter von 17 oder 18 Jahren tippte spontan auch Gerichtspräsident Anselm von Feuer -
180 Rückwärts gelesen hieß das „von Arco“ und verwies damit auf Karl von Arco, den Bruders ihres späteren Mannes Ludwig, mit dem sie zuvor ein Verhältnis gehabt hatte!
181 Vehse, a. a. O., S. 260f.
182 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 135.
183 Pies, Dokumentation, S. 195.
184 Gutachten Dr. Preu in Pies Dokumentation, S. 186.
87
bach in einem Brief an die Gräfin Elise von der Recke vom 20. September 1828. 185
•
Im Gegensatz dazu korrigierte nach Kaspar Hausers Tod der Sektionsarzt Dr. Albert bei der Ob duktion seines Leichnams aufgrund der längst abgeschlossenen körperlichen Entwicklung das Alter auf 22 bis 24 Jahre.186
Ob auch ein Alter von 28 Jahren, welches für Maria-Leopoldines Erstgeborenen zuträfe, durchginge? Von vornherein ausschließen kann man das nicht! Immerhin hatte Kaspars Haut durch die
lange Dunkelhaft zunächst maximale Schonung vor UV-Licht und damit keine wesentliche
Alterung erfahren, so dass er vielleicht jünger wirkte, als er in Wirklichkeit war. Hinterher soll sich
sein Aussehen schnell korrigiert haben. Anselm von Feuerbach sprach in diesem Zusammenhang
1832 von „einigen leicht gezogenen Furchen vorzeitigen Alters“. 187 Hatte Kaspar Hauser damit in
Kürze den äußerlichen Zustand erreicht, der seinem wahren und somit deutlich fortgeschrittenen
Alter entsprach?
•
Im Herzogtum Krain hätte man auch jene ostsprachlichen Kindsmägde rekrutieren können, von
denen Kaspar Hauser einige ungarische und polnische Sprachbrocken erlernte. Falls er in oder
bei Laibach geboren worden wäre, dann hätten ihn unter Umständen seine dortigen Kindsmägde
nach Wanghausen begleitet!
•
Auffallend bei Maria-Leopoldines erstem Kind sind auch die gehäuften Bezüge nach Südostbayern, die sich in die Gerüchte mischten: gewünschtes Exil im Chiemsee, vermutetes Schloss im
Salzburgischen, Unterbringung im Berchtesgadener Land. Wenn in Klatschgeschichten manchmal
ein Fünkchen Wahrheit steckt, dann muss man daran erinnern, dass eben auch Wanghausen in
Südostbayern und jedenfalls sehr nahe an den erwähnten Orten lag. Begründete also Wanghau sen diese Gerüchte? Es war übrigens dieselbe Gegend, wo die Kurfürstin am 23. Juni 1848 in ihrer Reisekutsche einen gewaltsamen Tod fand – bei Wasserburg am Inn.
•
Handelte es sich bei ihrem Tod um einen
unglücklichen Zufall oder um ein Attentat?
Wir waren vor Ort und konnten uns davon
überzeugen, dass es sich hier um einen Ort
des perfekten Verbrechens handelte. Wenn
ein Attentäter oberhalb des Achatz-Kirchleins bei Burghausen im steilen Hohlweg die
Bremsen eines Fahrzeugs löste, dann konnte er dies ganz gezielt, ja punktgenau tun,
da er den Gegenverkehr heraufziehen sah
und jedes Fahrzeug in seiner Geschwindigkeit exakt berechnen konnte. In der Kurve
selbst blieb der Kutscher der Kurfürstin
durch ein Gebäude ohne Kurveneinsicht, Abb. 79: Gedenkstein 60 m oberhalb der Unglücksstelle,
und er war so sehr damit beschäftigt, die errichtet durch die Söhne der Kurfürstin ein Jahr nach
Pferde in die Steilkurve am Kirchlein zu trei- deren Tod. Die Steininschrift lautete: „Maria Leopoldina,
verwittwete Churfürstin von Bayern, gestorben den
ben, dass sich ihm nicht die geringste Aus- 23ten Juni 1848“.
weichmöglichkeit bot. Ein zeitgerecht losgelassenes, führerlos herab rasendes Gegenfahrzeug konnte sein Ziel allein deshalb nicht verfehlen,
weil es im unteren Abschnitt der Fallstrecke von der Kirchhofmauer exakt an die geplante
Kollisionstelle geführt wurde.
185 Ludwig Feuerbach: Anselm Ritter von Feuerbach's biographischer Nachlass, Erster und Zweiter Band, Leipzig
1853, Bd. 2, S. 272.
186 Pies, Tod, S. 157ff.
187 Feuerbach, Kaspar Hauser, S. 139.
88
Einer ausführlichen Beschreibung der damaligen Unglücksumstände zufolge wurde nach dem
Zusammenstoß und dem Ableben der Kurfürstin nicht polizeilich ermittelt – ein ganz unverständliches, äußerst suspektes Manko. 188 Maria-Leopoldine hatte zum Ende ihres Lebens genug
Feinde, um Fremdeinwirkung bei ihrem Ableben zu befürchten. Es ist auch nicht ausgeschlossen,
dass im Fall eines Attentats gerade der Fall Kaspar Hauser eine Rolle spielte! Ein Attentat aus der
Region heraus auch steht auch deshalb im Raum, weil acht Jahre zuvor ihr guter Freund Joseph
von Utzschneider nahezu exakt auf dieselbe Weise zu Tode gekommen war. War dies alles Zufall
oder Absicht?
Ehe wir mit der Bewertung der Rolle der Kurfürstin-Witwe im Fall Kaspar Hauser fortfahren, kommen wir
als Nächstes zu einem wichtigen Zeugen.
188 Siegfried Rieger: „Das Ableben der höchstseligen Frau Churfürstin Marie Leopoldine zu Wasserburg“ 1848, in:
Land um den Ebersberger Forst, Beiträge zur Geschichte und Kultur, Jahrbuch des Historischen Vereins für den
Landkreis Ebersberg, Bd. 1, 1998, S. 35ff.
89
Der Zeuge Johann Samuel Müller
Im Jahr 1925 präsentierte der österreichische Hauser-Forscher und gemäßigte Anti-Hauserianer Hans
Sittenberger ein eigenes Büchlein zu Kaspar Hauser. Dieses Werk enthielt zu 90 Prozent Wiederholungen
bereits bekannter Tatbestände, in einem kleinen, österreich-spezifischen Teil jedoch äußerst wichtige Informationen aus dem Aktenbestand des Wiener Polizei- und Staatsarchivs, den bis dahin niemand gesichtet hatte. Diese Akten bezogen sich laut Sittenberger auf eine Affäre, die …
„…binnen kurzem das ganze gebildete Europa aufwühlte, die obersten Staatsbehörden Österreichs, Ungarns und Bayerns in Bewegung setzte und selbst Kaiser und Könige zu persönlichem
Einschreiten veranlasste. Der Mann, der zu alledem den Anstoß gab, war ein Domprediger in
Pressburg und hieß Johann Samuel Müller …“189
Eigenartigerweise erschien das Buch Sittenberges in Berlin, jedoch nicht im Wien.
Nun wären wir durchaus im Stande, den gesamten Sittenberger'schen Text im Block darzustellen, so
brisant und informativ sind seine Auswertungen, aber wir verzichten darauf und präsentieren im Folgen den nur die wichtigsten Versatzstücke, denn als Hauser-Kritiker hatte sich Sittenberger nicht verkneifen
können, die Geschichte, die er zu jenem Johann Samuel Müller präsentierte, ex ante und ohne echten
Grund als „albernes Wirtshausgespräch“, „leeres Gewäsch“, „Hauptspaß in bier- oder weinseliger Stimmung“, „lächerliche Aufbauschung“, „allerlei dummes Zeug“, Ausdruck von „Verfolgungswahn“, als summa summarum „groteske Faseleien eines Geistesgestörten“ abzutun.190 Warum Sittenberger die Geschichte überhaupt erzählt hatte, bleibt bei einer solchen Einschätzung ein Rätsel, zumal die Voreingenommenheit den Autor daran hinderte, den eigentlichen Gehalt seiner Recherche auch nur ansatzweise
zu erkennen. Es ist dieser ungut präjudizierende Unterton, der uns nun verbietet, den Text Sittenbergers
einfach unkritisch zu übernehmen. Wer sich genauer informieren will, mag bei ihm selbst nachlesen!
Konzentrieren wir uns zunächst auf die Vita des Pressburger Dompredigers Johann Samuel Müller:
Mehrere Polizeiberichte, u. a. der Bericht des k. k. Hausruck-Kreisamtes Wels vom 9. März 1821, der
Bericht der Linzer Polizeidirektion vom 15. März 1821, der Bericht der Wiener Ober-Polizeidirektion an
die k. k. Polizei-Hofstelle vom 29. Juni 1821 (alle Akten im Wiener Polizeiarchiv, heute zum großen Teil
verschollen), sowie die Chronik von Rutzenmoos, die wir zusätzlich beigebracht haben, geben über diesen Mann Rechenschaft ab:
Johann Samuel Müller war am 4. Januar 1788 im österreichisch-ungarischen Ödenburg, dem heute Sopron, als Sohn eines Lehrers geboren worden. Vom 4. April 1813 bis September 1819 wirkte er als evangelischer Pastor im österreichisch gebliebenen Rutzenmoos in der Nähe des bayerischen Vöcklabruck (bis
1816). Wie die Rutzenmooser Chronik lehrt, war Müllers Wahl von Anfang an nicht unumstritten gewesen: Man wollte damals lieber „einen ’Ausländer’, d. h. einen Pfarrer aus den erweckten Kreisen Deutschlands.“191
Erst unter Druck des Konsistoriums wählte man Müller unter drei Ödenburger Kandidaten aus, wobei
Müller nicht einmal evangelische Theologie an der Universität studiert hatte, sondern nur eine Gymnasial- und Lyceal-Ausbildung besaß. „Müller sei ein recht freundlicher und liebreicher Mann, sehr eifrig in
seinem Beruf“, ließ der Superintendent Tielisch zunächst vermelden. Im Sommer 1815 heiratete Müller
Elise Fördinger, die 17-jährige Tochter des Rutzenmooser Gemeindevorstehers; bis dahin scheint für ihn
in Rutzenmoos alles bestens gelaufen zu sein.
Doch wenig später kam es zur persönlichen Katastrophe; das „Verhältnis Johann Samuel Müllers zur
Gemeinde entwickelte sich unerquicklich“. Aus heutiger Sicht ist schwer festzulegen, was den Ausschlag
189 Hans Sittenberger: Kaspar Hauser, Berlin 1925, S. 214ff.
190 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 218, 220, 227 und 233.
191 Steffen Meier-Schomburg, Dieter Arnold, Wolfgang Fischer, Hans Hubmer, Martin Rößler (Herausgeber): Rutzenmooser Chronik, Selbstverlag, Regau 2009, S. 35ff.
90
für diesen Stimmungswechsel gab: Mag sein, dass Müller in einer Art von religiösem Rigorismus und per sönlicher Sturheit unglücklich agierte und bei den Gemeindemitgliedern kein Fettnäpfchen ausließ, mag
sein, dass ihn Freunde und Verwandte der Familie Fördinger einer Rufmordkampagne unterzogen, weil
sich dieser der „Erweckungsbewegung“, d. h. einem politisch motivierten Protestantismus, nicht nur unerwartet verweigerte, sondern in seiner ablehnenden Haltung sogar das Verhältnis zu seiner Frau Elise
aufs Spiel setzte. Jedenfalls hatte die Gemeinde alsbald „andere Vorstellungen von einem Pfarrer“, wohingegen Müller „sein Bestes tat und gab“. Schließlich wandte sich Müller an den Superintendenten Tielisch und bat um Versetzung:
„Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, d. h. den setzt er nach Rutzenmoos zum Schullehrer
oder Prediger. Möchte doch der liebe Vater im Himmel meiner Züchtigung bald ein Ende machen …“
Versöhnungsversuche schlugen fehl, die Intrigen und Beschwerden gegen Müller hielten an bzw. nahmen zu. Schließlich entzweite sich der junge Pfarrer selbst mit dem Superintendenten. „Müller mache
die Kanzel zum Tummelplatz seiner Leidenschaften“, meldete daraufhin Tielisch an das Konsistorium in
Wien – was auch immer darunter zu verstehen war. Inzwischen soll der beruflich wie privat gescheiterte
Müller „halbe Nächte“ in Wirtshäusern verbracht und in Regau Kegeln geschoben haben, während z. B.
in Rutzenmoos eine Taufe anstand. Daraufhin wurde Müller im September 1819 offiziell aus dem Pfarrdienst entlassen.
Dass indes nicht menschliche Schwächen für den tiefen Fall des Johann Samuel Müller den Ausschlag
gaben, erfährt man im Folgenden:
Zunächst ließ Müller seine Frau, mit der er sich überworfen hatte, und sein Töchterchen in Rutzenmoos zurück und ging heim nach Ungarn, um dort ein neues Leben zu beginnen. Nachdem er im Oktober
1820 zum katholischen Glauben übergetreten war, suchte er ab 1821 wieder Kontakt zu Frau und Kind,
was jedoch seine Frau zurückwies. Müller lebte hinfort in bescheidenen Verhältnissen. Als er in Wien
beim „Braunen Hirschen“ Schulden von 25 Gulden gemacht hatte, die er nicht zurückzahlen konnte, floh
er zurück nach Oberösterreich, wurde aber in Steyregg verhaftet und nach etlichen Verhören in seine Va terstadt Ödenburg abgeschoben.
Als Konvertit erfuhr Johann Samuel Müller die Unterstützung katholischer Kreise. Auf Empfehlung des
Grafen Brunswick wurde er um die Jahresmitte 1824 oder 1825 von der Sternkreuzordensdame und
verwitweten Baronin Maria Anna von Majthényi, einer geborenen Bartakovics, als Erzieher ihres Sohnes
angestellt. Die gebürtige Slovakin lebte zeitweise in einem Stadthaus in Ofen (Bild weiter unten),
zeitweise auf ihrem Landgut in Solymár, manchmal auch auf ihrem Elternsitz in Szalakusz im Komitat
Neutra. Doch alsbald scheint sich Müller auch mit einer Dame dieses Hauses überworfen zu haben. Dass
er ein „ungebildeter, zänkischer Patron gewesen sein soll, der sich mit niemandem vertragen mochte, am
wenigsten mit der Gouvernante des Hauses, einer gewissen Frau von Dalbonne“, entspricht der wenig
gewogenen Darstellung in diesem Haus und besagt über die zugrunde liegenden Sachverhalte nicht viel.
Müller wurde schließlich im Jahr 1827 von Frau Majthényi wegen inadäquater Züchtigung ihres Sohnes
entlassen. Von der besagten Dalbonne erfahren wir mehr weiter unten.
Nach dem unerquicklichen Intermezzo im Haus Majthényi trat Müller in das Alumnat des Erzbistums
Gran ein, um katholischer Priester zu werden. Nach dem Tod seiner Frau im Oktober 1827 – er war da mals noch Alumne – reiste er wieder nach Österreich, um persönlich sein Töchterchen aus Rutzenmoos
abzuholen. Dieses soll der Rutzenmooser Chronik zufolge später in einem ungarischen Kloster „aus
Heimweh“ gestorben sein.
Zum Priester geweiht, hielt Johann Samuel Müller in der Rutzenmoos benachbarten, katholischen Gemeinde von Regau eine katholische Messe ab. Noch vor 1830 erhielt er die Stelle eines Dompredigers in
Pressburg.
In dieser Phase seines von Brüchen gekennzeichneten Lebens gewinnt der katholische Pfarrer Johann Samuel Müller nun plötzlich erhebliche Relevanz für den Fall Kaspar Hauser:
91
Nachdem am 17. Oktober 1829 in Nürnberg auf Kaspar Hauser ein Attentat verübt worden war, erstattete Johann Samuel Müller am 25. Dezember 1829 von Pressburg in Ansbach Anzeige. Sein zunächst
noch anonymes Schreiben ging direkt an das Präsidium des königlich-bayerischen Appellationsgerichts,
zu Händen des Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach:
„Wohllöbliches Präsidium!
Bei dem allgemeinen Interesse, welches Caspar Hauser
erregt, und bei dem ebenso
allgemeinen Wunsche, den
Urheber der an ihm verübten
Barbarei entdeckt zu wissen,
fühle ich mich im Gewissen Abb. 80: Auszug aus Antonius van der Linde: Kaspar Hauser.
verbunden,
nachstehende
Eröffnung zu machen, die höchst wahrscheinlich zu den nötigen Aufschlüssen über diese Sache
führen wird. Ich erinnere mich nämlich in Betreff der Sache ganz klar und deutlich, in Ansehung
der Zeit aber, ob es im Jahre 1813, 1814 oder 1815 war, nur dunkel und unbestimmt, dass der damalige Landgerichts-Aktuar in Vöklabrück, Herr v. Mayer, bei dem dortigen protestantischen
Pfarrer Ludwig Wirth, späterhin nach Martinsheim 192 und Oberringelsheim193 befördert, in Gegenwart des Landgerichts-Advokaten Lambert, wenn ich nicht irre, von dieser Sache redete, dass
nämlich ein ehemaliger Universitätsfreund von ihm eben das, was nun seither mit Kaspar Hauser
wirklich geschah, thun wollte, um sich in den Besitz des Vermögens seines Blutsverwandten, sehr
reichen Mündels - wenn ich nicht irre, seines Neffen, dessen Vater als k. k. Offizier im Kriege um kam, zu setzen - und ihn, Herrn Mayer, in Betreff der Verantwortlichkeit, welcher er sich, wenn
die Sache aufkomme, aussetzen würde, consultirte. Der Plan war eigentlich, wie sich der Herr
Mayer verlauten ließ, die physische so wohl als die moralische und geistige Entwicklung und Ausbildung des Kindes zu verhindern, und dasselbe durch gänzliche Entfernung und Absonderung
von aller menschlichen Gesellschaft blödsinnig und zu der einstigen Besitznahme der Verwaltung
seines Vermögens unfähig zu machen.Ich unterließ nicht sogleich zu bemerken, dass ein solches
Vorhaben eine große Gewissenlosigkeit voraussetze, und saß die göttliche Vorsehung die Umstände so zu lenken wissen werde, dass ein solches Verbrechen zu seiner Zeit nicht unentdeckt
und unbestraft bleibe — worauf Herr Mayer, den Blick auf mich heftend, zum Pfarrer Wirth sagte: dieser könnte die Sache mit der Zeit noch verrathen! Was aber der Pfarrer mit der Bemerkung
in Abrede stellte, dass ich in keinem Verhältnis mit Baiern stehe, und zumal in der Ulmer und
Nürnberger Gegend ganz unbekannt sey. Im Ganzen kamen die Herrn dahin überein, dass es am
rathsamsten wäre, wenn man schon so gewissenlos seyn wolle und könne, den Erben eines solchen Vermögens, das man sich zuzueignen wünsche, aus der Welt zu schaffen, was bei einem
Kinde ohnehin leicht thunlich sey. Ich enthalte mich, ein Mehreres zu berichten, und füge nur
noch bei, dass ich voll Unmuth über die menschliche Verdorbenheit, die einer solchen Tat fähig
ist, die Gesellschaft verließ und nach Hause ging, und seither in ganz andere Verhältnisse ver setzt, an die ganze Sache nicht dachte, bis ich diesen Herbst durch die Nachrichten, die man von
Kaspar Hauser in den Zeitungen las, auf das lebhafteste daran erinnert wurde. Sollte ein
Wohllöbliches Präsidium von diesen Angaben Gebrauch machen, und vielleicht auch den Stand
und Namen des Einsenders wissen wollen, so wird das hiesige katholische Stadtpfarramt, unter
der Bedingung der nöthigen Verschwiegenheit Auskünfte hierüber geben.“ 194
Der Ansbacher Gerichtspräsident nahm die Anzeige zunächst ernst. Er bedankte sich am 2. Januar
1830 dafür und bat dringend um weitere Angaben. Dieser Aufforderung kam Müller in einem langen
Schreiben vom 10. Januar 1830 nach, diesmal unter Nennung seines Namens. 195
192 Gemeinde zwischen Würzburg und Ansbach.
193 Oberickelsheim.
194 Zitiert nach Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 216f.
195 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 219ff.
92
Zunächst erklärte er, er erinnere sich nun ganz bestimmt, dass das verdächtige Gespräch im Jahr 1813
stattgefunden habe. Bei einem nachfolgenden Besuch habe Pfarrer Ludwig Würth (alias Wirth) die Sache
abmildern wollen und versichert, dem Kind werde nichts geschehen. Als „Mitwisser und Teilnehmer an
dem Geheimnis“ bezichtigte Müller nun auch den Pfarrer von Attersee, Johann Adam Leydel (alias
Leidel), der Mitwisserschaft. Über die Laufbahn dieses evangelischen Pfarrers erfahren wir mehr weiter
unten. Einstweilen sei vorausgeschickt, dass hier Müller eine sehr präzise Zeitangabe machte, die sich in
die Biographie Leydels bestens einfügt. Einige Passagen des zweiten Müller'schen Schreibens sind so
wichtig, dass sie hier wörtlich wiedergegeben werden:
„Als einen Mitwisser und Teilnehmer an diesem Geheimnisse kann ich auch den ehemaligen
kgl. bayerischen Pfarrer von Attersee, Adam Leidel, späterhin nach Eltersdorf befördert, angeben,
der nach Pfingsten (1)814, als er nach oder über Nürnberg seine Braut abzuholen reiste, irgendwo – mir scheint in München – Geld entweder nur angeboten oder wirklich bekam, was ich be stimmt nicht zu sagen weiß, weil er nach seiner Zurückkunft in meiner Gegenwart mit dem Pfar rer Würth anfangs – bis ihn nämlich dieser darauf aufmerksam machte, dass und auf welche Art
ich davon wisse – sehr geheimnisvoll von dieser Sache sowie auch davon redete, dass entweder
er selbst oder sonst jemand – mir scheint aber er selbst – das Kind schlafend gesehen habe. Soviel
kann ich mich mit aller Gewissheit erinnern, dass Herr Leidel von einem dunkeln, rund herum mit
Holz verlegten Verwahrungsorte redete, in welchem das Kind, das übrigens, soviel man in der
Dunkelheit bemerken könne, gut aussehe, verschlossen sei …“196
Leydel habe Müller unbedingt in den Täterkreis einbeziehen wollen und vorgeschlagen, auch ihm „von
einer gewissen Summe Geldes …, die jährlich an die Mitwisser verteilt würde“, einen Teil zukommen zu
lassen, weil sonst die Sache „noch einen schlimmen Ausgang gewinnen könne“. Als Müller erklärte, er
müsse zuvor genauer wissen, woher das Geld käme, habe man aber die Diskussion abrupt beendet.
Ein Weiteres sei Müller mittlerweile eingefallen:
„Es war entweder zu Ende des Jahres 1825 oder zu Anfang des Jahres 1826, als sich mir, der
ich … damals … im Hause der Frau Marianne von Majthényi … Erzieher war, der königlich-baierische Pfarrer Würth aufdringen wollte, und weil ich ihn seiner irreligiösen und unmoralischen
Grundsätze wegen, die ich in den Jahren 1813, 1814 und 1815 an ihm kennen und verabscheuen
lernte, durchaus nicht vorkommen ließ, so ließ er mir u. a. durch die Guvernannte, eine gewisse
Frau von Dalbonne, sagen, wenn ich es wagen würde, die mir bewußte Geschichte von der Ver heimlichung eines Kindes in Baiern zu offenbaren, so würde es mir schlecht gehen, ich würde
selbst meines Lebens nicht sicher seyn; auch ließ er mir Geld anbieten. Ich erklärte mich aber in
Gegenwart der Frau von Majthényi und der Guvernannte einmal über das andermal, daß ich …
mit ihm nichts zu thun haben wolle. Ich sey darum katholisch geworden, um aus allen näheren
Verbindungen mit den Protestanten herauszutretten … Ich konnte mich zwar damals an die Verheimlichung eines Kindes entweder gar nicht, oder doch nur sehr dunkel erinnern, was sich bei
den vielen und großen Veränderungen, die während der Zeit mit mir vorgegangen waren, leicht
erklären und begreifen lässt; ebenso wenig fiel mir die Sache vor zwei Jahren bei, als ich auf mei ner Reise nach Ober-Österreich um meine Tochter in Linz wirklich in Gefahr war, von dem oft gedachten k. b. Pfarrer Würth gemeuchelmordet zu werden — vielmehr schrieb ich die Verfolgungs wut dieses Menschen theils seinem Haß gegen die katholische Religion … theils dem Umstande
zu, dass er sich als Verfasser der verbotenen Schrift ’Ferdinand Friedrichs vertraute Briefe über
die äußere Lage der Evangelischen in Ungarn’ durch mich … verrathen glaubte, was jedoch gar
nicht der Fall war.“
Interessanterweise gab Ludwig Würth 1825 plötzlich ein Buch über seine ehemalige Pfarrgemeinde
Vöcklabruck heraus, in dem er Müller neben Pfarrer Leydel als seinen besten Freund schilderte, und in
einer erweiterten Neuauflage 1826 betonte er diese Männerfreundschaft selbst für diese späte Zeit
(gleichwohl unter Erwähnung von Würths Vertreibung aus Rutzenmoos, seiner Konversion, seiner Be 196 Linde 1, S. 201.
93
schäftigung als „Hausvogt“ bei der Frau von Majthényi), – gerade so, als ob beide nie ein Wässerchen ge trübt hätte.197
Da klang die Schilderung Müllers einige Jahre später aber ganz anders! Zum eigentlichen Urheber und
Ort des Verbrechens erklärte Müller, keine genauen Angaben machen zu können:
„Vom ersteren weiß ich nur, dass er als Universitätsfreund des Herrn Mayer, des Ludwig Würth
u.s.f. zu gleicher Zeit mit ihnen zu Erlangen studierte, und wenn nicht vom höherem Adel, doch
wenigstens vom Ritterstande sey; vom letzteren aber, dass er irgendwo seitwärts von Nürnberg
sich befinden müsse. Auch verdient der Umstand berücksichtigt zu werden, dass Pfarrer Würth
während dieser Zeit mehrere große Reisen nach Italien, nach Holland, nach Ungarn u.s.f. gemacht habe. Es entsteht nämlich dabei die Frage, ob sein Vermögen, seine Einnahme dazu hinreiche, oder ob es nicht etwa auf Kosten des armen Hauser geschah — eine Frage, die umso mehr
stattfinden kann, da die oben gedachte Frau von Dalbonne vor zwey Jahren durch die Geldunterstützung, die sie von Pfarrer Würth erhielt, in den Stand gesetzt wurde, ihre Mutter von Triest
nach Ofen kommen zu lassen. Es war zwar die Rede von einem Fond, den die Protestanten in Bai ern zu solchen wohlthätigen Zwecken haben sollen, und aus dem diese Unterstützung geflossen
sey; mir bleibt aber kein Zweifel übrig, dass die Interessen vom Vermögen des armen Hauser, das,
wie mir scheint, in der englischen Bank niedergelegt ist — was ich jedoch nicht behaupten kann,
dazu herhalten mussten …“
Den schon in der ersten Anzeige erwähnten Advokaten Lampert (alias Lambert) bezeichnete Müller
am Ende als denjenigen, der „die Aufsicht über den armen Kaspar Hauser führte“. Er habe ihm schon im
Spätherbst 1813 scherzweise gesagt, „dass er sich ganz wohl zu diesem Geschäfte schicke, nämlich das
Kind wie einen Bären groß zufüttern“.
In einem Nachtrag dieses Schreibens, zwei Tage später verfasst, betonte Johann Samuel Müller nochmals, der Kerkermeister des Kindes sei niemand anderer als Lampert gewesen. Dieser habe nach der
Aussage Würths „sein Amt resigniert“, lebe bei einem Freund und beschäftige sich nebenbei mit der Erziehung eines Kindes, „das nach einem ganz eigenen Plane müsste erzögen und gebildet werden …
Schon im Spätherbst 1813 hatte man den Plan, den unglücklichen Hauser, wenn er würde erwachsen
seyn, dem Militär zu überliefern. Man rechnete nämlich mit Revolutionen und Kriegszeiten, wo es leicht
seyn würde, ihn — sollte er auch noch so unbehülflich seyn, wenigstens beim Fuhrwesen unterzubringen
und — ist wirklich ein adeliger Geist in ihm, so wird er schon emporzukommen wissen“.
Am Ende seiner Ausführungen dem Ansbacher Gericht gegenüber erhob Johann Samuel Müller be schwörend den moralischen Zeigefinger, was man ihm später übel auslegte:
„Wir nähern uns eben dem antichristlichen Zeitalter, wenn wir nicht schon in demselben leben.
Umso mehr haben die Regierungen Ursache, auf das Thun und Treiben der Naturalisten und Frey maurer, die, wie diese an Hauser verübte Barbarey erweist, sich die frevelvollsten Dinge erlau ben, ein aufmerksames Auge zu haben …“
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Johann Samuel Müller, wie man der Folge seiner Schreiben an das Präsidium des Appellationsgerichtes Ansbach entnehmen kann, erst nach und nach sein Erinnerungsvermögen aktivieren konnte, dann aber doch mit wenigen Ausnahmen zuverlässig berichtete. 198
Dabei unterschied er übrigens sorgfältig sicheres Wissen von begründeter Annahme, was Antonius van
der Linde aber später nicht daran hinderte, despektierlich über Müllers Fantasie und vor allem über sei nen Katholizismus herzuziehen: „Jesus-Maria-Joseph, da fällt mer halt ebbe noch eppes ei!“, legte er dem
Domprediger in den Mund, um ihn lächerlich zu machen.
Einige lokalhistorischen Details in Müllers Bericht lassen unabhängig von jeder Subjektivität des Betrachters eine gute Beurteilung darüber zu, wie zuverlässig er als Kronzeuge berichtete.
197 Vgl. ludwig Würth: Die protestantische Pfarrey Voecklabruck (1812-1825), Nürnberg 1826, S. 38 und 142.
198 Wiedergegeben bei Linde 1., S. 200ff.
94
Müller hatte z. B. am 12. Januar 1830 aus Pressburg geschrieben:
„…Im Jahre 1814 war beim Pfarrer Leidel in Attersee allerdings von einer Kapelle die Rede, wo
man das Kind einsperren wollte oder wirklich eingesperrt hatte; weil man aber den Ort nicht für
sicher genug hielt wegen der nahen Straße, so brachte man dasselbe an einen andern Verwahrungsort, der, soviel ich mich erinnern kann, ein kleines Nebengebäude entweder bei einem Ritterschlosse oder bei einem Meierhofe – und rund herum mit Holz verlegt war. Auch hatte man
damals schon den Plan, dieses Gebäude zu zerstören, sobald das Kind würde in Freiheit gesetzt
sein …“
Ein kleines, mit Holz verlegtes Nebengebäude entweder bei einem Ritterschloss oder bei einem Meierhof!
Halten wir an dieser Stelle inne und machen wir die Gegenprobe mit Wanghausen!
Abb. 81: Detail aus einem narocken Großgemälde von unbekannter Hand, das noch heute im Schloss Wanghausen
hängt. Gut erkennbar ist zur Linken ein Ensemble von hintereinander platzierten Nebengebäuden von niedriger
Höhe, wobei das vordere gemauert sein könnte, das hintere aber wie ein hölzerner Schupfen wirkt.
95
Kaspar Hausers Verlies bei Wanghausen
Durch die spät-feudale Ausweitung der Adelsränge waren in Bayern wie anderswo eine große Zahl an
neuen Schlössern und schlossähnlichen Bauten entstanden, zu denen in Folge der Industrialisierung auch
noch eine Unmenge an neuzeitlichen Industriellen-Landsitzen hinzukam, die sich ebenfalls Schloss nannten.
Hausers Unterbringungsort muss der Erinnerung Johann Samuel Müllers nach schon einem Schloss
mit mittelalterlicher Tradition entsprechen, mit Rittern und einem historischen Meierhof, dem Zehenthof des örtlichen, oft klösterlichen Grundherrn. Dies war eine eigenartige und durchaus nicht überall
anzutreffende Kombination von Eigenschaften.
Johann Samuel Müller hatte sich bei dem Ritterschloss und Meierhof ganz korrekt erinnert, wie gleich
zu sehen sein wird, lediglich das Bindewörtchen „oder“ hätte bei ihm getrost „und“ lauten dürfen. Denn
in Wanghausen – und nur in Wanghausen, möchten wir hinzufügen – lagen beide Voraussetzungen vor:
Wanghausen war schon vor 1250 als Rittersitz errichtet worden; noch vor 1285 fand es seine erste literarische Erwähnung im „Meier-Helmbrecht-Epos“. Dies ist ein Reimgedicht von insgesamt 1934 mittelhochdeutschen Versen, das in oder bei Burghausen entstand und die zweifelhafte, mit einem gewaltsamen Tod endende Karriere des Raubritters Helmbrecht junior beschrieb. Der junge, leichtsinnige Helmbrecht verlässt in dem Gedicht seinen elterlichen Hof, um eine schnelle Karriere als Raubritter zu machen, kehrt aber dorthin nochmals vorübergehend zurück, ehe er in Erfüllung der väterlichen Warnun gen als Raubritter ein tragisches Ende findet. Bei seinem Heimat-Aufenthalt hatte ihm sein Vater Helmbrecht senior einen Krug Wasser gereicht und dabei gesprochen (Verse 891 bis 897):
„Und het ich wîn/ der müeste hint getrunken sîn/ lieber sun mîn nû trinc/ den aller besten ur sprinc/ der ûz erden ie geflôz/ ich weiz niht brunnen sîn genôz,/ wann ze Wanchûsen der …“
„Und hätt´ ich Wein, er müsste heut´ getrunken sein. Mein lieber Sohn, nun trink den allerbes ten Quell, der je der Erde entsprang. Ich weiß keinen Brunnen von solchem Genuss, als den zu
Wanghausen …“
Aus diesem Vers wurde geschlossen, dass der elterliche Meierhof des Raubritters Helmbrecht unmit -
Abb. 82: Zur Linken das unter einem Blätterwald verschwundene Häuschen südlich des Schlosses. Rechts das
aktuelle Innere: Oben an der Ostwand, gegenüber der Eingangstür, der Sturz eines zugesetzten Fensterchens.
telbar bei Wanghausen lag. Dass es sich dabei nicht um Dichtung, sondern um historische Wahrheit handelt, hat inzwischen die Lokalforschung bestätigt: Oberhalb von Schloss Wanghausen, beim österreichi96
schen Gilgenberg, gab es einst eine historische Hofstelle, welche im Mittelalter einem gewissen „Helmbrecht“ gehörte und in der Tat ein Meierhof war. Dieser Hof steht noch heute und trägt den alten Namen
„Mairhof“. Beide Orte – Schloss Wanghausen im Tal und der Mairhof auf dem Gilgenberg – sind heute
Etappen eines beliebten Rundwanderweges.
Kein Zweifel: Bei diesem geheimen Treffen im Jahr 1814, von dem Johann Samuel Müller berichtete,
hatten die Verschwörer davon gesprochen, dass das Verlies Kaspar Hausers beim Ritterschloss Wanghausen und am literarischen Ort des Meier Helmbrecht-Epos lag! Damit rückt Johann Samuel Müller
im Fall Kaspar Hauser zu einem Kronzeugen ersten Ranges auf.
Müller hatte lediglich nach 16 Jahren den unmittelbaren Zusammenhang zwischen beiden Orten nicht
mehr rekapitulieren können, was ihm nicht zuletzt wegen der Unkenntnis der Örtlichkeit auch zusteht.
Für uns aber ist ein doppelter Beweis erbracht:
•
Bei den Briefen Johann Samuel Müllers handelt es sich um eine erstrangige und präzise Quelle!
•
Der Schlosspark von Wanghausen war in der Tat der Verliesort Kaspar Hausers, wie schon
zuvor ins Auge gefasst!
Bei Johann Samuel Müller ist von einem kleinen Nebengebäude die Rede. Östlich des Schlosses Wanghausen steht neben der dem Berg zugewandten Straße, die erst im letzten Jahrhundert entstand, ein
kleines, altes Steinhäuschen mit Kamin, das man heute unter dem dichten Gestrüpp eines Rankgewäch ses kaum noch ausmachen kann. Dieses ziegelgemauerte, lose verputzte Beigebäude trägt barocke Züge,
erkennbar an einem Okulus über dem flach gewölbten Türsturz.
Falls es schon zu Hausers Zeiten existierte, hätte es sich geradezu als ideales Versteck angeboten,
denn es stand damals, den Blicken entrückt, im baumbestandenen Park des Schlosses am Waldrand
und konnte perfekt mit einem davor geschlichteten Holzstapel getarnt und isoliert werden!
Abb. 83: Links Ausschnitt mit Beigebäude um 1960, damals war das Dach noch intakt. Zum Vergleich der Stich von
Michael Wening mit der vermuteten Position des auf dem Stich nicht abgebildeten Häuschens (1721).
Der Grundriss des Häuschens, das heute nicht zum Besitz des Schlosses gehört, sondern einem benachbarten Grundherrn, misst ca. 4 x 2,5 m, bei einer Traufkante von 2,5 m und einer Giebelhöhe von ca.
3,5 m. Bei einer Mauerstärke von 0,5 m beträgt der flach mit einem Ziegelgewölbe gedeckte und einen
gestampften Boden aufweisende Innenraum ca. 3 m x 1,5 m x 1,5 m, was im Gegensatz zu den vermeint -
97
lichen Verliesen in Pilsach oder Beuggen ziemlich genau den Dimensionen entspricht, die Kaspar Hauser
einst geschätzt hatte (siehe Teil 1 dieser Arbeit). Nur die jetzigen Fensteröffnungen zu beiden Seiten sowie das doppelflügelige Eingangstor weichen von seinen Schilderungen ab, wobei diese Strukturen im
ersten Drittel des 19. Jahrhunderts u. U. noch gar nicht existiert haben bzw. zugesetzt waren. Innen am
südöstlichen Gewölbescheitel meint man noch die Fassung eines der beiden früheren Oberfenster zu erkennen, so wie sie Hauser beschrieben hat. Im Übrigen belegt ein Kamin die Beheizbarkeit, dieser kann
aber auch aus späterer Zeit stammen.
Ob dies der Überrest jenes Gebäudeensembles ist, den das zum Ende des vorigen Kapitels vorgrstellte
Gemälde in Schloss Wanghausen wiedergibt?
In einem solchen Gebäude oder exakt in diesem muss Kaspar Hauser untergebracht gewesen sein! 199
Abb. 84: Links historische Farbaufnahme (um 1960) mit kleinem Beigebäude im Vordergrund rechts. Die Aufnahmen
in der Mitte und rechts zeigen die heutige Situation, das verfallbedrohte Beigebäude ist unter dem Blätterwald
eines Rankgewächses nahezu vollständig verschwunden.
Dass Kaspar Hauser nicht in einem Verlies des Schlosses selbst untergebracht gewesen sein kann, hat
er letztlich indirekt mit eigenen Worten bestätigt. Im polizeilichen Verhör vom 9. November 1829 sagte
er auf die Frage, ob er sich an seinen Herweg nach Nürnberg erinnere, wörtlich:
„Über die Gegenden und sonstigen Gegenstände der Natur werde ich wohl schwerlich je zu
urteilen vermögen; dagegen würde ich den Ort meiner Gefangenhaltung, und wenn er auch
inzwischen sollte verändert worden sein, alsbald wieder erkennen, vorausgesetzt nämlich, dass
er nicht ganz zusammengerissen oder vernichtet worden; denn mein Gefühl ist äußerst stark und
treu und leitet mich auch ohne zureichenden Grund richtig und vollständig …“ 200
„Zusammenreißen“ oder „vernichten“ konnte man ein kleines Beigebäude wie das in Wanghausen. Bei
einem Kellerverlies unter einem Schloss dürfte beides schwer gefallen sein!
Aktuell ist das kleine Gebäude beim Schloss Wanghausen stark vom Verfall bedroht, von einer
Schlingpflanze überwuchert. Der hangseitige Dachstuhl ist bereits eingestürzt und der Innenraum mit
199 Als alternativer Unterbringungsort kämen, wie bereits erklärt, nicht die Keller im Inneren des Schlosses, son dern nur weitere Beigebäude in Frage, die einst südwestlich und nordöstlich an das Schloss Wanghausen anschlossen. Der südwestliche Gebäudekomplex mit dem sog. „Zuhaus“ ist heute vollständig beseitigt, auf dem
Stich von Michael Wening, auf einem Votivbild von Maria Ach aus der Gründungszeit sowie auf einem Monumentalgemälde allerdings noch zu erkennen, wenngleich in jeweils etwas unterschiedlicher Disposition!Dort
wurde noch kurz vor Kaspar Hauser Zeit der Wegezoll eingenommen. Im Süden führte der vormalige Zugangs weg zum Schloss mitten hindurch, insofern waren die hier befindlichen Lokalitäten für eine Unterbringung Kas par Hausers weitaus weniger geeignet. Heute ist das Terrain durch den Straßenbau und das Bett eines quer verlaufenden Quellbaches, der auch das Schloss versorgt, stark verändert; Gebäudereste sind nicht einmal mehr
ansatzweise zu erkennen.
200 Pies, Wahrheit, S. 131.
98
Gerümpel angefüllt.
Anfang 2016 wurde im Internet-Auktionshaus Ebay ein „Stich aus dem Scrapbook einer
Adelsfamilie“ mit der Darstellung des aus seinem Verlies entsprungenen Kaspar Hausers
versteigert, das an einen uns bekannten Hauser-Fan, einen Canisianer-Bruder aus Münster,
ging. Der Urheber und der primäre Verbreitungsort dieses Bildes, das ganz aus dem üblichen Hauser-Genre herausfällt, sind bis dato
nicht bekannt.
Frappierenderweise sieht bei dieser Darstellung der Hintergrund exakt aus wie der
waldige Abhang hinter Schloss Wanghausen,
inklusive des Beigebäudes, das lediglich künstlerisch überhöht wurde. Der Fußweg, der hier
einst vorbeiführte, dürfte heute der Teerstraße gewichen sein; er wurde sicherlich erst
nach Veräußerung des Schlossparks und damit
weit nach Kaspar Hauser angelegt.
Ansonsten passt hier aber alles zu Wanghausen (und keineswegs zu Pilsach oder Beuggen), inklusive der Passanten, die vielleicht in
späteren Zeiten über die Bedeutung dieses
Beigebäudes gemunkelt haben.
Der Stich dürfte aus dem Fundus der westfälischen Adelsfamilie Gaugreben stammen,
Abb. 85: Kaspar Hauser, „Stich aus dem Scrapbook einer
die nach Auskunft der verkaufenden Archiva- Adelsfamilie“ - Ebay 2015.
rin verwandtschaftliche Beziehungen zur Familie der Freiherrn von Schönau-Wehr gehabt hätte. Ein weiteres Bild aus dem Sammelalbum sei eine
Zeichnung gewesen, die ein anderes Sujet darstellt und mit „Therese von Gaugreben“ bezeichnet ist. Was
die Herren von Gaugreben anbelangt, so fanden wir für den Zweiten Koalitionskrieg gegen Napoleon im
Generalsstab der bayerischen Armee einen Oberst von Gaugreben als Kommandeur des Regiments Preysing (Cheveaulegers). Die Gaugreben sollen auch Kontakte zur Familie von Berchem gehabt haben, deren
Zweig am anderen Ufer der Salzach wohnte. Die besagte Therese von Gaugreben war wohl die letzte ih res Stammes und lebte um 1900. Von ihr um 70 Jahre in die Hauser-Zeit zurückzukommen, ist sicher
schwierig; aber daran, dass auf diesem Bild wie von Auktionshaus verkündet Kaspar Hauser dargestellt
ist, kann u. E. kein Zweifel sein!
Kaspar Hauser hat seinerzeit recht zuverlässig angegeben, von seinem Verliesort aus nie den Klang einer Kirchenglocke gehört zu haben. So liest man im Protokoll des 7. Verhöres vom 4. Dezember 1829:
„An dem Orte meiner Gefangenhaltung habe ich gar nie auch nur das Geringste gehört. Als ich
den ersten Laut der Glocke hier in Nürnberg auf dem Turme des Hiltel vernommen, gefiel mir sol ches zwar wohl, es machte jedoch einen ganz besonderen Eindruck auf meine Ohren, welche es
sonderbar erschüttert hat …“201
Ergibt sich aus dieser Angabe ein Ausschlussgrund wie im Fall des Schlosses Pilsach, das ganz nahe an
einer glockenbewehrten Pfarrkirche stand? Immerhin lag auch das Schloss Wanghausen nur 250 Meter
von einer Wallfahrtskirche entfernt!
201 Pies, Dokumentation, S. 194f.
99
Wir können den Leser beruhigen: Der von Franz Ferdinand von Prielmayer finanzierte barocke Kir chenneubau von Maria Ach (1770 bis 1772) verzichtete zunächst auf einen barocken Glockenturm, da
mit Fertigstellung des Schiffes alle Geldmittel für den Weiterbau erschöpft waren. Das Türmchen des
gotischen Vorgängerbaus, das noch auf dem zeitgenössischen Gemälde von Clemens della Croce sichtbar
ist, soll nach der Pfarrchronik von Maria Ach erst im Jahr 1853, also lange nach Kaspar Hausers Zeit, ein
Glockengeschoss erhalten haben. Dafür sprechen auch die nachträglich eingebrochenen, neuzeitlich wirkenden Schallöffnungen. Vermutlich enthielt auch der gotische Turm nach den Plünderungen der
französischen und österreichischen Armee und einem zwangsweisen Bistumswechsel zu Hausers Zeit
keine funktionierende Glocke, denn speziell in Kriegszeiten wurden solche nicht selten eingeschmolzen.
Und selbst wenn dies doch der Fall gewesen sein sollte, so lag Kaspar Hausers Verlies wegen der
konvexen Bergkontur zwischen Schloss und Kirche im Schallschatten. Außerdem wird Kaspar Hausers
Aussage insofern relativiert, als in Daumers ersten Aufzeichnungen von 1828 zu lesen ist:
„Dass er in seinem Käfig keinen Donner, kein Glockengeläute, noch andere Laute vernahm,
lässt sich psychologisch erklären, da er noch lange zu Nürnberg, wenn seine Aufmerksamkeit auf
etwas gerichtet war, sehr laute Töne in seiner Nähe nicht vernahm.“ 202
Wie dem auch sei – gegen die von Burghausen herüberwehenden, viel leiseren Glockenklänge sowie
gegen die Witterungsunbilden scheint das Häuschen mit dem Verlies Kaspar Hausers durch den allseits
umstellten Holzstapel so gut isoliert gewesen zu sein, dass nichts an Lauten in den Kerkerraum hinein
drang. Mit demselben Holz konnte man auch den Eingang so geschickt verbergen, dass das Gebäude von
Weitem nur wie ein großer Stapel Brennholz aussah. Dies war eine fürwahr perfekte Tarnung, in einem
allseits umfriedeten Schlosspark, in den zur Zeit der Internierung Hausers sowieso so gut wie niemand
von außen hereinkam – ein Weißriemler namens Simon Drechsler ausgenommen.
Heute ist nichts von dieser entlegenen Lage zu ahnen: Das Häuschen steht, durch einen Blätterwald
gut getarnt, direkt am Rand einer viel befahrenen Straße. Wie stark jetzt-zeitlich das ganze Terrain um
Schloss Wanghausen verändert wurde, insbesondere durch die Konstruktion einer zweiten SalzachBrücke und der neuen Straße, die nun hinter dem Schloss vorbei führt, zeigt ein Vergleich des österreichischen Urkatasters (um 1850) mit einer aktuellen Satellitenaufnahme.
Abb. 86: Der „Franziszeische Kataster“ (benannt nach Kaiser Franz I.) entstand in den Jahren zwischen 1817 und
1861, somit kurz nach Kaspar Hausers Einkerkerung. Rechts zum Vergleich die heutige Situation, mit der Straße.
202 Mayer/Masson, S. 112.
100
Die Dalbonne, ihr französischer „Major“ und Maria-Leopoldine
Ein geheimer Polizeibericht aus Ofen vom 2. März 1830 ergänzte zu Johann Samuel Müllers Aussagen
eine weitere Begebenheit:
„Gelegentlich besuchte Müller seinen Universitätsfreund Würth in N.“ 203
Auch wenn dieser Bericht im Gegensatz zu Müllers Aussagen selbst wenig vertrauenswürdig wirkt und
vermutlich Wahres mit Unwahrem mischt, so wollen wir ihn dennoch nicht übergehen. Schon die Sache
mit dem Universitätsfreund Würth ist ein klarer Irrtum: Johann Samuel Müller hatte gar nicht studiert,
mithin konnte er kein Kommilitone des Pfarrers Würth sein. Was der Ort N. sein soll und warum er hier
abgekürzt wird, bleibt gänzlich unklar. In einem Vorzimmer soll Müller jedoch gehört haben, wie Würth
im Nachbarraum heftig mit jemandem sprach und dabei sagte: „Aber soll denn das Kind ewig eingesperrt
bleiben?“ Als er, Müller, das Zimmer betrat, fand er die Dame Dalbonne auf dem Sofa sitzen. Nachdem
sie sich entfernt hatte, soll Müller Würth gefragt haben, was denn das Gehörte zu bedeuten hätte. Würth
bedeutete ihm, er solle von diesen „Worten und Ereignissen“ schweigen, da er sonst sehr unglücklich
werden könne. Als Müller nach diesem Polizeibericht später im Haus der Baronin von Majthényi wieder
mit der besagten Dame Dalbonne zusammentraf, erinnerte er sich und fragte sie nach der Bedeutung ih res früheren Auftritts. Eine klare Antwort bekam er freilich nicht, die Dalbonne soll aber sehr bestürzt ge wesen sein:
„Sie bath, ihrer Bekanntschaft nie zu erinnern, hernach aber ernst mahnend: daß wenn ihm
sein Leben theuer wäre, er über das Gesagte und Gehörte schweigen soll.“
Wer war diese mysteriöse, offensichtlich in den Fall Hauser verwickelte Gouvernante namens Dalbonne?204
Einzelheiten zu ihrer Biographie erfahren wir u. a. durch die Protokolle mehrerer mündlicher Verhöre,
die mit ihr und ihrer Mutter Theresia in Ungarn geführt wurden 205, sowie durch die Mitteilungen der
Hauser-Forscherin Sylvia Kemming aus Todtmoos und eigene Recherchen. In Wirklichkeit trug die Dame
„Dalbonne“ keinen französischen Namen, sondern einen italienischen: Sie hieß Anna Frisacco, in den Akten manchmal auch verderbt „Frisaco“, „Frisanco“ oder „Fricasso“ geschrieben. Ihre Heimatstadt war die
Hafenstadt Triest an der Adria, welche damals zum Herzogtum Krain und damit zu Österreich gehörte.
Bei einer Nachfrage im Stadtarchiv Triest brachte Frau Kemming in Erfahrung, dass nach erhaltenen
Volkszählungslisten von 1765 und 1775206 der Großvater der Anna Frisacco Giacomo Frisach (1765) bzw.
Giacomo Frisacco (1775) hieß. Seine Familie war über Tolmezzo nach Triest gekommen, um hier den für
die Stadt typischen, in europäischen Adelskreisen äußerst beliebten Likör „Rosolio“ und andere Waren zu
produzieren.207 Allerdings blieb die Manufaktur Frisacco eine der kleineren von insgesamt 12 Rosolio203 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 242f.
204 Die betreffende Dame wird in den österreichischen und ungarischen Akten unter diversen ähnlich klingenden
Namen geführt: „Dalbonne“, alternativ auch „Dalbon“, „Dal Bon“, „d'Albon“, und sogar in Silbenumkehrung und
Lautvertauschung: „Bonval“ und „Bonnevalle“. Wir beschränken uns im Folgenden auf die erstgenannte Form.
Dazu, was es mit den genannten Varianten auf sich hat, mehr später.
205 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 256. Authentische Verweise darauf auch in unserer Zusammenstellung der
Wiener Akten zu Kaspar Hauser unter: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
206 Beschrieben von A. Sponza: La popolazione di Trieste nel censimenmto des 1775, Triest 2006.
207 „Fabbricator di rosolio e altre mercanzie“. Die heute ausgestorbene Familie Frisacco siedelte zwischen dem 14.
und 16. Jahrhundert aus dem Ort Friesach in Kärnten - daher der Name Frisacco - nach Friaul um. Sie ist im 16.
Jahrhundert bereits in Tolmezzo nachweisbar, wo ein Mitglied der Familie namens Giacomo Frisacco ein hoher
Richter der „Serenissima“ Venedig wurde. Nach ihm ist der bis heute erhaltene „Palazzo Frisacco“ in Tolmezzo
benannt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet sich der Familienname Frisacco wiederholt in einem Dreieck
zwischen Tolmezzo, Triest und Laibach. Für das Jahr 1766 ist unter den Honoratioren von Triest ein weiterer
männlicher Frisacco mit dem Vornamen Guiseppe dokumentiert. Siehe Archeografo Triestino …, Nuova Serie,
Vol. XXI, Triest 1896-97, S. 162.
101
Produktionsstätten in Triest.208
Der um 1715 geborene Giacomo war zweimal verheiratet, zunächst nach der Liste von 1765 mit einer
gewissen Theresa aus Triest, geb. um 1717, mit der er drei Töchter hatte: Maria Giustina, Anna Maria,
Maria Antonia. Da Theresia, die Mutter der Dalbonne, nicht dabei ist, diese andererseits doch wegen der
Namensgleichheit dieser ersten Ehe zuzuordnen ist, müsste sie also erst nach 1765 auf die Welt gekommen sein!
Im Jahr 1775 ist eine zweite Ehe Giacomo Frisaccos mit einer gewissen Katharina vermerkt, sie blieb
vermutlich kinderlos. Ein ehemaliger „agente del negozio“ (Ladengehilfe) namens Mattia Paternoster
führte nach dem Tod Giacomos das Rosolio-Geschäft weiter; er hatte die älteste Tochter Maria Giustina
geheiratet und ist noch 1783 als Rosolio-Hersteller erwähnt, im Jahr 1793 allerdings nicht mehr, so dass
das Geschäft in der Zwischenzeit aufgegeben worden sein muss. 209
Anna Frisaccos Mutter Theresia kam offensichtlich früh aus dem Haus; sie ist in der Volkszählungsliste
von 1775 nicht als zum Haus gehörig erwähnt. Von welchem Vater und unter welchen Umständen sie
Anna Frisacco alias „Dalbonne“ gebar, ist nicht bekannt, dies müsste aber um 1788 geschehen sein.
Die kleine Anna Frisacco kam im Alter von 6 Jahren zur Erziehung in die Mädchenschule des Nonnenkonvents San Cipriano in Triest und genoss dort bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres die Elementar schule (4 Klassen) und vermutlich eine zweijährige Anschluss-Ausbildung als Erzieherin. Auch wenn sich
hierüber keine beweisenden Dokumente, Schülerlisten o. ä. erhalten haben, ist der Sachverhalt aufgrund
der Determinanten der theresianischen Schulreform relativ eindeutig. 210
Drei Jahre nach der Besetzung der illyrischen Provinzen durch Napoleon Bonaparte, im Jahr 1812, leb te die nunmehr 24-jährige Anna Frisacco immer noch in Triest. Die Triestiner Rosolio-Produktion war inzwischen durch die französische Besetzung und die nachfolgende englische Seeblockade nahezu vollständig zum Erliegen gekommen, was jedoch das alte Geschäft der Frisaccos nicht mehr tangiert haben kann,
da es mangels eines männlichen Nachfahren längst aufgegeben war. Kurz zuvor hatte Anna Frisacco jenen französischen „Major Dalbon“ kennengelernt, nach dem sie sich später nannte. Dies mag als Indiz
dafür gelten, dass sie mit diesem Fremdling, mit dem sie nach eigener Aussage einige Zeit „in ungesetzlicher Ehe lebte“,211 tatsächlich ein Liebesverhältnis verband.
Ihre Mutter Theresia Frisacco, welche viele Jahre später in dieser Sache polizeilich vernommen wurde,
stellte den Sachverhalt etwas differenzierter dar als ihre Tochter Anna:
Jener „Major Dalbonne“ (so!) habe ihre Tochter zur Zeit der französischen Besatzung „zu Fall gebracht“, was wir nicht anders interpretieren, als dass er sie außerehelich geschwängert hatte. Nachdem
Anna Frisacco ihre Tochter Maria ausgetragen, geboren und einer Majorin an unbekanntem Ort zur Kost
gegeben hatte, soll sie im Jahr 1812 ihrem französischen Major, welcher angeblich zum geplanten
Russlandfeldzug Napoleons aufbrechen musste, bis nach Laibach gefolgt sein. Dort hätten sich beider
Wege getrennt; sie hätten sich nicht wiedergesehen: Der besagte „Major Dalbon“ soll im nachfolgenden
Winter 1812 beim Marsch nach Moskau oder zurück erfroren sein, während die verlassene Anna Frisacco
noch im selben Jahr nach Triest zurückkehrte. Ob es zuvor noch zur Heirat gekommen war, wusste nicht
einmal die Mutter. Das Kind der Anna Frisacco namens Marie soll nur 7 Jahre alt geworden sein; es starb
vermutlich im selben Konvent San Cipriano in Triest, in dem ihre Mutter erzogen worden war – „bei den
208 Siehe Daniele Andreozzi: Gli „urti necessari“. Dalla manifattura all'industria (1718-1914), in Roberto Finzi et al.
(Herausgeber): Storia economica de Trieste, Bd. 2, Triest 2003.
209 Daniele Andreozzi, a. a. O., S. 599.
210 Nähere Informationen über die theresianische Schulreform im Kaiserreich Österreich bei Gabriele Faimann:
Mädchenerziehung in den pädagogischen Schriften Johann Ignaz von Felbigers, Diplomarbeit der Universität
Wien, 2007. Zugrunde liegend die von Felbiger erarbeitete „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern“, Wien 1774. Zur „armen“ Mädchen schule in Triest finden sich Anmerkungen in mehreren zeitgenössischen Reisebüchern und in der Erinnerungsschrift des k. k. Staats-Obergymnasium in Triest, Triest 1892, S. 10.
211 Berichte der Anna und Theresia Frisacco, wiedergegeben bei Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 256f.
102
Klosterfrauen an Blattern“.
Der ominöse Major Dalbon war dem Dafürhalten nach ein Hochstapler und Heiratsschwindler, denn
weder war er ein Major noch starb er beim Russlandfeldzug. Zu diesem Schluss berechtigen uns zum
einen die genau geführten Toten-, Vermissten- und Verletztenlisten der Napoleonischen Feldzüge, in denen der Name Dalbon nicht ein einziges Mal vorkommt. 212 Zu anderen zählt hier die Tatsache, dass es zu
damaligen Zeit überhaupt nur zwei 2 Vertreter einer einzigen französischen Hochadelsfamilie Dalbon
oder besser d'Albon213 in Frankreich gab, die mit den napoleonischen Expeditionen in Verbindung gebracht werden können: André-Suzanne d'Albon und Charles-Bonaventure d'Albon. 214 Anna Frisaccos Geliebter entsprach keinem von beiden.
Gerade aus deren Familie kam allerdings nach 1815 die in mehreren Zeitungen veröffentlichte Meldung, dass sich zur Zeit der Französischen Revolution ein bürgerlicher Südfranzose den Titel und die Prärogativen eines echten „Comte d'Albon“ angemaßt hatte.215 Dieser Mann war der Sohn eines provenzalischen Tuchhändlers oder Bauern aus Guigue (alias Guigou) und nannte sich Jean Antoine Alexis de Guigue d'Albon.216 Dieser „comte d'Albon le faussaire“, der nach Henri Frebault im Jahr 1812 im Alter von
49 Jahren in Polen (bei Warschau) oder nach Jean-Marc Blanc in Westfalen gestorben sein soll – man be achte die Übereinstimmung mit den Angaben der Theresia Frisacco! -, halten wir gerade für den Major
Dalbon von Triest, der die Anna Frisacco vor 1812 schwängerte und in der Geschichte Kaspar Hausers
noch eine Rolle spielen wird!
Dieser entweder 1756 oder 1763 geborene Mann war um 1791 in die französische Revolutionsarmee
eingetreten, vermutlich bereits mit angemaßtem Adelstitel. Der Trick dabei war folgender: „de Guigue“
beschrieb ganz banal den Herkunftsort und suggerierte dennoch den Adel, denn es gab in der Frühge schichte des Hauses d’Albon mehrere berühmte, aber längst verstorbene Guigues d'Albon (mit einem -sam Ende).
Der falsche Adelige wurde, wie wir nachweisen konnten, zunächst „Gendarme“ bei der Militärpolizei,
am 21. September 1792 ist er als „Adjoint“ (unterer Stabsoffizier) in der Nordarmee (Teilarmee „de la
Belgique“ unter General Dumouriez) einem „Adjutant général“ zugeordnet. Schon 1793 fiel der Titelschwindel beim alten Adel auf, blieb aber revolutionsbedingt ohne Konsequenzen: Alle Adeligen wurden
künftig, wollten sie den Sturm der Revolution überstehen, als einfache „citoyens“ geführt - so auch die
echten Dalbons und eben dieser Hochstapler, der sich nun nur noch „Dalbon“ schrieb. Wann er die Armee verließ, ist nicht bekannt, aber er wird von damals eine Uniform behalten haben, mit der er viel leicht später die Anna Frisacco in Triest beeindruckte.
Noch in den Jahren 1794 oder 1795 heiratete er – wohl erneut unter Vorspiegelung der Angehörigkeit
zum Hochadel – die Tochter des völlig verarmten deutschen Grafen Franz Adolf Berghe von Tripps, Maria
Anna Berghe von Tripps. Wann diese Ehe zerbrach, aus der eine Tochter Zoe Emilie Theodora hervorging, die sich später in den englischen Adel hineinheiratete, ist uns nicht bekannt.
Kurz vor 1800 treffen wir plötzlich den falschen Grafen in der unmittelbaren Umgebung Napoleons an:
Am 10. November 1799 verteidigte er mit einigen anderen „Grenadiers“ unter Lebensgefahr persönlich
212 A. Martinien: Tableaux par corps er par batailles de officiers tués et blessés pendant les guerres de l'Empire
(1805-1815), Paris 1899, und Supplément, Paris 1909.
213 Der Ort Albon mit seinem Burgstall La Tour d'Albon liegt im Norden des Département Drôme, ca. 60 km südlich
von Lyon.
214 Die zuvor sehr weitläufige Grafenfamilie mit zahlreichen Vertretern war zur Zeit Napoleons bis auf eine einzige,
genealogisch sehr gut erfasste Familie ausgestorben. Siehe hierzu die umfangreiche Genealogie bei M. de Cour celles: Histoire généalogique et héraldique des Pairs de France, Bd. 12, Paris 1833, S. 1ff., hier speziell S. 53.
215 Siehe hierzu M. De Courcelles, a. a. O., S. 53. Auch: Biographie nouvelle des Contemporains …, Bd. 2, Paris
1821, Errata. Biographie des hommes vivants …, Bd. 1, Paris 1816, S. 30f. Le défenseur, Paris 6. Janvier 1821, S.
65.
216 Die meisten Angaben inklusive des Stammbaumes bei Jean-Marc Blanc: Jean-Antoine Guigues, faux „Comte
d'Albon“ in: La Revue Héraldique & Généalogie, Bd. 174, Januar/März 2005, S. 18ff., und Bd. 175, April/Juni
2005, S. 112.
103
Napoleon Bonaparte und dessen Bruder Lucien - beim Staatsstreich im Schloss Saint-Cloud! Diese Ergeb enheit verschaffte ihm anschließend einen steilen Aufstieg: Als Kriegskommissar war er ab sofort für der
Verproviantierung von Napoleons Armeen zuständig!
Um diese Zeit muss sich Jean Antoine Alexis de Guigue d'Albon zum zweiten Mal verheiratet haben,
nunmehr mit Cathérine de Lamboley, einer adeligen Pariserin. Aus dieser Ehe gingen drei Söhne hervor.
Am 13. Januar 1800 erfolgte der
Aufstieg des „citoyen Dalbon“ vom
Kriegskommissar der 2. zum Kommissar der 1. Klasse.217 Wenig später
operierte er bereits als leitender
„commissaire ordonnateur“, d. h. als
Chef-Organisator des Nachschubs im
2. Koalitionskrieg, und er bereitete die
Alpenüberquerung Napoleons vor –
kurz vor der Schlacht von Marengo. 218
Durch diese Tätigkeit, die ihn über
Martigny im Wallis219 bis nach Como in Abb. 87: Dalbons Château de Jouy en Josas heute.
Italien führte,220 muss Dalbon in kurzer
Zeit sehr reich geworden sein: Ab 1799 erwarb er einige dem alten Adel entrissene Nationalgüter, u. a.
das Schloss in Jouy-en-Josas bei Paris.
Doch dann kam es unter dem Regime Napoleons zum tiefen Fall, nachdem man den Kriegskommissar
Dalbon zusammen mit dem „Fournisseur“ Combe einer größeren Unterschlagung überführt hatte. Es soll
damals um 100 000 Ècus gegangen sein! Die Vorwürfe bestanden schon seit 1801, der nachfolgende Pro zess fand sogar Niederschlag in einem Handbuch der Justiz. 221
Über die Listen des „Etat militaire“ kann man den falschen Dalbon noch bis 1804 in steter Abwärtskurve weiterverfolgen: Erst verlor er den Chefposten des „Commissaire ordinateur“, dann die 1. Klasse. Zuletzt war er „Commissaire de guerre“ 2. Klasse von Italien, in der Provinz Cisalpine, danach verschwand
er mit Ende der Republik ganz von der Bildfläche – exakt zu dem Zeitpunkt, als sich Napoleon zum Kaiser
des „Empire franҫais“ krönen ließ und damit die Restitution des alten Adels einleitete. 222
Da man Dalbon von diesem Zeitpunkt an auch in keiner anderen Funktion in Frankreich oder Italien
wiederfindet, muss der falsche Graf in den Untergrund gegangen sein! Es ist denkbar, dass er eingedenk
seiner früheren polizeilichen Ausbildung unter einem Decknamen als „Agens de la police secrète“ weiter
für Frankreich arbeitete. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er wegen seiner Entmachtung zum entschiedenen Napoleon-Gegner konvertierte und ab sofort für die englisch-österreichische Gegenseite arbeitete. Ein Bericht der französischen Geheimpolizei vom 14. April 1809 spricht etwas geheimnisvoll und
vorderhand nicht durchschaubar von „escroqueries envers les emigrés d'Albon et Vanschorel – Betrügereien gegenüber den Emigrierten d'Albon et Vanschorel“ 223 Entnehmen wir wenigstens dem Bericht, dass
d'Albon im Jahr 1809 definitiv nicht mehr in Frankreich weilte. Wohin er zuvor emigriert war, bleibt leider unerwähnt.
217 Die Ernennung erfolgte durch den Abteilungschef im Kriegsministerium Pierre Daru. Siehe Généalogie et Hi stoire de la Caraibe, n° 221, Januar 2009: http://www.ghcaraibe.org/bul/ghc221/q221.html.
218 Hierzu auch drei Briefe im Staatsarchiv Wallis, CH AEV, H 9.229-231, Stichwort Dalbon.
219 „Wo er schon lange lebte“. Originalton Napoleon Bonaparte in einem seiner Briefe an General Lannes. Siehe
Correspondance de Napoléon Ier …, Bd. 6, Paris 1866, Brief Nr. 4785.
220 H. Leplus: La Campagne de 1800 …, Paris 1908, S. 348f.
221 H. Debraye, L. Royer: Stendhal - Journal, Bd. 1, Paris 1923, S. 5f. Auch Dalloz: Jurisprudence du XIXe siècle …,
Bd. 5, Brüssel 1826, S. 225. Siehe auch Maurice Messiez et Christian Sorrel: La deuxième Campagne d'Italie et
les conséquences de la Bataille de Marengo, Mémoires et documents, Bd. 103, 2001, S. 175.
222 Siehe Ètat militaire de la republique Française, Paris, An X (1802), An 11 (1802), An 12 (1804).
223 Ernest d'Hauterive: La police secrète du premier empire..., Nouvelle Série 1809-1810, Paris 1964, S. 15.
104
Später ist einer seiner Söhne, Paul Alexis Alfred Guigue d'Albon, auf der fernen Insel Martinique, und
ein weiterer, Amilcar Guigues d'Albon, auf der Insel La Reunion nachgewiesen. 224 Beide hatten offensichtlich im Mutterland Frankreich keine Karriere- und Lebenschance! Von „emigriert“ im eigentlichen Sinn
kann bei diesen Söhnen jedoch nicht die Rede sein, denn beide Inseln gehörten 1809 zum französischen
Staatsgebiet. Ihr Vater Jean Antoine Alexis de Guigue d'Albon muss zuvor in ein anderes, nicht-französisches Land gewechselt sein!
Dalbon sen. blieb wie vom Erdboden verschluckt – solange, bis er vermutlich eines Tages in Triest
unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei der jungen Anna Frisacco auftauchte, diese verführte,
schwängerte und anschließend wieder verschwand! Lieber starb er 1812 einen fingierten „Kältetod“, als
dass er sich mit Anna Frisacco verehelicht bzw. eine illegal geschlossene Ehe realiter mit ihr geführt
hätte. Dies war aber auch schlecht möglich, denn Dalbon sollte damals immer noch mit Cathérine de
Lamboley in Paris verheiratet gewesen sein!
Der Zuneigung der Anna Frisacco tat die schnöde Trennung in Laibach keinen Abbruch. Zurück in
Triest, nannte sie sich nach ihrem gefallenen Geliebten ab sofort „Dalbonne“ und entband wenig später
nach Angaben ihrer Mutter von einer gemeinsamen Tochter namens Marie, welche sie wiederum an un genanntem Ort einer Majorin in Kost und Logis gab, ehe das Kind im Alter von 7 Jahren starb. Ein konkre ter Grund für das Weggeben ihres Kindes, das ein Bericht der Triester Polizeidirektion vom 26. April 1831
bestätigte, war nicht zu eruieren.
Der Wiener Hofklatsch brachte Jahre später die Gouvernante Dalbonne mit der Familie Napoleons in
Verbindung, allerdings nicht mit Stephanie de Beauharnais, bei welcher sie der Erbprinz-von-BadenTheorie nach als „Bonne d'enfant“, d. h. als Kindermädchen, eine Zeit lang gedient haben soll. Dies ist
eine verwegene Behauptung, die durch nichts abgesichert ist! Dagegen ist sicher, dass die Dalbonne bei
der Königin von Neapel, Caroline Bonaparte, angestellt war, der Schwester Napoleons.
„Vor hin war sie Garderobierre bei der Muratt …“ meldete die Baronin Pérenyi de Perény aus Pressburg.225 Die „Muratt“, das war keine andere als Caroline Bonaparte, die seit 1800 mit eben jenem französischen General Joachim Murat verheiratet war, den Dalbon 1799 zusammen mit Napoleon in Saint
Cloud unter körperlichem Einsatz und Lebensgefahr verteidigt hatte! Zuvor allerdings soll Anna Frisacco
auch bei Jérôme Bonaparte, dem Bruder Napoleons und König von Westfalen, angestellt gewesen sein
und an dessen Hof viele Persönlichkeiten von Einfluss kennengelernt haben. 226
Lange Zeit gab uns diese Protokollnotiz Rätsel auf, denn wie hätte in diesen unruhigen Zeiten eine
noch blutjunge Frau aus Triest plötzlich an den Hof in Kassel kommen sollen. Erst als wir die Dinge auf
der Zeitachse beachteten, wurde uns der Zusammenhang klar:
Es war nicht die Dalbonne, die nach Neapel oder Kassel kam, sondern die Geschwister Napoleon Bonapartes kamen zu ihr – nach Triest!227
•
Jérôme Bonaparte und seine Gattin Katharina, vormals König und Königin von Westfalen, weilten von Sommer 1814 bis März 1815 und dann noch ein zweites Mal zwischen 1819 und März
1823 in Triest, nachdem nach der Abdankung Napoleons die Lage in Westfalen für sie zu unsi cher geworden war. Alle Kinder des königlichen Paares wurden in Triest geboren: Jérôme Napoleon Karl, geb. am 24. August 1814, Mathilde Laetitia Wilhelmine Bonaparte, geb. am 27. Mai
1820, Napoleon Joseph Karl Paul Bonaparte, geb. am 9. September 1822! Mit dem „Hof Jérômes
Buonapartes“ war also nicht der Hof in Westfalen, sondern derjenige in Triest gemeint – und die
Dalbonne ging dort dem Königspaar von Westfalen bei der Versorgung ihrer Kinder zur Hand!
224 Généalogie et Histoire de la Caraibe, n° 221, Januar 2009, a. a. O.
225 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 239f. Vgl. hierzu auch unsere Veröffentlichung der verbliebenen Wiener Akten
(Transkription von Frau Sylvia Kemming) zu Kaspar Hauser unter: http://www.robl.de/hauser/hauser.html.
226 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 240.
227 Die folgenden Angaben entnahmen wir überwiegend der Biographie von Jules Bertaut: König Harlekin, das Le ben des Jérôme Bonaparte, Wien/Berlin/Stuttgart 1959.
105
Nach Napoleons Rückkehr aus dem elbanischen Exil am 1. März 1815 gelang es Jérôme, heimlich
aus Triest zu fliehen. Katharina musste Triest daraufhin ebenfalls verlassen und sollte nach Prag
gehen, blieb aber bis zum 15. Mai zunächst in Graz und kehrte dann zu ihrem Vater nach Stuttgart zurück. Inzwischen hatte Jérôme am Feldzug gegen Österreich teilgenommen, war anschließend in See gestochen und, von den Engländern verfolgt, wieder zurückgekehrt, um an der für
Frankreich und Napoleon desaströsen Schlacht von Waterloo teilzunehmen. Nach Napoleons
endgültiger Abdankung am 22. Juni 1815 tauchte er zunächst in Frankreich getarnt als Weinhändler unter. Fouché gelang es im Weiteren, ihm Ende Juli 1815 ein Asyl bei seinem Schwiegervater zu vermitteln.
•
Über Caroline Bonaparte, die jüngste Schwester Napoleons, läuft eine zweite Spur in die Heimat
der Dalbonne: Noch vor der Hinrichtung ihres Gatten Joachim Murat am 13. Oktober 1815, genau im Mai 1815, floh Caroline vor einem Aufstand in Neapel auf ein englisches Kriegsschiff und
wurde Anfang Juni vom österreichischen Oberbefehlshaber Neipperg nach Triest gebracht, wo
sie aber nur drei Monate mit ihrem Sohn Achille bleiben durfte.
Anna Frisacco dürfte hierzu aus der Entourage Jérômes direkt in diejenige seiner Schwester Caroline gewechselt sein!
•
Die österreichische Regierung verfügte, dass sich Caroline Bonaparte alsbald nach Schloss Hainburg in Österreich begab, wo sie von der Hinrichtung ihres Mannes
im Oktober 1815 erfuhr. Im Jahr 1817 wechselte Caroline Murat in das neu erstandene Schloss Frohsdorf südlich von Wien. Dort soll sie einige Jahre verbracht haben, wobei sie später auch noch Schloss Orth zwischen
Wien und Pressburg hinzuerwarb. Gut möglich, dass
Anna Frisacco die Caroline Murat nach Österreich begleitete und ihr noch als Garderobiere diente, als deren
Kinder (geb. 1801, 1803 und 1805) keine Erziehung
mehr benötigten! In dieser Zeit wird die Dalbonne auch
erste Kontakte nach Ungarn geknüpft haben. Nach dem
Tod Napoleons am 5. Mai 1821 gestattete man allerdings Caroline, wieder zurück nach Triest zu gehen, wo
sie die „Villa Campo Marzo“ übernahm, die ihre 1820
verstorbene Schwester Elisa hinterlassen hatte. Caroline blieb unter dem Decknamen „Gräfin von Lipona“228
bis 1831 in Triest und starb am 18. Mai 1839 in Florenz. Abb. 88: Rebecca Solomon: Die GouvernAnna Frisacco hatte vermutlich Caroline Bonaparte ante, Gemälde von 1851.
nach Triest zurückbegleitet!
•
Im Jahr 1815 traf auch noch die Schwester Carolines und Jérômes in Triest ein, Maria Anna (Elise) Bonaparte. Sie lebte mit ihren Kindern als Gräfin von Campignano in und bei Triest bis zu ihrem Tod am 7. August 1820.
•
Als Jérôme Bonaparte 1819 erneut nach Triest kam, trat Anna Frisacco wieder in dessen Dienste - allerdings nur bis 1822.
Jérômes Schwiegervater, der König Friedrich I. von Württemberg, hatte inzwischen erreicht, dass
er und seine Gattin Katharina unter dem Titel „Fürst und Fürstin von Montfort“ auf Dauer in Ös terreich bleiben konnten. So lebte das Paar unter dem Montfort-Titel einige Jahre in Triest, „hielt
einen königlichen Hofstaat und entwickelte in seinem Palais, dem jetzigen Admiralitätsgebäude,
228 Lipona, eine Silbenvertauschung für Napoli.
106
eine große Pracht“.229 Jérôme litt in der Folge allerdings zunehmend unter der Einschränkung seiner Hofhaltung und versuchte 1821, nach Rom auszuwandern, was ihm auf dem Veroneser Kongress im Herbst 1822 schließlich gestattet wurde. Im März 1823 zogen Jérôme und Katharina in
die Ewige Stadt.
•
Nach Beendigung ihres Dienstes beim ehemaligen König von Westfalen findet man die Dalbonne dann 1822 erstmals in Ungarn, zunächst in Pest.
Von dort brachte sie ein Waisenkind nach Triest,230 wie ein Rapport vom 30. März 1830 berichtet:
„Es gehörte dieses Kind einem Triestiner Kaufmann Ambroschitz an, welcher eine Pester Bürgerstochter geheiratet hatte und hier samt seiner Frau mit Hinterlassung eines
Kindes vor vielen Jahren starb; welches Kind der damalige Stadtrichter Franz Szlatiny als
durch Testament aufgestellter Tutor mittels dieser Dalbonne nach Triest zu seinen väterlichen Verwandten bringen ließ.“231
In einem Geheimbericht des ungarischen Hofkanzlers Adam Graf Reviczky von Revisnye (Wien,
27. Februar 1830) wurde das Kind Gabriele Brosits, Enkelin der Katharina Brosits in Triest, ge nannt und mitgeteilt, die fragliche Angelegenheit habe sich im Jahr 1822 zugetragen. In Triest al lerdings verschwand dieses Kind auf Nimmerwiedersehen:
„Vor Jahren nämlich hatte sie ein Kind von Ofen nach Triest gebracht, und das Kind war
dann, man wusste nicht recht wie und wo gestorben, verschollen. Auf Hauser passte das
zwar freilich nicht, aber es war doch immerhin so etwas wie die geheime Beseitigung eines unschuldigen Kindes, und wer weiß, irgendein Zusammenhang ließ sich wohl noch
herstellen …“232
In der Quintessenz dieser eigenartigen Geschichte erwarb oder benutzte die Dalbonne nachweislich im Jahr 1822 ihre Erfahrung und ihre Verbindungen, um ein fremdes Kind von der einen in
die andere, weit entlegene Hafenstadt Triest zu bringen und dort möglicherweise verschwinden
zu lassen. Wir werden darauf zurückkommen!
•
Anna Frisacco selbst ging nach 1822 wieder nach Ungarn zurück, wo sie vielleicht die verwitwete
Sternkreuzdame Marianne von Majthényi in Ofen als Erzieherin und Gouvernante ihres Sohnes
in ihre Dienste geladen hatte. Diese Stellung hatte sie ca. fünf Jahre inne – zwischen Mitte 1823
und Mitte 1828 -, wobei sie bei Frau von Majthényi deutlich früher als Johann Samuel Müller
Anstellung fand, der wiederum nur 1,5 Jahre in diesem Haus blieb, zwischen 1824 und 1827. 233
•
Zu unbekanntem Zeitpunkt holte Anna Frisacco alias Dalbonne ihre Mutter nach Ungarn nach
und brach damit ihre Zelte in Triest ganz ab: Am 27. Mai 1830 berichtete Graf Reviczky an Fürst
Klemens Wenzel Lothar von Metternich, es sei aus den Akten der Triester Polizeibehörde ersicht lich …
„…dass ihre Mutter Theresia Frisacco mit einem Passe vom 9ten Maji 1828, Zahl 9460,
von der genannten Behörde versehen, nach Ungarn reisete, und zu diesem Zwecke in
Triest aus ihrem auf 800 fl. Conv. Münze reduzierten Kapital 100 fl. erhob und sich über
die anderen 700 fl. eine Anweisung auf den Kaufmann Johann Schaffer in Pesth ertheilen
ließ.“234
Demnach muss Frau Frisacco sen., die später in Ofen in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebte,
229 Jakob Löwenthal (1807-1882): Geschichte der Stadt Triest, Teil 2, Triest 1859, S. 146.
230 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 240.
231 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 257.
232 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 243.
233 Sylvia Kemming, persönliche Mitteilung.
234 Zum Vergleich unsere Veröffentlichung der Wiener Akten, transkribiert von Frau Sylvia Kemming, a. a. O.
107
einst durchaus wohlhabend gewesen sein. 235 Johann Samuel Müller unterstellte später, der Zuzug
der Mutter sei nur mit Geldern aus dem Fall Kaspar Hauser finanziert worden (siehe oben).
Ziehen wir an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz:
Anna Frisacco alias Dalbonne arbeitete bereits in jungen Jahren nacheinander in der unmittelbaren
Umgebung von zwei hochrangigen Mitgliedern der Familie Napoleons. Auf der anderen Seite scheint sie,
wenn man dem Zeugen Johann Samuel Müller glauben darf, beim Entführungsfall Kaspar Hauser eine
Rolle gespielt zu haben. Außerdem hatte sie intimen Kontakt mit einem Franzosen, der sich dem Dafürhalten nach von einem begeisterten Napoleon-Anhänger in einen verbissenen Napoleon-Feind verwandelt hatte und vermutlich aus dem Untergrund heraus gegen Frankreich agierte. Dieser wiederum hatte
beim Staatsstreich Napoleons am 18. Brumaire VII des französischen Revolutionskalenders (9. November
1799) entscheidenden Anteil genommen und direkte Bekanntschaft sowohl mit Napoleon als auch mit
General Murat gemacht.
Damit stellt sich die Frage, ob nicht dieser Mann die Anna Frisacco, nachdem er sie um den Finger ge wickelt hatte, ein wenig in der französischen Sprache unterrichtete und ihr aufgrund seiner früheren Be ziehungen zum Hof der Bonapartes und der Murats nicht allgemein bekannte Interiora der Familie Bonaparte verriet, was ihr später zu gute kam, um bei dieser hohen Familie eine Anstellung zu finden.
Möglicherweise wurde Anna Frisacco durch ihren geliebten Dalbon auch erstmalig von der Notwendigkeit des Kampfes gegen das napoleonische Regime überzeugt, was ihr später das Motiv gegeben haben mag, für die Antibonapartisten eine Agententätigkeit zu übernehmen. Für eine solche Tätigkeit
wird sich jedenfalls in ihrem weiteren Leben eine augenscheinliche Entsprechung finden.
In diesem Zusammenhang haben wir nun auch das erste Arbeitsverhältnis der Dalbonne zu beleuchten, das bisher nicht zur Sprache kam. Von diesem erfahren wir durch einen einzigen Satz aus einem Geheimbericht aus Pest vom 27. Februar 1830, der ohne Anrede verfasst und von Sittenberger wiedergege ben wurde:
„Die Dalbonne sei nach vollendeter Erziehung, die sie in einem Kloster genossen, zunächst
beim bayerischen Hof in Dienst getreten.“236
Dies ist eine Nachricht von hoher Brisanz: Anna Frisacco hatte um 1800 ihre Schulzeit beendet und
trat anschließend als ca. 12-jähriges Mädchen in den Dienst des bayerischen Hofes!
Der einzige „bayerische Hof“, der zu dieser Zeit für die heranwachsende Erzieherin in greifbarer
Nähe lag, war der Exilhaushalt der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine von Österreich-Este!
Maria-Leopoldine residierte damals entweder im „Palazzo Lantieri“ in Gorizia, im Lantieri-Schloss in
Wippach oder in einem Stadthaus der Lantieri in Laibach. Der erstgenannte Ort lag nur km 20 km Luftlinie von Triest entfernt, der letztgenannte 75 km.
Aus der Stepperger Zeit Maria-Leopoldines ist bekannt, dass sie gerne junge Leute und Kinder in ihrem
Haushalt aufnahm. Vermutlich waren es nun die Beziehungen zur Familie Frisacco, welche der KurfürstinWitwe nicht nur ermöglichte, ihren Haushalt zu führen, sondern auch ihren ungewollten ersten Sohn,
von dem sie vermutlich im Jahr 1800 oder 1801 entband, auf relativ humane Weise loszuwerden. Dass
dieser prinzipiell Kaspar Hauser entsprochen haben könnte, haben wir oben diskutiert; sehr wahrschein lich ist die Personenidentität jedoch nicht.
Triest als Freihafen war in dieser Zeit der Zielort vieler ungewollter Kinder aus dem ganzen Kaiserreich;
das dortige Waisenhaus musste deshalb immer wieder erweitert und dabei sogar Kinder in die Dörfer
der Umgebung ausgelagert werden. Nach der Besetzung Triests durch die Franzosen im Jahr 1809 wurden die Findelkinder im „maison des pauvres et des enfants trouvés“ zu einem besonders gravierenden
Problem; man musste damals sogar zusätzliche Hospize in Triest zu deren Aufnahme schaffen. 237
235 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 258.
236 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 240.
237 Siehe Verordnung im Télégraphe Officiel, Nr. 10, Trimester1, vom 2. Februar 1811, S. 39. Angaben auch bei M.
108
Den männlichen Kindern winkte dabei das Schicksal, nach einigen Jahren
im Waisenhaus auf eines der Seeschiffe
als Schiffsjunge gebracht zu werden.
Dies war ein Schicksal, das vielen Müttern in Not, die ihr Neugeborenes nicht
selbst versorgen konnten oder wollten,
durchaus erträglich erschien; also wurde Triest als Hafenstadt, in der vor der
Besetzung durch die Franzosen jährlich
mehr als 2500 Schiffe vor Anker gin- Abb. 89: Aus dem Handbuch für Kaufleute für die Jahre 1785 und
gen,238 förmlich zum Mekka der unge- 1786, Leipzig 1786, Teil Triest S. 246.
wollten Kinder. Die Verstoßenen, die
bei den Seefahrern landeten, konnten sich bestenfalls in der Neuen Welt unter eigenem Namen eine le benswerte Existenz aufbauen, ohne der Alten Welt und damit ihren Eltern noch jemals zu Last zu fallen.
Selbst oder gerade Kinder aus dem Hochadel waren von solchen Lösungen betroffen – und MariaLeopoldines unerwünschter erster Sohn könnte in den Schicksalsjahren 1800 und 1801 dabei gewesen
sein.
Es mag aber sein, dass Maria-Leopoldine ihren Erstgeborenen damals nicht in das öffentliche Waisen haus von Triest, sondern in Obhut einer Familie vor Ort gab, die vielleicht sogar nach Ihrer Abreise in den
Adelspalast kam, in dem der Säugling geboren worden war, und diesen dort weiterhin ernährte und auf zog.239 Anna und Theresia Frisacco hätten sich für solche Dienste durchaus angeboten!
Wenn diese Hypothese stimmt, dann wäre Anna Frisacco schon in ganz jungen Jahren in die spätere
„Entsorgung“ eines hochadeligen Kindes auf dem Seeweg eingebunden gewesen!
Bei der oben genannten Gabriele Brosits
alias Ambroschitz wiederholte sich vermutlich der Vorgang zwei Jahrzehnte später; die
Großmutter in Triest, zu der das Kind verbracht werden sollte, wäre damit von den Erben des Kaufmanns nur vorgetäuscht worden! Immerhin verschwand auch dieses Kind
spurlos!
Ob Anna Frisacco ihrer Dienstherrin
Maria-Leopoldine im Jahr 1801 nach München und Stepperg folgte, ist nicht bekannt.
Sehr wahrscheinlich ist es nicht: Der MünchAbb. 90: Triest im 19. Jahrhundert.
ner Hofstaat der Kurfürstin-Witwe weist keine entsprechende Dienststelle mit ihrem Namen aus, also wird sie am ehesten in ihrer Heimat geblieben sein.
Zu späterem Zeitpunkt erinnerte sich aber Maria-Leopoldine an ihre Helferin in Triest und nahm sie
sehr wahrscheinlich erneut in ihre Dienste, um ein weiteres Kind verschwinden zu lassen. Dafür, dass
es sich dabei um Kaspar Hauser gehandelt haben könnte, werden wir noch einige Indizien beibringen!
Reichard: Itinéraire de poche …, Frankfurt 1809, S. 311. Oder: J. B. Engelmann: Manuel pour les voyageurs en Allemagne et dans les pays limithrophes, Frankfurt 1827, S. 297.
238 Vergl. die Zahlen von 1804 in: J. Löwenthal: Geschichte der Stadt Triest, Triest 1859, S. 54.
239 Die Suche von Pflegemüttern für Findelkinder ist z. B. im Kaiserreich Österreich für das Jahr 1811 dokumentiert. Siehe Miszellen in: Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, Nr. 32, 20. April 1811, S.
191.
109
Die Dalbonne und Johann Samuel Müller im Haus Majthényi
Vielleicht sollte man an dieser Stelle kurz über die Familiengeschichte der adeligen Frau Majthényi be richten, welche die Dalbonne und Johann Samuel Müller in ihre Dienste genommen hatte. Sie stand spä ter zeitweise unter dem Verdacht, die Mutter Kaspar Hausers zu sein.
Die Baronin Maria Anna Majthényi war
eine geborene Slovakin namens Bartakovics
(oder Bartakovich) und stammte aus Szalakusz bei Neutra, dem Stammsitz ihrer Familie. Geboren wurde sie im benachbarten Kis
Apony, dem heutigen Ort Ponice. Da es keinen männlichen Nachfahren in ihrer Familie
gab und ihre einzige Schwester zu den Englischen Fräulein in St. Pölten eingetreten war,
hatte sie den ganzen Familienbesitz geerbt,
was aber nicht viel bedeutete, da dieser relativ bescheiden war. Möglicherweise hatte
sie sogar Schulden übernommen. „Die Bartakowich haben nichts“, schrieb Freiherr von Abb. 91: Die Burgstadt Ofen gegenüber von Pest. Zentral der soTucher bezeichnenderweise am 13. Oktober genannte Paradeplatz, an dessen nördlichem Ende das Stadthaus der Majthényi lag (siehe auch Bild unten).
1831 an Paul Anselm von Feuerbach.240
Ehe Maria Anna Bartakovics im Jahr 1812 den relativ reichen k. k. Kämmerer Imre Majthényi heiratete, war sie in erster Ehe mit dem steiermärkischen Grafen Franz von Stubenberg-Kapen aus Graz 241 verheiratet gewesen, „einem alten Mann“, der „ebenso wenig etwas hatte“. Zu welchem Zeitpunkt und
unter welchen Umständen Frau von Majthényi in den hohen Stern-Kreuz-Orden aufgenommen wurde
und den Titel k.k. Palast-Dame erhielt, ist uns unbekannt. 242
Auch das zweite Eheglück der Bartakovics mit Imre Majthényi währte nur kurz, denn der Kämmerer
verstarb am 12. September 1822 im Alter von nur 32 Jahren. Aus dieser zweiten Ehe gingen mindestens
drei Kinder hervor, zu denen der namentlich nicht bekannte Sohn gehörte, den Johann Samuel Müller
unterrichten sollte. Er war vermutlich der Erstgeborene. Von den Töchtern wurden uns namentlich eine
Hortensia und eine Adriana bekannt. Hortensia starb bereits am 18. Januar 1818 im Alter von 2 Jahren.
Die nachgeborene und von der Dalbonne zwischen 1823 und 1828 betreute Tochter hieß Adriana. Im
Jahr 1821 geboren, wurde sie nur 16 Jahre alt; sie starb am 11. Juli 1837 in Pest an einer schweren Lun genkrankheit, vermutlich Tuberkulose.
Der eigentliche Stammsitz der Familie Majthényi lag in Solymár, 243 einem wenige Kilometer westlich
von Budapest im Ofener Bergland gelegenen Dorf, welches zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach der Be freiung von den Türken von Donauschwaben besiedelt worden war. Als führende Großgrundbesitzer verfügte die Familie Majthényi, die wie die anderen Familien des Dorfes deutsche Wurzeln besaß und einst
Milbich geheißen hatte, in Solymár über einen stattlichen Landsitz und weitläufige Liegenschaften, wozu
auch die Nachbardörfer Vörösvar und Szentiwán gehörten. Im Jahr 1770 hatte der Großvater Imre Ma 240 Daumer, Wesen, S. 454.
241 Der Graf war am 12. September 1774 in Graz geboren worden. Er verstarb am 24. Juni 1811 und nicht 1809,
wie von Tucher behauptet.
242 So z. B. ausgewiesen bei Franz Schams: Vollständige Beschreibung der königl. freyen Haupt Stadt Ofen in Ungarn, mit 3 Ansichten, Ofen 1822, S. 472. In dieser Quelle erwähnt als Gräfin Marianne Brunsvik-Majthény, wohl
zur Unterscheidung von Gräfin Jeanette Batthyány-Majthény, welche in der unteren Christina-Stadt residierte,
oder Julie Gräfin Brunsvik im Neustift. Diese beiden Damen gehörten ebenfalls dem österreichischen SternKreuz-Orden an.
243 Deutscher Name „Schaumar“ bzw. übersetzt „Falkenberg“.
110
jthényis, Karl Majtényi, mit seinen 4 Töchtern und 4 Söhnen den Ruhm der Familie begründet. Als Staatsbeamter war er unter Maria Theresia zu hohen Ehren gekommen und hatte u. a. in Solymár eine neue
Kirche zu Ehren der Mutter Gottes bauen lassen, in der er sich nach dem Tode zusammen mit seiner Frau
bestatten ließ. In dieser katholischen Kirche, die heute noch steht, wurde aber nicht nur das Stifter-Ehe paar begraben, sondern eben auch der Enkel Imre, und 1857, am Ende eines 76-jährigen Lebens, auch
Maria Anna Majthényi. Die Gräber können noch heute besichtigt werden.
In der Zeit, in der sich im Haus Majthényi das Treffen Johann Samuel Müllers mit der Gouvernante Dalbonne abspielte (um 1825/26), residierte die adelige
Witwe, die auch Mitglied des berühmten Sternkreuzordens war, mit ihren Kindern abwechselnd auf
ihrem Landsitz in Solymár oder in ihrem Stadthaus in
Ofen (Abbildung unten).
Vielleicht sollte man an dieser Stelle einen Umstand
erwähnen, welcher unten bei den Sprachtests Kaspar
Hausers weiterer Berücksichtigung bedarf: Im Haus
Majthényi wurde höchstwahrscheinlich Deutsch oder
Slovakisch, kaum jedoch Ungarisch gesprochen. Eine
Dalbonne, welche vermutet Italienisch, Deutsch und
Slavonisch (mit dem Slovakischen nah verwandt) beherrschte, kann in diesem Umfeld kaum mehr als einige Grundkenntnisse im Ungarischen erlernt haben!
Um die Jahreswende 1829/1830 ging beim Stadtrat
von Ofen ein Schreiben des Nürnberger Stadt- und
Kreisgerichts mit der Bitte ein, den Domprediger Johann Samuel Müller wegen seiner in Ansbach anhänAbb. 92: Recht viel anders dürfte Maria Anna Majte- gigen Anzeigen zu verhören. Gleichzeitig wurde der
nyi, geb. Bartakovics, auch nicht gekleidet gewesen Stadtrat aufgefordert, Frau von Majthényi und vor alsein. Bild der Cousine ihres verstorbenen Mannes,
lem ihre ehemalige Gouvernante Dalbonne zu vernehAnna Majthényi, Mutter des ungarischen Dramatimen, welche zu dieser Zeit beim Tavernikus Regalium
kers Imre Madách. Seltene Aufnahme aus Solymár,
da das Familienarchiv der Majthény im 19. Jahr- Magister Fidél Graf Pálffy von Erdöd (*24.8.1788 +
1864) angestellt war, als Erzieherin seiner zweitgebohundert verbrannt ist.
renen Tochter Fidelia (*23.8.1821 +19.02.1843), nachdem eine erstgeborene Antonia noch im Geburtsjahr 1819 verstorben war. 244
Dieser ungarische Würdenträger, der mit dem Tavernikalstuhl nicht nur ein sehr hohes Richteramt in nehatte, sondern auch Oberstschatzmeister und für kurze Zeit sogar Hofkanzler (1837-1838) war, ist
nicht zu verwechseln mit Anton Graf Pálffy, den der Stanhope-Biograph Johannes Mayer in Zusammen hang mit Kaspar Hauser nannte und fälschlicherweise als Sohn des ersteren bezeichnete. 245 Anton Graf
Pálffy war u. a. Chef aller ungarisch-österreichischen Freimaurerlogen und bestens mit dem Gesandten
von Wessenberg und auch mit Lord Stanhope bekannt. Stanhope besuchte diesen Vertreter der weitläufigen Familie Pálffy 1826 in Pressburg, vereinbarte dabei Gegenbesuche in England und pflegte auch in
den Folgejahren Kontakte.246
Unseren Recherchen zufolge haben jedoch beide Zweige der Familie Pálffy nicht mehr gemeinsam als
den Namen, wenngleich verwandtschaftliche Beziehungen in den Vorgenerationen bestanden. Es handelt sich hier um die ältere nikolaische Hauptlinie versus die jüngste: Die einen residierten sozusagen als
244 Hierzu und zum Folgenden etliche Briefe in den von uns veröffentlichten Wiener Akten zu Kaspar Hauser,
a. a. O.
245 Mayer, Stanhope, S. 294.
246 Mayer, Stanhope, S. 226ff. und 239.
111
österreichischer Zweig in und bei Pressburg, der Dienstherr der Dalbonne vertrat jedoch mit seiner Gat tin Ernesztina Döry de Jobaháza (*12.2.1791 +1861) die ungarische Linie und residierte schwerpunktmä ßig in Ofen. Dieses Paar hatte außer den Töchtern noch einen erstgeborenen Sohn Constantin (*1816).
Nach der Anzeige Johann Samuel Müllers erklärte sich der Ofner Magistrat auf die Ansbacher Anfrage
hin für nicht zuständig und verwies die Sache an die Vizegespanschaft. Diese weigerte sich, einer auslän dischen Behörde Auskunft zu erteilen und schickte das Ersuchen an den Ofner Magistrat zurück. Von hier
aus schrieb man schließlich nach Ansbach, man möge das Anliegen bei der ungarischen Botschaft in
München vorbringen.247 Durch dieses Weiteradressieren im Kreis verstrich viel wertvolle Zeit – eine Zeit,
die Johann Samuel Müller dazu nutzte, eigene Zeugen aufzubringen, die sein Anliegen untermauern soll ten:
Schon am 28. Dezember 1829 hatte er seiner früheren Dienstherrin, Frau von Majthényi, geschrieben
und diese an die Szene in ihrem Haus in Ofen erinnert, wo sich ihm der Pfarrer Ludwig Würth aufge drängt habe. Der Unterzeichnete, heißt es da, wünsche …
„…von Euer Gnaden zu erfahren, ob Sie sich nicht auch daran erinnern, dass gedachter Pfarrer
Würth durch die Frau von Dalbonne, welche bekanntlich die Güte hatte, die Posten hin und her zu
tragen, nicht nur Geld anbieten, sondern auch drohen ließ.“
Mit der Dalbonne beschäftigt sich auch ein Sonderzettel,
den Müller seinem Brief beifügte:
„Im Vertrauen auf
den religiösen Sinn,
welchen der Unterzeichnete von jeher an
Euer Gnaden gekannt
und verehrt hat, erlaubt er sich auch Euer
Gnaden daran zu erinnern, dass ihm Euer Abb. 93: Die Lage des Hauses im Burgviertel von Ofen, in dem Johann Samuel
Gnaden voriges Jahr, Müller als Erzieher wirkte, ist letztlich unklar. Wahrscheinlich bewohnte Maria
als er mit dem Pfarrer Anna von Majthényi nach dem Tod ihres Mannes Imre mit ihren Kindern einen
Flügel des Majthény-Komplexes am Paradeplatz (Dísz tér) 8, den die Tante
von Solmár (= Solymár)
ihres verstorbenen Mannes, Maria Majthényi, geerbt hatte und später nach
bei Euer Gnaden speis- deren Ehemann István Marczibányi (1752-1810) benannt wurde. Die
te, erzählte, dass Frau Vorgängersubstanz wurde um 1800 durch ein stattliches Barockhaus mit Mitvon Dalbonne ihre telrisalit ersetzt, die Eingangspartie später klassizistisch umgewandelt. Nach
Mutter von Triest nach 1900 erfolgte eine zweifache Aufstockung und um 1970 der Abriss des historiOfen kommen ließ und schen Gebäudes, welches durch einen nichtssagenden Plattenbau ersetzt wurdaselbst ernähre. So de, der heute noch dort steht. Die historische Aufnahme stammt aus der Zeit
schön diese Tat auch in zwischen 1896 und 1900.
die Augen fällt, so verliert sie doch allen moralischen Werth, wenn man annimmt, dass Frau von Dalbonne auf Kosten
des armen Hauser in den Stand gesetzt wurde, dieses zu tun. Und dass dem also sey, … ist außer
Zweifel. Indes bittet der Unterzeichnete diese Bemerkung geheim zu halten, so wenig er auch
gegen die Mittheilung des übrigen Inhalts seines Schreibens einzuwenden hat … Auf jeden Fall
wird sich … ergeben, was es mit der Freimaurerei und mit dem Protestantismus auf sich habe.
Denn die vier Personen, die der Unterzeichnete namhaft machen konnte, waren Freimaurer, und
zwei darunter protestantische Geistliche.“248
247 Bericht des ungarischen Hofkanzlers Grafen Reviczky an Fürst von Metternich, Wien, 27. Februar 1830.
248 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 229f.
112
Diese Schreiben zeigten keinen Erfolg. Die Baronin Majthényi dementierte jegliche Mitwisserschaft
und sagte den ungarischen Ermittlungsorganen, sie erinnere sich an gar nichts. Müller gab jedoch nicht
auf. Er schrieb an die Gräfin nochmals am 30. Januar 1830 und führte dabei noch mehr Einzelheiten an:
„Da sich mir der Pfarrer Würth selbst wider meinen Willen aufdringen und in das Sitzzimmer
kommen wollte, Euer Gnaden aber bei Ihrer Damen Ehre sich dieses verbaten, ließ er Euer Gnaden durch die Guvernannte sagen, er könne nicht anders denken, als dass Euer Gnaden mit mir in
einem zu vertrauten Verhältnisse ständen, sonst würden Sie mich nicht so in Schutz nehmen —
worüber Euer Gnaden ganz entrüstet in die Worte ausbrachen: Honny soi, qui mal y pense! und
— forderten mich Euer Gnaden auf, jenes Sprüchwort mit lauter Stimme, dass er es hören könne,
deutsch zu sagen, was ich auch tat, sprechend: Ein Schelm, der Böses denkt! usw.“ 249
Diesmal antwortete die Gräfin gar nicht mehr, dagegen machte sie am 26. Februar 1830 folgende Aus sage in einem polizeilichen Verhör:
„Müller war als Erzieher, und Frau von Dalbonne als Gouvernante bei mir. Sie kamen auf Emp fehlung, und zwar Frau von Dalbonne ein Jahr früher. Sie blieb etwas über drei Jahre in meinem
Hause, Müller nur eineinhalb Jahre. Ich habe keine Kenntnis von der Sache. Müller hat schon in
seinen Briefen an mich auf meine Einbildungskraft einwirken wollen. Mit Dalbonne war ich recht
zufrieden. Gegen Müller hatte ich mehreres einzuwenden, da ich ganz den frommen Sinn und die
Ruhe des Geistes, die ein Erzieher haben soll, in ihm vermisste. Auch gab es mehrere unangeneh me Szenen wegen meines Sohnes, den er misshandelte, und dieserwegen musste er aus meinem
Hause. Ich begreife daher nicht, wie er sich unterfangen kann, mir solche Lügen vorzubringen. Es
scheint, als wolle er auf meine Einbildungskraft einwirken, wo ich nicht die dunkelsten Erinnerun gen hierüber habe, und ich erkläre, dass ich gewissenlos handeln würde, wenn ich nur eine Stelle
seines Briefes bezeugen wollte, da ich durchaus keine Kenntnis von der ganzen Geschichte
habe.“250
Mehr Glück hatte Johann Samuel Müller bei dem Pfarrer von Solymár, Franz Venisch, dem er am 1. Februar 1830 schrieb. Der deutschstämmige Franz (Ferenc) Venisch war zwischen 1823 und 1837 katholischer Pfarrer der Pfarrkirche „Unserer lieben Frau“ in Solymár. Allein aufgrund der Tatsache, dass er damit auch die Familiengräber der Familie versah, muss er ein guter Bekannter der Frau von Ma jthényi gewesen sein. Ab 1851 wirkte Franz Venisch als Pfarrer im benachbarten Vörösvár, einer Ort schaft an der
Straße von Budapest nach Esztergom und Wien, die ebenfalls zu großen Teilen der Familie Majthényi ge hörte.
Venisch erklärte in seiner Antwort vom 19. Februar 1830, er erinnere sich zwar keineswegs genau,
doch habe er sich gemerkt, dass ihm Müller von einer Reise nach Oberösterreich und von einem Attentat
erzählt habe. Von der Dalbonne wisse er zwar nichts, aber Müller hätte ihm einmal gesagt, dass ihm der
protestantische Konsistorialrat Glatz in Pressburg im Jahr 1828 eine bedeutende Summe Geldes angetra gen habe, ein Anerbieten, das er ausgeschlagen habe.
„Übrigens“, schrieb Venisch weiter, „da Sie mir so manches, als Sie sich mit Frau von Majthenyi
den Winter hindurch aufhielten, erzählten, machte ich Sie aufmerksam, daß dies Schlingen waren, um Sie zu fangen, namentlich mit dem Fräulein v. Gy (György? Gyula?) …, wo die Dalbon
ohne weiteres mitgespielt hat. Auch erzählten Sie mir, dass eine Parthey von Wien kommend sich
im Hause der Frau von Majthényi wohnhaft gemacht, wo man auf alle mögliche Weise in Sie
drang, diesen Leuten einen Besuch zu machen, Sie sich aber keineswegs bewegen ließen, diese
Leute zu besuchen, weil Sie dabey etwas bemerkten, das bey Ihnen großen Verdacht erweckte,
249 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 230f.
250 Dr. Julius Meyer: Authentische Mittheilungen über Caspar Hauser. Mit Genehmigung der königlich bayerischen
Staatsministerien der Justiz und des Innern zum ersten Male aus den Gerichts- und Administrativ-Acten zusam mengestellt und mit Anmerkungen versehen, Ansbach 1872, S. 551. Im Weiteren abgekürzt mit Meyer, Mitteilungen, Seitenzahl.
113
worunter auch die Dalbon im Spiel war.“251
Den Sachverhalt selbst, den der Pfarrer Venisch etwas im Unklaren gelassen hatte, klärte Müller in ei nem Bericht an die Oberste Polizei- und Zensur-Hofstelle in Wien am 9. März 1830 selbst auf:
„Des anderen Tages nachmittag (nach der Abweisung Würths) forderte mich die Guvernante
auf, ich möchte die Gräfin Péchy (de Péch) besuchen, sie wünsche mich kennenzulernen, nur
müsste ich vorher die Zeit bestimmen, wann ich kommen wolle u.s.f. Auf meine Bemerkung, ’hal ten Sie mich denn für so einfältig, daß ich mir nicht denken könne, wenn ich der Gnädigen Gräfin
jetzt sagen ließe, ich würde morgen um 10 Uhr kommen, so würde ich den Pfarrer Würth dort an treffen’, sagte die Frau von Majthényi: ’Sie haben recht, Herr Müller, es ist so! Wenn Sie mit dem
Pfarrer Würth nicht wollen zusammenkommen, so gehen Sie nicht hin oder lassen Sie sich wenigstens nicht zum voraus melden.’“
Johann Samuel Müller wollte demnach dem Pfarrer Ludwig Würth möglichst aus dem Weg gehen, weil
er sich nichts Gutes von einem solchen Treffen versprach.
Aus Franz Venisch' Schreiben stammt folgender Schlusssatz:
„ Es muss also doch etwas in der Sache seyn, ich muthmaßte sogleich, daß diese Gouvernante
Dalbon seyn müsste und daß ohne weiteres auch an Sie schon einige Punkte, über welche sie zu
antworten habe, in der Geschichte des armen Hauser ergangen seyn müssten. Ich erzählte so
dann, was Sie mir in Ihrem Briefe mittheilten.
Treuster Freund! Sie (sind) in Wahrheit ein Mann Gottes, und nur durch seinen Schutz konnten
Sie den vielfältigen Gefahren, mit welchen Sie ringsumher umgeben waren, glücklich entkom men. Innerstlich haben Sie den 22. Psalm, den Sie umarbeiteten, zu ihrem vertrauensvollen Gebothe gewählt. Sollten Sie späterhin so viel Zeit haben, mir in dieser Geschichte etwas Umständli cheres mitzuteilen, so wird es mich unendlich freuen. Welch ein Glück wird es für den armen un glücklichen Hauser seyn, wenn er durch ihre Entdeckung aus seiner Dunkelheit gezogen, in seine
wahren und rechtmäßigen Umstände versetzt wird. Der Allmächtige verleihe Ihnen Kraft und
Stärke, das Angefangene auch zu vollenden.“
Kein Zweifel: Johann Samuel Müller muss zuvor den Pfarrer Franz Venisch in einem solchen Umfang
über den Entführungsfall Hauser unterrichtet haben, dass dieser am Ende keine Zweifel daran hegte,
dass der Fall durch den Domprediger aufgeklärt würde, wozu er ihm viel Glück und Gottes Segen
wünschte!
Was aber das ominöse „Fräulein Gy …“ betrifft, das Franz Venisch erwähnte, so wollen wir an dieser
Stelle eine Meldung Tuchers nicht übergehen, die wir einem Brief an Feuerbach vom 29. März 1830 ent nehmen.252 Die Badische Gesandtschaft habe sich ehedem um eine Freilassung der Dalbonne bemüht.
Nach den Informationen Georg Zacharias Plattners, eines Nürnberger Industriellen, der später noch zur
Sprache kommen wird, hieß eine Hofdame der Markgräfin Amalie von Baden „von Ettelsheim“. Diese sei
mit dem Obersten Graf Gyulai (so!) aus Ungarn, Kommandierender in Böhmen, verheiratet gewesen. Es
handelte sich bei diesem Grafen vermutlich um Graf Albert oder Graf Ludwig Gyulai von Maros-Németh
und Nádaska, womit sich eine Spur nach Ungarn hinein ergibt, aber nicht zwangsläufig heraus. Ob sich
mit dem besagten Grafen eine Verbindung zum Fräulein „Gy …“ aus Venisch’s Brief auftut, müssen wir
leider offen lassen. Zwar könnte man sich über diesen Umweg die Dalbonne als badische Gouvernante
vorstellen, allerdings verlief die Ungarn-Spur ohne Ergebnis, wie noch aufzuzeigen sein wird, und im umgekehrten Fall ist in keiner Weise bezeugt, dass die Dalbonne je in Baden gedient hätte.
Die einzige Spur der Dalbonne führt, wie bereits zu vernehmen war, zum bayerischen Hof!
251 Hier zitiert nach Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 231f. Der vollständige Wortlaut in unserer Veröffentlichung der
Wiener Akten unter: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
252 Daumer, Wesen, S. 455.
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Die Niederschlagung der Affäre Dalbonne
Wenn man die oben genannten Dokumente genau analysiert, dann ist am ernsthaften Anliegen des
Johann Samuel Müller nicht zu zweifeln, wenngleich sich die Einzelheiten nicht recht erschließen. Nichts
spricht für ein vorsätzliches Denunziantentum; bei einem solchen hätte Müller mit Sicherheit den Kreis
der inkriminierten Personen viel kleiner gezogen, ja auf eine Person reduziert, damit wenigstens Aussage
gegen Aussage stünde; auch hätte er sich der Zuverlässigkeit seiner Zeugen vorher versichert. Im Übrigen
gab Pfarrer Franz Venisch aus Solymár die Bestätigung für die Wahrhaftigkeit der Müller'schen Angaben.
Eines ist sicher: Von einem gewissen Augenblick an wurde durch den Pfarrer Würth und die Gouvernante Dalbonne im Haus Majthényi heftig gegen Johann Samuel Müller intrigiert und auf ihn Druck
ausgeübt.
Dass die Dalbonne zu diesem Zeitpunkt tatsächlich „Dreck am Stecken“ oder Schuld auf sich geladen
hatte, manifestierte sich durch ihr weiteres Verhalten:
„Die Gouvernante kam zwar in die Sache wie Pontius ins Credo, aber ein Zufall bestärkte noch
den gegen sie gerichteten Verdacht. Durch den Pálffyschen Kanzlisten Nesztor hatte sie erfahren,
daß ihre Einvernahme bei Gericht bevorstehe. Aus Schreck darüber geriet sie in furchtbare Aufregung, sie schrie, man werde sie hinrichten, ohne ihre Verteidigung anzuhören, und trieb es so
arg, dass man sie wegen plötzlich ausgebrochenen Wahnsinns ins Spital bringen musste. Dort
hatte sie wiederholt förmliche Wutanfälle, sie zerschlug den Ofen und wurde deshalb gegürtet.
Konnte es einen besseren Beweis ihrer Schuld geben? So sprach das böse Gewissen. Manche allerdings wollten wissen, der Wahnsinn der Dalbonne sei Verstellung, aber natürlich kam sie dabei
nicht besser weg; denn durch die Verstellung machte sie sich erst recht verdächtig.“ 253
Als die Dalbonne am 26. Februar 1830 polizeilich verhört wurde, klang sie allerdings ganz vernünftig,
wenn das bei Julius Meyer wiedergegebene Protokoll stimmt:
„Ich heiße Anna Frisacco, bin aus Triest, katholisch, ledig, hier in Pesth werde ich gewöhnlich
Dalbonne genannt, von einem Manne (einem französischen Major), mit dem ich in Triest in unge setzlicher Ehe lebte. Ich war zuletzt Gouvernante bei Gräfin Pálffy und Erzieherin des Grafen Tavernicus. Ich kenne den Domprediger Müller von der von Majthényi her, ich erinnere mich nicht,
je einen Pfarrer Wirth gekannt oder auch nur dessen Namen je gehört zu haben. Von der fragli chen Bedrohung weiß ich gar nichts und kann mit Bestimmtheit behaupten, dass selbe durch
mich nicht geschah. Von der Verheimlichung eines Kindes ist mir gar nichts bekannt, sowie mir
das gar nicht bewusst ist, ob Müller von Wirth ein Geld bekommen, oder dass dieser jenem sol ches angeboten hätte.“254
Aus dem hohen Norden Deutschlands gingen weitere Hinweise zur Affäre „Dalbonne“ ein, nunmehr
vornehmlich bestimmt für die deutsche Öffentlichkeit.
Der dänische Justizrat Georg Philipp Schmidt von Lübeck schaltete sich in die Angelegenheit ein,
nachdem ihm entsprechende Informationen zugespielt worden waren – wir denken, von preußischer Seite. Zwei Hamburger Presseveröffentlichungen nahmen konkret auf die Dalbonne Bezug, der „Altonaer
Mercur“, 1830, Nr. 50, und der „Hamburger Correspondent“, 1830, Nr. 55. Detaillierter äußerte sich
Schmidt von Lübeck selbst im Jahr 1832, in dem kleinen Büchlein „Über Caspar Hauser“. Hier wird ein
weiterer Zeuge benannt:
Nach Aussage des Stadtpfarrers von Pest soll ein Pfarrer Winter aus Augsburg über die Affäre „Dalbonne“ bestens informiert gewesen sein! 255 Im Fall der Existenz des Pfarrers Winter wäre dies eine sehr wert253 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 238.
254 Meyer, Mitteilungen, S. 551f.
255 Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Über Caspar Hauser, Heft 2, Altona 1832, S. 33f. Im Weiteren abgekürzt mit
Schmidt, Caspar Hauser, Seitenzahl.
115
volle Quelle, da sie ja von den Anzeigen des Johann Samuel Müller unabhängig ist. Den seit 1819
amtierenden, katholischen Stadtpfarrer von Pest konnten wir als Dominik Feichtinger (nach anderer
Quelle Dominik von Feichtinger) identifizieren, 256 dagegen gelang es nicht, zum erwähnten Pfarrer
Winter eine verlässliche Quelle beibringen. Es bleibt also äußerst fraglich, ob dieser Pfarrer überhaupt je
existierte. Antonius van der Linde setzte ihn mit dem Pfarrer Würth gleich, der später tatsächlich in der
Nähe von Augsburg, in Leipheim, als Seelsorger wirkte. Im Gegensdatz zu van der Linde gehen wir aktuell
davon aus, dass in Schmidts Vorlage der Text verschrieben oder wenigstens schlecht leserlich gewesen
war, und nicht der Pfarrer Würth, sondern in Wirklichkeit der Landrichter (nicht Pfarrer!) Marquard
Winterich vermerkt war. Was es mit diesem Mann auf sich hat, dazu mehr später.
Wenn der Gewährsmann Schmidts von Lübeck prinzipiell korrekte Angaben gemacht hatte, was man
wegen der Reputation des Justizrates an sich annehmen sollte, dann stimmt wohl auch die Information,
dass die Dalbonne von ihrem Dienstherrn Pálffy persönlich bei einem Zimmerverhör zu Rede gestellt
wurde, sich dabei aus Betroffenheit auf die Knie stürzte und inständig bettelte, sie nicht auf das Schafott
zu bringen. Nach dem Verhör habe sie eine plötzliche geistige Umnachtung simuliert; sie habe sich erst
ins nahe Elisabethen-Kloster und dann in das Pressburger Rochus-Spital geflüchtet. Zeuge dieser Szene
sei ein Baron N. N., ein Freund des Grafen Mérey, gewesen. Womit klar wird, dass der genannte Graf
Mérey, von dem wir weiter unten noch viel mehr zu berichten wissen, der primäre Gewährsmann
Schmidts gewesen sein dürfte.257
Ab demselben Frühjahr 1830 wurde im Kaiserreich Österreich das Untersuchungsverfahren bezüglich der Dalbonne auf höchsten politischen Wink hin niedergeschlagen:
Es begann damit, dass die vermeintlich geisteskranke Gouvernante mit einem sie entlastenden medizinischen Gutachten ausgestattet wurde:
„Der behandelnde Arzt Dr. Windisch berichtete, ihr Nervensystem sei von jeher zu Krämpfen
geneigt gewesen und durch die Ereignisse besonders aufgeregt worden. Die Furcht vor Schande
habe sie außer sich gebracht, das Gefangenhaus ihr große Angst eingeflößt. Sie habe sich einge bildet, man werde sie in die Donau werfen oder vergiften. Durch entsprechende Behandlung besserte sich ihr Zustand völlig, so dass sie sich beim Verhöre ganz ruhig und gelassen benahm.“ 258
In einem anonymen Brief aus Wien, welcher am 26. März 1830 vom Publizisten Moritz Gottlieb Saphir
in seinem Frühstücksblatt „Der Bazar für München und Bayern“ veröffentlicht wurde, klang der ganze
Vorgang allerdings wesentlich anders:
„Vor wenig Tagen ist in Ungarn eine Erzieherin des fürstlich ****schen Hauses, die sich früher
längere Zeit in Gesellschaft des großen französischen Generals befand, geheimgerichtlich verhaftet worden. Der Mitwisserschaft um die Geburt des Caspar Hauser, so wie daher um die des
Mordversuchs, vielleicht gar als Verwandte, beschuldigt, – gab sie sich für wahnsinnig aus, und
eine hiesige gewisse Gesandtschaft suchte ihre Freilassung zu bewirken. Ein gewonnener Arzt je doch entdeckte ihre List durch eine zweite List …“259
Welche List zur Anwendung kam, wollte Saphir seinen Lesern nicht mitteilen. Dieses Schreiben eines
gewissen Frank werden wir weiter unten noch näher einordnen und erklären.
Etwa zur selben Zeit des Jahres 1830 wurde auch die bereits oben erwähnte Angelegenheit bekannt,
die womöglich noch mehr als der vermeintliche Wahnsinn und die Namensfälschung für die Schuld der
Gouvernante sprach:
256 Z. B. in Carl Patisz: Beschreibung der königlichen Freistadt Pesth, Pest 1833, S. 26.
257 Schmidt, Caspar Hauser, S. 31. Und: Daumer, Wesen, S. 280.
258 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 255.
259 Moritz Gottlieb Saphir: Der Bazar für München und Bayern, ein Frühstücksblatt für Jedermann und jede Frau,
Nr. 72, vom 26. März 1830., S. 306f. Im Weiteren abgekürzt mit Saphir, Bazar, Seitenzahl.
116
„Vor Jahren nämlich hatte sie ein Kind von Ofen nach Triest gebracht, und das Kind war dann,
man wusste nicht recht wie und wo gestorben, verschollen. Auf Hauser passte das zwar freilich
nicht, aber es war doch immerhin so etwas wie die geheime Beseitigung eines unschuldigen Kin des, und wer weiß, irgendein Zusammenhang ließ sich wohl noch herstellen …“260
Am 19. Februar 1830 setzte Pfarrer Franz Venisch dem Johann Samuel Müller über dieselbe Geschichte in Kenntnis:
„Zufälligerweise den 17ten Februar bei Gelegenheit des Hochzeitmahles der Mosheim'schen
Tochter erzählte eine Frau von Ofen, die eben als Gast auch gegenwärtig war, daß die
Gouvernante des Grafen Pálffy erst dieser Tage wahnsinnig geworden sey. Anlaß dazu gab der
Fall, als ihr der Graf abends andeutete, daß sie den morgenden Tag vor dem Comitate erscheinen
und über 3 Punkte sich verantworten müsse, soll sie ausgerufen haben, jetzt komme sie aufs
Schafot, und ist ohnmächtig zusammengesunken und von der Zeit her wahnsinnig. So erzählte
diese Frau. Es muss also doch etwas in der Sache seyn, ich muthmaßte sogleich, daß diese
Gouvernante Dalbon seyn müsste und daß ohne weiteres auch an Sie schon einige Punkte, über
welche sie zu antworten habe, in der Geschichte des armen Hauser ergangen seyn müssten …“261
Auch im hohen Hause Pálffy war man anfangs davon
ausgegangen, dass die Dalbonne Mitwisserin des an Kaspar Hauser verübten Verbrechens war.
„Aber jetzt nehmen fast alle Angehörigen des
Hauses Palffy Dalbonne in Vertheidigung … und
scheinen nichts wissen zu wollen!“262
So berichtet ein Ofner Geheimbericht vom März 1830.
Es muss also zu einem abrupten Gesinnungswandel gekommen sein! Der Tavernicorum Regalium Magister Fidél Graf Pálffy wird einen entsprechenden Wink von
oben bekommen zu haben, der ihm und seiner Familie
bedeutete, sich aus der Sache herauszuhalten.
Wenig später machte der erzkonservative Politiker
Karriere und löste 1837 Graf Reviczky als ungarischer
Hofkanzler am Kaiserhof in Wien ab. Er stieß jedoch als
ein der ungarischen Sprache nicht mächtiger, zu diversen
Repressalien neigender Hardliner bei den progressiveren
Kräften Ungarns so sehr auf Widerstand, dass er schon
im Folgejahr wieder abdanken musste.
Abb. 94: Fidel Graf Pálffy zu Erdöd, Erbherr von
Vöröskö, Erbobergespan des Pressburger Comitats,
k.-k. Kämmerer, k.-ung. Hofrat und Obergespan
des Arvaer Comitats. Die Unterschrift: Benevoli.
Comes Fidelis Pálffy.
Maria Anna Baronin von Majthényi wies, wie bereits
oben erwähnt, desgleichen alle Mitwisserschaft von sich.
Sie hatte schon am 18. Februar 1830 dem Grafen Pálffy
die Müller'schen Schreiben mit folgendem Kommentar
übersandt:
„Ich begreife … nicht, wie er sich unterfangen kann, mir solche Lügen vorzubringen, wo ich
nicht die dunkelste Erinnerung hierüber habe. Ich erkläre, dass ich gewissenlos handeln würde,
wenn ich nur eine Stelle seines Briefes bezeugen würde.“
260 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 243f.
261 Auszug aus den von uns veröffentlichten Wiener Akten: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
262 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 243.
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Bei ihrer mündlichen Vernehmung in Pest am 26. Februar 1830 wiederholte Frau Majthényi diese Erklärung und gab vor, von einer Bedrohung Müllers durch Würth oder durch die Dalbonne und von einer
Geldunterstützung der Gouvernante durchaus nichts zu wissen. 263
Wir halten diese Erklärungen der Baronin für relativ wertlos. Bekannterweise war Johann Samuel Müller bei der Adeligen bereits durch vorherige Intrige in schlechtes Licht gesetzt worden und hatte uneh renhaft ihr Haus verlassen müssen. Kein Wunder, wenn die Gräfin jetzt nicht zu ihm hielt, zumal sich ja
sofort ein weiterer (berechtigter?) Verdacht gegen sie selbst ergeben hätte. In der Tat wurde die Baronin
später von Deutschland aus eine Zeit lang als „Mutter Kaspar Hausers“ gehandelt, wobei Kaspar durch
Erkennen ihres Geburtsnamens Bartakovics noch persönlich zu dieser Unterstellung beitrug. U. E. handelte es sich dabei um eine falsche Fährte, wenngleich der eigentliche Anteil der gebürtigen Frau Bartakovics an der Affäre unklar bleibt.
Pfarrer Franz Venisch, der am ehesten Einblicke in die früheren Kontakte und Gespräche im Hause
Maythényi hatte und im privaten Briefverkehr Johann Samuel Müller Glauben geschenkt hatte, sagte, als
er auf Veranlassung des Erzherzog Palatins verhört wurde, zunächst in Übereinstimmung mit seinem an
Müller gerichteten Brief aus, relativierte jedoch hinterher seine vorherigen Aussagen in einem entscheidenden Punkt. Er wisse nun nicht mehr genau,
„…ob unter den Individuen, die in das Haus der Frau von Majthényi gekommen und mit denen
zu sprechen Müller sich geweigert habe, auch Würth gewesen sei.“
Franz Venisch war für Johann Samuel Müller sowieso nur ein indirekter Zeuge gewesen; doch zuletzt
fiel er ganz aus.
In seiner Beweisnot rief Müller schließlich den protestantischen Prediger und Pfarrer Karl Kalchbrenner (1807-1886) in Pest zum Zeugen. Kalchbrenner sollte bestätigen, dass Würth 1825 oder 1826 in der
ungarischen Hauptstadt gewesen sei. Zu seiner Enttäuschung dementierte auch dieser namhafte Pfarrherr.
Der Wind blies also am Ende dem auf sich allein gestellten Müller heftigst entgegen. Wenig später
wird er seines Postens als Pressburger Domprediger enthoben und nach Stuhlweißenburg versetzt. Im
Weiteren verwickelte er sich selbst in Widersprüche – immer unter Druck, endlich Beweise liefern zu
müssen. An seiner Geschichte mit einer Dame, die in Ungarn entband, und einem zugehörigen Offizier
ist wohl nichts dran; sie widerspricht seiner früheren Datierung. Am Ende für geistig zerrüttet erklärt,
verliert sich seine Spur. Es ist anzunehmen, dass Müller sein weiteres Leben in tiefer Erniedrigung
verbrachte.264
Der Gegenwind, den Johann Samuel Müller in Österreich und Ungarn zu spüren bekommen hatte,
kam nicht von ungefähr, denn die höchsten Staatsorgane – Kaiser Franz I., Außenminister Fürst Klemens Wenzel von Metternich und Erzherzog Joseph, der Palatin von Ungarn – hatten inzwischen aus
politischem Kalkül heraus beschlossen, die Ermittlungen abzuwürgen, was sich zwangsläufig auf den
Zeugenkreis auswirken musste!
Am Anfang hatte alles noch ganz anders geklungen. Schon früh hatte Kaiser Franz I. von Österreich die
Affäre „Dalbonne“ zur Chefsache erklärt. In einer Allerhöchsten Entschließung ließ er verlauten:
„Der Inhalt dieses Vertrages dient mir zur Wissenschaft und gewärtige Ich die baldige Vorlage
263 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 253.
264 Interessanterweise findet sich in einem bayerischen Adressbuch von 1838 ein Johann Samuel Müller als Kantor,
Organist, Kirchner und Schullehrer im evangelisch-lutherischen Pfarrdorf Trogen bei Hof in Oberfranken. Dass
zwischen diesem Mann und dem Informanten Feuerbachs Personenidentität besteht, ist nicht wahrscheinlich,
denn es würde immerhin bedeuten, dass Johann Samuel Müller in seinem späteren Leben den Katholizismus
wieder hinter sich gelassen hätte. Dennoch wollten wir dieser Johann Samuel Müller nicht unerwähnt lassen,
denn sein Wirkort liegt nur 4,5 km von Geburtsort des Pfarrers Johann Adam Leydel entfernt.
118
jener Verfügungen, welche Sie schon getroffen mit dem vorläufigen Gutachten, welche weiteren
Maßregeln zu treffen wären.“
Zugleich erließ er am 26. Februar 1830 das folgende handschriftliche Dekret:
„An den Polizeypräsidenten Graf Sedlnitzky! Aus anliegendem Vortrage meines ungarischen
Hofkanzlers werden Sie ersehen, welche Maßregeln derselbe über die an ihn gelangte Anzeige
der in Ofen aus Gelegenheit einer angeblichen Requisition des Nürnberger Magistrats wegen des
C. H. sich ereigneten Vorfälle getroffen hat. Da Mir nun daran liegt, auch durch die Ihnen bekannten Quellen über das eigentliche Sachverhältnis, über die Verlässlichkeit, Glaubenswürdigkeit,
Moralität, Charakter, Vermögensverhältnisse des Dompredigers Müller, der Frau von Majthenyi
und der dal Bon genaue und sichere Auskünfte zu erhalten, so werden Sie sich angelegen seyn
lassen, Mir dieselben so wohl, als alles, was sich in dieser Sache etwa Neues zuträgt, so bald als
möglich vorzulegen.“ 265
Vom ungarischen Kanzler Graf von Reviczky ließen sich der Kaiser und auch Fürst Metternich in der
Folge mehrfach persönlich Bericht erstatten.266 Von Reviczky hatte durch den Tavernikus Fidél Pálffy vom
Ansinnen des Nürnberger Stadt- und Kreisgerichts erfahren und diesem mitgeteilt, dass die Papiere der
Dalbonne von den übrigen abgesondert, versiegelt und „bis auf weitere Verfügung“ aufbewahrt, aber
nicht herausgegeben werden sollten. Gleiches teilte der Erzherzog Palatin mit lateinischem Schreiben
vom 12. März 1830 seiner Exzellenz Alexander Rudnay, dem Erzbischof von Gran/Esztergom, mit:
„Qia vero triplicis Ordinis fassiones abhinc transpositae, relate ad adjuncta per saepefatum
Müller proprie indicata, uniformiter in negativa subsisterent, et secus etiam tam seorsive consideratae, quam et inter se pro rei genuinae indole cohaererent, neque aliunde fundata aliqua su spicio de praesenti in Annam Dalbon recideret, ab ulteriori hic Loci facienda Investigatione, adeoque etiam ab inspectione privatorum Dalbonianae Scriptorum, praescindendum arbitror. In reliquo jugi, eaque distincta cum propensione persisto. Excellentiae Vestrae Addictissime, Josephus
Palatinus.“267
Die Untersuchungen gegen die Dalbonne waren also
von allerhöchster Stelle aus abgewürgt, die Sicherung
ihres Schriftwechsels unterblieb. Damit war die Wende im
Verfahren eingeleitet!
An sich hätte unter dem Polizeipräsidenten von Sedlnitzky der gesamte Polizeiapparat nicht nur in Ungarn,
sondern auch in Oberösterreich ermitteln müssen. Doch
der antiliberale und dem Grafen von Sedlnitzky nicht sehr
gewogene Fürst Metternich legte auch sein persönliches
Veto ein, nachdem ihm klar geworden war, dass weder die
österreichische noch die bayerische Seite ein Interesse
daran haben könnte, durch Aufklärung des Falles Kaspar
Hauser eine Lawine von Ressentiments gegen die Monarchie und Aristokratie in beiden Ländern loszutreten. So
verständigte er am 25. Februar 1831 in einer eigenhändig
geschriebenen Depesche den österreichischen Gesandten
in Bayern, Graf Kaspar von Spiegel, von dem wichtigen
„Inzidenzfall“ Kaspar Hauser und beklagte sich, dass dem
Sachstand nach die wesentliche Bedingung für das Gedeihen des Erforschungsverfahrens, das Geheimnis, bedeu- Abb. 95: Klemens Wenzel Fürst von Metternich,
Gemälde von Thomas Lawrence, ca. 1820.
265 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 244f.
266 Der Briefwechsel von Reviczkys mit dem Fürsten Metternich hat sich in den Wiener Akten, a. a. O., komplett
erhalten.
267 Brief in den Wiener Akten, a. a. O.
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tend gefährdet sei. Er meinte aber, die Sache werde sich noch einrenken lassen.
„Bey dem lebendigen Interesse, welches unsere Regierung an der Entdeckung der Wahrheit in
einem so seltsamen Falle, dem wahrscheinlich ein Verbrechen zu Grunde liegt, nimmt, sehe ich
mich bemüßigt, Euer Hochgeboren den Auftrag zu ertheilen, sich alsbald in konfidentielle
Rücksprache mit der königlich-bayerischen Regierung zu stellen und ihr bemerklich zu machen,
dass ein nicht mehr gänzlich zu verwischendes Übel in der Verlautbarung einiger bereits
stattgehabter Schritte besteht, es jedoch noch Zeit wäre, deren Auswüchsen den möglichsten
Einhalt zu tun.“
Als besten Weg hierzu empfahl Fürst von Metternich Geheimverhandlungen mit dem bayerischen Hof.
Im Originaltext heißt dies „die innigste Verständigung zwischen den obersten Staatsbehörden selbst“:
„Die bayerische Regierung wende sich demnach entweder mittels Eurer Eminenz an uns oder
das Cabinet theile mir auf ganz direktem Wege seine Wünsche mit. Die Erhebungen, welche in
der ersten Periode des Geschäftes sicher weit eher im Polizeilichen als im trockenen Gerichts
Wege befördert werden könnten, würden sodann hier geregelt eingeleitet und jede schädliche
Verlautbarung vermieden werden.“268
Der damals zwischen München und Wien kursierende Diplomatenschriftwechsel trägt denselben
Tenor, er hat sich in den von Sylvia Kemming transkribierten Wiener Akten einigermaßen vollständig
erhalten und ist a. a. O. nachzulesen.
Kaspar Philipp Graf von Spiegel konnte z. B. schon am 1. März 1830 zurückmelden, dass die
bayerische Regierung vollkommen einverstanden sei, und der bayerische Außenminister Joseph von
Armansperg machte am 6. März nähere Vorschläge, die der bayerische Gesandte in Wien, Franz Gabriel
Graf von Bray, dem Fürsten Staatskanzler persönlich übermitteln sollte:
„Les communications n'auront lieu que du Ministre de la justice à moi, dans le plus grand secret, et de moi par la voie diplomatique au Ministre Imperial. De cette manière on sera sûr que
rien ne transpirera. - Es wird nur zwischen dem Justizminister und mir Kontakt geben, und von
mir mit dem kaiserlichen Minister (freilich Metternich), auf diplomatischem Wege. So wäre man
sicher, dass nichts durchdringe …“269
Der Fall Kaspar Hauser, an sich ein normaler Kriminalfall, war damit von den höchsten Organen in
Österreich und Bayern, zur Staatsaffäre erhoben, in der es Einiges zu vertuschen galt.
Was hätte durchdringen können? Wovon wussten Fürst Metternich und das österreichische
Kaiserhaus, und wovon wusste die Bayerische Regierung?
Der Briefwechsel soll nachfolgend eine Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz
ausgelöst haben, deren Inhalt wir nicht kennen. 270
Man verständigte sich darauf, die Ermittlungen unter dem Motto „Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen“
ganz einzustellen, und dies weit vor ihrem inhaltlichen Abschluss!
So ist zum Beispiel nicht bekannt geworden, dass der von Müller genannte männliche Mittäterkreis
Würths in Bayern je offiziell verhört worden wäre.
Mit diesem Verhalten der österreichischen Staatsmacht war eine ganz neue Dimension in der Verletzung juristischer Grundsätze erreicht: Für das System Metternich war Recht und Wahrheit nur das, was
ins eigene politische Konzept passte!
268 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 245ff.
269 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 247.
270 Linde 1, S. 195.
120
Am 14. April 1830 ließ die geknickte Dalbonne mit Hilfe des Grafen Pálffy in der Wiener Hofburg ein
Gesuch überreichen, worin sie den Kaiser anflehte, er möge …
„…das Resultat der ihretwegen veranlassten Verhandlung gnädigst beschleunigen, sodann
aber in offiziellem Wege der betreffenden Behörde zu bedeuten geruhen.“
Über die Entschließung des Kaisers liegt keine Information vor. Doch Fürst von Metternich nahm sich
in einer diplomatischen Note an den bayerischen Gesandten der Dalbonne auf das Wärmste an und bat
den Souverän,
„…geneigtest dahin wirken zu wollen, dass die betreffende königlich-bayerische Gerichtsbehörde
veranlasst werde, ehemöglichst und auf eine offizielle Weise sich in Betreff der wegen der Kaspar
Hauserschen Angelegenheit in Ungarn stattgehabten Einvernehmungen zu erklären, und wie vermöge der vorliegenden Daten vorausgesetzt werden darf, die Nichtigkeit der Anzeigen des Dom predigers Müller auszusprechen.“271
Damit war in Österreich auf allerhöchsten Befehl hin die Affäre ein für allemal erledigt! Graf von Re viczky fasste die Ergebnisse des ungarischen Verfahrens mit den Worten zusammen:
„Es werde zur höchsten Gewissheit, dass die Dalbonne mit den Schicksalen des Caspar Hausers
in keinen Verhältnissen stehe.“
Auf diese frohe Botschaft hin genas die Dalbonne, nachdem sie erfahren hatte, dass sie straffrei davonkomme, wie durch ein Wunder komplett von ihrer schweren Paranoia! Was aus ihr später wurde,
konnten wir nicht in Erfahrung bringen; ihre Spuren verlaufen sich in Stuhlweißenburg und im Komitat
Neutra.
Die österreichische „Aufklärung im Geheimen“ bestand also am Ende in ungenierter Vertuschung
und Niederschlagung. Der Kronzeuge Johann Samuel Müller, dem wir im Gegensatz zu Hans Sittenberger nicht zuletzt wegen dieses skandalösen Umgangs Glauben schenken, blieb chancenlos!
Bleibt nachzutragen, dass in den Wiener Archiven ein Gutteil der Dokumente zu den Pfarrern Würth
und Müller, welche dort unter dem merkwürdigen Sigel „Varia Baden“ aufbewahrt und von Sittenberger
seinerzeit noch eingesehen worden waren, inzwischen verschwunden ist. Den Rest der Akten haben wir
inzwischen öffentlich gemacht.272
Wie verhielten sich damals die bayerischen Ermittlungsorgane?
Das Präsidium des K. B. Appellationsgerichtes in Ansbach erhielt am 17. Mai 1839 aus dem
Staatsministerium der Justiz in München den ministeriellen Befehl, einen offiziellen Beschluss zu
erlassen, der die Anna Dalbonne – wohlgemerkt ungesehenerweise! - von jeglicher Schuld freisprach: 273
„Vom Staatsministerium der Justiz erhält das Präsidium des k. Appellationsgerichtes anliegend
eine Vorstellung der Anna Dalbonne nebst Abschrift einer Note des k. k. Staatskanzlers Fürsten
von Metternich, das Gesuch der Dalbonne betreffend, die Gerichte in Ungarn in Kenntnis zu setzen, dass gegen sie kein Verdacht einer Theilnahme an den gegen C. H. begangenen Verbrechen
obwalte, und dass die Anzeige des Dompredigers Müller gegen sie ebenfalls nichts enthalte, wodurch ein Verdacht gegen sie begründet werde. Das Präsidium des k. Appellationsgerichtes hat
das Untersuchungsgericht zu veranlassen, dass es deshalb eine die Dalbonne beruhigende Erklärung an die Gerichte in Ungarn erlasse. Das unterzeichnete k. Staatsministerium erwartet hierüber die erforderliche Anzeige, um der k. k. österreichischen obersten Staatsbehörde deshalb die
verlangte Mittheilung machen zu können.“274
271 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 261.
272 Komplett wiedergegeben unter: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
273 Meyer, Mitteilungen, S. 552, Fußnote.
274 Meyer, Mitteilungen, S. 552.
121
Gerichtspräsident Paul Anselm von Feuerbach, der zuvor noch die Ermittlungen gutgeheißen und
Johann Samuel Müller durchaus ernst genommen hatte, kam hierauf am 28. Mai 1830 dem Befehl aus
München unter einer persönlichen 180°-Wendung nach. Wenige Tage später ging eine Abschrift
desselben an Metternich, mit der Mitteilung,
„… daß durch conclusum ad acta des Kreis- und Stadtgerichtes Nürnberg dato 25. Mai l. Js. die
von dem Domprediger Müller erhobenen Denunciationen für durchaus gehaltlos, unglaubwürdig
und keiner weiteren rechtlichen Berücksichtigung würdig erklärt worden sind, überdieß durch
Bericht des mehrerwähnten Kreis- und Stadtgerichtes von demselben Datum bei dem hiesigen
Gerichtshofe der vorläufige Antrag gestellt worden ist: Das königliche Appellationsgericht möge
gegen den Domprediger Müller wegen Verleumdung bei der ihm vorgesetzten Gerichtsbehörde
die erforderliche Untersuchung veranlassen …“275
In Bayern überstieg man also das österreichische Vorgehen noch und entschloss sich sogar, den Spieß
umzudrehen: Geplant war jetzt ein Prozess gegen Johann Samuel Müller wegen Verleumdung, welcher
allerdings in der Folge nicht zur Ausführung kam!
Was, so fragen wir uns, gab der bayerischen Regierung überhaupt Anlass, einer weit entfernt und
nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Frauenperson, die sie persönlich nie untersucht hatte,
einen derartigen Freiheitsbrief zu erteilen?
Es bleibt nur ein Schluss: Die Dalbonne war eine wertvolle Agentin, und sie wusste um Dinge, die
weder in Bayern noch in Österreich je an den Tag kommen sollten!
Hans Sittenberger berichtete ebenfalls vom dubiösen und letztlich wenig rechtskonformen Verhalten
Feuerbachs und schildert dabei ein gewisses, wenn auch viel zu schwaches Aufbegehren desselben:
„Die Briefe des Johann Samuel Müller ließ Feuerbach als Präsident des Appellhofes im üblichen
Instanzenzuge dem Nürnberger Kreis- und Stadtgericht übermitteln und erteilte den Auftrag,
nach Vorschrift des Gesetzes das Weitere zu veranlassen. Wie wenig er persönlich der Sache trau te, geht schon daraus hervor, dass er die Weisung erteilte, Müller nur als Denunzianten und nicht
als Zeugen, d. h. also unbeeidet zu vernehmen. In einem Bericht an den Justizminister sagte er
übrigens ausdrücklich, die Anzeigen schienen eher in einem Augenblicke des Hasses gegen gewis se Personen gemacht als geeignet, den Urheber des Verbrechens zu entdecken …“276
Die in den beiden letzten Sätzen wiedergegebene Interpretation Sittenbergers gibt aber nur Meinung
des bayerischen Außenministers Joseph von Armansperg über Anselm von Feuerbach wieder, enthalten
in einem Brief vom 16. März 1830 an den bayerischen Gesandten in Wien, Franz Gabriel Grafen von Bray.
Er kann also nur bedingt als Beweismittel in Bezug auf Feuerbach herhalten.
Dass Gerichtspräsident Feuerbach, der zuvor die Anzeige Müllers ernst genommen hatte, tatsächlich
hinter dem gerichtlichen Einknicken in Bayern stand, stellt allerdings auch einer seiner Briefe an Gottlieb
Freiherrn von Tucher, vom 29. März 1830, in den Raum. Der Protestant Feuerbach spricht hier von
„schauderhafter calumnia“ (übelster Verleumdung) und „gesteigertem Religionsfanatismus“ des Johann
Samuel Müller, sich selbst stellt er als „Mitakteur des Stücks, das hier gespielt wird“ und als ein aus erster
Hand „Eingeweihter“ dar.277
Woher will Feuerbach das alles so genau gewusst haben? Mit Johann Samuel Müller hat er
jedenfalls nie ein Wort gewechselt!
Auch von einem persönlichen Treffen Feuerbachs mit der Dalbonne ist uns nichts bekannt. Sollte der
fähigste Kriminalist Bayerns den haarsträubend oberflächlichen und vorverurteilenden Berichten der
Untersuchungsorgane in Ungarn und Bayern wirklich Glauben geschenkt haben?
275 Der Beschluss ist komplett wiedergegeben unter: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
276 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 226.
277 Mayer-Tradowsky, S. 402.
122
Unseres Erachtens ist das relativ unwahrscheinlich!
Feuerbachs demonstrativer Gesinnungsumschwung spricht dafür, dass er unter massivem Druck seiner eigenen Regierung oder des Königs stand, zumal er im Schreiben an Gottlieb von Tucher zugab, dass
es Fürst von Metternich gewesen war, der persönlich am bayerischen Hof interveniert hatte. Man kann
zwischen den Zeilen lesen, dass Feuerbach hierauf den dringenden Wink von oben erhielt, die Gerüchte
in Nürnberg, Wien und Budapest umgehend zum Verstummen zu bringen! Dem Nürnberger Ziel kam er
durch das Schreiben an den Freiherrn von Tucher nach. Dabei hatte Anselm Feuerbach noch unmittelbar
zuvor, nach Erhalt der Briefe Müllers, ganz anders reagiert und im Januar 1830 bei begründetem Anfangsverdacht umgehend und vor allem selbst das amtliche Untersuchungsverfahren in dieser Angelegenheit beim Stadt- und Kreisgericht Nürnberg beantragt. Wenn er 4 Monate später, am 22. Mai 1830,
nun das Untersuchungsgericht „im Namen des Königs von Bayern“ unwirsch aufforderte, endlich seinen
Beschluss anzuzeigen und damit die Sache zu Abschluss zu bringen, dann belegt dies auf jeden Fall den
Druck auf seiner Person! Prompt kam drei Tage später der Antrag zurück, man wolle anstatt gegen die
Dalbonne und Würth nunmehr gegen den Domprediger Müller, der zuvor etliche eidesstattlichen Erklärungen angeboten hatte, „wegen Verleumdung“ vorgehen!278
Die geheimen ministerialen Absprachen zwischen den Ländern hatten also gegriffen, das Appellationsgericht Ansbach hatte auf Wunsch Wiens und Münchens gespurt und dies, obwohl formaljuristisch
Österreich gar kein Recht hatte, Bayern irgendwelche Verfahrensanweisungen zu geben!
Hören wir hierzu den Hauser-Forscher Kurt Kramer:
„Die Anzeige des Konvertiten Johann Samuel Müller hatte also auf allerhöchste Anweisung als
’Nichtigkeit’ zu gelten. Genaugenommen eine Frechheit, denn Österreich hatte kein Recht, einer
bayerischen Gerichtsbehörde Anweisungen zu geben. Hinter Metternich aber stand der Kaiser,
der seit dem Wiener Kongress keinerlei Befugnisse hatte, einem anderen deutschen Fürsten, in
diesem Falle dem bayerischen König, Weisungen zu erteilen. Es gab keine römisch-deutsche Kaiserwürde mehr! Weisungsbefugnisse hatte der Kaiser anderen Fürstlichkeiten gegenüber nur
noch in seiner Eigenschaft als Leiter des Deutschen Bundes. Oberster Amtsträger war der Bundestag in Frankfurt. An diesem Faktum sollte man nicht vorbeigehen. Aber Feuerbach, der Präsident des Appellationsgerichtes, wie dessen oberster Herr, der bayerische König, verstanden sehr
wohl den Wink aus Wien. Hier ging es nicht um das Wohl und Wehe, um die echten oder gestellten Nervenzusammenbrüche einer unbedeutenden Gouvernante. Es ging wieder einmal um höhere Beträge, um hohe Politik. Die im Wanken begriffenen monarchischen Systeme Deutschlands
durften durch nichts erschüttert werden. Auch nicht durch eine kleine Gouvernante, an der sich
der Hauser-Fall auf eine explosionsartige Weise entzünden könnte, ja entzünden würde …“ 279
Die damaligen Ereignisse werfen ein bezeichnendes Licht auf das gestörte Verhältnis zwischen Judika tive und Exekutive im noch jungen Königreich Bayern! Nicht nur in Österreich, auch in Bayern wurden die
Ermittlungen alsbald eingestellt und das förmliche Verfahren mit Aktenschluss am 13. September 1831
für beendet erklärt!280
Die eigentlichen Hintergründe, welche Gerichtspräsident Paul Anselm von Feuerbach so eigenartig
nachgiebig hatten reagieren lassen, werden wir in einem späteren Kapitel aufarbeiten.
278 Linde 1, S. 212.
279 Kurt Kramer: Kaspar Hauser - Kein Rätsel unserer Zeit, Ansbach 1978, Kap. 5. Online http://www.kaspar-hauser-infos.de
280 Pies, Dokumentation, S. 198.
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Der von Müller genannte, bei den Ermittlungen übergangene Mittäterkreis
Die Sache um Johann Samuel Müller und die Dalbonne hatte sich trotz des Willens der Behörden nicht
geheim halten lassen, und schon gleich nicht in Ungarn:
„In Hungarn, wo nichts geheim betrieben wird, sind die Dinge sogleich ruchbar geworden.“
So schrieb der Hofkanzler von Reviczky am 25. Februar 1830 an den österreichischen Gesandten in
München, Graf von Spiegel. Hans Sittenberger fiel dabei Eigenartiges auf:
„In Pest ebenso wie in Pressburg sprach man in allen Häusern, auf allen Gassen davon, das Ge rede drang in die Zeitungen, zunächst in die ungarischen, und verbreitete sich bald in alle Welt.
Dabei ergab sich aber etwas höchst Merkwürdiges. Die Anzeigen Müllers verwiesen doch eigentlich nach Oberösterreich und Franken, von Ungarn war in ihnen nur nebenher die Rede; dennoch
hieß es allgemein, die Spuren, die man entdeckt habe, führten nach Ungarn, hier sei Hauser vermutlich geboren, er sei wahrscheinlich der Sprössling einer ungarischen Adelsfamilie. Die Herren
Lambert, Mayer, Leidel usw. traten ganz in den Hintergrund …“281
Diesem Urteil können wir uns anschließen; wir werden die Hintergründe weiter unten in einem eigen en Ungarn-Kapitel diskutieren. Was die Polizei von Oberösterreich anbetrifft, welche dem von Müller angezeigten Täter-Quartett nachgehen sollte, so darf man ihr allerdings keinen Vorwurf machen. Die Verdächtigen waren vor Ort nicht mehr greifbar, da sie kurz nach 1816 aus politischen Gründen nach Bayern
zurückgekehrt waren – der Aktuar Mayer nach München und Roding, der Advokat Lampert nach Rosenheim, die evangelischen Pfarrer Würth und Leydel in ihre Heimat Franken.
Nachdem es die damaligen Gerichte sträflich versäumt haben, befassen wir uns im Folgenden ein
wenig mit den zugehörigen Einzelheiten:
Von dem Verbrechen hatte der in Rutzenmoos als Pastor tätige Johann Samuel Müller erstmalig in
oder bei Vöcklabruck erfahren, einem Ort im Hausruck-Viertel, welcher wie Wanghausen und Burghausen zwischen 1810 und 1816 zum bayerischen Salzachkreis gehörte und nur ca. 70 km von diesem
entfernt lag. Dort also wurde das Komplott der Beseitigung eines Kindes besprochen, und wenigstens
eine der inkriminierten Personen soll später vorübergehend nach Burghausen gewechselt sein.
Es handelt sich um den Landgerichts-Aktuar Karl Mayer (alias Carl Mayr.)282 Seine Mitverschwörer
waren der protestantische Pfarrer Ludwig Würth von Vöcklabruck/Pichlwang, der protestantische Pfarrer
von Attersee namens Adam Leydel und der Vöcklabrucker Landgerichts-Advokat Christian Lampert.
281 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 237f.
282 Das von Müller einmalig referierte „von“ erscheint später nicht mehr.
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Der Pfarrer Ludwig Würth
Es ist der ausgezeichneten Lokalforschung von Vöcklabruck zu verdanken, dass dort nicht nur der
Aktuar Mayer, sondern auch die Pastoren Johann Samuel Müller und Ludwig Würth als historische
Personen verbürgt sind. So erfahren wir von letzterem durchaus mehr als seinen Namen:
„Zugleich mit der Zuweisung der Kirche in Pichlwang erhielt die evangelische Gemeinde auch
die Erlaubnis, als Pfarre eine Schule zu unterhalten. Als erster evangelischer Pfarrer wurde Ludwig Würth, Pfarrvikar aus Markt Weidenbach in Bayern, bestellt. Die evangelische Gemeinde
mietete für ihn ein geräumiges Haus in der Vorstadt, Richtung Schöndorf, in dem der obere Stock
dem Pfarrer als Wohnung diente, während ebenerdig die Schule eingerichtet wurde. Der neue
evangelische Pfarrer wurde vom königlich-bayerischem Landgericht Vöcklabruck am 14. März
1813 feierlich eingesetzt.
Er bekam als Pfarrer und Schullehrer den für die damalige Zeit sehr namhaften Gehalt von 615
fl. 30 kr. jährlich, von dem 200 fl. aus dem Kreisschulddotationsfonds, 300 fl. aus den Überschüssen des zentralisierten protestantischen Kirchenvermögens und 115 fl. 30 kr. von der Pfarrge meinde stammten. Da der evangelische Pfarrsitz eine knappe Gehstunde von der Kirche in
Pichlwang entfernt war, bestand eine Parallele zur räumlichen Trennung, die bis 1784 zwischen
dem katholischen Pfarrhof im Dörfl und der Pfarrkirche in Schöndorf gegeben war …
Die Pfarrgemeinde bestand aus rund 400
Seelen, die aus allen Richtungen zur Kirche kamen und in einer Entfernung bis zu drei Gehstunden wohnten. Die evangelische Schule
nahm im Sommer 1813 mit 30 bis 40 Schülern
den Unterricht auf …
Als im Mai 1816 Vöcklabruck zusammen
mit den abgetretenen Teilen des Hausruckund des Innviertels wieder nach Österreich zurückkehrte, sollte Pfarrer Würth, der dem Kaiser den Huldigungseid leistete, übernommen
werden.
Entgegen den Versprechungen der österreichischen Regierung wurden aber bald den
Pfarrgemeinden alle Begünstigungen, die von
der bayerischen Regierung gewährt worden
waren, wieder aufgehoben. Der Pfarrgehalt
wurde gestrichen, die Stolgebühren mussten
abgeführt und die Pfarrmatrikeln dem katholischen Pfarramt herausgegeben werden. Taufen durften nur mehr vom katholischen Pfarrer vorgenommen werden.
Abb. 96: Die von den Einheimischen verballhornt
„Schimmelkirche“ genannte, altehrwürdige SimultanKirche von Pichlwang liegt ca. 3,75 km Luftlinie von
Vöcklabruck entfernt. Die um 1500 errichtete, dem
Heiligen Andreas geweihte Kirche liegt auf einer
Da Pfarrer Würth diesen demütigenden Zu- Anhöhe südwestlich von Vöcklabruck und ist noch
stand nicht länger ertragen konnte, kehrte er heute in dem Zustand, in dem sie 1813 Pfarrer Ludwig
Würth aufgefunden hat.
283
in seine bayerische Heimat zurück …“
Nach einem Antrag des Konsistoriums in Wien bestimmte ein Hofkanzlei-Dekret vom 13. Januar 1818,
dass der Pastor von Rutzenmoos verpflichtet sei, einmal im Monat einen Gottesdienst in der Pichlwanger
Kirche abzuhalten. Während Pastor Johann Samuel Müller diesem Auftrag für kurze Zeit noch nachge283 Karl Schimik: Die Evangelische Gemeinde A. C. Vöcklabruck von der Reformationszeit bis zur Gegenwart, Vöcklabruck 1895, S. 25ff. Franz Satzinger: Vöcklabruck - Stadtgeschichte, von den Anfängen bis 1850, Vöcklabruck
2006, S. 396. Künfitg abgekürzt mit Schimik, Gemeinde Vöcklabruck.
125
kommen war, weigerte sich sein Nachfolger Johann Georg Blank unter dem Druck des Rutzenmooser Ge meindevorstands, zu einem Gottesdienst oder einer sonstigen Amtshandlung nach Pichlwang zu kommen.284 Mehr zu diesem Pfarrer Blank weiter unten!
Sittenberger war also klar einem Irrtum aufgesessen, wenn er schrieb, aus den österreichischen Akten
gehe nicht einmal mit hinreichender Klarheit hervor, ob der Pfarrer Würth überhaupt je existiert habe!
Am geschicktesten hätte er Würth dort gesucht, wohin er sich nach 1816 aus dem Hausruck-Viertel
zurückbegeben hatte, nämlich in seiner Heimat Franken. Die Hauser-Forscherin Sylvia Kemming übermit telte uns freundlicherweise zum Pfarrer Ludwig Würth ergänzende Hintergrundinformationen, rekrutiert
aus dem Archiv der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern (Würths Personalakte), aus dem
Matrikelbuch der Universität Erlangen, aus der Schrift des Pfarrers Karl Schimik aus Vöcklabruck und aus
dem Oberösterreichischen Landesarchiv:
„Der Pfarrer Würth hieß eigentlich Johannes Christoph Sigmund Friedrich Ludwig Würth; auf
seinen Buchtiteln schrieb er diesen seinen vollen Namen aus. Er wurde am 21. August 1786 als
Sohn des Pfarrers Johannes Julius Carolus Würth in Vestenberg im Kreis Ansbach geboren. Er be suchte das Gymnasium in Ansbach, worüber er eine Schrift ’Leben eines Gymnasialschülers’ ge schrieben haben soll. Am 20. Oktober 1804 immatrikulierte er sich für das Fachgebiet ’Evangeli sche Theologie’ an der Universität Erlangen, am 25. April 1807 an der Universität Altdorf. Am 30.
November 1807 wurde er Vikar in Crailsheim, 1811 Vikar in Weidenbach im Kreis Ansbach.
Ende Januar 1813 traf er im damals bayerischen Vöcklabruck ein, wo er am 14. März als Pfar rer und später als Lehrer der 400-Seelengemeinde eingeführt wurde und bis im Sommer 1816
blieb. Der Vöcklabrucker Pfarrer Karl Schimik verfasste 1895 die Schrift ’Die evangelische Gemeinde A.C. Vöcklabruck von der Reformationszeit bis zur Gegenwart’, in der er Würths Schrift von
1825 verwendete. Dadurch kann man indirekt etwas über diese Zeit erfahren: Würth muss in
Vöcklabruck einige Auswüchse fanatischer Sekten miterlebt haben, was ihn sicher in seinem Libe ralismus bestärkte: Ein gewisser Priester Pöschl, der den auf Napoleons Befehl hingerichteten
Nürnberger Verleger Palm zur Hinrichtung begleitet hatte,
erlebte dieses und die Verwüstungen der napoleonischen
Armee als Strafgericht Gottes, welches Buße erfordere, und
gründete deshalb eine radikale Sekte. Von den Pöschlianern spaltete sich eine noch radikalere Sekte ab, die
Teufelsaustreibungen praktizierten, welche in 1817
Morden gipfelten.
Am 7. Juni 1816 wurde Würth in Folge der unerträglichen Verhältnisse in Vöcklabruck wieder nach Bayern zurückversetzt, zunächst nach Martinsheim und Oberickelsheim im Kreis Kitzingen in Unterfranken. Zuvor traf er sich
mit Freunden und Verwandten in Ansbach.
Im Jahr 1817 heiratete Ludwig Würth die Professorentochter Anna Maria Regina Mannert, die damals wahrscheinlich in Landshut lebte, wo ihr Vater, Konrad Mannert,
1807 Professor geworden war. Erst im Jahr 1826 wird dieser nach München gehen. Von Anna Maria Regina Mannert bekam der Pfarrer drei Söhne; ein weiterer Sohn
verstarb früh.
Im Jahr 1826 veröffentlichte Ludwig Würth das Buch ’Die
protestantische Pfarrei Vöcklabruck von 1812 bis 1825’,
Marktbreit, 1825, erweiterte Auflage Nürnberg 1826. Im Abb. 97: Reisebuch Ludwig Würths,
Januar 1829 erschien der erste Band seines zweibändigen Band 1, Deckblatt.
284 Satzinger, a. a. O., S. 396f.
126
Werks ’Spaziergang an das Mittelmeer’, Teil I: ’Durch die Schweiz nach Genua, mit malerischen
Ansichten’ (lithographierten Zeichnungen Würths), Reiseplan und Faltkarten. Das Buch erschien
in Nürnberg beim Verlag Riegel und Wießner.
Im Jahr 1830 wurde Ludwig Würth Stadtpfarrer, Dekan, Distrikts-Schulinspektor und
Stiftungsadministrator in Leipheim. Ein Jahr später erschien der zweite Band seines ’Spaziergangs
an das Mittelmeer, von Venedig über Triest durch die Steyermark, das Salzkammergut und
Salzburg’. Das Werk beruht auf zwei Fußwanderungen nach Italien (bis Triest).
Im Jahr 1832 soll er Aufsätze in der allgemeinen Kirchenzeitung veröffentlicht haben. Im Jahr
1833 schrieb Ludwig Würth die Synodalrede ’Über die Geltung des kleinen Katechismus Luthers
als feststehende Lehrnorm der evangelisch-protestantischen Kirche mit Rücksicht auf den zur Be rathung der Generalsynoden in Ansbach und Baireuth sämmtlichen Decanen und Pfarrern der
beiden Consistorialbezirke mitgetheilten Katechismusentwurf’.
Aus dieser Arbeit kann man ziemlich viel über Würths Einstellung erfahren: ’Jesuiten, Hierarchie, mystische Schwärmerei und Pfaffentum in und außer der protestantischen Kirche wird es
nimmer gelingen, die christliche Welt zu verdummen.’ Er spricht im Weiteren vom ’finsteren Geist
voriger Jahrhunderte’, vom Hervorziehen von ’unter dem Schutt der Zeit längst vergrabenen Dogmen’, von Verdächtigen, Verurteilen und Verketzern gerade derjenigen, die sich am meisten um
die Kirche verdient gemacht hätten, durch ’blinde Eiferer, die Licht und Freiheit als eine gefährliche Opposition betrachten und zum romantischen Helldunkel des Mittelalters zurückkehren wollen’, von ’verketzerndem Fanatismus’, ’Kleinlichkeitsgeist’, ’Obskurantismus’, ’blindem Glauben
und blindem Gehorsam’, Bekehrungssucht usw.
Aus dem Jahr 1833 ist auch noch eine Predigt von ihm
erhalten: ’Des Vaterlandes Wünsche bei der gesegneten
Erhöhnung seines Königssohnes’. Im Jahr 1854 wurde
Würth ’von der Führung des Dekanats entbunden’. Im Januar 1866 starb seine Frau, er folgte ihr am 22. März 1866
in Leipheim ins Grab nach. Hierbei ergibt sich eine Diskrepanz zu den Angaben Johann Samuel Müllers, dem zufolge
Ludwig Würth ja schon 1830 verstorben wäre. Johann Samuel Müller war hier offensichtlich einer Fehlinformation
aufgesessen …“285
Bleibt unsererseits zu ergänzen, dass nach eigenen Angaben Ludwig Würth auch in den Jahren zwischen 1813
und 1816 eine Reise nach Triest gemacht haben muss, was
in Zusammenhang mit Kaspar Hauser durchaus bedeutsam
sein kann, und dass sich Ludwig Würth am 4. April 1832
mit einer öffentlichen Anzeige im k. b. Intelligenzblatt für
den Rezatkreis offen über die „geheime Inquisition“ eines
k. b. Gendarmerie-Brigadiers in seinem vormaligen Wohnort Martinsheim beklagte (Hickel?). Also war doch noch ermittelt worden, allerdings mehr oder weniger verdeckt.
Da wir, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, den
Pfarrer Würth im Fall Hauser entgegen seiner Attitüde in
besagter Anzeige keineswegs für unschuldig halten, müssen wir ihm bei dieser direkt in Ansbach lancierten Mitteilung eine gehörige Portion Raffinesse und Chuzpe bescheiAbb. 98: Die Anzeige Ludwig Würths.
nigen: Wie von ihm angestrebt, werden die Ermittlungen
eingestellt worden sein, noch ehe sie ein Ergebnis zeitigten!
285 Sylvia Kemming, persönliche Mitteilung.
127
Der Publizist Eduard Maria Oettinger
In Zusammenhang mit dem Pfarrer Würth mutmaßte Johann Samuel Müller, dass eine weitere Person
zum Verschwörer-Zirkel gegen Kaspar Hauser gehört haben könnte, nämlich der Journalist Eduard Maria
Oettinger. Müller war aufgefallen, dass dieser in einer Zeitungsannonce zu seiner neuen satirischen Zeit schrift „Das Schwarze Gespenst“ in München dieselben Phrasen und Denkinhalte an den Tag gelegt hat te, wie der Pfarrer Würth anlässlich eines Besuchs in Wien im Jahr 1828. Dies ist für uns Grund genug,
dem Sachverhalt auf den Grund zu gehen.
Hier zunächst Müllers Äußerungen in seinem Brief an das Ansbacher Appellationsgericht vom 12. Januar 1830:
„Wenn mich meine Vermutung nicht täuscht, so ist Oettinger in München, der sich unlängst in
der allgemeinen Zeitung als der Herausgeber des Schwarzen Gespenstes ankündigte, in welcher
Schrift es besonders über den Mystizismus, Obskurantismus und Pietismus hergehen soll, auch
von der Bande – wenigstens kommen in seiner Ankündigung Phrasen vor, deren sich Pfarrer
Würth vor zwei Jahren in Wien bedient hat, z. B. wenn von Leuten die Rede ist, die zu hoch wohnen, als dass man ihnen bequem beikommen könne, oder wenn Herr Oettinger sagt, dass er weiter nichts als Herr seiner fünf Sinne und seines Gänsekiels sei u. s. f.“ 286
Es folgt eine Annonce aus der Cotta'schen „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, die Müllers Angaben
bestätigt.
Abbildung 99: Ausschnitt aus der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“, Beilage Nr. 4, 4. Januar 1830, S. 16. Der Um bruch ist um der besseren Darstellbarkeit willen geändert.
286 Linde 1. S. 204f. Bei dem „u. s. f.“ wissen wir leider nicht, ob es sich um eine Auslassung van der Lindes handelt
oder ob Müller selbst abgekürzt hat.
128
Was der Pfarrer Ludwig Würth weiland in Wien öffentlich von sich gab (in Wort oder Schrift?), wissen
wir nicht. Dass es sich aber bei den Angaben Johann Samuel Müllers um authentisches Gedankengut
Würths handelte, lässt sich bei Würth zumindest am Begriff des Obskurantismus nachweisen:
„…wie soll auf diese Weise Erleuchtung unter dem Volke aufgehen, über das, was der Mensch
als vernünftiges und durch das Christenthum beglücktes Wesen, ist und soll und wird. Doch dies
will ja überhaupt der Geist der Finsternis und des Obskurantismus nicht, denn je blinder der Glau be, desto blinder der Gehorsam, und desto sicherer die Erreichung tyrannischer Absichten und
Zwecke …“287
„Pünktlich im Geschäft, treu dem
Throne, treu im Hause, dienstbar dem
Vaterlande, geistesfrei und kräftig auf
dem Felde der Wissenschaft, durchdrungen von religiösem Sinne, weise
und besonnen in der Gemeinde, würdig in der gebildeten Gesellschaft,
makellos vor Jedermann im Wandel
wird es uns dann nicht an Muth und
Kraft gebrechen, zur entscheidenden
Stunde der Wahrheit das Zeugnis zu
geben. Als bestes Gegengewicht aber
gegen Obskurantismus lassen Sie uns
besonders den Wissenschaften leben,
die das sicherste Palladium unseres
Standes, zur Bewahrung seiner Wirksamkeit und Achtung sind …“288
Zum Vergleich nebenstehend eine satirische Theaterannonce aus dem „Schwarzen
Gespenst“, in der Eduard Maria Oettinger die
Würth'sche Thematik den Formulierungen
Müllers nach bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt
war übrigens Oettinger in München bereits
vorbestraft und stand kurz vor seiner Ausweisung aus Bayern.
Pejorative Begriffe wie „Obskurantismus“
oder „Jesuitismus“ waren damals weitverbreitete Schlagworte aufklärerischer Kreise; ihrer
bedienten sich, um bei dem hier vorgestellten Abb. 100: Titelblatt des „Schwarzen Gespenstes“ vom 25. Februar 1830.
Personenkreis zu bleiben, z. B. auch der Metternich-Vertraute Friedrich Gentz oder der Historiker und Ex-Illuminat Heinrich Ritter von Lang, wobei
besonders letzterer in seinen Nähe zu Karl August von Hardenberg, mit dem er zusammen Mitglied in
der Freimauerer-Loge „Zum Weißen Pferd“ in Hannover war, zu den frühen Anti-Hauserianern gerechnet
werden muss, die sich nicht einmal entblödeten, über den toten Kaspar Hauser an dessen frischem Grab
herzuziehen. Speziell vor der Inthronisation König Ludwigs I. in Bayern ließ sich der protestantische-er leuchtete „Aufklärer“ zu einem Pamphlet gegen den Jesuitimus hinreißen – quasi als Warnung auf den
neuen Regenten gemünzt. Mit solchen Schreiben kam auch ein von Lang dem Würth'schen Gedankengut
sehr nahe.
287 Auszug aus L. Würth: Spaziergang am Mittelmeer..., Bd. 1, Nürnberg 1829, S. 271.
288 Auszug aus Ludwig Würth: Über die Geltung des kleinen Katechismus Luthers als feststehende Lehrnorm der
evangelisch-protestantischen Kirche …, Synodalrede, Sulzbach 1832, S. 39.
129
Nach diesem kleinen Exkurs, der bereits einen Vorgriff auf einen späteren Teil dieser Arbeit bedeutet,
zurück zu Eduard Oettinger:
Oettinger war nur wenig älter als Kaspar Hauser, er war am 19. November 1808 in Breslau geboren. Insofern wäre es unsinnig anzunehmen, dass der Journalist und Schriftsteller zu der Rotte gehört hätte, die
Kaspar Hauser einst entführt und in den Salzachkreis gebracht hatte – er wäre damals allenfalls 4 bis 5
Jahre alt gewesen.
Dass Oettinger sehr jung war, als er das „Schwarze Gespenst“ herausgab (22 Jahre), konnte der
Deutsch-Ungar Müller aber kaum wissen. Nun könnte man Müller umso leichter unterstellen, er hätte an
Verfolgungswahn und allzu blühender Fantasie gelitten, wenn er den ungleich älteren Würth mit Oettin ger in Beziehung setzte. Doch dem war beileibe nicht so!
•
Denn zum einen hatte Müller gar nicht behauptet, Oettinger sei an der Primärtat beteiligt gewesen, sondern lediglich, dass er eine Zugehörigkeit zur „Bande“ Würths vermute. Dies bezog sich
auf die Zeit, als Würth sich in Wien äußerte, und er selbst in Linz nur knapp einem Mordanschlag
durch denselben (Dolchstich!) entgangen war (1827).
•
Zu anderen konnten wir nachweisen, dass Eduard Oettinger, wie von Müller vermutet, sehr wohl
eine Rolle im Fall Kaspar Hauser spielte – in Zusammenhang mit dem Publizisten-Kollegen Moritz
Gottlieb Saphir, mit dem Bankhaus Rothschild und dem Phänomen des „Anti-Bonapartismus“.
Zum Verständnis der Implikation Oettingers in den Fall Kaspar Hauser ist es jedoch notwendig, zu nächst eine ganze Reihe weiterer Sachverhalte und Eigentümlichkeiten zu erarbeiten, so dass wir an die ser Stelle die Erörterung abbrechen und erst später darauf zurückkommen. Bis dahin bitten wir den Leser
um Geduld!
130
Der Landgerichts-Advokat Christian Lampert
Damit kommen wir zum Advokaten Lampert, der ebenfalls von Johann Samuel Müller als Mittäter gemeldet wurde, von diesem allerdings mit weichen -b- in der Mitte geschrieben.
Sein Lebenslauf lässt sich relativ gut nachverfolgen und mit der Erzählung des Dompredigers so gut abgleichen, dass an der Historizität dieser Person nicht der geringste Zweifel bleibt:
Julius Christian Friedrich Lampert kam aus Lipprichhausen, einem Pfarrdorf in Unterfranken, gelegen
zwischen Uffenheim und Ochsenfurt. Um das Jahr 1785 dürfte er dort geboren worden sein. Er stammte
aus einer evangelischen Pastorenfamilie, die sich über mehrere Generationen zurückverfolgen lässt:
Nachweisbar ist im Jahr 1731 ein J. A. Lampert aus Lipprichhausen als Pfarrer von Marktbreit. Der Pfarrer
J. W. F. Lampert, geboren am 20. März 1784 in Lipprichhausen, wirkte ab 1809 als Pfarrer in Ippesheim.
Ein weiterer Pfarrer J. H. Lampert, geboren am 25. Mai 1781, in Mainbergheim, ist ab 1806 als Pfarrer zu
Michelfeld und Mainbergheim nachweisbar, desgleichen ein (in der Quelle vornamenloser) Pfarrer
Lampert zu Lipprichshausen selbst, der im Jahr 1813 starb. Letzterer dürfte der Vater des Julius Christian
Lampert gewesen sein, die beiden ersten waren vermutlich sein Großvater und Urgroßvater, der dritte
vielleicht ein Onkel. All diese Pastoren tragen den römischen Leitnamen der Familie: „Julius“.
Wenn sich Julius Christian Lampert im Jahr 1804 an der juristischen – nicht der theologischen! - Fakul tät der Universität Erlangen einschrieb, so brach er vermutlich mit einer Familientradition!
Lamperts Heimatort Lipprichhausen unmittelbar benachbart liegen die Orte Oberickelsheim und
Martinsheim, in welche sich sein ehemaliger Kommilitone, der nachmalige Pfarrer Ludwig Würth, im
Jahr 1816 versetzen ließ!
Nach erfolgreichem Examensabschluss im Fachgebiet Jura trat Julius Christian Lampert zunächst die
Stelle eines Landgerichts-Aktuars im niederbayerischen Deggendorf an der Donau an, wurde aber wenig
später in relative Heimatnähe an das Landgericht in Dinkelsbühl versetzt, wo er ab 4. Oktober 1811 als 2.
Landgerichts-Assessor tätig wurde. Die Richterlaufbahn scheint dem jungen Juristen indes nicht behagt
zu haben oder erfolgversprechend genug gewesen zu sein, denn er meldete sich alsbald an das Landgericht Vöcklabruck, in den 1810 neu errichteten Salzach-Kreis.
Dort ist er erstmals am 4. Juni 1812 als akkreditierter Landgerichts-Advokat nachweisbar. Von diesem
Zeitpunkt an – vermutlich nach dem Tod des Vaters – brach der Jurist ein zweites Mal mit der Familientradition: Er legte den Vornamen Julius ab, und ist künftig nur noch ohne diesen nachweisbar. Etwas
zeitversetzt, am 16. November 1813, erfolgte die offizielle Ernennung zum königlichen Advokaten.
Wenn man Johann Samuel Müller Glauben schenkt, kam der mit der Tradition hadernde Lampert
vielleicht schon in seiner Erlanger, spätestens jedoch in seiner Vöcklabrucker Zeit unter den Einfluss eines
Freimaurer-Zirkels, dem auch seine ehemaligen Kommilitonen, die besagten evangelischen Pfarrer von
Rutzenmoos/Vöcklabruck und Attersee, Ludwig Würth und Adam Leydel, sowie der Landgerichts-Aktuar
Karl Mayer angehörte.
Schon am 5. Juni 1814, zwei Jahre vor seinen konspirativen Kollegen, wechselte der junge Anwalt Lam pert auf eigenes Betreiben hin zurück in den Isar-Kreis. Er trat zunächst eine Advokatenstelle am Landge richt Weilheim an, ließ sich aber wenig später, am 15. Juni 1815, auf eigenen Wunsch in den Landge richtsbezirk Rosenheim versetzen.
Für den Umzug nach Rosenheim mag unter Umständen die bessere Erreichbarkeit Wanghausens den
Ausschlag gegeben haben, in dessen Einfriedung Kaspar Hauser als Gefangener gehalten wurde. Dieses
Schloss lag nur 65 km von Rosenheim entfernt und somit deutlich näher als Weilheim oder Vöcklabruck.
Wenn die Aussagen des Dompredigers Müller stimmen, dann hatte Lampert inzwischen als „Kerkermeister“ die weitere Organisation von Kaspars Unterbringung und sein „Großfüttern“ übernommen.
Dass Lampert die Bewachung Kaspar Hausers vor Ort nicht selbst übernahm, ist selbstredend; diese
hatte vermutlich ein Vertrauensmann vor Ort aus niedrigerem Stande über, eben jener Mann, den Kas par Hauser nach seiner Freilassung im Jahr 1828 einfach den „Mann“ nannte und den wir als den
131
Abdecker Simon Drechsler identifizierten. Damit möchten wir jedoch die Bedeutung Lamperts für
Kaspars Isolationshaft nicht mindern: Er war aus dem besagten Kreis auf jeden Fall derjenige, der dem
hinter der Grenze Bayerns befindliche Häftling in Wanghausen am nächsten war, und Drechsler
Instruktionen erteilte und Geld gab!
Am 25. Juni 1829 wurde der königliche Advokat Christian Lampert, wie er sich nun – ohne den „Julius“
im Vornamen – nannte, auch am Herrschaftsgericht Prien am Chiemsee als Anwalt zugelassen. Lampert
blieb für den Rest seines Berufslebens am Landgericht Rosenheim akkreditiert. Erst am 26. Januar 1854
entließ ihn König Maximilian II. von Bayern unter Aufgabe seiner Anwalt-Stelle aus seinen Pflichten.
Über Lamperts Privatleben wissen wir wenig. Johann Samuel Müller schrieb einst, Lampert habe
privatisiert und sich von einem „Freund“ aushalten lassen, doch scheint diese Angabe einer Finte des
Pfarrers Würth zu entsprechen, mit der er den Domprediger Müller von weiteren Erkundigungen nach
dem Verbleiben Lamperts abhalten wollte.
Es ist anzunehmen, dass Christian Lampert von München aus gut für seine Dienste an Kaspar Hauser
bezahlt wurde und deshalb einen hohen beruflichen Einsatz gar nicht mehr nötig hatte. Dazu passend
lassen sich über Jahrzehnte, bis 1842, jährliche Aufenthalte Lamperts in den Fremdenherbergen und
Gasthäusern Münchens nachweisen, zum ersten Mal am 10. Juni 1814. Diese Besuche in der Landes hauptstadt können durchaus dem Zweck gedient haben, dort treuhänderisch das jährliche Geld für den
Verschwörerkreis, dem Lampert angehörte, entgegenzunehmen, ehe es unter dessen Mitgliedern verteilt wurde.
Christian Lampert scheint überdies ein findiger und geschäftstüchtiger Mann gewesen zu sein: Im Jahr
1823 betätigte er sich nebenberuflich als Immobilienmakler, seine Kinder beschäftigte er als Maulbeerbaum- und Seidenraupenzüchter. Im Jahr 1832 spendete Lampert für die Errichtung eines Aiblinger
Denkmals zu Ehren König Ottos von Griechenland 2 Gulden. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt betätigte
sich Christian Lampert auch lokalpolitisch: Im Jahr 1830 ließ er sich als einer von 6 sogenannten Gemein de-Bevollmächtigten in den Magistrat der Stadt Rosenheim wählen, im Jahr 1848 vertrat er die Stadt Rosenheim im sogenannten „Landrath des Regierungsbezirks Oberbayern“.
Lampert scheint verheiratet gewesen zu sein, denn um 1821 kam ein Sohn Karl zu Welt, der sich 1835
an der lateinischen Schule der Stadt München und 1839/1840 am königlichen Gymnasium Freising als
Schüler nachweisen lässt. Karl war ein cleverer Bursche: An beiden Schulen tat er sich als Preisträger in
diversen Fachgebieten hervor. Im Oktober 1832 stellte sich der kaum 12-jährige Seite an Seite mit einem
gewissen „Fräulein Johanna Lampert“, vermutlich seiner Schwester, auf dem Zentralen Landwirtschaftsund Oktoberfest München als Maulbeerbaum- und Seidenraupenzüchter vor. In der Festschrift wurden
beide ehrend erwähnt. Es steht zu vermuten, dass eigentlich der Vater Christian Lampert hinter dieser
Aktion seiner Kinder stand. Nach dem Abitur studierte Karl Lampert wie sein Vater Jura, wozu er sich im
Jahr 1840 an der Studienanstalt in Freising einschrieb. Später promovierte er zum Doktor der Rechte und
ergriff ebenfalls eine Laufbahn als Anwalt in Rosenheim. In den Jahren 1853 und 1854 ist Karl Lampert
jun. als Doktor der Rechte und königlicher Advokat in Rosenheim registriert, zu letzterem Zeitpunkt wird
er die Nachfolge seines Vaters angetreten haben.
Soweit zur Lebens- und Berufslaufbahn des Christian und Karl Lampert. Alle Angaben stammen aus di versen amtlichen und nicht-amtlichen Zeitschriften des Königreichs Bayern, deren genaue Zitation wir
uns an dieser Stelle erspart haben.
132
Pfarrer Johann Adam Leydel
Auch der als weiterer Mitverschwörer genannte Johann Adam Leydel kam aus Franken, genau aus
Bayreuth, wenngleich er nicht in Erlangen oder Würzburg studiert hatte.
Johann Adam Leydel wurde am 7. November 1781 im Weiler Moosanger zwischen Töpen und Zedtwitz, ca. 7 km nördlich von Hof, geboren.289 Der Wohnort seiner Eltern war wohl Marlesreuth; er selbst
dürfte am Albertinum Hof290 eine Gymnasial-Ausbildung genossen haben. Im Jahr 1803 hält er als „Johann Adam Leidel aus Marlesreuth“, Präfekt des Hofer Alumneums 291 und „wohlgesitteter Jüngling“, eine
eloquente Rede zum „Einweyhungsfest unseres Albertinums.“ Es folgt ein verkürztes Studium der Theologie an der Universität Halle, von 1804 bis 1806. Anschließend ergriff seiner Personalakte zufolge Leydel
die Laufbahn des Gemeindepfarrers: mit Aufnahmeprüfung 1807, Anstellungsprüfung 1811 und Ordina tion in Baiersdorf am 11. September 1809. Vermerkt ist auch eine Tätigkeit aus Hauslehrer (1807) und in
der Kirchenverwaltung von Frauenaurach und Münchaurach (1809).
Von 28. Februar 1810 bis Ende 1813 war Leydel dann
Vikar in Gerhardshofen, 25 km westlich von Erlangen,
ehe er in der von König Max I. Joseph am 15. März 1813
gegründeten evangelischen Pfarre Attersee Gemeindepfarrer wurde. Am 12. November erhielt Johann Adam
Leydel seine Bestallung, am 21. Dezember 1813 hielt er
seine Antritts-Predigt in der kleinen gotischen Martinskirche, die Graf Montgelas den vormaligen Geheimprotestanten des westlichen Attersees zu einem Spottpreis
überlassen hatte. Ein Adress-Verzeichnis vermerkt Leydel noch für das Jahr 1814 als Vikar von Gerhardshofen
und Vorstand der Districts-Schulen-Inspektion Uehlfeld,
aber hier liegt vermutlich eine redaktionelle Unkenntnis
der Veränderung vor.292
Abb. 101: Die historische Kirche St. Martin in Atter-
Wie Johann Samuel Müller berichtete, kehrte Johann see, deren Urspünge in die Karolingerzeit zurückAdam Leydel zu Pfingsten 1814 nochmals nach Franken reichen. Der neugotische Turm wurde erst 1854 erzurück, um Johanna Carolina Friederike Stad(t)ler, die richtet.
Tochter des Rektors Dr. Johann Wilhelm Stad(t)ler und
seiner Frau Johanna Christiana Charlotte (beide wohnhaft in Bayreuth), zu heiraten und nach der Ehe schließung am 21. Juni 1814 in Bayreuth an den Attersee zu holen. 293
Als noch im selben Jahr, am 22. Oktober 1814, Leydels Schwiegermutter starb, gab der hinterbliebene
Ehemann 250 Gulden in eine Bayreuther Armenstiftung zu Ehren seiner verstorbenen Gattin, wozu die
Erben Adam und Johanna Leydel nochmals 50 Gulden darauflegten. Die Stiftung, Staats-Schulden-Tilgungs-Kasse-Scheine mit einer Verzinsung von 4 %, wurde zum Jahresende 1819 vom Magistrat der Stadt
Bayreuth schriftlich beurkundet.294
Adam Leydel blieb als evangelischer Gemeindepfarrer am malerischen Atter-See bis Juli 1816, dann
kehrte er wie sein Kollege Würth in seine fränkische Heimat zurück, zunächst in die Pfarrei Elters dorf289 K. Fuchs: Annalen der protestantischen Kirche in Königreich Bayern …, NF, Heft 3, München 1842, S. 151. Ley dels Vater war Maurer und stammte aus diesem Weiler.
290 Das alt-ehrwürdige, bereits 1546 gegründete Gymnasium von Hof heißt heute nach dem Schriftsteller Jean
Paul (1763-1825), der an dieser Anstalt Schüler war, Jean-Paul-Gymnasium.
291 Das Hofer Alumneum war ein unter der Leitung der protestantischen Kirchenverwaltung Hof stehendes Inter nat für begabte, evangelische Landkinder. Es ist anzunehmen, dass Leydel dort selbst als Alumne untergebracht
war, ehe er anschließend Präfekt der Anstalt wurde.
292 Addreß-Handbuch für den Rezat-Kreis …, Bamberg 1814, S. 178.
293 Linde 1, S. 201.
294 Intelligenzblatt Ober-Main-Kreis Nr. 156.
133
Tennenlohe bei Erlangen, wo er am 7. Juni 1816 als Pfarrer installiert wurde. Am 30. April 1822 über nahm er die Stelle des ersten Pfarrers in Pegnitz, Dekanat Creussen, am 25. Mai 1826 wechselte er als er ster Pfarrer nach Kasendorf, 11 km südwestlich von Kulmbach, und wurde Distrikts-Schul-Inspektor für
Hollfeld.295 Am 27. Januar 1840 verstarb Johann Adam Leydel in Kasendorf, am 6. Februar 1840 wurde
sein Tod im „Bayerischen Volksfreund“ öffentlich angezeigt. 296 Leydel Frau folgte ihrem Mann am 15.
April 1846 ins Grab.
295 Information aus diversen Adressbüchern des Königreichs Bayern.
296 Fuchs, Annalen, S. 151. Bayerischer Volksfreund, Nr. 31, S. 247.
134
Landgerichts-Aktuar Karl Mayer
Nun zum Aktuar Karl Mayer:
Mit Schreiben von 8. und 13. Mai 1830 berichtete der österreichische Regierungspräsident von Oberösterreich ob der Enns, Alois Graf Ugarte, dem Polizeipräsidenten von Sedlnitzky, was man über den
„Actuar Mayer“ in Erfahrung gebracht hatte. Dieser unterrichtete wiederum davon den Staatskanzler von
Metternich, mit Schreiben vom 21. Mai 1830, wie folgt:
„In dem ersten dieser Schreiben (Ugartes) leuchtete mir aus dem Umstande, dass der vormalige königlich-bayerische Landgerichts Actuar zu Vöclabruck, nunmehriger Justiz Assessor in München, Mayer, auf welchem nach den Angaben des Dompredigers Müller die schlimmste Inzicht ei ner Schuld in der befragten Angelegenheit lastete, mit der Gattin des damaligen Schärdinger
Postmeisters Gaugel einen unehelichen Sohn erzeugt und dieses Kind späterhin aus den Händen
der Pflegerin desselben zu Vöclabruck in eigene Obsorge übernommen habe, die Möglichkeit einiger Beziehung auf den Caspar Hauser hervor. Allein durch die in dem zweiten Schreiben vorkom mende Erörterung verschwindet alle Haltbarkeit der Vermutung, daß der im Jahre 1816 aus dem
vertrauten Verhältnisse der Mde Gaugel mit dem Bayerischen Justizbeamten Mayer entsprossene, nunmehr erst im 14ten Jahre stehende Knabe mit dem Caspar Hauser, welcher vermöge der
aus den öffentlichen Blättern ersichtlichen Daten schon über 17 Jahre ist, ein und dieselbe Person
sein dürfte …“297
Karl Mayer hatte also im Jahr 1816 mit einer Schärdinger Postmeistersgattin einen Fehltritt begangen,
aus dem ein Kind hervorging. Ein Zusammenhang mit Kaspar Hauser wurde allerdings von Alois Graf von
Ugarte verneint.
Als er der besagte Mayer im Inn- und Hausdruckviertel weilte, unterstand er zunächst dem Landrichter
Ludwig von der Pfordten,298 der in Ried das neue Kriminalgericht leitete, später dem Vöcklabrucker
Landrichter Marquard Winterich, der aus Augsburg stammte und bei der österreichischen Bevölkerung
sehr beliebt gewesen sein soll. Soviel ließ sich zunächst aus einigen Schriftwerken über die neuen
bayerischen Gebiete jenseits von Inn und Salzach ableiten.
Die berufliche Verwendung Mayers als Landgerichtsbeamter ist unter dem Aspekt, dass Mayer nach
Johann Samuel Müller kriminelle Energie besaß und in einem Kreis von Entführern an vorderster Stelle
agierte, ein pikanter Sachverhalt: Er konnte so in beide Richtungen als Informant und V-Mann agieren!
Aus diesem Grund verwandten wir auf die Rekonstruktion der Biographie dieses Mannes, besonders
viel Mühe, stießen aber auf Hindernisse, die sich als unüberwindlich erwiesen. Zwar ließen sich mehrere
bayerische Landgerichtsassessoren namens Karl Mayer ermitteln, aber wegen der Ubiquität der Namen
und der Variabilität ihrer Schreibweisen (Carl, Karl, Mayer, Maier, Meyer, Meier, Mayr etc.) sowie der
Kurzlebigkeit der bayerischen Beamtenschaft im Inn- und Hausruckviertel konnten wir uns am Ende nicht
darauf festlegen, wer hier der richtige war, und somit auch nicht den weiteren Lebensweg verfolgen. 299
Licht ins Dunkel kam erst durch einen unglaublichen Zufall des Jahres 2016. Es meldete sich bei uns
überraschenderweise eine Frau Engel aus Krems an der Donau und stellte uns die autobiographischen
Notizen des richtigen Karl Mayer zur Auswertung zur Verfügung. Es handelte sich um eine Loseblatt297 Brief des Polizeipräsidenten Graf von Sedlitzky an Fürst Metternich, vom 21. Mai 1830, der sich auf zwei
vorangegangene Schreiben des Regierungspräsidenten von Österreich ob der Enns, Alois Graf Ugarte, vom 8.
und 13. Mai 1830, bezieht: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html. Der Brieftext ist auch bei
Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 259f., wiedergegeben, hier jedoch mit falscher Datumsangabe, falschem
Adressaten (Metternich), falscher Schreibweise des Namens „Gaugl“ und weiteren Transkriptionsfehlern.
298 Dieser Mann war vermutlich ein Vorfahr des gleichnamigen Kabinettschefs unter König Ludwig II. Siehe hierzu
das Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Bayern von 1812, S. 185.
299 Zur Auswahl: Karl Mayer, Justizrat am Oberappellationsgericht München von 1824 bis 1828. Drei Landgerichtsassessoren des gleichen Namens in den Landgerichten Roding (ab 1816), Bischofsheim (vor 1832) und Burgau
(1833 bis 1839). Der erste dieser Assessoren wurde 1833 Landrichter in Roding, der zweite 1832 Landrichter in
Rothenbuch bei Aschaffenburg.
135
Sammlung, leider nicht von handschriftlichen Originalen, sondern von späteren Transkriptionen aus unbekannter Hand. Mit Hilfe dieser Informationen wissen wir allerdings nun über den ehemaligen Landgerichts-Aktuar Mayer besser Bescheid als über seine „Kollegen“, müssen uns aber an dieser Stelle aus
Platzgründen auf die Vorstellung der wichtigsten Eckdaten beschränken. 300
Karl Mayer wurde am 26. April 1787 in Dietenheim an der Iller als Nachkömmling einer Familie von
Gelehrten geboren, welche ursprünglich aus der Hohenloher Ebene hatte, sich aber zuletzt in den vormals vorderösterreichischen Gebieten an der Iller (in Oberkirchberg) niedergelassen hatte. 301
Karl Mayer erhielt bis 1805 seine Gymnasialausbildung in Darmstadt, der Heimat seiner Mutter. An schließend erlebte er in Oberkirchberg hautnah die entscheidenden Schlachten Napoleons bei der Er oberung Süddeutschlands im 3. Koalitionskrieg mit (Schlacht bei Günzburg, Schlacht bei Elchingen,
Schlacht bei Ulm), ehe er sich im November 1805 an der Universität Tübingen für das Fach Jura ein schrieb. Als durch den Pressburger Frieden seine Heimat an der Iller mit Bayern vereint und dieses zum
Königreich erhoben war, wechselte er nach dem 4. Semester an die Universität Landshut, wo er bis zum
Herbst 1808 sein Studium fortsetzte und schließlich erfolgreich beendete.
Danach absolvierte er am königlichen Landgericht Söflingen bei Ulm, also in der Nähe seiner Heimat,
ein berufsvorbereitendes Praktikum. In dieser Zeit wurde er zum ersten Mal unmittelbar mit den
schrecklichen Kollateralschäden des 5. Koalitionskriegs konfrontiert, als er sich in einem Behelfslazarett
in Söflingen als Helfer betätigte.
Nach Abschluss der Prüfungen zum Staatsbeamten im Herbst 1809 ging Karl Mayer mit Verzug eines
Jahres für wenige Wochen als Accesist an das Kreis- und Stadtgericht München. 302 Es ist anzunehmen,
dass der junge Mann in dieser Zeit für eine kriminalistische Tätigkeit im neu erworbenen Innviertel/Salzachkreis gebrieft wurde, denn schon 3 Monate später erhielt er seine Versetzung an das Kriminalgericht
in Ried, wo er am 20. März 1811 seine Arbeit als Landgerichts-Aktuar aufnahm.
Ein Jahr später wurde er in derselben Funktion an das nahe Landgericht in Vöcklabruck versetzt, wo er
expressis verbis nicht nur einen vertrauten Umgang mit dem aus Augsburg stammenden Landrichter
Marquard Winterich303 bestätigte, sondern auch mit dem Advokaten Christian Lampert und dem Pfarrer
Ludwig Würth!
Da diese Kontakte nicht von Ungefähr kamen, bestätigt hier Karl Mayer genau jenes Vertrautsein
mit den Personen, welche später Johann Samuel Müller neben ihm selbst als Entführer Kaspar Hausers
in Ansbach zur Anzeige brachte.
Selbstredend ist bei Karl Mayer und auch in den folgenden Jahren bis 1816 nicht vom Entführungsfall
Kaspar Hauser die Rede, auch nicht vom anti-bonapartistischen Widerstand im Innviertel, sondern nur
von einigen geheimpolizeilichen Aktivitäten Mayer zwischen den Fronten, die ihm eine Belobigung der
bayerischen Regierung eingetragen haben sollen.
Karl Mayer hatte bereits seine Versetzung an das Landgericht Roding in der Tasche, als am 8. Oktober
1016 die Rückgabe des Innviertels und Salzachkreises (inklusive des westlichen teils des Hausruckviertel)
an Österreich besiegelt wurde. Genau 1 Woche später, am 16. Oktober 1860, entband in Wald an der Alz
300 Die vollständigen Aufzeichnungen können, mit zahlreichen Zusatzinformationen und Kommentaren versehen,
unter folgender Adresse nachgelesen werden: http://www.robl.de/hauser/mayer.pdf.
301 Mayers Großvater väterlicherseits war der berühmte Johann Friedrich Georg Hartmann Mayer, ein evangelischer Pfarrer aus Kupferzell, der als Agrarforscher die Landwirtschaft in Hohenlohe reformierte und als „Gipsapostel“ in die Geschichte einging. Mayers Vater, der ebenfalls gelehrte Johann Christian Mayer, absolvierte eine
Beamtenkarriere; er war zuletzt unter dem Titel Oberamtsrat ein gut dotierter Kameralbeamter im Dienst der
Grafen Fugger von Oberkirchberg und Weißenborn.
302 Wo ihn 1830 Alois Graf Ugarte verortete (siehe oben), womit klar wird, dass dieser bei seiner Meldung an Sed litzky und Metternich auf einen 20 Jahre alten Bericht zurückgegriffen hatte.
303 Das war vermutlich jener Mann aus Augsburg, den später der Publizist Schmidt von Lübeck mit einem Pfarrer
Winter aus Augsburg verwechselte, welcher mit der Affäre der Dalbonne bestens vertraut gewesen sein soll.
Hierzu mehr weiter vorn.
136
Antonia Gaugl, die Gattin des ehemaligen Postmeisters von Schärding, von dem mit Karl Mayer außerehelich gezeugten Sohn Karl, der eingangs erwähnt wurde. Das Kind war mit hoher Wahrscheinlichkeit in
Vöcklabruck gezeugt worden, denn im bayerischen Interim hatte sich die Familie Gaugl nach Vöcklabruck
zurückziehen müssen, wo Antonia Gaugls Mann ein Gut und sie selbst als geborene Wißhofer ihre familiären Wurzeln besaß
Mit dieser Entbindung ging für Karl Mayer auch das berufliche Intermezzo in Ried und Vöcklabruck zu
Ende. Im November 1816 trat er am Landgericht Roding die Stelle des 1. Assessors an; er wird abgesehen
von kurzen Reisen diesen Ort am bayerischen Vorwald für 25 weitere Jahre nicht mehr verlassen. In
diese lange Zeit fallen die beiden Ehen Karl Mayers mit Damen aus dem Oberpfälzer Landadel, wobei nur
aus der zweiten, mit Theresia Freiin von Gleißenthal, ein Kindersegen resultierte. Kurz, nachdem Karl
Mayer am 18. Juli 1833 zum Landrichter von Roding ernannt worden war, gehörten zu seinem Haushalt
12 Personen zu seinem Haushalt, neben dem Ehepaar Mayer selbst und Mayers Schwester Auguste acht
ehelich gezeugte und ein außerehelich gezeugtes Kind, eben jener erstgeborene Karl, den Mayer 1818
von Vöcklabruck nach Roding geholt hatte.
Der in Roding hochbeliebte Landrichter Karl Mayer wurde nur 54 Jahre alt. Er verstarb nach langer
Krankheit am 27. Juni 1841 und wurde anschließend im Beisein der Landbevölkerung im ökumenischen
Modus von der katholischen Geistlichkeit Rodings zu Grabe getragen. 304
Wir beenden diese Lebensbeschreibung mit einer eigenartigen Geschichte, die Julius Meyer in seinem
Werk von 1872 erwähnte, und von der wir nicht wissen, ob sie den Rodinger Landrichter Karl Mayer oder
eine andere Person betrifft:
Ein Stationskommandant namens Bäumel zu Legau (südlich von Memmingen) erstattete 1833 bei seinem Kompanie-Kommando in Augsburg Anzeige, nachdem er bei einem Streifgang bei „Lauterbach an
der Würtemberger Grenze“ (= Lautrach nördlich von Legau) im Wald einen „fremden, schönen, reinlich
gekleideten“ Mann bei einem angeblichen Suizidversuch überrascht hatte. Dieser hatte unmittelbar zuvor in einem Selbstgespräch in etwa folgende Selbstanklage geführt:
„Ich wollte, Caspar Hauser wäre wieder am Leben, gerne wollte ich nichts wissen von dem
Gelde, welches ich für diese That bekommen habe. Nürnberg mitsammt dem Gelde sollte
versinken, ich darf nie mehr zu meinen Eltern zurückkehren. Doch was werden dieselben denken,
wenn ihr Carl nicht mehr zurückkehrt? Entkommen thu' ich nie, indem ich erst kürzlich noch der
Gefahr entronnen bin, es ist besser, wenn ich meinen Leben ein Ende mache …“305
Bäumel bekam den Lebensmüden nicht zu fassen, er entkam durch Flucht.
Kann dieser Mann dem verbürgten Karl Mayer entsprochen haben?
In den Jahren 1819 und 1829 waren Mayers Vater und Mutter verstorben. Es ist gut vorstellbar, dass
sich der Landgerichtsassessor im Jahr 1833 an das Grab seiner Eltern in Heidelberg oder Darmstadt
begab, hinterher dem Verlauf der Iller folgte und nach Jahren der Abstinenz auch seinen ehemaligen
Wohnort in Oberkirchberg und seinen Geburtsort Dietenheim aufsuchte. Dabei kann er wegen seiner
früheren Untat an Kaspar Hauser durchaus in Gewissensnot geraten sein, sodass er sich in einem südlich
gelegenen Waldstück laut darüber ausweinte.
Es ist also nicht so abwegig, was der Stationskommandant Bäumel aus Legau 1833 bei einem Streif gang von einem verzweifelten Karl berichtete, wenngleich es sich bei dem Belauschten im Fall der Perso nenidentität weder um einen jungen Mann mit noch lebenden Eltern noch um einen Selbstmörder gehandelt haben kann. Es fällt aber ins Auge, dass beide Orte, Dietenheim und der Wald bei Lautrach, wo
die ominöse Begegnung stattfand, an Karl Mayers Heimatfluss Iller liegen, nur eine Halbtagesreise von einander entfernt.
304 Diese Information stammt naturgemäß nicht mehr aus den autobiographischen Aufzeichnungen Karl Mayers,
die 1836, 5 Jahre vor dem Tod, abbrechen, sondern aus einem Nachruf im Oberpfälzischen Zeitblatt vom 14. Au gust 1841.
305 Aus Meyer, Mitteilungen, S. 403f.
137
Zur Glaubwürdigkeit des Johann Samuel Müller
Ziehen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz. Was macht uns so sicher, das Johann Samuel Müller
nicht jener geltungssüchtige Denunziant war, als den man ihn damals hinstellte, sondern ein Mann, der
das Potential hatte, den Fall Kaspar Hauser aufzuklären und im Großen und Ganzen wahrheitsgetreu
berichtete?
•
Die Vehemenz der Staatsorgane bei der Niederschlagung der Affäre um den Pfarrer Würth und
die Gouvernante Dalbonne
Ein kleiner Kreis von Personen in der obersten Führungsspitze von Bayern und Österreich hatte in
selten geübter Einigkeit höchstes Interesse daran, dass die Aussagen des Dompredigers Müller
nicht weiter verfolgt wurden. Dieser hatte lediglich auf ein privat verübtes Verbrechen, die Ent führung eines vermögenden Kindes, hingewiesen. Genügt ein solches Verbrechen, um alle Exekutivorgane auszuschalten und den Fall auf eine rein politische Ebene zu heben? Keinesfalls, es
musste mehr dahinterstecken! Es ging darum, durch Vertuschung auf beiden Seiten eine Staatskrise zu vermeiden. Man scheute nicht davor zurück, den Domprediger mundtot zu machen und
ihn für geisteskrank zu erklären. Man zerstörte seine Karriere und bürgerliche Existenz. Ein reines
Denunziantentum und eine Sache geringer Bedeutung hätte all dies nicht erfordert.
•
Die geringe Professionalität Müllers
Bezüglich seines Vorgehens muss man Johann Samuel Müller wenig Geschick und das Fehlen eines Vorsatzes bescheinigen. Er scheint nicht ihm geringsten geahnt zu haben, dass man ihm nicht
glauben würde. Je weniger er vorankam, desto mehr vermeintliche Zeugen brachte er ins Spiel.
Das waren Menschen, auf deren Hilfe er hoffte, derer Loyalität er sich jedoch zuvor nicht versichert hatte, und die ihn prompt hinterher im Stich ließen. Auch wirken seines Aussagen nicht
aufgesetzt, nicht vorbereitet. Erst nach und nach gelang es ihm, sein Gedächtnis zu aktivieren,
und selbst dann passierten ihm noch einige Fehler. Ein gut geplantes, zielgerichtetes Denunzian tentum sieht anders aus. Es hätte sich in der Zahl der Zeugen beschränkt, es hätte sich ihrer
Treue versichert, um keine Widersprüchlichkeiten aufkommen zu lassen. Gerade weil Müller
nicht immer präzise war, ist er in seinem Aussagen ernst zu nehmen!
•
Die Aussagen der Pfarrer Franz Venisch und Anton Karner
Der katholische Pfarrer Franz Venisch war einer der wenigen, denen Müller soviel Vertrauen
schenkte, dass er sie umfänglich aufklärte, d. h. auch in Einzelheiten informierte, zu denen wir
heute aufgrund der erhaltenen Dokumente keinen Zugang mehr haben. Der Antwortbrief Franz
Venisch's zeigt, dass er Müller dieses Vertrauen zurückgab und überzeugt war, dass es diesem gelingen würde, das Verbrechen an Kaspar Hauser zu sühnen. So etwas kommt nicht von Ungefähr.
Nur schade, dass Venisch bei den amtlichen Ermittlungen dann sehr große Vorsicht übte und in
den Kernpunkten unverbindlich blieb.
Venisch war übrigens nicht der einzige Geistliche, der Müller ernst nahm. Auch der Priester Dr.
Anton Karner, der später Bischof von Raab/Györ wurde, schenkte Müller Vertrauen, und er war
auch derjenige, der bei dem Wissensstand Müllers davon ausging, dass die Bayerische Justiz hin terher gegen den Haupttäter die Todesstrafe verhängen müsse. Diese Überzeugung hätte er
sicherlich nicht ausgesprochen, wenn ihm zuvor nur haltlose Verdächtigungen übermittelt worden wären.306
•
Das hochverdächtige Verhalten der Dalbonne
Die unbestreitbare, von mehreren, voneinander unabhängigen Personen referierten Tatsache,
dass die Anna Frisacco alias Dalbonne beim Näherrücken einer „peinlichen“ Befragung plötzlich
306 Brief Karners vom 10. Februar 1830, in: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
138
eine Geisteskrankheit simulierte und sich hintereinander erst ins Kloster und dann in eine Anstalt
für Geisteskranke flüchtete, desgleichen das unglaubliche Phänomen, dass sie sofort von ihrer
Paranoia wieder genas, als sich der Rauch verzogen hatte, sprechen eine missverständliche
Sprache. So handelt keine Unschuldige, keine Randperson in der Affäre Kaspar Hauser, sondern
nur jemand, der aufgrund eines erheblichen Verbrechensanteils das Schafott fürchtete (O-Ton
Dalbonne). Geradezu unglaublich und damit umso verdächtiger ist die Tatsache, dass sie hinterher von einem bayerischen Appellationsgericht einen amtlichen Freibrief erhielt, desgleichen
die Tatsache, dass sie hinterher im Untergrund verschwand.
•
Fehlende Ausschlussgrunde und Alibis in den Lebensdaten der von Johann Samuel Müller
inkriminierten Personen
Der Pressburger Domprediger hatte nicht nur eine Person, sondern gleich eine ganze Reihe von
Personen der Beteiligung am Verbrechen gegen Kaspar Hauser bezichtigt. Da sollte man doch für
den einen oder anderen im Fall der Unschuld Ausschlussgründe oder Alibis erwarten, die diese
Beteiligung nach Johann Samuel Müller widerlegen. 307 Doch weder hat auch nur einer von diesen
Leuten derartige Gegenbeweise vorgelegt, noch konnten wir selbst in den überkommenen
Lebensdaten Alibis und Widersprüche entdecken. Insbesondere die Lebensbeschreibung des
Aktuars Mayer ist so fein gestrickt, dass im Fall der Nicht-Beteiligung das eine oder andere Alibi
zu erwarten gewesen wäre. Doch dies ist nicht der Fall, weder zur Zeit des Studiums in Landshut,
in der z. B. Mayer in den Semesterferien durchaus in Kontakt mit Anti-Bonapartisten der Erlanger
Studentenszene gekommen sein könnte, noch in den besonders wichtigen Jahren zwischen 1813
und 1816, in denen sich Kaspar Hauser in unmittelbarer Nähe Mayers befand.
•
Das Schloss am Meierhof
Johann Samuel Müller nannte vereinzelt Details, die sich perfekt mit dem Verwahrungsort Wang hausen decken, den wir mit einer ganz anderen Indizienkette erschlossen haben. Dazu gehört zu nächst der bereits vorgestellte Verwahrungsort „Schloss am Meierhof“. Hier ist exklusiv das
Schloss Wanghausen beschrieben, ein anderes Schloss auf Höhe der Salzach, von dem aus
Kaspar obendrein eine Schule hätte besuchen können, gibt es nicht. 308 Ein simpler Denunziant
hätte sich eine derartig präzise topographische Angabe nie aus den Fingern saugen können!
Bei dieser Indizienlast bleibt für uns im Fall Kaspar Hauser der Domprediger Johann Samuel Müller
ein Kronzeuge ersten Ranges. Damit akzpetieren wir den von ihm inkriminierten Personenkreis als am
Verbrechen an Kaspar Hauser beteiligt, überprüfen aber im Folgenden genau, wo sich Bestätigungen
und wo sich Widersprüche und Ausschlussgründe auftun.
Zunächst geht es darum, sich bewusst zu machen:
•
Wenn man von der Anna Frisacco absieht, so handelte es sich beim gesamten Täterkreis um
Personen, welche einige Jahre im neu gegründeten Innbayern und Salzach-Kreis/Hausruckviertel
unter einer gutbürgerlichen, z. T. kirchlich-religiösen Fassade lebten.
•
Sie alle hatten sich nach den Kriegsjahren vom Wechsel in die neuen bayerischen Gebiete einen
Karrieresprung versprochen, was einen gewissen Ehrgeiz und den Willen zum Aufstieg belegt.
Möglicherweise hing dieser auch von ganz bestimmten Aufträgen ab, die am neuen Wirkungskreis zu erledigen waren. Zumindest beim Aktuar Mayer finden sich hierfür Belege.
307 Z. B. war der des Mordes an Kaspar Hauser bezichtigte Major Johann Heinrich David Hennenhofer imstande,
sich mit derartigen Alibis zu exkulpieren.
308 Vorübergehend hatten wir noch das Schloss Hackledt bei Schärding im Visier, da es an einer Ortschaft „Mayr hofen“ lag. Dieses Schloss war 1800 an den Freiherrn Johann von Peckenzell gegangen, nachdem der
Vorbesitzer kinderlos verstorben war. Wir ließen aber das Schloss als Tatort fallen, da der Besitzübergang zu früh
stattfand, um im Fall Kaspar Hauser eine Rolle zu spielen. Im Übrigen lag das Schloss weder an der Salzach noch
war von ihm eine Schulstadt jenseits der Grenze zu erreichen.
139
•
Drei von ihnen kamen sicher aus Franken, zwei von der Universität Erlangen. Im Matrikelbuch
der Universität Erlangen findet man für das Jahr 1804 die Neueinschreibung dreier Personen mit
entsprechendem Namen und Studieninteressen: einen „Jul. Christ. Lampert“ aus Lipprichhausen
in Unterfranken, einen „Friedr. Karl Mayer“ aus Erlangen, beide im Fachgebiet Jura, sowie den
besagten „Joh. Chr. S. Ludw. Würth“ aus Vestenberg bei Ansbach im Fachgebiet Theologie. 309
Der Familienname Lampert fiel so oft im Erlanger Matrikelbuch auf, dass an der fränkischen Herkunft des Advokaten kein Zweifel besteht.
Lange Zeit glaubten wir, dass der im selben Semester wie Würth und Lampert studierende
„Friedr. Kal Mayer“ dem späteren Landgerichts-Aktuar Mayer entsprach. In Kenntnis seiner autobiographischen Notizen müssen wir aber diese Möglichkeit ausscheiden: Der besagte Friedrich
Karl Mayer, der nicht nur in Erlangen studierte, sondern auch aus Erlangen stammte, hat mit der
Affäre Hauser nichts zu tun!
Wie also konnte später der Aktuar Mayer mehrfach Johann Samuel Müller gegenüber behaupten, es habe in Erlangen einen Kommilitonen im Hintergrund gegeben, der die Hauptverant wortung im Fall Kaspar Hauser besaß?
Ehe wir uns mit dieser essentiellen Frage beschäftigen, fokussieren wir zunächst auf den Mittäter
Adam Leydel, denn ihm haben wir eine äußerst wichtige Information zu verdanken.
309 Personalstand der Friedrich-Alexanders Universität Erlangen in ihrem ersten Jahrhundert, Erlangen 1843, S.
161ff.
140
Die Wegsperrung Kaspar Hausers aus Sicht der Beteiligten
Johann Samuel Müller nahm offensichtlich bei den Treffen der Verschwörer wiederholt teil, bis er sich
klar distanzierte. So berichtete er im Januar 1830 von einem Treffen bei Pfarrer Johann Adam Leydel in
Attersee:
„Im Jahre 1814 war beim Pfarrer Leidel in Attersee allerdings von einer Kapelle die Rede, wo
man das Kind einsperren wollte oder wirklich eingesperrt hatte, weil man aber den Ort nicht für
sicher genug hielt wegen der nahen Straße, so brachte man dasselbe an einen andern Verwahrungsort …“310
Das entführte Kind sollte also demnächst in einer für den Publikumsverkehr verschlossenen Kapelle
an einer Straße eingesperrt werden, oder – der Kronzeuge ließ das offen – es war bereits dort eine
Zeitlang eingesperrt.
Unter Berücksichtigung des Zeitrahmens, den wir bereits bei der Besprechung des Weißriemlers
Drechsler aufgespannt haben, gibt es nur zwei Möglichkeiten:
•
Kaspar hatte bereits seit 1812 als Säugling auf den Weilhart gelebt, aber nun ließ er sich dort
nicht mehr verheimlichen, so dass er in der besagten Kapelle interniert werden sollte (oder
1813/Anfang 1814 bereits für kurze Zeit war).
•
Kaspar kam erst 1813 im Innviertel resp. in Vöcklabruck an, und man wusste zunächst nicht,
wohin mit ihn.
Nun gab es am Attersee keine als Versteck geeignete
Kapelle. Etwas anders war die Lage bei Vöcklabruck. Die
zur Zeit der napoleonischen Invasion profanierte Dörflkirche St. Ägidius und die 1564 entstandene MariahilfKapelle bei Vöcklabruck lagen zwar in Bayern, kamen
aber wegen der Straßennähe für eine zeitweise Unterbringung Kaspar Hausers nicht in Frage.
Nach Auskunft des Pfarrers Martin Rößler von Rutzenmoos wäre dazu wegen der waldigen Umgebung
nur das Kirchlein St. Vitus bei Oberregau geeignet
Abb. 102: Das Kirchlein St. Vitus auf einer bewald- gewesen, doch lag dies stillgelegte Filialkirche von Reten Anhöhe südlich über Vöcklabruck.
gau südlich des Grenzflusses Ager und damit bereits in
Österreich.
So steht zu vermuten, das Kaspar Hauser nie in der Nähe von Vöcklabruck untergebracht war, sondern
von vorneherein, spätestens im Frühling 1814, sein Verlies im Schlosspark von Wanghausen bezog, jenes
„kleines Nebengebäude entweder bei einem Ritterschlosse oder bei einem Meierhofe“, das Johann
Samuel Müller als holz-umstanden in einem Atemzug erinnerte.
Noch eine klare, unmissverständliche Botschaft hat uns Müller hinterlassen:
Wenn Johann Adam Leydel anlässlich seiner Brautfahrt zu Pfingsten 1814 den Knaben schlafend in
seinem dunklen Verlies betrachten konnte, dann scheidet nach menschlichem Ermessen ein SäuglingsStatus des gefangenen Kindes aus.
Mit anderen Worten: Das Kind musste 1814 bereits deutlich über 2 Jahre alt, vollständig von der
Brust entwöhnt und „trocken“ gewesen sein!
310 Nämlich zum Schlosspark von Wanghausen. Vgl .vollständiges Zitat weiter oben.
141
Bezogen auf das bei der Obduktion durch Dr. Albert ermittelte Alter Kaspar Hausers von 22 bis 24 Jah ren passt dies perfekt:
Kaspar Hauser wurde demnach bereits 1809 oder spätestens 1810 geboren, womit die Information
des Mägdlein-Zettels (Geburtsdatum 30. April 1812) klar eine falsche ist, und nur der
Auffindungzeitpunkt Oktober 1814, der so im Rittmeister-Brief steht, noch akzeptiert werden kann,
wenn auch ohne letzte Gewissheit!
Ab dem 4. oder 5., frühestens ab dem späten 3. Lebensjahr, wäre Kaspar in seinem Verlies gehalten
worden, vermutlich die ersten Jahre mit vielen Unterbrechungen, z. B. zugunsten eines Schulunterrichts
in Burghausen und eines Handwerker-Lebens in der Weißriemlerei im Weilharter Neubruch.
Diese Datierung widerlegt wiederum klar die Theorie, Kaspar Hauser resp. das versperrte Kind sei
der Erbprinz von Baden gewesen. Dieser wurde am 29. September 1812 geboren, wäre also bei Leydels
Besichtigung erst 1 3/4 Jahre alt gewesen, was die Verwahrung in einem „finsteren Loch“ – selbst eine
zeitweise Unterbringung – verunmöglicht!
Wir nehmen also zur Kenntnis:
Als Pfarrer Johann Adam Leydel zu Pfingsten 1814 seine Braut in Bayreuth abholte, suchte er nach
Johann Samuel Müller den Kerker des gefangenen Kindes auf und fand es schlafend in einem dunklen
Verlies vor, innerhalb eines holz-umstellten Gebäudes. Was liegt angesichts der Reiseroute näher, als
dass diese Besichtigung im Schlossareal von Wanghausen stattfand, in jenem Beigebäude, das wir bereits
geschildert haben?
Leydels Reiseroute von Attersee über München und Nürnberg nach Bayreuth bestätigt klar und ein
weiteres Mal den Verwahrort Wanghausen, denn diese Reiseroute kreuzte die Salzach gerade bei
Wang- und Burghausen!
Bei genauerer Betrachtung gewinnen also die Aussagen Müllers ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit
und Beweiskraft!
In München konnte der Pfarrer Leydel anschließend das von Johann Samuel Müller erwähnte
Schweigegeld empfangen haben, entweder aus Richtung England oder möglicherweise sogar von bayeri schen Hof oder von der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine, in diesem Fall als Schweigegeld ausbezahlt
vom Bankhaus Nockher/Dell'Armi, mit dem damals sie und ihr Freund und Berater Joseph von
Utzschneider all ihre Geschäfte abwickelten. 311 Dabei muss Maria-Leopoldine, so sie in den Fall involviert
war, nicht zwangsläufig vom Kerker-Schicksal Kaspars erfahren haben. Ihr wird vielleicht die
Vollzugsmeldung genügt haben, dass Kaspar in Triest untergebracht war, um auf ein Schiff in Richtung
England oder ins sonstige Ausland zu warten, wie bereits beim ersten Sohn.
Was Leydel 1814 den Umweg über Nürnberg machen ließ, entzieht sich unserer Kenntnis. Mit dem Fall
Kaspar Hauser konnte es jedenfalls auch zu tun haben – nicht umsonst wird der Findling fast zwei Jahrzehnte später dort auftauchen!
In diesen Angaben Müllers wird Wanghausen als Verwahrungsort des entführten Knaben erstmals
greifbar, wenngleich der Name dabei nicht fällt. Alles in allem bestätigt sich hier, selbst wenn Müller
später in seine Erinnerungen Einiges an unbewiesenen Gerüchten hineinverwob, die Validität seiner
frühen Kernaussagen. Damit ergibt sich eine weitere heiße Spur, die direkt nach Wanghausen führt!
311 Diese Annahme ist insofern plausibel, als die gerade aus Stepperg nach München zurückgekehrte Kurfürstin mit
dem Bankhaus Simon Spiro nicht mehr und mit dem Bankhaus Simon Seligmann/von Eichthal noch nicht in guter Geschäftsbeziehung stand. Auf diese Finanziers der Kurfürstin-Witwe werden wir später zurückkommen.
142
Die Freimaurerei und die Erweckungsbewegung als Tathintergrund
Müller bezeichnete aufgrund seiner persönlichen Erfahrung die Pfarrer Würth und Leydel klar als
Freimaurer. Und als solche sind sie gerade im neu geschaffenen Salzach-Kreis plausibel, denn in der
damaligen, politisch äußerst unsicheren und von Kriegen geprägten Zeit hingen speziell evangelische
Geistliche in Bayern deren Logen an, und die reformierten Gemeinden in Oberösterreich hatten schon
seit der Vertreibungswelle nach dem Westfälischen Frieden 1648 überwiegend im Verborgenen
existieren und agieren müssen, was auch dort der Freimaurerei Vorschub gegeben haben mag. Erst
durch das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. 1781 war freie Religionsausübung wieder möglich gewesen,
auch ein offenes Bekenntnis zur Freimaurerei wäre vorübergehend im Bereich des Möglichen gestanden.
In Rutzenmoos, Vöcklabruck und Attersee bildeten sich relativ große Toleranzgemeinden, vermutlich mit hohem Freidenker- und Freimaurer-Anteil.
Da jedoch bereits 1797 für die Freimaurerei wieder das offizielle Verbot kam, mussten sich viele
Mitglieder erneut auf eine Geheimmitgliedschaft
beschränken. Insofern taucht das Wort „Freimaurer“ in den offiziellen Kirchenchroniken auch nicht
auf. Unter dem bayerischen Toleranzedikt zwischen 1809 und 1816 kam es für die Reformierten
nochmals zu einer gewissen Erholung, von der
Abb. 103: Ein vor Hausdurchsuchung durch Einmauern
auch die Pfarrer Würth und Leydel profitierten. In verborgener evangelischer Schrifttext, heute im
der Chronik von Rutzenmoos war damals von ei- Museum Rutzenmoos. Symbol der protestantischen
ner „Erweckungsbewegung“ der dortigen Protes- Untergrundkirche im Hausruck-Viertel.
tanten die Rede, die, was die politischen Ziele anbelangt, zur Freimaurerei durchaus Bezug hatte, zumal sich in ihr religiöse Motive mit den weltanschaulichen Motiven der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution vermischten. Dieses Freidenkertum hielt
aber nur kurz an und fand ebenfalls ein jähes Ende, so dass die Unzufriedenheit mit dem politischen Sys tem subversive Aktivitäten der evangelischen Freimaurer zusätzlich gefördert haben mag.
Nicht umsonst beendete der Pfarrer Ludwig Würth im Jahr 1826 sein Buch über Vöcklabruck mit
folgenden Wort im Fettdruck und in Großdarstellung: protestantischchristliche Freyheit!
In Zusammenhang mit der Entführung Kaspar Hausers lässt nun aufhorchen, dass der Pfarrer Ludwig
Würth ab 1811 ausgerechnet in Weidenbach in Mittelfranken als Vikar gearbeitet hatte – in jener Hofkir che, die zu dem als Verliesort Kaspar Hausers diskutierten Schloss Falkenhaus in Triesdorf gehörte. Man
kann deshalb nicht ausschließen, dass Kaspar dort nach einer Geburt in Mittelfranken – wir werden
darauf noch näher eingehen – vorübergehend als Säugling „geparkt“ wurde. Allerdings konnte dies erst
im Jahr 1811 geschehen sein.
Unter diesen Umständen nimmt es auch kein Wunder, wenn der „Mann“, der später Kaspar von
Wanghausen nach Nürnberg brachte (wohl Simon Drechsler), Nürnberg als Freilassungsort avisierte.
Einige der Personen, von denen er seine Instruktionen erhalten hatte, kamen eben aus dieser Richtung!
Wir fassen zusammen: Wenn Johann Samuel Müllers Informationen im Großen und Ganzen
stimmen, dann muss es sich um einen schwerpunktmäßig protestantischen und fränkischen
Verschwörerkreis gehandelt zu haben, der dem Freidenkertum und der Freimaurerei frönte, der sich
wenigstens z. T. bereits in Erlangen kennenlernte und hinterher in Oberösterreich wieder konspirativ
vereinte. Dies ist eine für den Fall Kaspar Hauser sehr wichtige Information!
Wir werden in den nächsten Kapiteln darauf zurückkommen.
Zum Abschluss ein vielsagender Brief eines gewissen Baron Seeberg in Pressburg, den er am 17.
143
Februar 1830 an die Gräfin Brunswick312 in Ofen schickte:
„Unser guter Domprediger Müller verfolgt den Gegenstand seiner Angabe in der Caspar
Hauser'schen Angelegenheit, es steht dahin, ob nicht darüber sein Leben in Gefahr komme; Er
sticht damit in ein gewaltiges Wespennest, da Lutherische Geistliche wenigstens als Mitwißer
verwickelt sind und Er den Evangelischen ohnehin schon als Convertit ein Dorn im Auge ist …“313
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Interessanterweise tauchen die Namen Würth, Leydel, Mayer und Lampert an keiner Stelle in den
bayerischen Ermittlungsakten auf, zumindest nicht in denen, die ein Hermann Pies oder ein Antonius van
der Linde noch hatte einsehen können, denn die Originale sind ja verschollen.
Sollte damals in Bayern gar nicht gegen die genannten Personen ermittelt worden sein, die man leicht
hätte befragen und als Zeugen oder Angeklagte hätte benennen können?
Wenn ja, dann wäre diese Nicht-Ermittlung eine weitere, höchst anrüchige Willkür der bayerischen
Ermittlungsorgane und Gerichte, ein juristischer Skandal, der seinesgleichen sucht!
Allerdings belegt die weiter vorn abgebildete Anzeige des Pfarrers Würth im Jahr 1832 doch eine
gewisse Polizeiaktivität, allerdings eine stümperhaft verdeckte. Auch über diese Aktion wurde alsbald der
Deckmantel des Schweigens darüber gelegt, und die zugehörigen Protokolle verschwanden. Für die
Vertuschung eines verdeckt geführten Verfahrens spricht auch ein weiterer Brief des Baron Seeberg vom
14. März 1830. In ihm ist von einer Vernehmung des Pfarrers Würths in Bayern die Rede, bei der er die
Dalbonne klar belastete.314 Die Öffentlichkeit erfuhr davon nicht.
Immerhin soll es eine bayrische Untersuchungsakte mit der Aufschrift „Johann Samuel Müller“ gegeben haben. Hermann Pies hatte die Akte seinerzeit noch eingesehen und registriert. Über Ludwig Würth
ließ er sich jedoch nicht aus, also scheint er über ihn auch nichts Brauchbares entdeckt zu haben. 315
Auch Gerichtspräsident Paul Anselm von Feuerbach blieb zu diesem Thema stumm, das angedrohte
Verfahren gegen Müller wegen „Verleumdung“ unterblieb. Allerdings war der Jurist nach kurzer Zeit
schon nicht mehr am Leben.
Dies sei nochmals zum Komplettausfall und zum gesetzeswidrigen Verhalten der bayerischen Ermittlungsorgane angemerkt!
Im Jahr 1835 wurde übrigens der gesamte Nachlass Kaspar Hausers, d. h. sein ganzes Hab und Gut, auf
Veranlassung des Ansbacher Stadtgerichts eigenmächtig dem Königshaus zugesprochen, angeblich, weil
zuvor bei einer Vorladung in dieser Sache am 12. März 1835 niemand erschienen war, der den Nachlass
hätte haben wollen. Wahrscheinlicher ist es, dass das Herrscherhaus auch 2 Jahre nach Kaspars Tod noch
ein hohes Interesse an diesen Sachen hatten, weil man darin bestimmte Belege vermutete, wie z. B.
Kaspar Hausers Tagebuch.
Wie wenig gesetzeskonform selbst dieser Vorgang war, erkennt man daran, dass die Armenpflege zu
Nürnberg hinterher einen Zivilprozess wider den königlichen Fiskus anstrengte. 316
Nichtsdestotrotz verschwand auch Kaspar Hausers persönlicher Nachlass auf Nimmerwiedersehen.
312 Deren Mann hatte Johann Samuel Müller den Posten als Erzieher im Haus Majthényi verschafft.
313 Brief in den Wiener Akten: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
314 Brief a. a. O.
315 Aktenband Nr. 2105, 16. Mai bis 15. Juni 1830. Information aus Pies, Dokumentation, S. 198.
316 Linde 1, S. 370.
144
Das Rätsel des „Universitätsfreunds“
In einem ganz wichtigen Punkt hat es uns Johann Samuel Müller nicht leicht gemacht. Er verwies in
seinen Anzeigen an das Appellationsgericht Ansbach immer wieder auf den Landgerichts-Aktuar Mayer
und auf einen von diesem erwähnten Universitätsfreund, den man als Haupträdelsführer im Fall Kaspar
Hauser ansehen müsse.
Wir zitieren zunächst, wie folgt:
Erstes Schreiben an das Präsidium des Appellationsgerichtes Ansbach vom 25. Dezember 1829. Müller
zitiert den Aktuar Mayer wie folgt (Unterstreichungen durch uns):
„…dass nämlich ein ehemaliger Universitätsfreund von ihm eben das, was nun seither mit Kaspar Hauser wirklich geschah, thun wolle, um sich in den Besitz des Vermögens seines blutsverwandten sehr reichen Mündels – wenn ich mich nicht irre, seines Neffen, dessen Vater als k. b. Offizier im Kriege umkam – zu setzen und ihn, Herrn Mayer, in Betreff der Verantwortlichkeit, welcher er sich, wenn die Sache sollte entdeckt werden, aussetzen würde, konsultierte. Der Plan war
eigentlich, wie sich der Herr Aktuar verlauten ließ, die physische sowohl als die moralische und
geistige Entwicklung und Ausbildung des Kindes zu verhindern und dasselbe durch eine gänzliche
Entfernung und Absonderung von aller menschlicher Gesellschaft blödsinnig und zur einstigen
Besitznahme und Verwaltung seines Vermögens unfähig zu machen …“317
Was den erwähnten Initiator des Verbrechens anbelangt, so schob Müller am 10. Januar 1830 die In formation nach,
„…dass er als Universitätsfreund des Herrn Mayer, des Ludwig Würth u.s.f. zu gleicher Zeit mit
ihnen zu Erlangen studierte und wenn nicht von höherem Adel, doch wenigstens vom Ritterstande sei.“
Ein drittes Mal erfahren wir vom Kommilitonen im Hintergrund am 21. März 1830 aus einem gerichtlichen Fragenkatalog, den das Kreis- und Stadtgericht Nürnberg dem Domprediger Müller vorgelegt hatte:
„Hauptsächlich redete der Aktuar Maier davon, dass der eigentliche Urheber auf der Universi tät zu Erlangen, wie dies bei Vornehmen und Begüterten öfter der Fall, nicht sehr fleißig gewesen
wäre.“318
Wenn man die autobiographischen Notizen des Aktuars und späteren Landrichters Mayer heranzieht,
so ist unschwer zu erkennen, dass dieser zu keinem Zeitpunkt an der Universität Erlangen studiert hatte,
sondern ausschließlich an den Universitäten von Tübingen und Landshut:
„26.09.1805 - Ich muss Darmstadt verlassen, um die Universität zu beziehen (Tübingen).(…)
„??.11.1805 - Zu Anfang des Monats November verließ ich wieder das elterliche Haus, um die
Universität Tübingen zu beziehen.“319
Karl Mayer schrieb sich nach dem 14. und vor dem 30. November 1805 an der Universität von
Tübingen für das Fach Jura ein. Der Semesterbeitrag betrug 6 Gulden und 15 Kreuzer:
„Carl Mayer Ober=Kirchberg 19 Jahre iuris stud., p: Christian, Oberamtsrath, 6 fl. 15 x.“ 320
317 Linde 1, S. 196f.
318 Linde 1, S. 212.
319 Hier und im Folgenden Auszüge aus den Notizen Karl Mayers: http://www.robl.de/hauser/mayer.pdf.
320 Heinrich Hermelink: Die Matrikeln der Universität Tübingen, 1477-1817, Bd. 3 1710-1817, Stuttgart 1953, S.
428.
145
Nachdem mit dem Frieden von Pressburg Vorderösterreich aufgelöst und die grenznahen Gebiete mit
Bayern vereint worden waren, wechselte Karl Mayer nach Landshut:
„30.04.1806 – (Ober)Kirchberg, mein Heimatort, wird infolge des Preßburger Friedens mit
Bayern vereinigt. Deshalb verlasse ich mit Ende des 4. Semesters Tübingen und beziehe die
vaterländische Universität Landshut.“
Karl Mayer hatte nicht, wie hier angegeben, 4, sondern nur 2 Semester in Tübingen studiert. Er trat im
nachfolgenden Wintersemester 1806 in die Universität Landshut ein:
„Mayer Carl Jur. Oberkirchberg.“321
„04.05.1806
Landshut statt.“
–
fand meine Immatrikulation unter dem Rektorat des Professors Bertele in
Nach erfolgreichem Abschluss der letzten Prüfungen beendete Mayer sein Studium in Landshut und
begann am 19. September 1808 seine Berufslaufbahn als Praktikant am Landgericht Söflingen:
„11.09.1808 – Ich verließ die Universität Landshut nach zweieinhalbjährigem Studium daselbst.“
Angesichts dieser lückenlosen Universitätskarriere ist es offenkundig:
Johann Samuel Müller, der allerdings selbst nie studiert hatte, und schon gleich nicht in Deutschland,
hatte sich wenigstens in einem Punkt falsch erinnert: Karl Mayer war kein Studienkollege Würths und
Lamperts in Erlangen gewesen!
War demnach auch der besagte Kommilitone, der den ganzen Plan um Kaspar Hauser ausgeheckt
haben soll, ein Phantom?
Nicht unbedingt. Nur haben wir in seinem Fall die Qual der Wahl:
•
War es ein Kommilitone Karl Mayers in Landshut gewesen?
•
Oder war es ein Kommilitone Ludwig Würths und Christian Lamperts in Erlangen gewesen? Nur
eigenartig, dass in diesem Fall Hohann Samuel Müller mehrfach Karl Mayer damit assoziierte!
Wir werden im Folgenden beiden Fragen nachgehen. In einem aber sind wir uns schon vorweg sicher:
Wenn es diesen Kommilitonen wirklich gab, dann hatte entweder dieser Kommilitone dem Karl Mayer
oder dem Duett Ludwig Würth und Christian Lampert, oder – anders herum – einer von den dreien dem
Johann Samuel Müller mit der Geschichte des vermögenden Mündels einen gewaltigen Bären
aufgebunden! Oder aber Johann Samuel Müller hatte einmal mehr etwas durcheinandergebracht, was
auch nicht ausgeschlossen ist.
Zur Erklärung:
Karl Mayer war, als er in Landshut studierte, 19 bis 22 Jahre alt, Ludwig Würth während der
Studienzeit in Erlangen und Altdorf (ab 1804) sogar noch etwas jünger, 18 bis 20 Jahr alt, Christian
Lampert war vermutlich im selben Alter. Selbst als es darum ging, den perfiden Plan von der Verbringung
Kaspar Hausers auszuhecken, 1809 oder spätestens 1810, hatte keiner von ihnen das 24. Lebensjahr
überschritten.
Es ist anzunehmen, dass dieselbe Alterspanne in etwa für den obskuren Kommilitonen im Hintergrund
zutrifft.
In diesem noch relativ unreifen Alter hätte man ihm also die Vormundschaft über einen Neffen
übertragen. Dieses Mündel müsste, um die Geschichte zu Ende zu denken, das Kind einer Schwester mit
321 Das nachträglich kompilierte Matrikelbuch von Landhut fasst das Wintersemester 1805/06 und das
Sommersemester 1806 zusammen: „1805-1806 Rector DLVII Georg Augustin Bertele.“ Matrikelbuch der
Universität Ingolstadt-Landshut-München, München 1872, S. 126.
146
einem reichen Offizier gewesen sein, oder das Kind eines Bruders, der selbst ein reicher Offizier war,
aber in einem der vorangegangenen Kriege umgekommen war. Hier haben wir wiederum die Qual der
Wahl zu entscheiden, ob dieser bei bayerischen oder beim österreichischen Heer gedient hatte, ehe er
fiel. Sittenberger hatte nämlich in dem heute verschollenen Brief Müllers den Offizier mit einem „k. k.“
versehen, wohin gegen van der Kinde „k. b.“ las. Da Linde in der Regel sorgfältiger transkribierte, und ja
wohl auch der besagte Kommilitone aus Bayern stammte, wollen wir zunächst seiner Version den Vorzug
geben. Ganz ausgeschlossen ist die Geschichte mit dem Mündel insofern nicht, als die Kriege von 1805,
1809 und 1812 tatsächlich sehr viele Halb- und Vollwaisen durch den Tod der Väter, aber auch der
Mütter, nach sich zogen.
Gänzlich unwahrscheinlich aber wird die Geschichte, weil Müller später wiederholt davon berichtete,
dass das Vermögen des Kindes „in einer englischen Bank niedergelegt ist …“ Wer hätte das Geld dort
deponiert? Der gefallene Vater des Mündels vielleicht, wenn er ein englischer Offizier war. Aber hätte
dann nicht als erste die Mutter des Kindes darauf Zugriff gehabt? Oder kam das Kind aus einer
außerehelichen Beziehung derselben und lebte diese auch nicht mehr? Und wer hätte einen
ausländischen Studenten zum Vormund des Universalerben gemacht? Noch verwegener ist die
Behauptung, dass dieses Geld den Entführern nach Wegschaffung des eigentlichen Erben auf einer
englischen Bank zur Verfügung stünde – wohlgemerkt mit Falscheintrag in einem Sterberegister! Dies
lässt nun jede Plausibilität vermissen, denn das Erbrecht hätte im Fall der Vermisst- oder VerstorbenMeldung des Erben zwingend ein erbrechtliches Verfahren und die Einsetzung eines entsprechend
beleumundeten und sicheren Treuhänders, vernehmlich aus der Familie des verstorbenen Vaters,
erfordert.
Nein: Die Geschichte mit dem reichen Mündel, das man verblöden müsse, um ihm nach dem
Erwachsenwerden das Erbe vorenthalten zu können, geht einfach nicht auf. Und Müller hat ja später
auf dieser Geschichte gar nicht insistiert!
Mit dem „englischen Geld“ verhält es sich dagegen ganz anders, allerdings vor einem ganz anderen
Hintergrund. Zu diesem Thema kommen wir später.
„Aliquid semper haeret – irgendetwas bleibt immer hängen!“ sagt ein lateinisches Sprichwort.
Da sich die Müller'schen Geschichte mit dem reichen Erben trotz aller Bemühungen nicht geheim
halten ließ, kochte bald in Bayern die Volksseele über, und es kursierten Gerüchte, allerdings nicht mit
Bezug auf Mayers, Würths oder Lamperts Kommilitonen im Hintergrund, sondern in Bezug auf eine
allseits bekannte, hochkarätige Familie.
Diese Geschichte wollen wir dem Leser nicht vorenthalten.
147
Die Geschichte mit dem Tattenbach-Erbe
Von dieser Erklärungsvariante des Verbrechens an Kaspar Hauser,
berichtete uns vornehmlich der Publizist und Historiker Heinrich Ritter von Lang.
Der Hardenberg-Freund Heinrich von Lang war Kaspar Hauser in
keiner Weise gewogen. Wenn er aber den Findling harsch als
Schwindler kritisierte, dann weniger um dessen Ruf, sondern den Ruf
seines Erzfeindes Feuerbach zu unterminieren.
So unterstellte von Lang Kaspar Hauser z. B. in einer Zeitungsinvektive, Kaspar Hauser habe das Attentat auf dem Abtritt des Daumer'schen Hauses ganz gezielt an einem Tag vorgetäuscht, an welchem der Obersthofmeister und Gatte Maria-Leopoldines, Ludwig
von Arco, in Nürnberg weilte, um diesen als Möder zu belasten. Fürwahr ein absurder Vorwurf!322
Abb. 104: Karl Heinrich Ritter von
Lang.
Der Schuss ging nach hinten los: Was eine Exkulpation für ihm sein
sollte, geriet erst recht für den Grafen von Arco zur Belastung.
Die Familie der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine geriet damals erstmals in öffentlichen Verdacht!
Wir hegen keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt der Lang'schen Information, auch wenn uns die Belegungslisten der damaligen Nürnberger Gasthäuser zur Überprüfung nicht mehr zugänglich sind. Antonius
van der Linde hatte sie eingesehen und bestätigte die Nachricht!
Halten wir deshalb fest:
Graf Ludwig von Arco weilte also am Tag des ersten Attentates auf Kaspar Hauser vor Ort, in Nürn berg! Später erfahren wir, dass sogar seine Gattin Maria-Leopoldine, Sohn Max und ev. sogar Sohn
Aloys bei ihm waren.
Zufall oder Notwendigkeit?
Caroline von Albersdorf, eine Art von Privatdetektivin, die wir nachfolgend noch ausführlich vorstellen,
bestätigte nach eigenen Erkundigungen denselben Sachverhalt: Sie spricht allerdings diskret „von mehreren Mitgliedern einer gewissen Familie, die sonst nie daselbst gesehen worden wären“. Es sei der Bürgermeister Binder gewesen, welcher sie auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht hätte. Kreisrat von Ro eder sei damals auch verständigt worden.323
Kein Wunder, wenn immer mehr Leute ein Mitglied der Grafenfamilie von Arco als treibende Kraft bei
der Vernichtung Kaspar Hausers sahen. Man spekulierte über die Motive: Graf Karl von Arco sei es, so
munkelte man, um die Rettung des Tattenbach'schen Erbes für seinen Sohn Maximilian gegangen.
Wieder scheint es sich um einen Verdacht von höchster Brisanz gehandelt zu haben, sonst hätte
Johann Emanuel von Küster, der preußische Gesandte in München, nicht sogleich am 27. Dezember
1829 in französischer Sprache die inkriminierte Person in Berlin gemeldet, „comme coupable des crimes
qui auraient pu être commis envers C. H. – als schuldig des Verbrechens, das gegen Kaspar Hauser
begangen worden war.“324
Worum ging es konkret?
322 Karl Heinrich Ritter von Lang: Anonym vorgetragene Invektive gegen Kaspar Hauser, in: Jena'ische Allgemeine
Literatur-Zeitung, Nr. 101 bis 106, Juni 1834, S. 334.
323 Witwe Caroline Gräfin von Albersdorf: Kaspar Hauser oder die richtige Enthüllung der bisher unbekannten Ge heimnisse über Hausers Herkunft …, Band 2, München 1839, S. 117.
324 Linde 1, S. 193.
148
Das Geschlecht derer von Tattenbach stammte aus altem bayerischem Adel. Die jüngere bayerische Li nie gehörte im Innviertel zu den größten Grundbesitzern: Im Jahr 1779 hielt sie von den 88 Herrschaften
allein 14! Diese Linie erlosch mit dem kurbayerischen Kämmerer Heinrich von Tattenbach, der am 3. Oktober 1821 starb. Kurz zuvor hatte dieser Kämmerer-Kollege des Johann Nepomuk von Prielmayer – beide mit Vorfahren aus dem Illuminatenorden – noch die Klage einer Seitenlinie von Tattenbach wegen des
Erbes abgewehrt, denn sein Stammbaum wies in der Tat bedenkliche Lücken auf. Nach seinem Tod
hinterließ er einen riesigen Grund- und Güterbesitz, der u. a. Valley im LK Griesbach, St. Martin im
Innkreis, Maxlrain im LK Rosenheim und Adldorf im LK Dingolfing-Landau umfasste. Der Besitz fiel nun
testamentarisch an seinen gerade 15-jährigen Neffen Maximilian von Arco (*1772), den Sohn seiner
Tante mütterlicherseits, Ernestina Eleonore von Mayrhofen auf Aulenbach. Maximilian gelang es später,
aus dem Tattenbach'schen Erbe ganze 99 ehemalige Rittergüter auf sich zu vereinigen, nachdem er auch
die Liegenschaften der anderen Tattenbach-Linien wie z. B. Zell, Falkenberg und Malgersdorf in
Niederbayern, an sich gebracht hatte. Maximilians Onkel väterlicherseits aber war Graf Ludwig von Arco,
der Gatte der Maria-Leopoldine! Wenn also ein Kaspar Hauser dieses Erbe hätte gefährden können, dann
hätte aus einer verheimlichten Liaison des Heinrich von Tattenbach gestammt.
Auch Hans Sittenberger berichtete von der Tattenbach-Geschichte:
„Die Hauptlinie des gräflichen Hauses Tattenbach war 1821 erloschen. Der letzte dieses Geschlechtes hatte den jungen Grafen Arco-Valega, der mütterlicherseits mit ihm verwandt war,
zum Erben eingesetzt. Nun wollte man jedoch wissen, dass ein natürlicher Erbe vorhanden gewe sen sei, den aber der Vater des Grafen Arco-Valega, Expräsident des Obersten Gerichtshofes und
Schwager der Kurfürstin-Witwe Marie Leopoldine, gleich nach der Geburt auf geheimnisvolle
Weise habe verschwinden lassen, um so die millionenreiche Erbschaft seinem eigenen Hause zuzuwenden. Danach war also Kaspar Hauser niemand anders als der letzte Graf Tattenbach …“325
Interessanterweise taucht das Thema Tattenbach-Erbe erneut in einem Bericht des Ansbacher Kreisund Stadtgerichts an den bayerischen König Ludwig I. vom 11. Februar 1834 (via Justizministerium) auf,
also kurz nach der Ermordung Kaspar Hausers. 326 Hier wird auf einen Gewährsmann namens Konrad
Senig in Hannover Bezug genommen, der in einem Brief von einem der Gräfin von Tattenbach,
verehelichte Caesar, geraubten Kind gesprochen hatte. Schon das Kreis- und Stadtgericht Nürnberg habe,
so liest man in diesen Bericht, in dieser Sache ermittelt, allerdings ohne greifbares Ergebnis, so dass man
schließlich die Anzeige ad acta legte.
Da Graf Heinrich von Tattenbach einige Jahre vor dem Müller'schen Täterkreis an der Universität Erlan gen studiert hatte, konnte sich dort die Kunde von seinem Vermögen verbreitet haben.
An dieser Stelle wollen wir nicht darüber hinwegsehen, dass einige Leute in Kaspar Hauser sogar einen
natürlichen Sohn Maximilian Josephs I. von Bayern, also eines Halbbruders des regierenden Königs, sahen. So wurde am 1. Dezember 1830 dem Nürnberger Stadtkommissär ein entsprechender, vom 20. Ok tober 1828 datierter Brief mit einer Menge geheimnisvoller Andeutungen und Prophezeiungen vor das
Haus gelegt. „Die Absicht der Mystifikation war so offenkundig, daß selbst die Nürnberger Behörden dies
merkten und das Schreiben ad acta legten“, meinte Sittenberger.327
Hilfreich waren solche anonymen Anzeigen nicht.
Auch die Tattenbach-Geschichte trug eher zur Verwirrung als zur weiteren Aufklärung bei. Angesichts
der Fülle an Spekulationen, die sich allein um Maria-Leopoldine und ihre Familie entzündeten, geriet die
eigentliche Wahrheit immer mehr in Gefahr, verschüttet zu werden.
Aus heutiger Sicht ist es recht schwer, die Stichhaltigkeit der Tattenbach-Geschichte zu überprüfen.
Wollte man z. B. M. L. Ö. als Mutter Kaspar Hausers einbeziehen, so hätte die Kurfürstin entweder mit
Heinrich von Tattenbach oder einen anderen Tattenbach im Erbvorrang – man munkelte etwas von
325 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 214.
326 Pies, Tod, S. 254.
327 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 324.
149
einem Offizier, der im Krieg gefallen sei; der Obersthofmeister Joseph von Tattenbach (1723-1802) kam
ja wohl aus Altersgründen kaum dafür in Frage! - ein illegitimes Kind zeugen müssen, oder aber mit Graf
Karl von Arco, dessen späterer Sohn Maximilian aus der Ehe mit Maria Anna Sophia, der Gräfin von
Seinsheim-Sünching, der testamentarische Erbe war.
Beides ist allerdings nicht prinzipiell ausgeschlossen:
•
Ersteres wurde vom königlichen Rat und Advokaten Joseph von Miller, einem Freund des Hauses
Arco, in der „Flora“, einer Münchner Zeitschrift, eigens in Frage gestellt; das Dementi drang bis
nach Österreich – ein verdächtiges und inhaltlich auch nicht schlüssiges Unterfangen. 328
•
Die zweite Variante steht insofern im Raum, als Maria-Leopoldine mit Karl von Arco tatsächlich
ein intimes Verhältnis gehabt hatte, vor der Geburt ihres ersten, verschwundenen Sohnes. Karl
von Arco konnte demnach tatsächlich der Kindsvater sein!
Ob sich allerdings bei einer derartigen Konstellation ein Mord, wie an Kaspar Hauser geschehen, rechtfertigen würde, um die Enttarnung des Kindes zu verhindern, das kann man mit Recht in Zweifel ziehen.
Gerichtspräsident Paul Anselm von Feuerbach hielt weiland nichts von der Tattenbach-Geschichte.
Johann Samuel Müller spielte möglicherweise auf die Tattenbach-Affäre an, wenn er vom „Vermögen
eines blutsverwandten sehr reichen Mündels“ und „seines Neffen, dessen Vater als K. b. Offizier im Kriege
umkam“ sprach. Mit einem Erlanger oder Landshuter Kommilitonen kann das aber nichts zu tun haben.
Bei den hier geschilderten Herkunfts-Varianten ging es allerdings um sehr viel Geld! Es war reichlich
starker Tobak, den man damals der Familie von Arco auftischte!
328 Siehe Artikel im „Österreichischen Beobachter“ vom 8. Januar 1839.
150
Der ominöse Kommilitone – ein Anti-Bonapartist?
Kehren wir zurück zu dem Kommilitonen, der einem Johann Samuel Müller nicht aus dem Gedächtnis
ging. Er sei, so sagte Müller, wenn nicht von höherem Adel gewesen, so doch ein Mitglied des
Ritterstandes, also der untersten Adelsklasse,
Es bieten sich, wie gesagt, im Fall seiner Existenz nur wenige Erklärungsvarianten an:
•
Entweder hatte der Kommilitone mit Karl Mayer in Landshut studiert und war später vom
Domprediger Müller nur mit Erlangen assoziiert worden.
Oder:
•
Es handelte sich um einen Erlangen Kommilitonen Ludwig Würths und Christian Lamperts,
der hinterher von Müller fälschlicherweise mit Mayer in Verbindung gebracht worden.
Oder:
•
Sie hatten alle miteinander zu tun, was nun zwar studentische, aber doch außeruniversitäre
Kontakte in den Raum stellt.
Um es vorweg zu nehmen: Auf allen drei Pisten wurden wir fündig!
Jakob von Abele, der Mitstudent Karl Mayers in Landshut
In der Immatrikulationsliste des Jahres 1806 aus Landshut, die Carl Mayer als neuen Studenten der
Rechte ausweist, finden sich nur wenige Kommilitonen aus dem Ritterstand, die einer Untersuchung
wert sind.
Ein Student namens Zacharias von Sartori, der aus dem neu an Bayern gefallene Trentino stammte,
erregte insofern unsere Aufmerksamkeit, als bei der Entbindung von Karl Mayers erstem, außerehelich
gezeugtem Sohn eine Josepha von Sartori, Landrichtersgattin, als Trauzeugin fungierte, mithin mit Karl
Mayer bekannt oder befreundet gewesen sein muss. Diese Spur erwies sich als Sackgasse: Während der
genannte Zacharias aus Trient aus einer dortigen Juristenfamilie namens Sartori stammte und später
eine Juristenlaufbahn in der k. k. Doppelmonarchie beschritt, war Josepha, eine Neuburger Juristentoch ter aus dem Haus von Clarmann, mit dem deutschen Heinrich Ignaz Sartori (Schneider), erst Landrichter
in Markt Schwaben und dann in Ebersberg verheiratet. Beide Familien Sartori haben nichts miteinander
zu tun.
An dieser Stelle sollte man hinzufügen, dass der besagte Kommilitone nach einer Bemerkung in
Anzeige Johann Samuel Müllers am ehesten aus Ulm gestammt haben sollte.329
In der Tat hat sich gleichzeitig mit Karl Mayer in Landshut ein nobilitierter Johann von Abele aus Ulm
für das Fach Jura eingeschrieben.330
Mit Mitgliedern der weit verzweigten Abele-Sippe 331 hatte Karl Mayers Familie nachweislich schon früh
Kontakt, zumal für einen Teil derselben eine gemeinsame Wurzel im Hohenloher Land anzunehmen ist.
Ein Cousin Karl Mayers väterlicherseits namens Karl Christian Friedrich Glenk hatte sich z. B. 1796 unter
derselben Herkunftsbezeichnung „Hohenlohe“ gleichzeitig mit einem Karl Abele an der Universität
Erlangen immatrikuliert.332 Das war womöglich jener Karl Abele, der 17 Jahre später als Hauptmann des
6. k. b. Infanterie-Bataillons auf Seiten der Franzosen kämpfte und im August 1813 vor St. Petersburg das
329 „…Worauf Herr Mayer, den Blick auf mich heftend, zum Pfarrer Wirth sagte: dieser könnte die Sache mit der
Zeit noch verrathen! Was aber der Pfarrer mit der Bemerkung in Abrede stellte, dass ich in keinem Verhältnis mit
Baiern stehe, und zumal in der Ulmer und Nürnberger Gegend ganz unbekannt sey…“
330 Matrikelbuch der Universität Ingolstadt-Landshut-München, München 1872, S. 125.
331 Mit Schwerpunkt in Schwaben, wie schon der Name verrät: „Abele“ ist ein schwäb. Diminuativ von „Abel“.
332 Personalstand der Fr.-A.-Universität Erlangen …, Erlangen 1843, S. 139.
151
Leben verlor, wenige Wochen vor dem Seitenwechsel Bayerns. 333
Johann von Abele, der Kommilitone Karl Mayers, stammte aus Ulm. Deshalb kommt als sein Vater nur
der doppelt promovierte Jurist Dr. Dr. Johann Martin Abele (1753-1805) in Frage,334 der sich zunächst als
Publizist betätigt hatte, später als Stadtsyndikus vom Kempten wie Karl Mayers Vater in die Dienste Vorderösterreichs getreten war und schließlich 1791 von Kaiser Leopold II. wegen gewisser Verdienste um
den Grafen Zeil nobilitiert wurde. Nachdem Kempten 1802 an Kurpfalz-Bayern gefallen war, wechselte
Johann Martin von Abele, der übrigens wie Mayers Mutter aus Darmstadt stammte, zurück in die Stadt
Ulm, in der er schon seine Jugend verbracht hatte. Dort stieg er in der Folge bis zum Direktor des protestantischen Konsistoriums der bayerischen Provinz Schwaben, 335 und zuletzt zum Oberpolizeidirektor von
Ulm auf,336 ehe er am 9. September 1805 an Wassersucht verstarb. 337 Dr. Dr. Johann Martin von Abele
und der Vater Karl Mayers, Dr. Johann Christian Mayer, müssen sich zu Lebzeiten als Juristen in Nachbar schaft bestens gekannt haben.
Jener Johann von Abele jun., der sich nun zusammen mit Karl Mayer in Landshut immatrikulierte, und
wahrscheinlich ein weiterer Vertreter der Familie namens Karl waren nach unserem Dafürhalten Söhne
des Dr. von Abele und als solche überzeugte Anti-Bonapartisten. Beide standen möglicherweise jenen
„fanatischen Schwärmern“ in Ulm nahe, die sich schon 1805 mit der Suprematie Napoleons in Bayern
nicht abfinden wollten.338 Nachdem das Königreich Bayern beim desaströsen Feldzug Napoleons gegen
Russland im Jahr 1812 nahezu sein ganzes Heereskontingent verloren hatte, 339 trat es mit dem Vertrag
von Ried am 8. Oktober 1813 aus dem Rheinbund aus und schlug sich auf die Seite der Koalition gegen
Napoleon.
In dieser Situation, in der neue soldatische Kräfte in Bayern dringend benötigt wurden, meldete sich
neben dem Karl Abele auch der Ulmer Johann von Abele jun. als Freiwilliger zum Heerdienst und wurde
dafür mit den Rang eines Unterleutnants belohnt. 340 Ohne Kampferfahrung, aber voller Begeisterung, zog
er gegen Napoleon ins Feld und bezahlte sein Engagement wie sein Namensvetter schon wenige Tage
später mit dem Leben. Am 28. Oktober 1813 starben beide Abeles bei einem Vorgefecht der Schlacht
von Hanau den Heldentod, der ältere Karl als Major des kombinierten 1. leichten Bataillons, der jüngere
333 Bayerisches Thatenbuch …, Passau 1830, S. 190.
334 Großvater war der Kantor und Gymnasiallehrer Albrecht Ludwig Abele (1743-1778), ein Weberssohn aus Ulm.
Vgl. A. Weyermann: Nachrichten von Gelehrten, Künstlern und anderen würdigen Personen aus Ulm, Ulm 1798,
S. 11f.
335 Oberstes Aufsichtsgremium in protestantischen Schul- und Kirchenangelegenheiten.
336 In diesen Funktionen musste von Abele eng mit Philipp Graf von und zu Arco (1775-1805) zusammenarbeiten,
dem im Jahr 1804 nach Ulm entsandten Generalkommissär der bayerischen Regierung und Präsidenten der
Landesdirektion in Schwaben. Graf Philipp war Schwager des Grafen Montgelas und Bruder des künftigen Man nes der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine, Graf Ludwig von Arco. Johann von Abele hat die schlimmen Einquartierungen in Ulm bei nachlassenden Kräften gerade noch erlebt, die Schlacht um Ulm nicht mehr, im Ge gensatz zu seinem Chef, dem jungen Generalkommissär. Der bei den Ulmern hochbeliebte, aber gesundheitlich
geschwächte "gute, liebe Arco" (O-Ton Johann Martin Miller) nahm beim Kampf gegen Napoleon derartigen
Schaden, dass er nur eineinhalb Monate später, am 28. November 1805, in Ulm zu Grabe getragen wurde, wo
sich auf dem Alten Friedhof bis heute sein Grabmonument erhalten hat, an dem der Dichter Miller seine Trauer rede hielt. Vgl. Manfred Stosch (Herausgeber): Der Briefwechsel zwischen Johann Martin Miller und Johann
Heinrich Voß, Berlin/Göttingen 2012, S. 317. Auch: Johann Martin Miller: Trauergesang … Philipp von Arco, Ulm
1805, und: J. von Mußinan: Geschichte der französischen Kriege … auf bayerschem Boden, Teil 3, Sulzbach 1826.
Von Mußinan berichtet, Philipp von Arco hätte sich bereits schwerkrank zum einem vierstündigen Umritt mit
Napoleon begeben müssen, danach sei er vor Entkräftung kollabiert. Der natürliche Tod des jungen Grafen er scheint uns bei einer solchen Schilderung nicht gewiss.
337 Laut Sterbeeintrag des Johann Martin von Abele im Kirchenbuch der Gemeinde Ulm 1060, Bd. 109.
338 Sie wurden vom Dichter Johann Martin Miller in der Trauerrede für Graf Philipp von Arco erwähnt.
339 Von ca. 30000 Soldaten sollen nur ca. 1000 in die Heimat zurückgekehrt sein.
340 Unterlieuteant-Stellen erhalten: „…und Johann von Abele im 6. leichten Infanterie-Bataillon Palm …“ Vgl. K. b.
Regierungsblatt 1813, S. 419.
152
Johann von Abele als Leutnant im kombinierten 6. leichten Bataillon Palm. 341
Es ist möglich, dass sich Karl Mayer und Johann von Abele schon 1809 dem anti-bonapartistischen Un tergrund in Ulm anschlossen, als sie nunmehr schon zum zweiten Mal innerhalb von 5 Jahren mit den
schweren Kollateralschäden, der napoleonischen Kriege konfrontiert wurden – dieses Mal als Spitalhelfer. Schlimme Zustände müssen damals in und bei Ulm geherrscht haben, es waren riesige Scharen von
Verwundeten und Sterbenden beider Seiten zu versorgen. Johann von Abele waren diese Szenen und der
vorherige Tod seines Vaters, der Folge der schlechten medizinischen Versorgung vor der Schlacht um Ulm
gewesen war, vermutlich Grund genug, später gegen Napoleon in den Krieg zu ziehen. Karl Mayer mag
obendrein der Umstand, dass durch Napoleons Eroberungen seine Eltern und sein Heimatort Oberkirch berg in Mitleidenschaft gezogen worden waren, ein weiteres Motiv für seine Haltung abgegeben haben.
Immerhin hatte Oberkirchberg bis 1805 zum Erzfeind Österreich gehört!
In seinen Memoiren-Splittern inszenierte sich allerdings Karl Mayer Jahrzehnte später als ausgespro chener Bewunderer Napoleons und seiner Familie. Glaubhaft ist dies nicht. Wenn man zwischen den Zeilen liest, dann zeigt Mayers Schilderung gerade wegen ihrer Penetranz das pure Gegenteil des Eindrucks
an, den Mayer ex post erwecken wollte. Das Hausruckviertel, in das Mayer später freiwillig ging, darf
sowieso als Zentrum des europäischen Anti-Bonapartismus angesehen werden, wir werden dies im
nächsten Kapitel weiter ausführen. Mayer wird sich nicht ohne Grund dorthin gemeldet haben. Und er
wäre mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen, wenn sich entgegen der Stimmungen in der dortigen
Bevölkerung als Napoleon-Freund präsentiert hätte: Es hätte ihn Kopf und Kragen kosten können! Wenn
man obendrein Mayers Bekanntenkreis in Bayern bedenkt, den er in seiner Autobiographie wiedergibt –
von einem Professor Gönner angefangen über einen Gutsbesitzer Gaugl, der später die Landwehr in
Vöcklabruck gegen Napoleon leitete, bis zum Ex-Illuminaten und bayerischen Oberpatrioten Stanislaus
Graf von Taufkirchen – dann wird es nahezu zur Sicherheit:
Karl Mayer tat es insgeheim seinem Kommilitonen Johann von Abele nach und sympathisierte in
seiner Sturm- und Drangzeit allen offiziellen Verpflichtungen zum Trotz heimlich mit dem antibonapartistischen Untergrund, dem selbstredend auch viele Freimaurer angehörten.
Dass Lampert und Würth genau in dieselbe Szenerie passen, und dass genau dieser politische Hintergrund das wahrscheinlichste Hauptmotiv für die Entführung Kaspar Hausers liefert, wird das folgende Kapitel erweisen.
An dieser Stelle kommt nun endlich plausibel das „englische Geld“ ins Spiel, das sich Mayers
Kommilitone und seine Mitverschwörer für gewisse Dienste erwarteten. Mit einem reichen Mündel hat
dieses Geld nichts zu tun. Sollte Müllers Hinweise auf eine „englischen Bank“ stimmen, aus der das Geld
für die Wegsperrung Kaspar Hausers kam, dann muss man viel eher von einem politisch motivierten
Verbrechen an ihm ausgehen, zu dessen Durchführung Gelder aus dem Königreich England flossen –
vermutlich aus dem Bankhaus des Staatsfinanziers Nathan Rothschild.
Dies stellt wiederum in den Raum, es habe sich bei der Entführung des Kindes Kaspar Hauser um eine
von England aus gesteuerte Untergrundaktivität im neu gegründeten Königreich Bayern gehandelt – mit
anti-bonapartistischer Stoßrichtung. Denn genau dafür – und nur dafür, muss man hinzusetzten – kam
der englische Staatsfinancier als Geldgeber in Frage! Genau unter dem Aspekt des politischen Faustpfandes ist nun auch die Niederschlagung der Affäre Dalbonne zu verstehen, wenngleich sich vorderhand die
Motive Österreichs und Bayerns nicht recht erschließen.
Mayers autobiographisch zur Schau getragene Frankophilie war also nichts anderes als der unbewusste Versuch einer Wiedergutmachung politischer Irrwege in der Jugend!
341 K. B. Regierungsblatt 1814, Sp. 71f., und: Bayerisches Thatenbuch…, Passau 1830, S. 277f.
153
Was aber den Kommilitonen Johann von Abele anbelangt, so war dieser, als mit seiner potentiellen
Mithilfe der entführte Kapsar Hauser im Salzach-Kreis eintraf, noch am Leben. Als jedoch im Jahr 1814
Karl Mayer mit ihm prahlte, war er bereits im Kampf gegen Napoleon gefallen. Kann gut sein, dass dieser
zu diesem Zeitpunkt nur noch nichts davon wusste.
Ein Hinweis zuletzt:
Da Müller von einem reichen Mündel des Kommilitonen gesprochen hatte, haben wir trotz aller Unwahrscheinlichkeit, dass diese Geschichte stimmt, auch nach der Kinder- und Enkelgeneration der Dr. Johann Martin von Abele gefahndet, sind aber bislang nicht fündig geworden. Bei Nachfrage im Landes kirchlichen Archiv Stuttgart erhielten wir lediglich einen Auszug aus dem Sterberegister der Gemeinde
Ulm, das den Tod und die Bestattung des „Landes-Direcktions- und Konsistorialraths“ Johann Martin von
Abele für den 3. und 5. September 1805 referiert und dabei zugleich die Information gibt, dass zu diesem
Zeitpunkt seine Frau noch lebte. Kinder sind hier nicht erwähnt. Wenn überhaupt, dann finden sich über
sie Informationen in den Kirchenbüchern von St. Mang in Kempten, die wir bis dato nicht überprüfen
konnten.
Julius Carl Graf von Soden und das Erlanger Freimaurertum
Veranschaulichen wir zuerst nochmals Müllers Aussage im gerichtlichen Verhör vom 21. März 1830,
die der Aktuar Karl Mayer wohlweislich in seiner Autobiographie verschwieg,
„der eigentliche Urheber (des Verbrechens am Kaspar Hauser) auf der Universität zu Erlangen,
wie dies bei Vornehmen und Begüterten öfter der Fall, wäre nicht sehr fleißig gewesen.“ 342
Was soll man von diesem geheimnisvollen Kommilitonen in Erlangen, der nun mit Sicherheit nicht der
Kommilitone Mayers war, halten?
Wir nehmen das Ergebnis vorweg:
Interessanterweise können auch der evangelische Pfarrer Ludwig Würth und der Advokat Christian
Lambert mit einem Erlanger Kommilitonen aufwarten, der vermutlich Mayers Kommilitonen Johann
von Abele jun. in seiner franzosen-feindlichen Haltung nicht hinten anstand.
Antonius van der Linde brachte in diesem
Zusammenhang Lord Stanhope ins Gespräch,
auf den in der Tat die genannten Attitüden
ebenfalls zugetroffen hätten, insbesondere
der fehlende Studieneifer. Im Jahr 1801, also
drei Jahre, bevor Würth und Lampert in Erlangen zu studieren begannen, hatte sich
dort Philip Henry Earl of Stanhope nach seiner Flucht aus England unter dem Namen
„Mahon Lord Phil. Heinr.“ eingeschrieben, für
das Fachgebiet Medizin bzw. Arzneitoxikologie.343 Stanhope studierte in Erlangen kaum
ernsthaft, vielmehr bahnte sich hier, von
London aus gesteuert, eine gehobene AgenAbb. 105: Festzug bei der Eröffnung der Universität Erlangen tentätigkeit an, die für den Engländer ein
Erlernen der deutschen
am 4. Nov. 1743. In diesen Gebäuden studierten Würth, vollständiges
Lampert und Stanhope. Kupferstich von F. M. Regenfus, 1743. Sprache in Wort und Schrift und den Erwerb
342 Linde 1, S. 212.
343 A. a. O., S. 153.
154
intimer Landeskenntnisse voraussetzte. 344 Stanhope verließ allerdings schon nach zwei Jahren Erlangen
wieder, so dass er die zuvor Genannten kaum persönlich kennengelernt haben dürfte – es sei denn über
Mittelsmänner und eventuell über die in Erlangen bestehende Freimauerer-Loge „Libanon zu den drei
Cedern“, auf die wir noch zurückkommen werden.
Als Kommilitone Lamperts und Würths geht Stanhope nicht durch!
Wer war kam stattdessen als adeliger, „wenigstens aus dem Ritterstand“ stammender Kommilitone in
Frage?
Im Matrikelbuch von Erlangen gibt es für den Studienjahrgang 1804 insgesamt 13 adelige Studenten.
Die heißeste Spur führt zu dem an Nummer 1 stehenden Julius Carl Graf von Soden aus Bamberg, der
sich am Montag, den 6. Februar 1804, als erster von allen Studenten für das Fachgebiet „Cameralia“, also
für die höhere Verwaltungswissenschaft, eingeschrieben hatte. 345
Die vorderste Rangstelle und der Montagstermin sprechen dafür, dass dieser Mann schon vor dem Einschreibetermin in Erlangen Quartier bezogen hatte. Richtiger sollte man bei diesem Studenten von Graf
Karl Julius von Soden sprechen, denn der Name „Julius“ war in der Familie Soden zwar Leitname, stand
aber weder beim Betreffenden selbst noch bei seinem berühmten Vater, Friedrich Julius Heinrich von
Soden, an erster Stelle.
Friedrich Julius Heinrich von Soden (* 4.12.1754 Ansbach, + 13.7.1831 Nürnberg) war königlich-preußischer Geheimrat, Kämmerer, bevollmächtigter preußischer Minister an den fränkisch-sächsischen Höfen, Inhaber mehrerer Orden, Schriftsteller, dramatischer Dichter, Staatsökonom, bayerischer Kreis-Direktorial-Gesandter und noch vieles mehr. Wegen seiner Verdienste wurde der illustre Mann 1813 in den
bayerischen Grafenstand erhoben. Bedeutsam wird der Vater unseres Studenten durch zwei Faktoren:
•
Zum einen engagierte er sich nicht nur für Preußen, sondern nach 1806 auch für die Ökonomie
im Königreich Bayern, z. B. bei der Gründung des „Credit-Vereins der bayerischen Guts-Besitzer“.
Als Mitglied stellte er sich den Wahlen des Zentraldirektoriums, war somit bestens mit dem Mitbewerber Graf Karl von Arco und dem Direktoriumsmitglied Karl Lorenz von Mayr (noch ein Karl
Mayer!) vertraut. Das sind Männer aus München, die dem Bekanntenkreis der Kurfürstin MariaLeopoldine zuzuordnen sind.
•
Zum anderen war der Graf von Soden ein erbitterter NapoleonGegner. Als Napoleon Bonaparte
1814 entmachtet wurde, erschien
von ihm ohne Autorenname eine
Biographie über den anti-napoleonischen Märtyer Johann Philipp
Palm.346 Palm war am 26. August
1806 auf Befehl des Korsen in
Braunau wegen Verbreitung einer
regime-kritischen Kampfschrift in
einem Willkürakt verurteilt und
standrechtlich erschossen worden. Der Verfasser dieses Pamphlets mit dem Titel „Deutschland Abb. 106: Darstellung der Hinrichtung Johann Philipp Palms in
in seiner tiefen Erniedrigung“ wur- Braunau am 26. August 1806, durch französische Truppen.
de von Palm nicht verraten. Palms Thomas Pöschl als Beichtvater Palms.
344 Mayer, Stanhope, S. 55f.
345 Matrikelbuch, S. 161.
346 [Fr. J. H. von Soden]: Johann Philipp Palm, Buchhändler zu Nürnberg: Auf Napoleons Befehl hingerichtet zu
Braunau, den 26sten August 1806..., Nürnberg 1814.
155
Hinrichtung löste speziell im Innviertel und Salzach-Kreis eine große Empörung und nachfolgend
Pogrome durch die radikale Pöschlianer-Sekte aus, benannt nach Thomas Pöschl, dem Beicht priester des Hingerichteten. Speziell Vöcklabruck war in die Umtriebe, die mehreren Menschen
das Leben kosteten, einbezogen; ein Karl Mayer stand im Brennpunkt der Ermittlungen. Der
Verfasser der erwähnten Gedenkschrift wurde nie zweifelsfrei ermittelt. Neben dem Kammerassessor Julius Konrad von Yelin aus Ansbach, der ab 1803 eine in Passau eröffnete Filiale der
Palm'schen Buchhandlung geführt hatte, gehört der Graf von Soden zu dem Personenkreis, dem
man am meisten die Urheberschaft der Kampfschrift zutraute.
In der damaligen Zeit wurden Haltungen des Vaters noch oft auf seine Söhne übertragen. Als sich Karl
Julius von Soden in Erlangen als Student einschrieb, lebte seine Familie zwar schwerpunktmäßig noch auf
dem Gut Sassanfarth bei Bamberg, hatte aber nach Erlangen die Fühler bereits ausgestreckt und erwarb
dort einen Zweitwohnsitz, wohin sie 1811 umzog. Im selben Jahr, als Sohn Karl sein Studium beendet
hatte, wurde dem Vater die Ehrendoktorwürde der Universität Erlangen verliehen, zwei Jahre später erfolgte die Aufnahme in die Erlanger „Ökonomisch-Camaralistischen Societät“.
Bei soviel Bezügen zur mittelfränkischen Universitätsstadt nimmt es kein Wunder, wenn sich der Graf
von Soden besonders für den von den Franzosen ermordeten Buchhändler Palm engagierte, dessen Onkel in Erlangen bereits vor ihm eine Buchhandlung mit Verlag betrieben hatte, ein Geschäft, welches unter dem Namen „Palm und Enke“ noch heute existiert. Im Übrigen hatte Erlangen und die mit Preußen
alliierte Markgrafschaft unter den vorangegangenen Kriegen gegen Frankreich viel gelitten.
Der Sohn des Napoleon-Verächters war am 21. Mai 1783 geboren und gerade 21 Jahre alt, als er sein
Studium in Erlangen begann. Wie seine Vorfahren und die meisten seiner Kommilitonen war er Protestant.
Kam etwa dieser junge Mann als Organisator der Entführung Kaspar Hausers in Frage, falls es der
Johann von Abele aus Ulm doch nicht war ?
Schon kurz nach Beginn des Studiums dürfte Karl von Soden in Erlangen den Jurastudenten Christian
Lampert und der Theologiestudenten Ludwig Würth kennengelernt haben. Es ist durchaus denkbar, dass
er sich, geprägt durch die zutiefst Napoleon-feindliche Haltung seines Elternhauses, zusammen mit
diesen einer anti-bonapartistischen Untergrundbewegung aus Erlanger Studentenkreisen anschloss. Gut
möglich ist auch, dass sich eine solche aus der Freimaurerei Erlangens speiste, der Studenten und
Professoren gleichermaßen angehörten.
Schon lange bevor sich nach der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahr 1815 eine Ur-Burschenschaft als Symbol der Nationalen Erhebung entwickeln konnte, hatte es in Erlangen ein buntes Potpourri
an Geheimbünden, geheimen Orden, Landsmannschaften und Corps gegeben, von denen kein kleiner
Teil außerhalb jeglicher Legalität stand und deshalb von Seiten der Universitätsleitung und der markgräf lichen Regierung sogar bekämpft werden musste. So gehörte Erlangen nicht nur unter dem Namen „Sagunth“ zu den Illuminaten-Stützpunkten, sondern es war unter Georg Friedrich Rebmann auch Zentrum
eines „Ordens der schwarzen Brüder“. Beides sind Vereinigungen, denen umstürzlerische Pläne und eine
Nähe zu den französischen Jakobinern nachgesagt wurde. Wer sich über das berüchtigte Erlanger Studentenvorleben zwischen 1760 und 1815 einen größeren Überblick verschaffen will, sei auf die Synopse
von Andreas Deutsch verwiesen, welche sämtliche Grundlagenliteratur verwertete. Sie wird später bei
der Besprechung des Staatsrats von Klüber noch eine wichtige Rolle spielen. 347
347 Andreas Deutsch: Ein Geheimbund mit Lizenz zum Töten, Der Anti-Illuminaten-Orden des Johann Ludwig
Klüber, Stuttgart 2010, hier S. 9ff. und 32ff.
156
Viele der genannten Gruppierungen agierten unter dem Deckmantel der bereits seit 1757 etablierten, mit ausdrücklichem
Gutheißen des freimaurerischen Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth errichteten Freimaurer-Loge namens „Libanon zu den drei Cedern“. Die Drei-Zedern-Loge ist eng mit der
Gründung der Universität Erlangen verknüpft; zahlreiche Professoren wirkten in der Loge und zogen Studenten aus den reformierten Teilen Europas als künftige Mitglieder an.
Die zweitälteste Loge von Bayern gab sich im Gegensatz zu den
erwähnten Geheimbünden ein eher offenes, aufklärerisches, antipietistisches Image, was sie aber nicht daran hinderte, zahlreiche Geheimbündler aus der Studentenszene in den eigenen Reihen zu verstecken, welche ab dem 25. Lebensjahr sogar das Initiationsritual absolvieren und Vollmitglied der Loge werden
konnten. Diese Loge besteht übrigens noch heute und besitzt
eines der schönsten Logenhäuser Deutschlands, das allerdings
aus späterer Zeit (1890) stammt.
Abb. 107: Kultteppich der Loge „Libanon
„Die jugendlichen Gemüther wenden sich dem Heili- zu den drei Cedern“ in Erlangen.
gen und Geheimnisvollen mit einer energischen Neigung
zu … Dass unter den Freimaurern nicht lauter
Tugendhelden sind, ist natürlich. Es gibt keinen Stand, auch den würdigsten und heiligsten, in
welchem es nicht räudige Schafe gäbe … Wie wäre es möglich, dass eine so zahlreiche Verbindung nicht neben den edelsten, wohlwollendsten, tugendhaftesten Männern auch falsche, hinterlistige, scheinheilige und lasterhafte enthielte …“
Mit diesen ambivalenten Worten über die Verhältnisse in der Erlanger Loge relativierte der 90-jährige
Ernst Wilhelm Martius, Pharmazieprofessor und „Meister vom Stuhl“, in seinen Memoiren seine frühere
Begeisterung für das Erlanger Freimauertum, wobei er sich gegen die Machenschaften der Illuminaten,
gegen Jesuitimus, Fanatismus und Intoleranz aussprach und für die Errungenschaften der Aufklärung, für
die „Reinheit der Sache“, für Humanität, Brüderlichkeit und Gleichheit plädierte. 348
Was einen Karl von Soden und seine Kommilitonen Mayer, Würth und Lampert anbelangt, so ist we gen der Herkunft auch eine geheime studentische Untergruppierung aus dem 1798 gegründeten, heute
noch existierenden „Corps Onoldia“ denkbar, welches Karl von Sodens späterer Schwiegervater Graf Karl
Joseph von Drechsel mitbegründet hatte. Drechsel hatte sich 1797 als „Joseph Freiherr von Drechsel aus
Bayern“ (so!) in Erlangen eingeschrieben.
Gegen Ende ihres Studiums konnten diese Verschwörer offiziell Mitglieder der Erlanger Freimaurerloge werden, was später einen Johann Samuel Müller veranlasst haben mag, sie in toto als „Freimaurer“ zu
klassifizieren. Für ihn, der ja in keine Einzelheiten eingeweiht war, ergab es wenig Sinn, hier weiter zu
differenzieren. An den Haaren herbeigezogen war sein Statement allerdings nicht!
Nach der Okkupation Deutschlands durch Napoleons Truppen und der Gründung des Königreichs Bay ern 1805 hatten sich „erhebliche Konsequenzen für die Erlanger Loge“ ergeben, wie man heute auf der
Homepage derselben liest. Zwar konnte ein Verbot gerade noch abgewendet werden, aber es wurden
den Maurern alle Kontakte zu ausländischen Logen verboten, außerdem war allen Staatsdienern, dem
Universitätspersonal und dem Militär die Mitgliedschaft in der Loge von vornherein verboten.
Dies hatte die logische Konsequenz, dass ein Großteil der früheren Mitglieder in den Untergrund
verschwinden musste. Genau wegen dieser Situation, die bis 1850 fortdauerte, mögen sich manche
Studenten auch auf eine spätere freimaurerische Untergrundaktivität vorbereitet haben. Es wäre kein
Wunder, ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass Karl von Soden und seine Kommilitonen Mayer,
348 E. W. Martius: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1847, 733ff.
157
Lampert und Würth in Vorbereitung ihrer Logen-Mitgliedschaft aus einer geheimen Studentengruppierung heraus in radikal national-liberaler Gesinnung Stimmung gegen die napoleonische Okkupation in
Deutschland machten.
•
Dieser Zirkel mag eines Tages gegen fürstliche Entlohnung einen geheimen Auftrag aus England
entgegen genommen haben, nämlich die Beseitigung und Verwahrung eines politischen
Faustpfandes gegen Napoleon, in Form eines Babys oder Kleinkindes. Wenn es sich dabei um
Kaspar Hauser handelte, gewinnt die eingangs vorgestellte Napoleoniden-Theorie an ungeahnter
Aktualität!
•
Oder aber es ging dabei doch primär um Geld. Dass die Erbprinz-von Baden-Theorie aus den
Zeitbezügen heraus nicht mit dieser Aktion zusammengeht, haben wir bereits an anderer Stelle
untermauert. Aber natürlich konnte sich auch jeder andere Auftraggeber die politischen Motive
dieser Geheimbündler zunutze gemacht haben, letztlich auch eine Maria-Leopoldine oder ein
Herr von Arco.
Was den konkreten Anlass zur Wegnahme eines Säuglings anbelangt, so muss man die Motive hierfür
offen lassen, zumal sich auch beide Varianten gegenseitig ergänzen konnten.
Dass wenigstens eines der Mitglieder, der spätere Pfarrer Ludwig Würth, eine Aversion gegen Napole on und sein Regime an den Tag legte, ist bezeugt – für den Fall, dass er wirklich der Urheber einer 1825
unter dem Pseudonym Ferdinand Friederich in Leipzig und Groitzsch erschienenen und in Österreich-Un garn verbreiteten Schrift ist, die Johann Samuel Müller ins Spiel brachte, ohne Würths Urheberschaft zu
behaupten. Die „Vertraute Briefe über die äußere Lage der evangelischen Kirche in Ungarn“ tragen in der
Tat einen anti-orthodoxen, napoleon-feindlichen Unterton, der seinerzeit heftige Gegenreaktionen des
ungarischen Katholizismus hervorrief. Sicher ist die Urheberschaft Würths nicht, wenngleich an der andernorts behaupteten Urheberschaft der „W. O. Ferdinand Friederich“ aus Werningerode noch größere
Zweifel bestehen.349
349 Wikipedia Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Friederich.
158
Karl Mayers Verbindungen nach Erlangen
Als Karl Mayer nach Vöcklabruck kam, schloss er u. a. sofort Bekanntschaft mit Lampert und Würth,
mehr noch, er ging, nach Johann Samuel Müller, mit diesen eine Komplizenschaft ein. Kannte man sich
schon von früher?
Dies ist gut möglich, doch zum Verständnis müssen wir ein wenig ausholen:
Karl Mayer hatte eine Tante väterlicherseits namens Elisabeth Mayer (1754-1822), über welche eine
konkrete Spur nach Erlangen führt. Diese Elisabeth hatte aus der Ehe mit ihrem ersten Mann, dem Sali nen-Spezialisten Johann Georg Glen(c)k (1751-1801), einen Sohn, den bereits erwähnten Carl Christian
Friedrich Glen(c)k (1779-1845) gezeugt, der sich am 22. Oktober 1796 zu einem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Erlangen einschrieb. 350 Spätestens ab 1798 wechselte Carl Christian in
das elterliche Fach, die Mineralogie und Geologie, und hörte für zwei Semester seinen späteren Stiefva ter, den Professor und Naturwissenschaftler Karl Christian Langsdorff (1757-1834). Da sich auch dieser
in seinem Vorleben zusammen mit seinem älteren Bruder Johann Wilhelm (1745-1827) extensiv mit der
Salinenkunde beschäftigt hatte, da außerdem Elisabeth ihrem Sohn den Vornamen genau dieses Mannes
und nicht des eigenen Ehemannes gab, und da sie in hohem Alter diesen ehelichte, ist nicht ausgeschlos sen, dass Karl Christian Langsdorff schon in jungen Jahren der heimliche Geliebte der Elisabeth Mayer
gewesen war – und Carl Christian Friedrich vielleicht beider Sohn. Zu dieser Sicht der Dinge passt auch,
dass Tante Elisabeth Mayer, nachdem sie 1801 ihren ersten Mann durch Tod verloren hatte, über 17 Jah re ehelos blieb und im Witwenstand den Tod der angetrauten Frau Karls von351 Langsdorff abwartete, um
diesen dann plötzlich im Sterbejahr derselben, 1818, zu heiraten, wohlgemerkt im fortgerückten Alter
von 64 Jahren – nur 4 Jahre vor dem eigenen Tod!
Auch nach dieser Zeit müssen beide Familien, die Mayers und die Langsdorffs, intensive Kontakte ge pflegt haben: Ein in Erlangen geborener Sohn Karls von Langsdorff, F. Wilhelm D. Gustav von Langsdorff
(1803-1847), schwängerte z. B. die Schwester Karl Mayers namens Auguste Mayer. Beider Sohn namens
Franz Wilhelm Daniel Gustav (1825-1875) legte den Namen von Langsdorff ab und nannte sich ab 1855
offiziell von Camerloher, da er seinem Vater das gebrochene Eheversprechen gegenüber seiner Mutter
nicht verzieh. Dieser Sohn stand bei der Revolution von 1848/49 in vorderster Reihe und musste über die
Schweiz, Italien und London in die Türkei flüchten, wo er blieb und schlussendlich in Konstantinopel k. k.
Konsul wurde.
Großvater Karl Christian von Langsdorff war 1801 Prorektor der Universität Erlangen geworden. Er
setzte seinen dortigen Lehrbetrieb noch für 3 Jahre fort, ließ aber ab 1804, also gerade, als die Studenten
Lampert und Würth dort eintrafen, wegen der steigenden Kriegsgefahr seine Professur in Erlangen ruhen
und ging zunächst für kurze Zeit nach Vilna, was ihm den russischen Adelstitel einbrachte. Danach wech selte er mit Hilfe seines älteren Bruders Gottlieb, des Landvogts von Dilsberg, ins sichere Heidelberg auf
eine volle Professorenstelle. Damit befand sich der frischgebackene Aristokrat sozusagen hinter den
Kampflinien, da die Franzosen soeben das neue Großherzogtum Baden durch Einheirat der Adoptivtoch ter Napoleons, Stephanie de Beauharnais, faktisch annektiert hatten. 352 Ein Jahr später ist nicht aus Zufall
auch der Erlanger Staatsrechtler Johann Ludwig Klüber (1762-1837) an der Universität Heidelberg zu finden. Das ist jener Klüber, dem wir später in einem eigenen Kapitel eine gehörige Mitwirkung bei Kaspar
350 Nicht schon 1791, wie in manchen Genealogien verzeichnet ist. Vgl. Personalstand der Fr.-A.-Universität
Erlangen …, Erlangen 1843, S. 139.
351 Der Adelstitel war 1806 in Vilna von Russland verliehen worden.
352 Dieser Wechsel wird in der Fachliteratur meist durch berufliche Notwendigkeiten und Ambitionen begründet;
von Langsdorff selbst machte persönliche Motive (Nähe zur amilie), später auch Geld-Motive geltend. Das
Ausweichen vor den heranrückenden Franzosen, das ja die anderen Motive nicht ausschließt, erscheint uns
dennoch vorrangig, da Langsdorff noch 1803 den Ruf nach Heidelberg abgelehnt hatte. Welcher Professor
wollte damals schon in Erlangen direkt zwischen die Fronten geraten, wenn die Fanfaren bereits zum Kampf
bliesen, und der Weg in eine andere Universität einen Ausweg anbot?
159
Hausers Ende zuschreiben. Bis 1804 hatte Karl Friedrich Langsdorff wie Johann Ludwig Klüber oder Fried rich von Soden der Erlanger Freimaurerloge „Libanon zu den drei Zedern“ angehört. Damit dürfte er über
diese Loge Karl Mayers Freunde in Vöcklabruck, Lampert und Würth, noch persönlich kennengelernt haben. Langsdorff brach auch nach seinem Weggang seine Kontakte nach Bayern und nach Erlangen nicht
ab: Im Jahr 1808 wurde er als auswärtiges Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen, und erst 1809, also im wahrscheinlichen Geburtsjahr Kaspar Hausers, kündigte er seine Zu gehörigkeit zur Alma Mater in Erlangen offiziell auf.
Bei diesen Beziehungen, der in den biographischen Notizen Karl Mayers keine Erwähnung findet, ist es
plausibel, dass Karl Meyer über Tante Elisabeth und ihren Freund und späteren Mann Karl Christian von
Langsdorff Kontakte nach Erlangen unterhielt und über die Erlanger Logenbrüder und den dortigen Widerstand gegen Napoleon bestens informiert war. Über diesen Weg kann er auch vom Entführungsfall
Kaspar Hauser und von der Existenz der Urheber Lampert und Würth Kenntnis erlangt haben.
Vielleicht kam es damals schon in den Semesterferien zu einem ersten Kennenlernen mit den beiden
Erlanger Sympathisanten, die sich später im Hausruckviertel als Freunde Mayers wiederfinden. Dass man
solche Kontakte nicht an die große Glocke hing, war selbstverständlich. Es waren vermutlich auch diese
neuen Freunde, die Mayer am Ende seines Studiums dazu motivierten, zusammen mit ihnen – und womöglich den kleinen Kaspar Hauser! - in die neu-bayerischen Gebiete östlich von Inn und Salzach zu
wechseln.
Vor diesem familiären Hintergrund bekommen Karl Mayers Aussagen nach Johann Samuel Müller doch
einen Grad von Wahrscheinlichkeit, den man auf den ersten Blick hin nicht für möglich gehalten hätte.
Karl von Mayer studierte zwar nicht in Erlangen, er hatte aber gleichwohl einen guten Draht dorthin!
Es ist aber kein Wunder, wenn hinterher bei diesem komplizierten Beziehungsgeflecht, das wir nur
grob umreißen konnten, Müller Einiges durcheinanderbrachte.
Jedenfalls fanden sich nach dem Wechsel nach Vöcklabruck im Hausruckviertel die von Müller so apo strophierten „Freimaurer“ Ludwig Würth, Christian Lampert, Adam Leydel und Karl Mayer endgültig zusammen – in einem von anti-bonapartistischen Umtrieben gebeutelten Landstrich, der unter der Okkupation Napoleons Schlimmes hatte erleiden müssen …
Damit am Ende kein Missverständnis entsteht:
Es ging in den vorangehenden Kapiteln nicht darum, alle Details der personalen Interdependenzen zu
klären, denn dies ist mit den heutigen Mitteln einfach nicht mehr möglich. Es ging lediglich darum, einen
Rahmen aufzuspannen, aus dem heraus sich später das Quartett Würth, Lampert, Mayer und Leydel formieren konnte. Es ging des Weiteren darum, einen verdeckten Anti-Bonapartismus als wahrscheinlichste
Triebfeder für Kaspar Hauser Entführung herauszuschälen und diesem konkret Personen und Orte zuzu ordnen. Und nicht zuletzt ging es darum, nachzuweisen, dass Johann Samuel Müllers Angaben zur Freimaurerei, zum adeligen Kommilitonen im Hintergrund und zum Studienort Erlangen durchaus einen reellen Hintergrund hatten, selbst wenn er dabei Einiges durcheinander brachte.
Selbstredend war zur Zeit der napoleonischen Kriege die Freimauererei nicht auf Erlangen und seine
dortige Universität beschränkt. Auch in Landshut gab es trotz staatlichen Verbots studentische und nichtstudentische, z. T. untereinander stark divergierende Geheimbünde und Geheimaktivitäten, vor allem
eine veritable Post-Illuminaten-Szene. Gustav Radbruch beschäftigte bei seiner Feuerbach-Biographie
sich mit den Verwerfungen in der Landshuter Professorenschaft, mit …
„…dem Gegensatz von Süddeutschen zu Norddeutschen, von Katholiken zu Protestanten, von
Romantikern zu Aufklärern. Erbitterte Gegner, Franzosenfreunde und Deutschtümler, Illuminaten
und Obskuranten fanden sich in gemeinsamem bajuwarischem Patriotismus gegen die Eindringlinge. Vielfach verbarg sich hinter der patriotischen Fassade der platte Neid gegen die gut besoldeten und vielfältig ausgezeichneten Ausländer. Aber auch der Eifer und Übereifer der ’Nordlich-
160
ter’ hatte Anteil an den Verstimmungen.“353
Wie mag es vor einem solchen Hintergrund erst unter den Landshuter Studenten zugegangen sein!
Und nicht vergessen: Was die Freimauerei anbelangt, so ist gerade der Freiherr Johann Nepomuk von
Prielmayer, der vermutlich sein Schloss Wanghausen als Unterbringungsort anbot, gerade in Landshut
und nicht in Erlangen zu suchen.
353 Gustav Radbruch: Paul Johann Anselm Feuerbach – ein Juristenleben, Wien 1834, 3. Auflage Göttingen 1969, S.
94. Im Weiteren abgekürzt mir Radbruch und Seitenzahl.
161
Karl von Soden und die Sache mit Gunzenhausen
Johann von Abele schied früh als potentieller Mitverschwörer aus, er bezahlte 1812 seinen Einsatz
gegen Napoleon und sein Regime mit dem Leben.
Karl von Soden aber schlug nach dem Studium eine gut-bürgerliche Laufbahn ein, für die er wie so
viele die verbotene Freimaurerei an den Nagel hängen musste. Er wurde schließlich königlich-bayerischer
Oberforstmeister in Gunzenhausen.
Wir hätten uns nicht so ausführlich mit seiner Person beschäftigt, wenn nicht nach der Ermordung
Kaspar Hausers auffallend vielen Spuren in Gunzenhausen, dem Wohn- und Dienstort Karls von Soden
zusammenliefen.
Beschäftigen wir uns zuvor noch ein wenig mit seinem Lebenslauf:
Im Jahr 1818 ehelichte Karl von Soden die aus altem oberfränkischen Adel stammende Freiin Antonia
von Künsberg-Thürnau (+1824), am 4. November 1826 wurde Maria Walpurga Auguste Therese Josepha
Gräfin von Drechsel (*2.5.1801) seine zweite Frau. Die Kinder aus beiden Ehen hießen Friederike Juliane
Antonia Sophie (*4.12.1819), Karl Friedrich Julius (*22.8.1821), Hermann Karl Julius (*27.11.1827) und
Emanuel Julius Adolf (*21.2.1829). Der an die römische Aristokratenfamilie der Julier erinnernde Name
„Julius“ war also Leitname der Familie geblieben.
Karl von Soden übernahm nach dem Tod seines Vaters dessen
Rittergüter, Saßanfahrt, Eichenhausen und Neidenfels mit
Satteldorf:
Abb. 108: Bibliothekszeichen DRV mit dem
Wappen Karls von Soden.
Neidenfels lag als Reichsrittergut bereits im Königreich Württemberg, grenzte allerdings unmittelbar an das Ansbacher Kastenamt Crailsheim an. Zur Erinnerung: In Crailsheim wirkte der
Pfarrer Ludwig Würth vorübergehend als Vikar, eher er an der
Universität Altdorf weiterstudierte, wozu er sich dort als
„Crailsheimer“ einschrieb. Vielleicht kamen sich die beiden
Studenten auch über diese regionalen Bezüge nahe. Der Sitz in
Neidenfels verfiel inklusive der Schlosskapelle gegen Ende der
Zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts so sehr, dass das von
Soden'sche Rentamt alle Mobilien wegschaffen ließ. Ein tieferes
Interesse an dieser Liegenschaft kann also Karl von Soden nicht
gehabt haben. Die Burg Neidenfels selbst soll schon zu Beginn
des 19. Jahrhunderts von seinem Vater abgebrochen und durch
einen Garten ersetzt worden sein. Lediglich das Amtshaus hat
bis heute die Zeiten überdauert.
Das Schloss in Eichenhausen (Gemeinde Wülfershausen, Kreis
Rhön-Grabfeld) bewohnten nach einer Mitteilung des Gräflich
von Soden'schen Patrimonialgerichts (Urkunde im StA Würzburg) um 1809 12 Judenfamilien mit ihren 18
Kindern. Sie betrieben dort für die große jüdische Gemeinde in Eichenhausen eine Schule und einen
eigenen Betsaal. Dies nur als Hinweis für die gelebte Religionstoleranz der Familie von Soden.
Während der kurzen Existenz des Großherzogtums Würzburg (1806 bis 1814), genau am 14. September 1811, wurde Karl von Soden zum Großherzoglichen Jagdjunker ernannt. 354 Dies kam wohl daher, weil
die Familie auch in Zwing am Main bei Gemünden einige Güter besaß.
Im Jahr 1826 gab Karl von Soden das Kirchenpatronat von Satteldorf zugunsten des Königreichs Würt temberg auf. Zu dieser Zeit wird er auch als „Forstmeister von Neustadt an der Aisch“ bezeichnet. Ob dies
354 Siehe Großherz. Regierungsblatt vom 21.10.1811.
162
konkret eine Versetzung von Gunzenhausen weg nach Neustadt an der Aisch bedeutete oder nur eine Er weiterung seines Forstbezirks, müssen wir offen lassen.
Recht viel mehr ist uns über das Leben Karls von Soden nicht bekannt geworden. Eine größere Urkun densammlung harrt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart der Auswertung.
Wie bereits oben angedeutet, dürfte Karl von Soden bestens mit der Familie des Karl Joseph von
Drechsel (*26.6.1778 +8.2.1838) bekannt gewesen sein, also des Mannes, der unter dem Grafen Montgelas das Postwesen Bayerns entscheidend reformierte und bis 1817 führte, ehe er Generalkommissär
und erster Präsident des Rezat-Kreises wurde. Vermutlich kannten sich beide schon vom Erlanger Studenten-Corps „Onoldia“ her. In den Jahren zwischen 1817 und 1826 lernte Karl, als die Familie von
Drechsel in Ansbach residierte, eine Tochter des Hauses, Maria Walpurga, kennen, die er schließlich im
Jahr 1826 ehelichte. Dies war übrigens eine Mischehe, denn im Gegensatz zu Karl von Soden war die
Braut katholisch, ja sogar Stiftsdame von St. Anna in München. Das Annenstift in München war eine kur fürstliche Gründung von 1667, die allerdings nach der Säkularisation auch protestantische Adelige auf nahm.
Das Paar dürfte sich vor und nach dem
Eheschluss öfters in jenem großen Erholungs- und Biergarten getroffen haben, den
Präsident Karl von Drechsel um 1820 bei
Ansbach aus dem sog. „Windmühlgütlein“
und dem „Hirschgarten“ hatte vereinigen
lassen. Dieses Anwesen wurde binnen kurzem zur beliebtesten Ansbacher Ausflugsgaststätte. Es ist eine Ironie des Schicksals,
dass dem Anschein nach gerade in der
Restauration des „Drechselsgarten“ im Dezember 1833 das Mordkomplott gegen Kaspar Hauser geschmiedet wurde. Jedenfalls Abbildung 109: Ausflugslokal im „Drechselsgarten“, Aufnahme
gab im Jahr 1853 ein gewisser Ferdinand aus Mayer-Tradowsky.
Dorfinger, vormals Wirt des Drechselsgarten, eine entsprechend klingende Anzeige ab. Hierzu mehr weiter unten.
Wir haben es bereits erwähnt:
Unter diesen Aspekten ist die Annahme einer Untergrundaktivität des Terzetts Soden, Würth und
Lampert auch aus der Corps-Szene der Ansbacher „Onoldia“ heraus möglich. Zukam sich Würth selbst
als „Ansbacher“ bezeichnete!
Einige Eigentümlichkeiten aus dem Leben Kaspar Hausers könnten wenigstens indirekt mit Karl von Soden und seinen Aufenthaltsorten Erlangen und Gunzenhausen in Zusammenhang stehen:
•
Kaspar Hauser nahm z. B. selbst in eigenartiger Weise auf Erlangen Bezug – und zwar
unmittelbar nach dem Hackmesser-Attentat im Hause Daumer im Jahr 1829. Noch benommen
vom verwundenden Schlag und im Fieberdelirium liegend, repetierte er nach den Akten des
Stadtmagistrats Nürnberg u. a. folgende Worte:
„Mann weg … nicht einsperren … nicht mit nach Erlangen in Wallfisch … nicht mit nach Erlangen
in Wallfisch… nicht mit nach Erlangen in Wallfisch … nicht umbringen … nicht Mund zuhalten …
nicht sterben …“
Den dreifachen Ruf mit dem „Erlanger Wallfisch“ wiederholte er später ein weiteres Mal, erneut
in Zusammenhang mit „nicht umbringen“.355
355 Pies, Dokumentation, S. 5 und 70.
163
Welche Angst hatte der schwer verwundete Kaspar vor dem „Erlanger Wallfisch“?
Der „Goldene Walfisch“ in der Calvinstraße Nr. 5 in Erlangen ist heute durch ein modernes
Bankhaus ersetzt, zu Kaspar Hausers Zeit war der schmucke Bau der renommierteste Gasthof
seiner Zeit. In dem vormals hugenottischen, seit 1818 in Bürgermeisterhand befindlichen
„Speisehaus des Adels“ logierten u. a. so berühmte Persönlichkeiten wie König Gustav von
Schweden, J. W. von Goethe und E. M. Arndt. Hier verkehrten aber auch einfachere Leute und
viele Studenten, soweit sie nur genügend Kleingeld bei sich hatten. Es gab im Wallfisch nicht nur
ein geräumiges Gastzimmer und zwei große Säle, sondern auch mehrere diskrete Hinterzimmer,
bestens geeignet für subversive Aktivitäten. Nicht zuletzt deswegen hielten die Erlanger
Freimaurer im Wallfisch regelmäßig ihre sogenannten Tafellogen ab.
Van der Linde erklärte Kaspars Ruf nach einem Bericht Hickels damit, dass anlässlich eines geplanten Essens im „Goldenen Wallfisch“ Kaspar einst die Angst entwickelt hatte, analog zur
Geschichte des Jonas von einem Walfisch gefressen zu werden. 356 Doch war dies wirklich der
Anlass zu Kaspars Panik? Oder hatte nicht vielmehr der Attentäter Kaspar zuvor mit dem
„Wallfisch“ gedroht? Welche Machinationen gegen Kaspar Hauser mögen dort in Gang gesetzt
worden sein? Leider haben wir auf diese Fragen keine Antwort.
Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle der Hinweis, dass im Jahr 1811 der „Goldene Walfisch“ den
damals nur sehr schwer erhältlichen „Rosolio“ aus Triest ausschenkte. Den Hinweis entnehmen
wir einem Brief Jean Pauls an seine Frau vom 14. Juni 1811, in dem er von seinem Aufenthalt im
Erlanger Walfisch berichtete:
„Entweder der Wein oder das treffliche Bier (ich trink hier noch einmal soviel als in Bayreuth) oder die Luft oder der ungemein seltene Rosoglio oder das wenige Arbeiten oder
alles zusammen macht mich so gesund, wie ich seit Jahren nicht war …“357
Unter der napoleonischen Besetzung war wegen der englischen Seeblockade die Triester Rosolio-Produktion bis auf rudimentäre Reste zusammengebrochen, eine Exilproduktion der Fa. Casali
in Wien noch nicht aufgebaut. Der oben genannten Anna Frisacco alias Dalbonne, von der wir
annehmen, dass sie Kontakte zu den Freimaurern von Erlangen hatte, könnte man allerdings zu trauen, dem Erlanger Walfisch den „ungemein seltenen Rosoglio“ verschafft zu haben: Sie selbst
stammte ja aus einem kleineren Rosolio-Betrieb in Triest!
•
Als der in Bayreuth gebürtige, preußische Premier-Lieutenant des 1. k. preußischen Gardere gimentes, Otto Ferdinand von Pirch, ab dem 27. März 1830 im Hause Biberbach mit Kaspar
Hauser Sprachtests in Ungarisch und Polnisch durchgeführte, stieß am 29. März beim sogenannten Kukuruz-Test Kaspar Hausers auch der „Herr Graf Drechsel von Regensburg“ hinzu. Dies steht
so im Verhörprotokoll des Vormundes Gottlieb von Tucher vom 5. April 1830. 358
Bei diesem Grafen von Drechsel kann es sich nur um den oben genannten Schwiegervater Karls
von Soden gehandelt haben. Wir schließen dies nicht nur aus dem Alter des Erwähnten – seine
beiden Söhne wären gerade mal 15 bzw. 20 Jahre alt gewesen -, sondern auch aus der Angabe
„von Regensburg“, denn Karl Joseph von Drechsel war im Jahr 1828 wegen seiner liberalen
Gesinnung von König Ludwig I. plötzlich aus dem Dienst entlassen und zu einem Privarleben auf
Schloss Karlstein nördlich von Regensburg veranlasst worden.
Was hatte der Karl Joseph von Drechsel bei Kaspar Hauser zu schaffen?
Letzte Klarheit lässt sich darüber nicht gewinnen. Von Drechsels vielfältige Bezüge zum RezatKreis, die nicht nur verwandtschaftlicher Art waren (er war dort erst Regierungspräsident und
nachfolgend Generalkommissär), stellen in den Raum, dass er damals in der Gegend weilte und
356 Linde 1, S. 124.
357 Aus Richter: Jean Paul, eine Reisebiographie, Berlin 2012. Den Hinweis verdanken wir Frau Sylvia Kemming.
358 Pies, Dokumentation, S. 81.
164
Kaspar Hauser ganz einfach persönlich kennenlernen wollte. Ob diese „streng rechtlich gesinnte
Persönlichkeit“ (Zitat Neue Deutsche Biographie) ahnte, dass sein Schwiegersohn möglicherweise
in die Beseitigung Kaspar Hausers vor 1814 involviert war?
•
Auf Karls von Soden Wohn- und Dienstort Gunzenhausen beziehen sich mehrere Begebenheiten
nach Kaspar Hausers Ermordung:
1. Nach Rudolf Biedermann könnte der (die) Mörder Kaspar Hausers am Tag der schrecklichen
Tat über Gunzenhausen an- und abgefahren sein. Biedermann berief sich dabei auf eine örtliche
Tradition, die sich über Generationen erhielt:
„Im Jahr 1833, am Vormittag des 14. Dezember, kehrten
zwei vornehm gekleidete Herren in der Gaststube der Madame N. (Name von Biedermann geschwärzt) ein. Sie schienen
in großer Eile zu sein, und Madame N., die gut französisch
sprach, stellte fest, dass sich die Herren in einer ausländischen
Sprache unterhielten, welche sie nicht definieren konnte (also
wohl nicht französisch!) … Sie erkundigten sich bei ihr eingehend nach dem nächsten Weg nach Ansbach … Am Nachmittag desselben Tages, es war schon dunkel, erschienen beide Herren abermals in der Gaststube der Madame N. und
warteten ungeduldig auf ihre Weiterfahrt. Es fiel der Gastwirtin auf, dass beide die Handschuhe anbehielten. Kaum hatten
die Herren die Kutsche besetzt, fuhren sie auch schon in
großer Geschwindigkeit davon. An dem Platze, an welchem
zuvor die Kutsche gestanden hatte, entdeckte der Pferdeknecht jetzt einen mit Perlen (farbigen Glasperlen) bestickten
Beutel, eine Art Pompadour, wie ihn die vornehmen Damen zu
tragen pflegten. Er hob ihn auf und brachte ihn der Madame.
Diese gab ihm den Auftrag, eiligst hinterher zu reiten (über
die Altmühl-Brücke), um den offenbar verlorenen Beutel zurückzugeben. Der Pferdeknecht konnte die Reisenden aber
nicht mehr erreichen, und brachte den Fund seiner Auftraggeberin zurück. Diese öffnete nun den Beutel und entdeckte dar- Abb. 110: Der Gunzenhausener
Beutel 1998 - Fotomontage. Biein zu ihrem Entsetzen ein großes, weißes, völlig mit Blut besudermann hatte den Beutel auf der
deltes Taschentuch. Sie lief damit zum Bürgermeister des Umschlagseite seiner Arbeit von
Städtchens und erzählte ihm, was sich zugetragen hatte. Der 1998 nur zum Teil abgebildet.
Bürgermeister aber winkte ab und gebot ihr, über den Vorfall
zu schweigen. Am nächsten Tage erreichte das Städtchen die Kunde, dass Kaspar Hauser er mordet worden sei …“359
Nach dieser Begebenheit habe die Wirtin das blutige Tuch verbrannt, desgleichen das Futteral,
nachdem sie dieses herausgetrennt hatte. Den Beutel verwahrten sie und ihre Nachkommen. Die
Biedermann'sche Information stammte aus dem Jahr 1965. Noch im Jahr 1998 soll den Beutel
ein Nachkomme in Oberfranken besessen haben; dieser sei aber laut Rudolf Biedermann sehr
zurückhaltend mit der Preisgabe des Familiengeheimnisses gewesen. Immerhin konnte der
Hauser-Enthusiast den Beutel fotografieren. Außerdem bekam er heraus, dass in dem Beutel ein
blutiges Stilett steckte, u. U. die Mordwaffe Kaspar Hausers! 360
Das betreffende Gasthaus in Gunzenhausen (mit Pferdewechsel-Station) trug nach Biedermann
den Namen Adler. Wenn die Angabe stimmt, dann müsste es sich um den traditionsreichen
Gasthof „Zum Goldenen Adler“ in Gunzenhausen gehandelt haben. Pikanterweise war Paul
359 Rudolf Biedermann: Kaspar Hauser: Neue Forschung und Aspekte 1, Offenbach 1998, S. 82.
360 Biedermann, S. 88f.
165
Röschel, der im selben Jahr das Anwesen von seinem Vater übernommen hatte, der Sohn des
Georg Konrad Röschel, jenes Bürgermeisters, der das Schweigegebot erließ!
Nebenbei: Die Fernstraße von Ansbach nach Gunzenhausen gibt eine Richtung vor, in der man
den Mörder Kaspar Hausers in Zusammenhang mit der Wanghausen- oder Maria-LeopoldineTheorie durchaus vermuten kann: Südostbayern, Landshut, Innviertel, ehemaliger Salzachkreis.
Stepperg lag direkt auf dieser Route. Und übrigens auch Triesdorf.
2. Dass der vermutete Mörder Kaspar Hausers seinen Fluchtweg über Gunzenhausen nahm,
bestätigt auch ein Schreiben des Untersuchungsgerichtes an den Magistrat der Stadt Ansbach.
Dieses Schreiben bezog sich nicht auf die obige Begebenheit, sondern auf eine andere Anzeige.
Da man keine dazu passenden Einträge in den Fremdenbüchern fand, wurden die Ermittlungen
eingestellt.361
3. Eine weitere Spur führt direkt in das Gasthaus des Paul Röschel: In einem Ermittlungsbericht
an den Magistrat von Ansbach vom 28. Dezember 1833 ist ein Tintenpulverhändler namens C. F.
Schmidt aus Wien erwähnt, auf welchen die Täterbeschreibung aus Ansbach in einigen Punkten
zutraf. Dieser sei am Morgen des Mordtages von Ansbach nach Gunzenhausen gereist, habe mit
seiner „Kutsche mit zwei Stutzschwanzpferden“ das Gasthaus „Zum Goldenen Adler“ aufgesucht,
dort einen Kaffee getrunken und sich mit dem Kaufmann Kleinknecht aus Nürnberg unterhalten,
ehe er seine Reise in Richtung Oettingen fortsetzte. Es ist nicht auszuschließen, dass hier be wusst ein Alibi erzeugt wurde, und der Mann nach Ansbach zur Tat zurückkehrte. 362
4. Des Weiteren traf sich Lord Stanhope nach dem Tod Kaspar Hausers, von München kommend,
gerade in Gunzenhausen mit dem Lehrer Meyer und dem Oberleutnant Hickel, ehe er nach
Stuttgart weiterreiste. Dort – und nicht in Ansbach, wie es an sich zu erwarten gewesen wäre –
besprachen die drei Männer die weitere Taktik beim geplanten Rufmord Kaspar Hausers. Im
Raum stand ein Buchprojekt der beiden letzteren zur Unterstützung der Betrüger-Theorie,
welches allerdings in der Folge nicht zustande kam. 363
Hatten sich all die erwähnten Personen in Gunzenhausen mit einem Karl von Soden getroffen?
Was ließ sie den Weg über Gunzenhausen nehmen?
Hierzu schweigen die Quellen.
361 Pies, Tod, S. 75f.
362 Pies. Tod, S. 189.
363 Mayer-Tradowksy, S. 502ff.
166
Eine englische Privatdetektivin: Caroline von Albersdorf
Drei Jahre nach Niederschlagung der Ermittlungen in Ungarn war der Mensch, um den es ging, ein to ter Mann: Kaspar Hauser war am 14. Dezember 1833 im Ansbacher Hofgarten mit einer Stichwaffe töd lich verletzt worden! Nun erwies es sich, dass doch noch Ermittlungen in Richtung Ungarn und in der Sa che „Dalbonne“ angestellt worden waren, allerdings nicht von der bayerischen Polizei, sondern von einer
Privatperson.
In Bayern lebte seit vielen Jahren eine Engländerin namens Caroline, verwitwete von Albersdorf, nach
eigenen Angaben eine in Dover/England gebürtige Lady Graham, Tochter James Grahams, des 3. Herzogs
von Montrose. Demnach war sie eine Angehörige des englischen Hochadels. In den englischen PeerageVerzeichnissen taucht allerdings Caroline von Albersdorf nicht auf – vermutlich deshalb, weil sie eine ille gitime, d. h. außerehelich gezeugte Tochter des späteren Herzogs von Montrose war, aus der Zeit vor
1779, als dieser als junger Mann die „grand tour“ durch Kontinentaleuropa machte und dabei für längere
Zeit in Wien weilte.364 Carolines Mutter unbekannten Namens stammte entweder aus Österreich oder
aus Deutschland. Sie scheint dem Kindsvater nach England nachgereist zu sein, kam aber über Dover
nicht hinaus, sondern entband dort von ihrer Tochter und betrieb wohl auch von dort aus deren Anerkennung. Carolines Adelstitel „Gräfin von“, analog zu Lady Graham, war also keineswegs angemaßt, wie
van der Linde später boshaft unterstellte!
Wie man ihren Schriften an einigen Stellen entnehmen kann, lebte Lady Caroline Graham nie in Eng land, sondern verheiratete sich mit einem Freiherrn von Albersdorf, Hauptmann erst in österreichischen,
zuletzt in kurbayerischen Diensten. Caroline von Albersdorf – der Adelstitel stand ihr auch von Seiten ih res Mannes zu! – lebte bis ca. 1812 (oder 1814?) zusammen mit ihrem Mann in Wien. Nach dessen Tod
ging sie als Witwe nach Deutschland, was ebenfalls für ihre Deutsch-Stämmigkeit mütterlicherseits
spricht. Hier scheint sie in einige wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und in Zusammenhang damit
auch den Gerichten auffällig geworden zu sein. Ab 1826 wohnte die Witwe Caroline in Nürnberg, wo sie
nun Kaspar Hauser persönlich kennenlernte. 365
Kein Wunder, wenn Caroline von Albersdorf, eine um ihre Hochadelsstellung in England gebrachte,
hinterher verarmte Dame, für Kaspar Hauser Gefühle des Mitleids empfand – spätestens zu dem Zeit punkt, als auch dieser um all seine Adels-Prärogativen betrogen erschien.
Nach der Ermordung Kaspar Hausers erteilte Caroline von Albersdorf aufgrund ihres Kenntnisstandes
der Erbprinz-von Baden-Theorie eine klare Absage und ging mit einer ganz anderen Erklärung des Kriminalfalls an die Öffentlichkeit:
Mehr oder weniger unverhohlen äußerte Caroline von Albersdorf die Vermutung, Kaspar Hauser sei
nach einer zuverlässigen Quelle ein von der Kurfürstin Maria-Leopoldine mit dem Rittmeister von Wessenig unehelich gezeugtes Kind gewesen, welches diese in Ungarn zur Welt gebracht und anschließend
weggegeben habe! Und es sei ihr Sohn Aloys aus zweiter Ehe gewesen, der dessen Tod verlangte!
Von einem Napoleoniden war dabei keine Rede, sehr wohl aber von einem Johann Samuel Müller und
einer Dalbonne.
Damit laufen bei Caroline von Albersdorf die Fäden, die schon zuvor mit Müller, Würth, Leydel,
Mayer, Lampert und der Dalbonne geknüpft worden waren, erstmals bei der Kurfürstin-Witwe MariaLeopoldine und ihrer Familie zusammen!
364 Lewis Namier & John Brooke: The House of Commons 1754-1790, London 1964, S. 526. Und: Edmund Lodge:
The Peerage of the British Empire, London 1832, S. 284f.
365 Lind 1, S. 386.
167
Caroline von Albersdorf war eine von detektivischem Spürsinn geprägte und gänzlich von der Unschuld
Hausers überzeugte Amateurdetektivin, welche auf eigene Faust ermittelte. Unter Berücksichtigung ihrer
englischen Teilabstammung könnte man sie heute getrost als „Miss Marple des 19. Jahrhunderts“ bezeichnen.
Ab 1837 ging Caroline von Albersdorf an die Öffentlichkeit, wobei sie nun ihr durchaus gegebenes Talent als Schriftstellerin ausspielte: In Regensburg erschien eine Broschüre, sozusagen eine erste Version
ihrer Geschichte zu Kaspar Hauser: „Kaspar Hauser oder Andeutungen zu Enthüllung mancher Geheimn isse …“
In den Jahren 1838 und 1839, also ca. fünf Jahre nach Hausers Tod, folgte in München eine zweibändi ge Arbeit über Hausers Herkunft nach, welche sich einer regen Nachfrage erfreute und ein Jahr später
bereits in zweiter Auflage erschien. Band 1 trug den Namen „Kaspar Hauser oder die richtige Enthüllung
der Geheimnisse über Hausers Herkunft …“, Band 2 hieß „Kaspar Hauser oder die richtige Enthüllung der
bisher unbekannten Geheimnisse über Hausers Herkunft …“
Um sich ein Bild machen zu können, empfiehlt sich dem Leser zunächst die auszugsweise Lektüre des
Originaltextes, den wir zur besserernLesbarkeit innerhalb dieser Seite anders umbrechen als im Original.
Abb. 111: Auszüge aus W. C. Gr. v. A. = Witwe Caroline Gräfin von Albersdorf: „Kaspar Hauser oder die richtige Ent hüllung der bisher unbekannten Geheimnisse über Hausers Herkunft...“, 2. Auflage, München 1839.
168
In diesem Text wird man den Namen Maria-Leopoldines und des Rittmeisters (resp. Majors) von Wessenig vergebens suchen. Die Gräfin von Albersdorf versuchte, nachdem sie bereits zuvor die Bekanntschaft der Polizei gemacht und etliche Verhöre hinter sich gebracht hatte, auf diesem Weg einer Anklage
wegen Verleumdung oder Rufschädigung zu entgehen. Man darf indes sicher sein: Wer auch immer damals diese Büchlein kaufte, wusste genau, von wem die Rede war, insbesondere dann, wenn er die Ab kürzung des Spiegelschrift-Zettels las, welche Caroline von Albersdorf nun in den Vordergrund rückte, al lerdings ebenfalls unübersetzt ließ: „M. L. Ö.“! Über die Spur, die Caroline von Albersdorf aufgenommen
hatte, war sie sich, wenn sie nunmehr die letzte Kurfürstin Bayerns der Mutterschaft Kaspar Hausers ver dächtigte, relativ sicher!
Im Fortgang ihrer Argumentation wurde „Miss Marple“ ziemlich deutlich:
Der erste Sohn aus zweiter Ehe der Kurfürstin, Aloys Nikolaus Ambros (*6. Dezember 1808), wird hier
zwar ohne Namensnennung, aber ganz konkret des Willens zur Beseitigung Kaspar Hausers bezichtigt.
Aloys war in der Tat ein eitler und aufbrausender junger Mann, wie wir aus der Leopoldine-Biographie
von Sylvia Krauss-Meyl wissen, und er wurde im Rahmen seiner Militärkarriere, die ihn bis zum Oberst leutnant der Reserve brachte, durchaus auch zum Major befördert, so wie ihn Frau von Albersdorf betitelte.366 Am großen Vermögen seiner Mutter, das er nicht teilen wollte, ist ebenfalls nicht zu rütteln; die
Gräfin von Albersdorf war hier bestens informiert.
Im Übrigen war schon bei diesem legal erbberechtigten Sohn nicht ganz klar, ob er überhaupt aus der
offiziellen Ehe der Maria-Leopoldine mit Ludwig Graf von Arco stammte, da er auffallenderweise nicht
den Vornamen seines immer entfernt von Stepperg lebenden Vaters trug, sondern den Vornamen des
Rennertshofener Pfarrers Aloys Mayerhofer, der Geheimsekretär der Kurfürstin-Witwe war und auch als
Aloys' Taufpate fungierte. Wir erinnern uns: Graf Ludwig von Arco hatte seiner Frau vorgeworfen, mit
diesem Pfarrer ein Verhältnis zu haben!
Der Kurfürstin Maria-Leopoldine wurde nicht nur in diesem Fall, sondern auch bei der Geburt ihres
zweiten Sohnes und ihrer früh verstorbenen Tochter, von vielen Seiten, ja selbst von namhaften Leuten
wie August von Platen, unterstellt, sie ließe mit fremden Männern gezeugte Kinder auf den Namen von
Arco taufen.367
Die weiteren Textausschnitte geben ergänzende Stellungnahmen der Gräfin von Albersdorf wieder:
366 Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Baiern 1842, München 1842, S. 78.
367 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 139. Und Platen, Tagebücher, S. 51.
169
Zum einen wird klar die Erbprinz-von-Baden-Theorie dementiert, zu anderen geschickt die hohe Belohnung König Ludwigs I. zur Aufdeckung des Verbrechens an Kaspar Hauser als Beweis eines Mordfalles
gewertet, womit der Betrüger-Fraktion um Stanhope, Merker, Meyer etc. Paroli geboten war.
Caroline von Albersdorf gab einen ihr bekannten Offizier als Gewährsmann dafür an, dass Major von
Wessenig, der mit dem Akronym „M. v. W.“ relativ unmissverständlich umschrieben wird, ein Verhältnis
mit Maria-Leopoldine gehabt habe. Wessenig war 1829 eigenartigerweise zur weiter unten stehenden
Tattenbach-Geschichte, nicht jedoch zu seinem Verhältnis zu Maria-Leopoldine verhört worden und
hatte jegliches Wissen abgestritten. 368 Von wem Caroline von Albersdorf ihre Informationen über den
Major hatte, wissen wir nicht; sie entlarvte aber ganz klar dessen widersprüchliche Aussagen zu zwei
verschiedenen Zeitpunkten. Auffallenderweise wurde Friedrich von Wessenig laut königlichem Armeebefehl im Dezember 1830 ins 4. Chevauleger-Regiment, welches direkt dem König unterstellt war,
und damit von Nürnberg weg nach Augsburg versetzt. 369 Sollte damit ein Hauptverdächtiger in Nürnberg
direkt aus der Schusslinie genommen werden?
Welche weiteren Informationen mögen Caroline von Albersdorf zur Verfügung gestanden haben?
•
Zwei Dinge standen von vornherein fest: Maria-Leopoldine von Österreich-Este war jene Frau,
welche im geschichtlich überlieferten Fall Wege und Mittel gefunden hatte, ihr erstes Kind spurlos von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Ein solches Verhalten belastet! Dass man ihr auch
im Fall ihrer bekannten Kinder unterstellte, sie seien mit fremden Männern außerehelich gezeugt
worden, war die logische Folge.
•
Es kann niemand bestreiten, dass Maria-Leopoldine über genau jenen hohen Rang verfügte, der
aus triftigem Grund für die Eltern Kaspar Hausers postuliert wird. Nur wenn die Aufdeckung der
wahren Existenz Kaspar Hausers imstande war, schwere dynastische Verwerfungen zu erzeugen
oder zumindest eine Adelsehe massiv zu gefährden, dann machte das Kapitalverbrechen an ihm
einen Sinn. Das gleiche galt für seine Ermordung, die nach eigenen Aussagen umso
wahrscheinlicher wurde, je mehr er zu belastenden Aussagen über seine Herkunft im Stande
war! Zumindest in Bayern war damals der Personenkreis, der als Urheber für eine solche Tat in
Frage kam, nicht allzu groß. Geld wäre in der Tat ein weiteres Motiv gewesen.
•
Georg Friedrich Daumer gegenüber gab Caroline Albersdorf an, sie habe vor ca. 22 Jahren, also
um 1812, in Wien gelebt. Damals sei die verwitwete Kurfürstin von Bayern von Ungarn aus in
Wien eingetroffen und sofort zum Stadtgespräch geworden: Sie hätte in Ungarn heimlich von ei nem Kind entbunden! Wir werden später noch ausführlich auf diesen Kontakt zu Daumer eingehen. Wenigstens in Bezug auf das Jahr muss sich die Gräfin getäuscht haben, denn hier gehen
die Aussagen Johann Samuel Müllers mit ihrer Version und auch mit unseren Erkenntnissen nicht
zusammen. Von Maria-Leopoldine wissen wir, dass sie im Mai 1811 nach Wien gereist war, um
dem Fest beizuwohnen, welches Frankreich dort zu Ehren des neugeborenen Königs von Rom
gab, des Sohnes Napoleons und Marie-Luises von Österreich. 370 Die Frau von Albersdorf wird sich
bezüglich des Datums falsch erinnert haben. Dass anlässlich dieser Reise die Gerüchte einer ungarischen Geburt Kaspars kursierten, war nach den Ereignissen der Jahre 1830 bis 1832, die wir
noch ausführlich thematisieren, verständlich, dennoch ist diese Geburt sehr unwahrscheinlich.
•
Caroline von Albersdorf konnte aufgrund ihrer Kontakte nach Österreich davon Wind bekommen
haben, was man um 1830 dort sowieso aufgrund von Indiskretionen über Maria-Leopoldines
Familie von Arco munkelte. Selbst die Geheimberichte der Wiener Polizei nahmen darauf Bezug.
So stand in einem Geheimbericht an den Wiener Polizeipräsidenten Graf von Sedlnitzky vom 22.
Februar 1830, der einst im Wiener Polizeiarchiv lag:
368 Pies, Wahrheit, S. 59.
369 Münchner Conversations-Blatt, 13. Dez. 1830, Nr. 347.
370 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 200.
170
„Weiters erzählt man noch, in der Hauser'schen
Geschichte soll ein Graf Arco am meisten comprommitiert seyn, und vermuthlich seyen auch die
Pfarrer Müller und Schmidt dabei verflochten …“371
Johann Samuel Müller erscheint hier quasi als Mitschuldiger. Wer der Pfarrer Schmidt war, entzieht sich unserer
Kenntnis, wir vermuten aber, dass es sich um den protestantischen Hof- und Kabinettsprediger Friedrich Ludwig
von Schmidt in München handelte! Dieser Pfarrer, welcher
im Gefolge der Königin Karoline von Baden nach München
gekommen war, schaffte es als evangelischer Geistlicher, zu
hohen Ehren am katholischen Königshof zu kommen; er
kann sozusagen als Gründer der evangelischen Landeskirche in Bayern angesehen werden. Dass über ihn alle möglichen Kontakte der evangelischen Geistlichkeit nach München flossen, bleibt unbenommen; deshalb wird von
Schmidt in irgendeiner Weise auch Belastung der Pfarrer Abb. 112: Josef Graf von Sedlnitzky
Odrowaz von Choltitz, von 1815 bis
Würth und Leydel durch Müller eingeweiht gewesen sein. 372
1848 Polizeipräsident von Wien.
•
Dass an der Affäre der Dalbonne einiges dran ist, brauchen wir an dieser Stelle nicht mehr zu
wiederholen. Bemerkenswert ist, dass die Dalbonne trotz ihres französisch klingenden Namens
und der kärntnerischen Abstammung ihrer Familie eine Italienerin war und zu Beginn ihrer Karriere in Diensten des bayerischen Hofes stand! Außerdem soll sie irgendwo in Nordbayern, „seitlich von Nürnberg“ gedient haben, wo Johann Samuel Müller den primären Tatort in Zusammenhang mit Kaspar Hauser verortete. Hier habe sie nach Justizrat Schmidt von Lübeck bei einer
Herrschaft in einem Ort gearbeitet, mit dessen Pfarrer sie eine Freundschaft eingegangen sei,
ehe sie später nach Ungarn wechselte. Über diesen Aspekt in der Lebensgeschichte der Dalbonne, von dem bisher noch nicht die Rede war, wusste wiederum besagter Pfarrer Winter aus Augsburg (alias Landrichter Marquard Winterich?) Bescheid. Wir werden darauf zurückkommen.
In Kenntnis der bisherigen Zusammenhänge ergeben sich nun zwangsläufig Assoziationen:
Wenn man eine virtuelle Achse zwischen Augsburg bzw. Ulm und Nürnberg entwirft, dann landet man gerade in Stepperg, dem Gut und damaligen Wohnort der Kurfürstin MariaLeopoldine!
Gerade zwischen Ulm und Augsburg, in Leipheim, wirkte ab 1830 auch Pfarrer Ludwig Würth!
Was liegt also näher, als dass sich die Dalbonne deutlich vor 1812 erneut bei der Kurfürstin
Maria-Leopoldine verdingt hätte, die sie von 1800/1801 her kannte, die ihre Sprache sprach
und der sie sich herkunftsbedingt verbunden fühlen musste?
•
Wir erfahren von Caroline von Albersdorf 1839 eine wichtige Zusatzinformation, was die Datierung des Verbrechens an Kaspar Hauser anbelangt: Laut Winter alias Winterich habe man bereits
1811 oder 1812 Probleme mit der definitiven Wegschaffung des Kindes gehabt, so dass dessen
Entbindung schon einige Zeit zuvor stattgefunden haben musste – eben 1809 oder 1810, wie wir
bereits weiter oben aus den Angaben des Pfarrers Adam Leydel rekonstruieren konnten.
Damit erscheint ziemlich sicher, dass Kaspar noch in der Nähe von Nürnberg das Licht der Welt
erblickte und eben nicht in Ungarn, aber auch nicht im Innviertel geboren war.
Frau Albersdorf glaubte allerdings fest an die ungarische Geburt Kaspars; insofern zweifelte sie
371 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 239.
372 Mayer, Stanhope, S. 412.
171
an Winters Datierung!373
•
Ein Geheimbericht des Wiener Staatsarchivs, stammend aus Pest vom 28. Februar 1831, gibt nun
einen gegenteiligen Hinweis Johann Samuel Müllers an den Komitatsnotar wieder, wie sich eine
Entbindung der Kurfürstin konkret abgespielt haben könnte:
„Während des russisch-französischen Feldzuges habe ein Oberst mit seiner Gemahlin
beim Prediger Würth Quartier genommen; die Frau sei der Entbindung nahe gewesen.
Der Oberst habe sie mit einem versiegelten Paket zurückgelassen und Würth gebeten, ihr
die nötige Hilfe zu leisten, für den Fall aber, als er, der Oberst, falle und seine Frau gleichfalls sterbe, das Paket zu öffnen. Nach acht Tagen habe die Frau einen Knaben zur Welt
gebracht, bald darnach sei sie gestorben, der Oberst aber fiel. Würth habe daher das
Päckchen geöffnet und darin ’nebst anderen Schriften bedeutende Noten an die Londoner
Bank gefunden’. Nun habe er das Kind verborgen und das Geld beheben lassen. Er sei
dann selbst gestorben, auf Veranlassung seiner Söhne sei der Mordversuch an Hauser un ternommen worden. Müller wisse aus Würths eigenem Munde, dass Kaspar der Sohn je nes Obersten sei, ebenso, dass die Dalbonne an den Machenschaften Anteil gehabt und
von Würth eine jährliche Pension bezogen habe.“374
Die Sache mit dem Pfarrer Würth klingt zunächst durchaus plausibel, erklärt sie doch, wie dieser
ins Zentrum des Verbrechens an Kaspar Hauser gelangen konnte. Wollte man diese Aussage auf
Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine beziehen, so wäre diese mit falschen Namen und Pässen in
Begleitung eines Mannes, den sie als Obersten ausgab, ins Hausruckviertel nach Vöcklabruck
gereist, um dort zu entbinden. Die von vornherein wenig plausible Geschichte mit dem reichen
Mündel Karl Mayers war also inzwischen fallen gelassen oder wenigstens modifiziert worden.
Und die Angabe mit dem Oberst könnte man durchaus auf Major Fritz von Wessenig beziehen.
Uns erscheint aber diese Quelle als sehr unsicher: Erstens starben die beiden Protagonisten
nicht. Außerdem äußerte sich Müller in seinen bekannten Briefen nie in diesem Sinn – mit Recht,
denn er hätte sich damit in unauflösliche Widersprüche verwickelt. Wie hätte ein so spät geborenes Baby 1814 vom Pfarrer Leydel in einem dunklen Verlies gesehen werden können? Es wäre
ohne Überlebenschance gewesen! Wenn diese Worte wirklich von Müller kamen – selbst das ist
nicht sicher, denn auch Polizeiberichte konfabulieren mitunter –, dann wohl aus der Zeit, in der
er bereits in die Ecke des infamen Denunzianten gedrängt war, und unter massivem Zwang stand,
Beweise liefern zu müssen. Wer weiß, wer Müller diese Geschichte, die auch noch einen falschfrühen Tod Würths enthält, suggeriert hatte? Vielleicht war es sogar Stanhope gewesen, der ihn
bei seinem Pressburg-Aufenthalt des Herbstes 1829 aufgesucht hatte! 375
Der Zuverlässigkeit der früheren Angaben Müllers, tut dieser Lapsus, da diese auf anderem
Wege belegt sind, jedenfalls keinen Abbruch!
•
In dieser Geschichte fallen allerdings erneut „die Noten einer Londoner Bank“ auf, die Müller an
anderer Stelle ähnlich als „englisches Vermögen“, das eigentlich Kaspar Hauser zustünde, erwähnt hatte. Er hatte sogar an einer Stelle von einer „englischen Mutter“ Kaspar Hausers gesprochen.
Wir haben diese Angaben bereits in Zusammenhang mit der Erlanger Studenten- und Freimaurer-Szene diskutiert. Vermutlich war die englische Mutter von Würth, Lampert und Co. nur
vorgeschoben worden, um Müller von den eigentlichen Geldgebern im Hintergrund abzulenken.
373 Witwe Caroline Gräfin von Albersdorf: Kaspar Hauser oder die richtige Enthüllung der bisher unbekannten Ge heimnisse über Hausers Herkunft …, Band 2, München 1839., S. 6. Im Weiteren abgekürzt mit Albersdorf 2, mit
Jahres- und Seitenzahl.
374 Sittenberger, Kaspar Hauser, S. 241.
375 Mehr hierzu in einem späteren Kapitel. Mayer, Stanhope, S. 279.
172
In diesem Zusammenhang fallen uns aber die Finanztransaktionen eines Lords Stanhope ein.
Stanhope hatte kurz vor Mayer, Würth und Lampert in Erlangen studiert. Caroline von Albersdorf
hatte es auf den englischen Lord in ihren Schriften besonders abgesehen und speziell seine Reisen in Deutschland und seine höchst verdächtigen Aufenthaltsorte zur Zeit vor der Ermordung
Kaspar Hausers minutiös auseinandergenommen. Außerdem berichtete die gebürtige Engländerin, sie habe diesen ihren Landsmann persönlich zur Rede stellen wollen, dieser habe sich jedoch
dem Treffen durch Flucht entzogen, was nun wirklich sehr verdächtig ist. 376
Bei diesen Stellen ihrer Schriften wird aber auch klar, dass Caroline von Albersdorf nie beim englischen Teil ihrer Familie gelebt haben kann. Die Londoner Stadtresidenzen sowohl der Familie
Stanhope als auch der Familie Graham lagen Tür am Tür im noblen Freimaurer-Viertel am Gros venor Square.377 Hätte Frau von Albersdorf zu ihrer Familie auch nur die geringsten Verbindungen
gehabt, hätte sie über Lord Stanhope bestens Bescheid gewusst und deshalb keine Erkundigungen über ihn in Deutschland einholen müssen! Mehr zum Thema Stanhope weiter unten!
•
Wenn in den frühen Äußerungen des Johann Samuel Müller bezüglich des fränkisch-protestantischen Täterkreises ein bedeutsamer Wahrheitskern liegt, was wir annehmen, dann mag ein
Skeptiker vielleicht dagegen einwenden, dass ein Kontakt der katholisch getauften MariaLeopoldine zu einem andersgläubigen resp. protestantischen Täterkreis unwahrscheinlich
gewesen sei.
•
Wie bereits gesagt: Wir sind nicht davon überzeugt, dass Maria-Leopoldine direkt zum
Verschwörerkreis Kontakt hatte; diese Verbindung lief in erster Linie über die Dalbonne oder
auch ein Bankhaus. Aber selbst wenn dem so gewesen wäre: Die Kurfürstin litt nicht an religiösem Fanatismus und pflegte durchaus Kontakte zu Andersgläubigen: Noch ihr erster Gatte, der
ebenfalls katholische Kurfürst Karl Theodor, hatte nach 1779 die Ansiedlung von Mennoniten,
d. h. von Mitgliedern einer kalvinistisch geprägten, protestantischen Freikirche aus den linksrheinisch-pfälzischen Gebieten ins Auge gefasst – zur Kultivierung des Donaumooses bei Neuburg.
Am Höhepunkt der Säkularisation, am 6. März 1802, setzte sein Nachfolger Max IV. Joseph diesen Plan in die Tat um, was sich Maria-Leopoldine zunutze machte: In den Jahren 1812 bis 1813
holte sie trotz der Widerstände katholischer Kreise vier Familien dieser reformiert-calvinistischen
Freikirche auf ihr Gut nach Stepperg, weil sie den Fleiß dieser Leute schätzte. 378 Glaubensschranken kannte die Kurfürstin demnach nicht; dazu war sie viel zu clever und geschäftstüchtig!
•
Nochmals: Zwischen Maria-Leopoldine/der Familie Arco und dem Vöcklabrucker Entführer-Quartett muss gar keine direkte Komplizenschaft vorgelegen haben. Es ist gut möglich, dass diese ein
von der Kurfürstin im Nürnberger Raum entbundenes und dort zurückgelassenes Kind gegen de ren erklärten Willen über die Dalbonne an sich gebracht und dabei dem Gerücht nachgegeben
hätten, es hätte sich um einen Napoleon-Sohn gehandelt.
Wurde Maria-Leopoldine von den mittelfränkischen Anti-Bonapartisten im Untergrund für die
Mutter eines Napoleoniden gehalten? Weiter unten werden wir nachweisen, dass diese Art der
Mutterschaft bei Maria-Leopoldine dem Dafürhalten nach nicht möglich war, ein Gerücht darüber allerdings schon!
•
In diesem Zusammenhang wollen wir auch nicht unerwähnt lassen, dass gerade der bereits erwähnte, 1806 in Braunau hingerichtete Verleger Johann Philipp Palm im Jahr 1800 wegen Veröf fentlichung der Novelle „Leonardo und Blanchine“, einer verdeckten Spottschrift gegen eine Erzherzogin von Österreich, von Minister Graf Montgelas persönlich unter Zensur gestellt und vom
Rat der Reichsstadt Nürnberg öffentlich gerügt worden war. Handelte es sich bei dieser Schrift,
die dem Gedicht „Lenardo und Blandine“ von Gottfried August Bürger aus dem Jahr 1776 und
376 Vgl. Linde 1, S. 390.
377 Gary L. Heinmiller: Grand Masters of Grosvenor Square, Liverpool, New York 2006, S. 11 und 13.
378 Hans Perlinger: Die Mennoniten, eine fast vergessene Glaubensgemeinschaften im und am Donaumos, 2009, S.
1ff.
173
seiner graphischen Verarbeitung durch Josef Franz von Goez aus dem Jahr 1783 nachempfunden
war und jetzt ausgerechnet in Bayern Anstoß nahm, um eine Spitze gegen Maria-Leopoldine?
Es wäre gut möglich, aber leider haben wir den Text dieser
Version zur Überprüfung nicht beibringen können. Ob eine
Caroline von Albersdorf um diese Dinge wusste, müssen wir
ebenfalls offen lassen.
•
Uns gab die Geschichte der Gräfin Caroline von Albersdorf
eine zusätzliche wertvolle Information im Hinblick auf die
Wanghausen-Theorie, die wir dem Leser nicht vorenthalten
wollen. Als sich für Caroline von Albersdorf die Vorstellung
ihrer detektivischen Arbeit am Königshof verzögerte, unternahm sie eine spezielle Reise:
„Meine eidliche Vernehmung beim Kriminalgericht
geschah und ich reiste sodann nach Landshut, um
über den Burschen etwas Näheres zu erfahren, von
dort begab ich mich auf Anrathen angesehener
Männer nach München …“379
Mit dem Burschen war der Mann gemeint, der Kaspar Abb. 113: Blandine empfängt LenarHauser versteckt gehalten hatte, also Christian Lampert oder do, Abb. aus einer Wiener Edition des
der von ihm beauftragte Simon Drechsler. Wenn die greise Jahres 1812.
Gräfin Albersdorf gerade in Landshut etwas über diese in Erfahrung bringen wollte, dann verfolgte sie damit eine heiße Spur:
In Landshut lebte und residierte Johann Nepomuk von Prielmayer, der Schlossherr von Wanghausen! Außerdem gab es hier einen Professor Conrad Mannert, der Religion nach evangelisch
und der Landsmannschaft nach Franke. Die Tochter dieses in Altbayern nicht unumstrittenen Historikers namens Anna Maria Regina hatte 1817 einen gewissen Pfarrer Ludwig Würth, ebenfalls
aus Franken, geheiratet!
Oder fahndete die Gräfin von Albersdorf etwa in Landshut nach einem Schüler namens Kaspar
Hauser? Dieser mysteriöse junge Mann, der aus einer Schmiede Vilsbiburg 380 (zwischen
Burghausen und Landshut) gestammt haben soll, wohnte in den Jahren 1820 oder 1821 in einer
Landshuter Studentenlogis und nahm zu dieser Zeit an unterirdischen Geheimversammlungen in
Landshut teil.381
Soweit zu den Motiven und Informationen, welche eine Caroline von Albersdorf getragen haben dürf ten.
379 Witwe Caroline Gräfin Albersdorf: Kaspar Hauser oder Andeutungen zur Enthüllung mancher Geheimnisse über
Caspar Hauser …, Regensburg 1837, S. 122f.
380 Notabene: Aus Vilsbiburg stammte der Vater Simon Drechsler, der wiederum mit der Leingartner-Sippe in Neu ötting verwandt war, die den Namen Kaspar z einem ihrer Leitnamen erkoren hatten. Siehe oben.
381 Zur Geschichte dieses Kaspar Hauser mehr bei Linde 2, S. 317ff. Laut Matrikelbuch waren zur damaligen Zeit an
der Universität Landshut auch 2 Studenten namens Hauser eingeschrieben: Im Jahrgang 1820/21 der TheologieStudent Johann Hauser aus St. Gallen in der Schweiz und im Jahrgang 1822/23 der Philologie-Student Andreas
Hauser aus Heining (entweder Heining an der Donau, einem Vorort von Passau, oder Oberheining bei Laufen).
174
Geburt Kaspar Hausers in Ansbach?
Was Caroline von Albersdorf mangels Akteneinsicht nicht wissen konnte, aber sicher brennend in teressiert hätte:
Zu unbekanntem Zeitpunkt nach der Auffindung Kaspar Hausers fühlte sich eine in Ansbach wohnende
Witwe gedrängt (von wem?), beim Königlichen Kreis- und Stadtgerichts Nürnberg folgende Anzeige zu
erstatten:
„…um's Jahr 1809 sei zu ihr eine italienische Herzogin gekommen, deren Gemahl im Kriege ge wesen, und die sich mit einem sächsischen Offiziere vergangen habe. Diese habe sie gebeten, bei
ihr ihre Niederkunft abhalten zu dürfen. Nachdem dieser Act vorbei war, sei sie nachts in einer
Portechaise fortgetragen worden. Das Kind, ein Knabe, welches sie 3/4 Jahre aufgezogen, sei
dann auf einmal durch eine Französin abgeholt worden und dieser Knabe könnte der Kaspar Hauser sein.“382
Leider kennen wir nicht das zugehörige Verhörprotokoll, und Julius Meyer verschwieg absichtlich den
Namen der Witwe.
Hier haben wir eine Zeugenaussage, welche sich weitaus stimmiger in die Geschichte des Johann Samuel Müller einfügt, als die Geschichte mit der ungarischen Entbindung!
Von einem Napoleoniden ist hier nicht die Rede, sondern von einem Herzoginnen-Kind. Was spricht
dagegen, dass mit dieser „italienischen Herzogin“ die Erzherzogin von Este, Maria-Leopoldine, gemeint
war, und mit der „Französin“ eine gewisse Anna Frisacco alias Dalbonne?
Zur Erinnerung: Die Dalbonne war schon als Heranwachsende im Dienst der Kurfürstin-Witwe gestan den. Es ist gut möglich, dass sie sich, so sie im Kriegsjahr 1809 erneut ungewollt schwanger geworden
war, die Dalbonne aus Triest zu Hilfe geholt hatte, damit diese nach der Geburt das Kind auf denselben
Weg brachte, den eine Dekade zuvor ihr erster Sohn genommen hatte, auf eine englische Fregatte. Alternativ käme auch die Kammerzofe der Maria-Leopoldine, eine gewisse Anna Lefèvre (alias Lefebure) als
Holerin des Babys in Frage.
Dass die Dalbonne inzwischen durch einen gewissen Herrn Dalbon zu einer Agentin geworden war, die
für den anti-bonapartistischen Untergrund spionierte und mit dem Kind u. U. etwas ganz anderes vorhat te, konnte Maria-Leopoldine nicht wissen und musste sie auch nicht zwangsläufig erfahren.
Von Ansbach oder Stepperg aus – „seitlich von Nürnberg“ (O-Ton Müller) – hätte die Dalbonne damals
nach der verheimlichten Niederkunft auch den Kontakt zum vormaligen Theologie-Studenten Ludwig
Würth herstellen können. Vielleicht brachte der inzwischen im Ort Weidenbach tätige Pfarrer Würth das
Kind 1811 vorübergehend im Schlossareal von Triesdorf unter, ehe man den Plan fasste, das Kind weiter
weg zu bringen. Am Ende eines längeren Umweges, der noch näher zu erläutern sein wird, landete das
Kind dann in Wanghausen.
So stellen wir uns in etwa den Ablauf der Dinge vor!
Unter diesen Aspekten war die von Julius Meyer wiedergegebene Anzeige von außerordentlicher
Wichtigkeit für den Fall Kaspar Hauser. Wie zu befürchten, wurde aber auch diese heiße Spur von der
eingesetzten Untersuchungskommission nicht weiter verfolgt. Der Jurist Dr. Julius Meyer nannte sie
später spöttisch in einer Fußnote seines Werkes eine „ergötzliche“ Geschichte. Ahnungslosigkeit oder
Ablenkungsmaöver?
382 Meyer, Mitteilungen, S. 85, Fußnote. Dazu existierte ein Untersuchungs-Dossier: (Akte IV, 78, und V, 8ff.).
175
Interessanterweise traf im September 1828 im weit
entfernten Pressburg ein Schreiben aus Nürnberg ein,
welches nahezu denselben Sachverhalt wiedergibt, wie
die soeben vorgestellte Anzeige:
Es habe auf gerichtliche Aufforderung hin – womit
nun klar ist, wer gedrängt hat – bei den Ermittlungsbehörden offiziell Anzeige erstattet. Diese Leihmutter hatte zuvor einen „vornehmen, reichen Knaben“ aufgezogen, der ihr hinterher abhanden kam. Die nachfolgende
Untersuchung gergab, dass dieser Knabe aus einer
gräflichen Familie stammte und 1,5 Millionen-GuldenErbe schwer war. Seine Entführung soll aus Habsucht
geschehen sein. Der Gegenstand wird „scharf und
geheim untersucht“, der Vorstand (Gericht? Regierung?)
führt höchstpersönlich Vernehmung und Protokoll.
Zu dieser wirklich heißen Spur sind die wichtigsten
Akten offensichtlich früh verschwunden, sonst hätte
sich Julius Meyer, der den Rest einsah, wohl hinterher
schwerlich über diese Geschichte ergötzen können – es
sei denn, er selbst ließ diese Akten verschwinden, was
wir ihm zwar nicht unterstellen wollen, was aber keiAbb. 114: Artikel in der Pressburger Zeitung Nr. 74
neswegs ausgeschlossen ist. Wie dem auch sei: Auch
vom 16. September 1828 (Umbruch geändert).
hier verlief die Ermittlung im Sande.
176
Ein weiteres Mal: Der Ermittlungsunwille der bayerischen Behörden
Caroline von Albersdorf war sich trotz aller Vertuschung ihrer Sache sicher. Dass man einen Teil ihrer
Behauptungen nicht als billige Kolportage abtun sollte, sondern für durchaus triftig halten darf, liegt
nicht primär an ihrer persönlichen Darstellung und Argumentation, die sich allein aus taktischen
Gründen heraus sehr im Unscharfen bewegen musste, sondern resultiert vor allem aus dem erneut
höchst suspekten Verhalten der bayerischen Ermittlungsorgane in dieser Sache!
Die englische Gräfin berichtete selbst, was der Veröffentlichung ihres Buches von 1839 vorausgeg angen war:
Caroline von Albersdorf hatte also nach eigenem Bekunden dem Ansbacher Regierungspräsidenten Joseph von Stichaner als erstem von ihrem Verdacht erzählt. Dieser erstattete hierauf gegenüber dem
bayerischen König Ludwig I. sofort persönliche Anzeige. Über die schier unglaublichen Unterlassungen,
die nun folgen, unterrichtet uns ausgerechnet Kaspar-Hauser-Feind van der Linde, den wir schon oft
zitiert haben, aber nun etwas näher vorstellen wollen:
177
Der niederländische Bibliothekar Antonius van der Linde hatte
im Jahr 1887 nichts anderes zu tun, als in seinem 880 Seiten um fassenden, zweibändigen Anti-Hauser-Werk den Findling von
Nürnberg permanent als abgefeimten Betrüger an den öffentlichen Pranger zu stellen. Schon Hermann Pies hat dieses Traktat
als Auftragswerk des Hauses Baden – Linde stand in engen
Kontakten zu Großherzog Friedrich I. von Baden383 – und als üble
Tendenzliteratur entlarvt. Er sprach in diesem Zusammenhang
von „Geschichtsklitterung übelster Sorte“ und vom „Lügengewebe nichtsnutziger Verdrehungen“.384
Wir wollen uns diesem Urteil anschließen; van der Linde muss
in der Tat von schlechtem Charakter gewesen sein. Unintelligent
war er allerdings nicht, und das von ihm verwendete, allerdings
nach gusto verdrehte Quellenmaterial ist in vielfacher Hinsicht
exzellent – so exzellent, dass mitunter sogar sein Gegner Hermann Pies daraus zitierte.
Was das skandalöse Verhalten der bayerischen Ermittlungsbehörden anbelangt, so haben wir van der Linde die entscheidende
Information zu verdanken. Offensichtlich war ihm von bayerischer Seite Material aus den Untersuchungsakten zur Anzeige der Caroline von Albersdorf zugespielt
worden, vielleicht hatte er auch direkt in den Archiven ermitteln dürfen. Insofern erweist er sich zwar un freiwillig, aber mit Angaben, zu denen sonst keiner im Stande gewesen wäre, als besonders wertvoller Informant darüber, wie wenig rechtskonform die bayerischen Staatsorgane damals vorgingen. Dies gilt
umso mehr, als die vier dicken „Geheimen Bureau-Akten des königlichen Staatsministeriums des
Inneren“, die vielleicht ebenfalls hätten Auskunft geben können, bei einem Feuer des HStA München
während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. 385
Abb. 115: Photographie aus dem 19.
Jhd.
Entsprechend den Angaben van der Lindes wurde Caroline von Albersdorf am 22. Oktober 1835 unver eidigt und 28. November 1835 vereidigt vor dem Stadtkommissariat Ansbach in Sachen Elternschaft Kas par Hausers verhört. Bei diesen Terminen erwähnte sie konkret Maria-Leopoldine und den Hauptmann
von Wessenig. Das Kommissariat verfasste dazu am 23. Oktober folgenden Protokollvermerk:
„Der von Albersdorf hat man zwar einen auf 14 Tage gültigen Vorweis zu einer in Privatangelegenheiten nach Bamberg zu unternehmenden Reise ausgestellt, da indessen diese Frau zu listigen
Prellereien und Betteln hinneigt, überdies ihrer Depositionen wegen in der Folge leicht erforderlich sein dürfte, sich ihrer Person zu versichern, so hat man den Königlichen Kommissär der Stadt
Bamberg ersucht, die von Albersdorf während ihres Aufenthaltes in Bamberg geheim zu überwachen …“
Die Engländerin wurde demnach ab dem 23. Oktober 1835 als Prellerin und Bettlerin ohne ihr Wissen
beschattet! Am 6. November 1835 verfügte das Staatsministerium der Justiz:
„Da einerseits von dem General-Kommissär die Denunziantin als eine ganz niedrige, um Geldgewinn mit schlechten Händeln sich abgebende und daher nicht die geringste Achtung verdienende Person bezeichnet wird, andererseits aber die Angaben jener Albersdorf auf eine mit der
Königlichen Familie in naher Verwandtschaft stehende hochgestellte Person sich beziehen, so ist
dem Inquirenten besonders anzuempfehlen …“
Was den Inquirenten „anempfohlen“ wurde, verheimlichte van der Linde den Lesern seines Buches. Es
wird nichts Gutes gewesen ein.
383 Mayer, Stanhope, S. 302.
384 Pies, Fälschungen, S. 395.
385 Pies, Augenzeugen, Kap. 19.
178
Am 12. November 1835 lehnte der eingesetzte Untersuchungsrichter weitere Ermittlungen mit der Begründung ab, dass dieselbe …
„…jeder Bescheinigung, ja sogar der Bestimmtheit und Umständlichkeit ermangelte, indem
von ihr nicht einmal angegeben ist, wodurch sie die behaupteten Thatsachen in Erfahrung gebracht habe. Derselben kann daher zur Zeit eine rechtliche Wirkung umso weniger beigelegt werden, als sie auch von einer Person herrührt, welche einen sehr getrübten Leumund hat.“
Die mit dem Fall befassten Behörden verlegten sich also jedes Mal auf präjudizierende Diskreditierung
der anzeigenden Person, um sich nicht weiter mit dem Fall befassen zu müssen – eine Methode, die man
sich schon 1830 bei Johann Samuel Müller zu eigen gemacht hatte!
War eine solche Vorgehensweise rechtskonform? Mitnichten! Kein Wort von Ermittlung und Aufklärung! Keine sachlichen Gegenbeweise!
Caroline von Albersdorf war zwar in der Tat zuvor gerichtlich auffällig geworden, weil sie im ersten Im petus für Kaspar Hauser zwei andere Adelige der Täterschaft verdächtigt hatte; allein dieser Irrtum reicht
keinesfalls dazu, sie in Bausch und Bogen zu verdammen! 386
Antonius van der Linde hieb in die Kerbe der Ermittlungsorgane und verübte seinerseits mit einer
Reihe von fragwürdigen Angaben zu ihrem früheren Leben an der Gräfin Caroline Rufmord. Er nannte sie
eine „verletzte Klatschmühle“ und sprach davon, sie versprühe „Drachengift, wie nur schlechte Weiber
überhaupt das können“.387
So einfach geht das – und ähnlich einfach geht es noch heute. 388
In den Büchern der Caroline von Albersdorf kann nicht die geringste Rede von „Drachengift“ sein. Sie
strahlen einen aufrichtigen Tenor und ein honoriges Bemühen um die Rehabilitation Kaspar Hausers aus.
Dass die Dame mit ihren Büchern Geld verdienen wollte, muss man ihr zugestehen: Ihre wirtschaftliche
Lage scheint ja nicht die allerbeste gewesen zu sein! Was aber besonders für die Gräfin und nicht gegen
sie spricht, ist das hohe Maß an Information, das sie hatte, sowie die Überzeugung und absolute
Unerschrockenheit, mit der sie ihre Sache vertrat. So reiste sie persönlich nach München, um ihr
Anliegen beim Königshaus und bei der Regierung vorzubringen. Allerdings dauerte es wegen Krankheit,
Terminverschiebungen und nicht näher bekannten Geschäften mehr als ein Jahr, bis sie ans Ziel gelangte.
Dabei berichtete nur van der Linde, nicht einmal sie selbst davon, dass sie am 18. Februar 1837 zum
Verhör ins königlich-bayerische Innenministerium unter dem Minister Ludwig Fürst von OettingenWallerstein geladen war, kurz bevor dieser politisch abgesägt wurde. Wir werden weiter unten noch
ausführlicher auf diesen Skandal eingehen, weil er für den Fall Kaspar Hauser von großer Bedeutung ist.
Was den liberal gesinnten Innenminister betrifft, so sind wir sicher, dass auch ihn lautere Motive und ein
ernsthaftes Bemühen um Aufklärung des Kriminalfalls Hauser trugen. Dies stellen seine Briefe an den
Regierungspräsidenten von Stichaner unmittelbar nach der Ermordung Kaspar Hausers in den Raum;
einen davon werden wir noch im Wortlaut vorstellen. 389
Den bayerischen König Ludwig I. traf Caroline von Albersdorf endlich am 11. Juli 1837 in einer Privataudienz.
Obwohl auf der Gräfin Albersdorf ein erheblicher Druck der Staatsorgane lastete, gab sie in der Sache
nicht nach! Am 18. September 1837 musste sie ein weiteres Mal vor dem Stadtgericht Regensburg eine
eidesstattliche Erklärung abgeben. Um einer Anklage zu entgehen, verzichtete sie im Weiteren darauf, in
ihren schriftlichen Äußerungen konkrete Namen zu nennen, sondern verwies vielmehr juristisch korrekt
auf die noch anstehenden Ermittlungen! Vor allem König Ludwig I. wird ihr dazu geraten haben. Gemäß
einem Schreiben der Polizeidirektion München an das Kreisgericht Ansbach vom 11. Juli 1838 konnte Ca roline von Albersdorf den Königlichen Majestäten sogar einige Exemplare ihrer sehr diplomatisch ab386 Linde 1, S. 391.
387 Linde 1, S. 390.
388 Siehe Diskussionsteil des deutschen Kaspar-Hauser-Artikels in der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
389 Pies, Tod, S. 191 und 228ff.
179
gefassten Schrift persönlich überreichen. Die Gräfin Albersdorf wurde vermutlich von König erneut mit
einer korrekten gerichtlichen Aufarbeitung vertröstet.
Danach scheint Caroline von Albersdorf noch längere Zeit davon überzeugt gewesen zu sein, dass man
in der Sache, um die es ihr ging, aufrichtig weiter ermittelte.
Doch weit gefehlt! Das bayerische Justizministerium verhinderte zum Beispiel, dass das Appellationsgericht Ansbach mit dem Hauser-freundlichen Appellationsrat Schuhmann die Gerichtssache im Sinne
der Albersdorf weiterbetrieb, indem man seinen Sitz kurzerhand nach Eichstätt verlegte! 390
Die Nürnberger Gerichte hatte das Untersuchungsverfahren im Prinzip schon viel früher, als es die Al bersdorf ahnen konnte, eingestellt, am 11. September 1834! Keine Rede davon, dass man nach ihren
Enthüllungen die Ermittlungen wieder aufgenommen hätte!
Mit einer kleinen Ausnahme: Als Caroline von Albersdorf 1837 auf die Anzeige eines Herrn Ertl hin
einen gewissen Georg Demmermayer aus Entrischenbrunn (k. g. Landgericht Entrischenbrunn) wegen
Mordverdacht vor Gericht gebracht hatte, war man in Sachen Kaspar Hauser zu einer Verfahrensaufnah me gezwungen – allerdings nur kurz, denn der Mann konnte ein vollständiges Alibi vorlegen. 391 Was an
der Sache mit dem Georg Demmermayer wirklich daran war, konnten wir nicht überprüfen. Es mag al lerdings sein, dass die Gräfin sich hier getäuscht hatte oder getäuscht worden war, so wie ihr dies auch
schon früher widerfahren war.
Die Engländerin sah sich am Ende um all ihre Hoffnungen und Erwartungen, die sie in ihren Büchern
formuliert hatte, betrogen. Wie sie damit umging, wie sich ihr weiteres, von Krankheit gezeichnetes
Leben abspielte, bleibt im Dunkeln.
Abb. 116: Todesanzeigen in 3 bayerischen Blättern vom 15., 16. und 18. April 1841, wobei dem KöniglichBayerischen Polizey=Anzeiger die größte Relevanz zukommt, da dieser aus den Pfarrmatrikeln berichtete.
390 Mayer, Stanhope, S. 434f.
391 Linde 1, S. 398, Fußnote.
180
Caroline von Albersdorf verstarb in hohem Alter wenige Jahre nach den geschilderten Ereignissen in
München, am 12. April 1841. In den drei Todesanzeigen wird übereinstimmend festgestellt, dass ihr
Mann vor seinem Tode als Hauptmann in Diensten des Königreichs Bayern gestanden habe, auch wird ihr
der von van der Linde zu Unrecht abgesprochene Adeltitel „von“ korrekt zugestanden. Dagegen differiert
auffallend das Alter: Die 81 Jahre scheinen eindeutig falsch zu sein, denn demnach wäre sie 1760
geboren worden, was nicht zu den Lebensdaten ihres Vaters passt.
Das vom evangelischen Pfarramt München referierte, wohl auf einem authentischen Geburtsschein
beruhende Geburtsjahr 1770 war dagegen möglich, selbst wenn ihr Vater erst 1755 geboren worden war.
Denn im Alter von 15 Jahren begannen gewöhnlich für die Sprosse des englischen Hochadels die Wanderjahre, bei denen es darum ging, sich bei den Hochadelsfamilien des Kontinents und deren Nachfolgegeneration – also bei den Kindern und Jugendlichen! - einzuführen. Demnach war Caroline von Albers dorf das Resultat einer sehr frühen Jugendsünde ihres Vaters! Klar, dass damals für ihn eine Verheiratung
mit der Mutter nicht im Frage kam, zumal diese mit Sicherheit nicht aus dem Hochadel stammte.
Soweit zum Lebensanfang und -ende der Caroline von Albersdorf!
Damit zurück zu den amtlichen Ermittlungen in der Sache Kaspar Hauser.
181
Vertuschung ohne Ende
Einige Zeitgenossen hatten schon früh keinen Zweifel an der Verfahrensverschleppung gehabt. So
schrieb z. B. der Gothaer Professor Philipp Heinrich Welcker in seinem Buch von 1835:
„Der Feind Kaspar Hausers hat alle
Maßregeln ergriffen, sich der Gerechtigkeit
der Menschen zu entziehen. Gott allein
wird für sein Benehmen verantwortlich
sein müssen. Alle Nachforschungen der
Behörden, um Hausers Ursprung zu
entdecken, werden erfolglos sein. Er ist der
Sohn des Mannes, dessen Namen zu
nennen die Behörden sich wohl hüten
werden, um ein großes Ärgernis zu
verhüten …“392
Dieser Welcker'sche Spruch soll laut einem Abb. 117: Szene aus der Fernseh-Dokumentation
französischen Journal schon 1830, also drei Jahre „Kaspar Hauser“, Serie Terra X, 2002.
vor Kaspar Hausers Tod, in Nürnberg als
öffentlicher Aushang zu lesen gewesen sein. 393 Ob diese Information stimmt, bleibt dahingestellt; es
handelt sich aber fürwahr um ein prophetisches Wort!
Wie äußerte sich eigentlich Kurfürstin Maria-Leopoldine selbst zu den gegen sie und ihren Mann erhobenen Vorwürfen? Genaues wissen wir nicht, aber van der Linde glaubte, bei dieser Frage den Nebel,
den sich über die Sache legte, noch vermehren zu müssen:
„Ihre derbe Abfertigung einer königlich-bayerischen Erkundigung nach der Wahrheit dieses
Gerüchts war damals zwar kurfähig (?), ist jetzt aber nicht mehr druckfähig …“394
Ansonsten wird man von Seiten Marias Leopoldines und des gesamten Hofes darauf erpicht gewe sen
sein, die Affäre tot zu schweigen, nach dem Motto: Wer sich rechtfertigt, klagt sich nur an.
Wenn wir heute das Für und Wider gegeneinander abwiegen, meinen wir, dass Caroline von Albersdorf wie zuvor Johann Samuel Müller trotz gewisser Widersprüche und Imponderabilien ihrer Argumentation eine heiße Spur verfolgte und, wenngleich sie manchmal über das Ziel hinausschoss, im
Wesentlichen des Pudels Kern traf. Zu dieser Einsicht sind wir allerdings nur unter Kenntnis und
Einbeziehung des Schlosses Wanghausen im Stande gewesen. Alle Hauser-Forscher vor uns haben diese
Geschichten entweder nicht im Geringsten interessiert oder – sie haben sie in den Schmutz gezogen.
Auf einer neuen und erweiterten Argumentationsbasis kommen wir demnach in Bezug auch Caroline
von Albersdorf zum selben Schluss wie 1873 der Professor Georg Friedrich Daumer, Hausers erster
Lehrer, obwohl dieser von Wanghausen nichts wusste:
„Mehrere Momente dieses Systems sind von bekannter Richtigkeit, andere sind hypothetischer
und combinatorischer Art. Ich vertrete das Ganze nicht; es aber für Unsinn, und dessen Erfinderin
für verrückt zu erklären, geht nicht an …“395
Die mehrzeitige gerichtliche Verfahrensverschleppung und Verfahrensniederschlagung in Bayern und
Ungarn, die Verlegung des Appellationsgerichts nach Eichstätt, die aus der Luft gegriffenen Diskreditierungen des Johann Samuel Müller und der Gräfin von Albersdorf und schließlich die Tatsache, dass we392 Ph. H. Welcker: Hauser. Ein lyrisches Gedicht. Gotha 1835, S. 98.
393 Georg Philippp Schmidt von Lübeck: Über Caspar Hauser, Heft 2, Altona 1832, S. 31.
394 Linde 2, S. 4.
395 Daumer, Wesen, S. 101.
182
der Major von Wessenig noch Maria-Leopoldine, noch ihr Mann und Schwager klare Alibis und Gegenbeweise vorlegen konnten, sprechen letztlich eine beredte Sprache! Zumindest die Reise der Kurfürstin
nach Ungarn hätte durch ein Alibi problemlos entkräftet werden können, da sie nicht stattgefunden hat te. Doch ein offizielles Dementi, welches alle Gerüchte und Mutmaßungen auf einen Schlag zum Erliegen
gebracht hätte, unterblieb, weder durch die Betroffene selbst noch von anderer Seite!
Wer weiterhin an den Machinationen der höchsten bayerischen Staatsorgane zweifelt, wird sich endgültig des Besseren belehren lassen müssen, wenn er den von Ivo Striedinger im Jahr 1933 veröffentlich ten Briefwechsel nachliest, der sich zwischen Lord Stanhope und König Ludwig I. nach Kaspar Hausers
Tod entspann.396
Selbst der reichlich suspekte Lord Stanhope nahm, bemüht um die eigene Exkulpation, an dem seiner
Meinung nach unverständlichen und taktisch fragwürdigen Totschweigen der Bayerischen Staatsregierung unter König Ludwig I. Anstoß. In einem Schreiben vom 9. Januar 1840 nahm er auf die Veröffentlichungen der „Frau von Albertsdorf“ (so!) konkret Bezug und beschwerte sich beim König nicht nur über
die gegen ihn selbst vorgebrachten Vorwürfe, sondern er wurde auch ziemlich deutlich, was die Kurfürstin Maria-Leopoldine, ihren Sohn und die politische Auswirkung der gegen sie geäußerten Verdächtigun gen betrifft:
„Mehrere Personen, die die Ehre haben, von Eurer Majestät beschäftigt zu werden, werden im
Ablauf dieses Werkes (freilich des Buches der Caroline von Albersdorf) ebenso verunglimpft. Man
erzählt in aller Öffentlichkeit, dass in dem Abschnitt, welcher, wenngleich ohne Namensnennung,
die Mutter Kaspar Hausers erwähnt, ganz bewusst auf eine hochadelige Prinzessin, welche mit
dem Königlichen Haus Eurer Majestät eng verbunden ist, die Kurfürstin von Bayern, Bezug genommen wird. Deren Sohn soll wiederum den Mord angezettelt haben … Zur Rechtfertigung meiner selbst und all dieser Zeugen ersuche ich in Demut und höchstem Respekt für Eure Majestät:
Erlauben Sie die Veröffentlichung solcher Auszüge (freilich aus den geheimen Akten des Königshauses) durch einen Gewährsmann, der Zutritt zu den Originaldokumenten hat. Einer solchen
Veröffentlichung würde die nötige Achtung geschenkt werden, bei nur geringen Umständen …;
sie wäre extrem interessant und informativ für alle Juristen Deutschlands, und in der Tat auch für
all die, welche sich nach korrekter Information über den Sachverhalt sehnen. Solange eine solche
Veröffentlichung nicht erscheint, werden Falschdarstellungen und Fehlinformationen an der Tagesordnung sein, und Verleumdungen richten sich nicht nur gegen Privatpersonen wie mich
selbst, sondern auch gegen diejenigen Personen, die mit dem Königlichen Haus Eurer Majestät
verbunden sind. Und die Feinde der Monarchie werden weiterhin, so wie sie es in Frankreich und
anderswo bereits getan haben, ihre Unterstellungen sich für ihre politischen Vorstellungen
dienstbar machen …“
In dieser Passage scheinen die Motive auf, warum Lord Stanhope nach dem Tod Kaspar Hausers alles
daran setzte, diesen als Betrüger darzustellen. Möglicherweise sah er sich durch die Gerüchte um MariaLeopoldine in eine Mordsache hineingezogen, der er persönlich entgehen wollte, selbst wenn ihn eine
wie auch immer geartete Mitbeteiligung (Erlangen! Doppelagent?) betraf! Dazu wäre ihm ein königlichbayerisches Dementi gerade recht gewesen! Wir werden darauf zurückkommen.
Recht treffend schilderte der Engländer die politischen Hintergründe: In der Quintessenz ging es
darum, einen Anschlag auf die spät-feudale Gesellschaftsordnung und die privilegierte Rolle des Adels zu
verhindern und einen Umsturz der politischen Verhältnisse unmöglich zu machen. Er hätte sich zu einem
Flächenbrand in ganz Europa entwickeln und damit auch England erreichen können. Das waren fürwahr
höhere Ziele, die ein Menschenopfer wie Kaspar Hauser in seinen Augen rechtfertigten! Davor fürchtete
sich der um seine eigenen Adelspfründe bangende Lord am meisten.
Nichtsdestotrotz fiel die königliche Antwort vom 10. Februar 1840 ebenso lakonisch wie ablehnend
aus. Dabei fällt auf, dass der König nicht nur geschickt von sich auf seine Berater, wie z. B. auf den Ge396 Ivo Striedinger: Neues Schrifttum über Kaspar Hauser, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, 6. Jg.
1933, S. 480ff.
183
sandten von Cetto, ablenkte, sondern auch das Thema Maria-Leopoldine komplett aussparte:
„Sie wünschen, dass die Regierung die offiziellen Dokumente und Protokolle bezüglich Kaspar
Hausers erstem Auftreten veröffentlichen solle, um seinen intellektuellen und physischen Zustand
zu verdeutlichen. Ich habe sofort Order erteilt, den Sachstand und die Frage zu klären, ob sich
eine solche Veröffentlichung schickt. Doch *man* hielt es nicht für in Ordnung, diese Dokumente
zu veröffentlichen. Folglich muss ich es bedauern, Mylord, ihr Ansinnen nicht bewilligen zu können …“
Das Abwinken des Königs und seiner Berater aus dem Regierungslager, hinter die er sich verbal zurückzog, sei all denen ins Gewissen geschrieben, die bis heute die entscheidende Rolle des Königshauses bei
der mangelnden Aufklärung des Mordfalles an Kaspar Hauser ableugnen wollen! Dies geschieht meist
mit dem Argument, dass erste Reaktionen des Königs zum Tode Kaspar Hausers, die Verheißung einer
Belohnung von 10 000 Gulden zur Ergreifung des Täters – diese hatte allerdings gar nicht der König, son dern der Ansbacher Regierungspräsident von Stichaner vorgeschlagen – und der durchaus ehrenwerte
Einsatz des Innenministers von Oettingen-Wallerstein einen gegenläufigen Eindruck vermitteln. 397
Spätestens, als sich der Verdacht des Verbrechens an Kaspar Hauser in das Königshaus selbst hinein
verlagert hatte, ging es dem bayerischen König Ludwig I. um alles andere als um exakte Aufklärung und
Aufarbeitung. Es ging ihm ausschließlich um Verschleierung und Vertuschung, um des lieben Machterhal tes willen!
So wurden vom Königshaus alle Ermittlungen verhindert und die Akten auf Dauer geschlossen, und
das blieben sie, bis zum heutigen Tag.
Besonders pikant ist in diesen Zusammenhang, dass das Königshaus auch aktiv die Durchforstung der
bayerischen Taufmatrikel, Impfregister und Register der leichten Reiter auf den Namen Kaspar Hauser
hin verhinderte. Nach van der Linde wies der König persönlich den diesbezüglichen, durchaus praktikablen Vorschlag des Patrimonialrichters Falkner aus Lutzmannstein zurück. 398
Eine Caroline von Albersdorf erfuhr davon eben sowenig wie die bayerische Öffentlichkeit!
„Aus dem unentdeckten Täter eines Verbrechens entwickelt sich die Feststellung, dass überhaupt kein Verbrechen begangen worden ist. Der Untersuchungsrichter erringt mit dieser Feststellung einen persönlichen Erfolg, die Rechtsordnung erleidet einen Schlag, dessen Wirkungen
noch nach 96 Jahren nicht überwunden sind.“
So urteilte treffend der Kriminologe Hans von Hentig im Jahr 1929.399 Inzwischen zählen wir eine Zeitspanne von 180 Jahren seit Kaspar Hausers Tod, doch nichts hat sich an der Richtigkeit dieses Satzes
geändert!
Die Gerüchte zum Mordfall Hauser kursierten zwar auch nach 1840 noch für längere Zeit, lenkten aber
immer mehr von der Kurfürstin Maria-Leopoldine ab und konzentrierten sich am Ende fast ausschließlich
auf die Erbprinz-von-Baden-Geschichte, die, von Bayern aus lanciert, nach den Veröffentlichungen Joseph Heinrich Garniers, Joseph Schaubergs, Friedrich Seybolds und Sebastian Seilers allmählich die Oberhand in der öffentlichen Meinung gewann.
Kaspar Hauser ein verkappter Erbprinz von Baden – dies war genau die Geschichte, die man sich von
Seiten des bayerischen Hofes gewünscht, ja die man sogar bewusst inszeniert hatte!
Zusätzlich wurde die öffentliche Meinung durch die Nebelkerzen jener gehässigen Auftrags-Schreiber
manipuliert, welche in mehreren Publikationen versuchten, sowohl von den Spuren ins bayerische Königshaus als auch ins badische Fürstenhaus abzulenken, indem sie den toten Kaspar Hauser nach Kräften
als Selbstmörder und abgefeimten Betrüger diskreditierten.
397 Pies, Dokumentation, S. 213ff.
398 Linde 2, S. 321.
399 Pies, Wahrheit, S. 264.
184
Karl Heinrich Ritter von Lang, der im Ruhestand befindliche, ehemalige Direktor des allgemeinen
Reichsarchivs in München, wollte sich wohl einen besonderen Obolus hinzuverdienen: Er soll sich schon
am Grabe Kaspar Hausers unflätig über ihn geäußert haben; alsbald spie er auch in einigen Aufsätzen,
z. B. in den Blättern für literarische Unterhaltung und in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung gegen
den toten Findling Gift und Galle (1834): Boshaft, lügnerisch, faul und ungelehrig sei Kaspar Hauser –
wohlgemerkt unbekannterweise! - gewesen.400
Der suspekte Lord Stanhope und ein Polizeirat Merker aus Berlin verhielten sich, was die Diskreditierung Hausers anbelangt, nicht viel anders. Später folgte Dr. Julius Meyer, der Sohn des Lehrers Meyer, bei
dem Kaspar Hauser bis zu seinem Tode untergebracht war, demselben Schema, am Ende auch Antonius
van der Linde, der allerdings, weil er primär vom Haus Baden ablenken wollte, die Spur wieder auf Bay ern zurück lenkte.
All diese Hauser-Invektiven können als Auftragsarbeiten des süddeutschen Hochadels gelten,
geschrieben zum alleinigen Zweck, allmählich alle Gerüchte um Kaspars Elternschaft zum Verstummen
zu bringen und damit die eigene, durch die Zeitumstände bereits schwankende Position zu
stabilisieren.
Diesen von gewissen Kreisen aus Politik und Hochfinanz gestützten Leuten stand lediglich eine Handvoll treuer Hauser-Apologeten gegenüber, wie z. B. die erwähnte Caroline von Albersdorf, aber auch ein
Georg Friedrich Daumer oder ein Pfarrer Fuhrmann – alle Privatleute, welche, bar jeglicher Unterstützung von oben und durch den plötzlichen Tod Paul Anselms von Feuerbach zusätzlich ihrer wichtigsten
Stütze beraubt, äußerst vorsichtig vorgehen mussten. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert ein Brief
Georg Friedrich Daumers, den er schon ca. ein halbes Jahr nach Hausers Tod, am 24. Juni 1834, an Ludwig von Feuerbach, den Sohn des toten Ansbacher Gerichtspräsidenten, richtete. Der Brief, auf den wir
weiter oben schon Bezug genommen haben, fand eigenartigerweise in der bisherigen Hauser-Forschung
wenig Beachtung, ist aber bezüglich des Inhaltes so wichtig, dass wir ihn hier ungekürzt wiedergeben:
„Lieber F. Der neueren Ereignisse in der Hauserschen Sache wegen schien es mir gut zu sein,
das, was ich für Kapp bearbeiten wollte, noch zurückgelegt zu lassen. Es betraf Hausers Träume
und Visionen, die ich Dir, wenn Du sie wünschst, abschreiben lassen will. Zu Deinem jetzigen Vor haben werden sie Dir nichts helfen.
Die neuste Merkersche Schrift habe ich bestellt, aber noch nicht erhalten, noch zu Gesicht bekommen. Wenn Ihr etwas dagegen tun wollt, so wird es sehr angemessen und gut sein, und was
ich dazu beitragen kann, soll geschehen. Binder sagte mir, er werde nichts tun. Diesen bei einer
Entgegnung auf die Stanhopeschen Schritte zu schonen, wird nicht möglich sein, und das ist's,
was mir Schranken setzt. Man muss notwendig die ersten Akten für falsch erklären; denn sind sie
richtig, ist Hauser unrettbar ein Betrüger. Anfänglich wurden keine Akten geschrieben, und als die
Regierung die Akten verlangte und keine da waren, wurden welche zum Schein verfertigt. So be hauptete Dein Vater, aus dessen Mund ein Freund mir darüber Nachricht gab. Auch hat dies Dein
Vater in seinem „Kaspar Hauser“ p. 39 in der Note deutlich genug bezeichnet (vergleiche) p. 3
Note. Diese Stellen müsste man jetzt herausheben und geltend machen. Das wäre genug, und
man brauchte Binders Namen dabei nicht zu nennen, der jedoch natürlich dadurch gleichwohl
von neuem verletzt und angegriffen wird, was ich nicht tun kann, wohl aber Ihr, wenn es doch
einmal durchaus nötig wird. Dabei müsste man die Bosheit und Schlechtigkeit Stanhopes, was
aus seinen Taten und Schriften leicht geschehen kann, nachweisen und hervorheben - sein enthu siastisches und verliebtes Benehmen, als er sich zunächst mit Hausern einließ, sein nachheriges
plötzliches Erkalten und sein Sichzurückziehen, sein jetziges Streben, Hausers Andenken mit
Schimpf zu bedecken, sein schändliches, giftiges Betragen gegen Deinen Vater. Aus einer bloßen
Enttäuschung, aus der aufgehenden Einsicht, daß er es mit einem Betrüger zu tun gehabt, erklärt
sich dies Benehmen nicht. Hätte er sich bloß betrogen, so hätte er sicher nachher geschwiegen
und würde sich nicht alle Mühe geben, sich der Welt als einen zu zeigen, der sich von einem land 400 Pies, Fälschungen, S. 104ff.
185
streichenden Gauner so ungeheuer hätte am Narrenseil ziehen lassen, der sich in den Verworfe nen so gewaltig verliebt und so enthusiastisch für seine Sache interessiert hätte. Stanhopes Be nehmen muss einen andern Grund haben, welchen, kann man dem Leser zu erraten überlassen
und nur bemerklich machen, was ich soeben gesagt.
Ich habe neustens Dinge erfahren, die mir von großer Wichtigkeit zu sein scheinen und die ich
Euch unter der Bedingung der Verschwiegenheit mitzuteilen die Erlaubnis erha(lt)en. Eine Engländerin von vornehmer Abkunft, doch jetzt in dürftigen Umständen, 401 hat sich mir entdeckt und
mir erz(ähl)t, dass sie vor etwa 22 Jahren in Wien war, wo die verwitwete Kurfürstin von Bayern,
eine österreichische Prinzessin, eben aus Ungarn zurückgekehrt wa(r)und d(as) Gerücht ging, sie
habe heimlich in Ungarn ein Kind geb(ore)n. Diese Fürstin hat sich nachher dem Grafen Arco in
München zur linken Hand antrauen lassen und hat Kinder von ihm. Sie und der Graf waren zur
Zeit der Nürnberger Mordversu(che) in Nürnberg, auch waren sie wieder da, als Stanhope kam
und sich mit Hauser in Verbindung setzte, und sollen mit Stanhope eine Zusammenkunft gehabt
haben. Das Nähere und die Belege sind mir versprochen. Stanhope soll verschuldet sein und we nig aus eigenen Kräften tun können, auch in Bädern seine Umstände durch Spiel zu verbessern
bemüht sein. Dadurch würde es bezweiflich, dass er sich in der Hauserschen Sache von anderen
habe brauchen lassen. Die Arco sollen ein ungeheures Vermögen besitzen.
Der Gendarmerieleutnant Hickel scheint bestochen zu sein. Er war, was verdächtig ist, nicht zu
Ansbach, als der Mord geschah. („Groß Dam! Groß Dam! Gott erbarm dich ihr!“ sprach Hauser
sterbend). Von diesen Umständen die Gerichte zu unterrichten, wird wohl nichts nützen. Bayern
(und Österreich) wird alles unterdrücken. Sprich doch darüber mit Deinem Bruder, dem Juristen.
Was soll man hier tun? Ich gedenke jedenfalls, den Kriminaldirektor Hitzig in Berlin mit der Sache
bekannt zu machen. Wird sie in Bayern unterdrückt, lässt sie sich vielleicht dennoch zur Offenba ru(ng) bringen, und es liegt so viel daran, die Haus(er)sche Sache nicht als ein absurdes Märchen
behandeln und verschallen zu lassen.
Kennst Du die Leute nicht, die gegenwärtig die Untersuchung der Hauserschen Sache zu führen
haben? Kannst Du mir nichts über ihren Charakter sagen? Wenn Du etwas gegen Merker und
Stanhope schreibst, so lasse mich's ja vor dem Druck le(sen). Vielleicht kann ich etwas (etwa als
Anhang) dazugeben. Wenn ich nur mündlich mit Dir reden könnte!
Vom Schullehrer Meyer wird nächstens ein Buch über Hauser erscheinen, wo er ihn, wie ich
merke, im schlimmsten Lichte darstellen und alle Lügen, die er von ihm weiß, dem Publikum aufti schen wird. Er hat an mich mehrere Fragen gestellt, die er ohne Zweifel in Beziehung auf Hausers
Aussagen benützen wird. Ich habe sie ihm als redlicher Mann beantworten müssen, doch bemerkt, dass, wenn er meine Aussagen etwa so hinstellen werde, dass es scheinen könnte, als
wäre ich nun auch gegen die Hausersche Sache umgestimmt worden, ich eine öffentliche Erklärung darüber ergehen lassen müsste.
Herzlich grüßt Dich Dein D.
Als der Nürnberger Mordversuch misslungen war und Hauser unter so genaue Obhut und Bewachung gestellt wurde, kam es darauf an, ihn dieser aus den Händen zu spielen. Das tat nun der
Lord. Kennst Du den Hickel? Er behandelte, soviel ich weiß, den Hauser hart und rauh. Hast Du
Schuberts „Ansichten der Natur von der Nachtseite“, 2. Ausg(abe)?“402
Wir denken, dieser Daumer'schen Einschätzung Ludwig von Feuerbach gegenüber ist wenig hinzuzufü gen. Daumer war seinerzeit längst bewusst gewesen, wozu wir selbst nur durch langwierige Recherche
gelangten. Beweise der Albersdorf scheinen ihn nicht mehr erreicht zu haben; er wird später nie Bezug
darauf nehmen.
401 Freilich Caroline von Albersdorf.
402 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke: Briefwechsel I, Berlin 1972, S. 203ff.
186
Am Ende kann man es drehen und wenden, wie man will:
Auf Kurfürstin Maria-Leopoldine und ihrer Familie lastet der gravierende Verdacht der Beteiligung
an den beiden Verbrechen an Kaspar Hauser – ein Verdacht, der durch etliche Indizien genährt, aber
durch kein vernünftiges Gegenargument entkräftet wird!
187
Schlussfolgerungen aus ihrer Korrespondenz: Maria-Leopoldines Charakter
Ehe wir uns weiter mit der Frage der verheimlichten Mutterschaft Maria-Leopoldines befassen, kom men wir zu dem Bild der Kurfürstin, welches erst kürzlich ihre Biographin, die Historikerin Sylvia KraussMeyl, gezeichnet hat. Es unterscheidet sich von den Eindrücken, die man bis hierher von dieser hohen
Frau gewinnen konnte, gründlich:
In der Tat verfügen wir durch den extensiven Briefwechsel der Kurfürstin über eine so ausgiebige epis tolare Innenansicht derselben, dass man ihr für die Jahre nach ihrer Verheiratung mit Ludwig Graf Arco
(nach 1808) nicht mehr generell die „Männergeilheit“ der jungen Jahre und in diesem Zusammenhang
eine verheimlichte Mutterschaft – nach der Geburt eines ihrer beiden Söhne von Ludwig von Arco – unterstellen kann. Wie es sich aus unzähligen Notizen der Kurfürstin ergibt, scheint sie eine gewisse charak terliche Entwicklung durchgemacht zu haben, die sich zum Beispiel auch darin manifestiert, dass sie wohl
als einzige Hochadelige der damaligen Zeit in Stepperg gelernt hatte, wie ihre Untertanen körperlich zu
arbeiten – ein wahrlich außergewöhnliches Phänomen für eine Frau ihres Ranges! Und um ihre beiden
bekannt gewordenen Söhne kümmerte sie sich so liebevoll und fürsorglich, wie es einer Mutter eben zu steht.
Wenn man der Darstellung von Sylvia Krauss-Meyl folgt, so wurde aus dem eitlen und flatterhaften
Mädchen der frühen Jahre eine in sich gefestigte, prinzipientreue und zielstrebige Frau! Und deren Ziel
war in dieser Zeit relativ klar, nämlich an ihrer Ehebeziehung mit Graf Ludwig von Arco festzuhalten und
alsbald aus ihr – und nicht aus einer anderen Beziehung! - Kinder zu bekommen! Dies war allerdings
auch genau der Typus von Mensch, den die Autorin Krauss-Meyl benötigte, um ihren Entwurf mit Begrif fen wie „emanzipierter Lebensplan“, „emanzipiertes Leben in veränderten gesellschaftlichen Bedingungen weiblicher Lebensgestaltung“, „Gleichberechtigung“ und „Vordenkerin der Frauenbewegung in
höchsten Kreisen“ in die übliche Gender-Literatur einreihen und die Erwartung ihrer überwiegend weiblichen Leserschaft befriedigen zu können.403
Einem solchen Bild wohnt wegen der Autorenintention allerdings auch etwas Artifizielles inne. War
Maria-Leopoldine wirklich so? Hatte die Kurfürstin nicht doch die andere, dunkle Seite?
Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, dass sie in jenem Hungerjahr 1816, als ganz Bayern aus
Mangel an Grundnahrungsmitteln darbte und litt, in großem Stil Kartoffeln und Getreide aufkaufte, um
deren Preise in die Höhe zu treiben und hinterher durch Weiterverkauf möglichst hohe Gewinne einzufahren. Wegen dieses skrupellosen Verhaltens auf Kosten der Notleidenden ließ König Max Joseph durch
eine Umfrage unter den Generalkommissaren und Regierungspräsidenten den ruinierten Ruf MariaLeopoldines in der bayerischen Bevölkerung wieder formal herstellen. Den geringen Wert einer solchen
Umfrage brauchen wir dem Leser nicht eigens erklären. Mit dem jüdischen Bankier Simon Spiro, der ihr
bei dieser Spekulation in großem Stil geholfen hatte, überwarf sich die habgierige Dame wenig später, als
dieser durch gemeinsame, aber fehlgeschlagene Lotterie-Spekulationen Bankrott machte! 404
Im Jahr 1834 wurde Maria-Leopoldine konkret wegen Betrug, Bestechung und Ausstellung falscher
Wechsel angeklagt, von ihren jüdischen Geschäftspartnern Lilienthal und Lichtenstein. Dass der Sachver halt stichhaltig war, ergibt sich daraus, dass sie „in dem gegenwärtigen Augenblick (freilich nach dem
Mordfall Kaspar Hauser!) wegen der unangenehmen Sensation in publico“ unter Androhung der Entziehung königlicher Privilegien von Oberappellationsgericht in München zu einem Vergleich gezwungen
wurde, den sie allerdings erneut betrügerisch abwickelte! 405 In Wirklichkeit war Maria-Leopoldine in
schändlicher Weise straffällig geworden und hätte hinter Gitter wandern müssen!
403 Sylvia Krauss-Meyl: Das Leben der letzten bayerischen Kurfürstin Maria-Leopoldine und ihre Beziehungen in
den Ebersberger Raum, in: Land um den Ebersberger Forst, Beiträge zur Geschichte und Kultur, Jahrbuch des
Historischen Vereins für den Landkreis Ebersberg, Bd. 1, 1998, S. 11, 30, 31.
404 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 264f.
405 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 266.
188
Angesichts solcher Szenen kann man es drehen und wenden wie man will: In geschäftlichen Dingen
handelte Maria-Leopoldine gewissenlos, berechnend, eigennützig und jenseits der Legalität, wenn es
darauf ankam!
Die von Sylvia Krauss-Meyl postulierte
charakterliche Wandlung wirkt unter solchen
Umständen schon als Konstrukt, davon
abgesehen, dass man ein intimer Freund oder
Verwandter der Kurfürstin hätte sein müssen,
um diese überhaupt zu erkennen. Nach außen
blieb nicht nur der Makel der Raffsucht,
sondern auch der Promiskuität und zügellosen
Libertinage wie eine Klette an Maria-Leopoldine
hängen, was immer wieder Anlass zu Gerüchten
und Rügen bot, wie wir am Beispiel der Caroline
von Albersdorf erfahren haben. Selbst Ehemann
Ludwig scheint vor diesem Eindruck nicht gefeit
gewesen zu sein: Schon einen Monat nach der
Abb. 118: Idealdarstellung Marias Leopoldines von Ös- Eheschließung lieferte er seiner Frau eine
terreich mit ihren beiden Söhnen, um 1815.
Eifersuchtsszene, weil man ihm zugetragen
hatte, sie hätte ein Verhältnis mit dem Pfarrer Aloys Mayerhofer von Rennertshofen, jenem Mann, der
später unter Demission seiner Pfarrer-Stelle ihr Geheimsekretär und um 1828 ihr Hofkaplan wurde. Der
schlimme Verdacht wurde bereits erwähnt. 406 Aloys, nicht etwa Ludwig, hieß auffallenderweise auch der
offiziell anerkannte Erstgeborene des ungleichen Paares! Ungeachtet ihrer Dementis blieb Graf Ludwig
die meiste Zeit seines Lebens in kühler Distanz zu Maria-Leopoldine, berief sich auf seine Ämter in
München und weigerte sich konstant, nach Stepperg umzuziehen, um dort als Paar mit ihr zu leben! Viel leicht handelte er intuitiv gemäß einem Spruch seines Landesvaters, welcher sich einst selbst mit MariaLeopoldine auf ein Techtelmechtel eingelassen und sich hinterher etwas despektierlich über sie geäußert
hatte:
„Ich erkenne immer klarer, wie mühsam, um nicht zu sagen unmöglich, es wäre, fortgesetzt
Hüter einer Frau zu sein, die sich selbst nicht behüten will.“ 407
Nur die Affäre um Kaspar Hauser scheint das Paar von Arco in gewissem Maß zusammengeschweißt zu
haben; zumindest erfährt man hier von keinem Dissens der Partner, die ja zusammen, u. U. aber auch
einzeln und in unterschiedlicher Weise, durch die Gerüchte belastet worden waren.
Nochmals nachgehakt: Waren Selbstdarstellungen in einer Korrespondenz, von der man als Mitglied
des Hofes immer rechnen musste, dass sie von dritter Seite mitgelesen wurde, überhaupt geeignet, alle
Facetten des eigenen Ich, sozusagen den wahren Charakter darzustellen?
Wir wollen dies sehr in Frage stellen und verweisen darauf, dass damals wirklich aufschlussreiche
Informationen auf ganz anderem Wege weitergegeben wurden als per Briefpost. Ganz zu schweigen von
dem, was in den Herzen fest verschlossen blieb oder nur mündlich tradiert wurde.
Man spürt nach Kenntnis des Briefwechsels die anhaltende Zwiespältigkeit und Charakterschwäche
der Person. Eine Schattenseite, ein unbekanntes Etwas haftet jedem Menschen an, umso mehr dieser
Frau. Der Umstand, dass wir diese andere Seite nicht zur Genüge kennen, sollte uns nicht dazu verleiten
anzunehmen, dass es eine solche nicht gab. Und war nicht Skrupellosigkeit und Kaltschnäuzigkeit der
beste Garant für geschäftlichen Erfolg, den die Kurfürstin zweifelsohne hatte?
406 Weis, Montgelas, S. 30.
407 Weis, a. a. O.
189
Maria-Leopoldine in der Nähe von Wanghausen
Kehren wir zurück zur bekannten Biographie der Kurfürstin-Witwe und beschäftigen wir uns etwas nä her mit den Jahren 1809 bis 1813. Überprüfen wir die Frage, ob es die Chronologie überhaupt möglich
macht, dass die Kurfürstin zwischen den Geburten ihrer legitimen Söhne einen potentiellen Sohn Kaspar
Hauser gezeugt und von ihm entbunden hätte. Das genaue Zeitfenster liegen zwischen Januar 1809 und
März 1811; der Zeitraum zwischen Januar 1812 und März 1814 ausscheidet aus, wenn man die Angaben
des Johann Samuel Müller über die Reise des Pfarrers J. Adam Leydel im Jahr 1814 als valide erachtet.
Demnach müsste ein Kaspar Hauser von der ehemaligen Kurfürstin im Kriegsjahr 1809 gezeugt und
spätestens Ende 1810 geboren worden sein.
Es stellen sich dabei weitere Fragen, wie z. B.: Hatte die Kurfürstin ihrerseits einen nachweisbaren Kontakt in Richtung Innviertel bzw. Salzach-Kreis und Schloss Wanghausen, wenn man von der eingangs erwähnten Geschäftsbeziehung zu Johann Nepomuk von Prielmayer einmal absieht? Oder kam Kaspar
Hauser ohne ihr Wissen und Zutun dorthin?
Man sollte ersteres allein deshalb
annehmen, weil Wanghausen im wahrsten
Sinne des Wortes an der Grenze ihres „Vater“Landes Österreich lag, in welchem ihre Eltern
wohnten, nachdem diese 1796 durch
Napoleons Einmarsch die Herrschaft in der
Lombardei verloren hatten. Maria-Leopoldine
brachte allerdings wegen der früheren
Enttäuschungen dem Land Österreich und
auch
ihrer
Habsburger-Familie
eher
ambivalente bis schlechte Gefühle entgegen,
wohingegen sie ihre Wahlheimat Bayern
schätzen gelernt hatte.
Während ihrer Ehe mit Graf Ludwig von Arco
mag das Tattenbach'sche Erbe, von dem oben
die Rede war, immer mehr ins Visier der „business woman“ Maria-Leopoldine geraten sein.
Die Besitzungen lagen zum großen Teil im Innviertel, in der Nähe von Wanghausen. Konkret
wurde das Erbprojekt allerdings erst im Jahr Abb. 119: Maria-Leopoldine von Österreich. Ölgemälde aus
1821, als das Land östlich von Salzach und Inn unbekannter Hand.
wieder an Österreich zurückgefallen war, und
es betraf auch nicht konkret ihre Söhne, sondern ihren angeheirateten Neffen Maximilian von Arco. Aber
der planerische Vorlauf reichte sicherlich lange vor diesen Zeitraum zurück.
Sicher ist, dass Maria-Leopoldine gerade zu der Zeit, als dieses Erbe für den Neffen fällig wurde, d. h.
in den Jahren 1820 und 1821, sich intensiv um ein Nachbargut Wanghausens kümmerte, und zwar um
den überschuldeten Besitz des Grafen Maximilian Karl von Berchem (1762-1831). Dieser Besitz betraf
vor allem drei Hofmarken unmittelbar nördlich von Burghausen: Piesing, Ritzing und Haiming.
So zumindest will es die Biographin der Kurfürstin, Sylvia Krauss-Meyl. 408
Der Chronist und spätere Besitzer vom Haiming, Leo von Ow, stellte den Sachverhalt allerdings etwas
anders dar. Es sei nicht primär Maria-Leopoldine, sondern ihr geliebter Siegmund von Berchem, der
Sohn des Grafen Maximilian, gewesen, der als „fortschrittlicher und wirtschaftlich orientierter Gutsherr“
408 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 295ff.
190
durch große Sparsamkeit und durch den Abverkauf von Ritzing, Seibersdorf und Schedling es ermöglich te, dass wenigstens Piesing und Haiming der Familie erhalten blieben. Bei Leo von Ow gerät also MariaLeopoldine zur Statistin.409
Maria-Leopoldine kannte die Familie von Berchem schon seit Beginn ihrer Zeit in Bayern, denn diese
stand, einst von Kurfürst Maximilian I. Emanuel aus Köln nach München berufen, am kurfürstlichen Hof
in hohen Ehren. Der Großvater des genannten Grafen, Maximilian Franz Joseph von Berchem, war als
ehemaliger Rentmeister in Burghausen in höchste Staatsämter des Kurfürstentums aufgestiegen: Er wurde erst Oberkriegskommissar, dann Kämmerer, Generalbaudirektor und Generalintendant, später sogar
Finanzminister und Hofkammerpräsident! Maximilian von Berchem hatte es damit zum höchsten Staatsbeamten im Kurfürstentum Bayern gebracht. Beliebt beim Volk scheint er allerdings nicht gewesen zu
sein: Eduard Vehse nannte ihn „einen fluchwürdigen Egoisten“, der gänzlich von „Geiz und Wollust“ beherrscht gewesen sei!410
Anschließend versahen mehrere Generationen
derer von Berchem das Rentmeisteramt in Burghausen.
Die Familie von Berchem war also den Wanghausener Schlossbesitzern nicht nur besitzmäßig
benachbart, sondern auch dienstlich verbunden
und vermutlich mit ihnen sogar befreundet. In
früheren Zeiten hatte man sich z. B. gegenseitig
Besitz verkauft und zusammen um den Ausbau
der Wallfahrtskirche Maria Ach am rechten Ufer
der Salzach kümmert! Bei solchen Anknüpfungspunkten ist es sehr wahrscheinlich, dass MariaLeopoldine auch früh von der Familie von Prielmayer und ihrem Piesing und Haiming gegenüberliegenden Besitz in Ach und Wanghausen erfuhr
oder mit ihr in Kontakt kam.
Die Sanierungsaktivität der Kurfürstin für die erwähnten Hofmarken, so sie überhaupt stattgefunden hat, entsprang übrigens nicht reiner Selbstlosigkeit: Da sie sich im fortgerückten Alter von 44
Jahren in den 16 Jahre jüngeren Grafensohn SiegAbb. 120: Maria-Leopoldines Geliebter Siegmund von mund von Berchem verliebt hatte, wollte sie unter
Berchem als junger Mann. Gemälde in Privatbesitz. Der einem Vorwand möglichst viel vor Ort und in seiGraf war Kämmerer und Legationsrat der bayerischen ner Nähe sein! So logierte sie in den besagten JahGesandtschaft in Berlin und Paris.
ren 1820 und 1821 immer wieder in Piesing bei
Burghausen, in einem eigens für sie eingerichteten und noch heute nach ihr benannten Appartement.
Gesetzt den Fall, Kaspar Hauser war als ihr wahrer Sohn am Schloss Wanghausen versteckt, dann
weilte er 1820 und 1821 in nur 7 km Entfernung von seiner Mutter! Und wegen der Bekanntschaft der
Familien von Berchem und von Prielmayer war es prinzipiell nicht einmal ausgeschlossen, dass MariaLeopoldine in den Jahren 1820 oder 1821 Kaspars Verlies-Ort konkret besuchte!
409 Leo von Ow: Eine bayerische Chronik aus dem Archiv eines Landsitzes (Haiming), München 1975, S. 191f.
410 Eduard Vehse: Geschichte der Höfe der Häuser Baiern, Würtemberg, Baden und Hessen. Zweiter und Vierter
Theil, Hamburg 1853, S. 21.
191
Weitere Eigentümlichkeiten fallen auf:
•
Im Jahr 1813 erhielt Siegmund von Berchem den Rang eines königlich-bayerischen Kämmerers,
zeitgleich mit der Ernennung des Kämmerers Johann Nepomuk von Prielmayer zum Freiherrn. 411
•
Eine analoge Karriere nahmen Graf Kajetan von Berchem, ein weiterer Sohn des Grafen Max, und
Freiherr Johann von Prielmayer, ein Sohn des Johann Nepomuk von Prielmayer: Beide Kinder
wurden im Jahr 1812 gleichzeitig als Edelknaben in den königlichen Reitstall aufgenommen und
so von klein an auf eine höhere Hoflaufbahn vorbereitet. 412 Kajetan, dem sein Kollege von Platen
„mehr Studium als Geist“ zuschrieb, wurde später Besitzer von Kuttenplan in Böhmen und nahm
den Namen Berchem-Haimhausen an.413
Natürlich gibt hier keinen Beweis konkreter Verbindung, aber immerhin den Beleg für einen parallelen
Aufstieg der Familien von Berchem und von Prielmayer am bayerischen Königshof.
Die Beziehung der verheirateten Kurfürstin-Witwe zu Graf Siegmund dürfte aufgrund der Tatsache,
dass sich beide nur selten sahen und zwischen ihnen ein großer Altersunterschied bestand, die meiste
Zeit eher platonischer Art gewesen sein und der Kurfürstin vor allem den fehlenden Liebeskontakt zu ihrem unterkühlten Gatten Ludwig von Arco ersetzt haben. Sie manifestierte sich in Hunderten
von Briefen, welche im Lauf der Jahre zwischen
beiden hin und her wechselten.
Die Affäre dauerte insgesamt ca. 10 Jahre.
Dann heiratete der um viele Jahre jüngere Graf
die um nochmals 20 Jahre jüngere Askania von
Krauß, die Tochter des bayerischen Kriegsministers, und erbaute für sie in der Hofmark Haiming
bei Burghausen unter Aufgabe des alten Wasserschlosses jenes Schlösschen, welches man noch
Abbildung 121: Schloss Haiming nördlich von Burghausen.
heute bewundern kann (siehe Bild).
Für die alternde Maria-Leopoldine mag dies ein Schlag gewesen sein. Askania schenkte in der Folge
insgesamt 6 Kindern das Leben. Vier davon starben bereits früh, zum Teil an den verheerenden Folgen
der Cholera. Eine der überlebenden Töchter, Ludowika, heiratete ihren Schwager Max Freiherrn von Ow,
aus einer schwäbischen Adelsfamilie, in deren Besitz die Schlösser Haiming und Piesing noch heute
sind.414
Nach einer mehrjährigen Unterbrechung nahm Maria-Leopoldine in ihren letzten Lebensjahren den
brieflichen Kontakt mit ihrem vormaligen Geliebten nochmals auf und ließ ihn bis zu ihrem Tod nicht
mehr abreißen. Von Liebe war in dieser Zeit allerdings nicht mehr die Rede, allenfalls von Wertschätzung
und Respekt. Eine Schwester Siegmunds, die Elisabethen-Ordens-Dame Antonia Gräfin von Berchem, gehörte noch im Todesjahr der Kurfürstin als Hofdame zu deren Hofstaat, wie der Königlich Bayerische Da men-Kalender von 1848 ausweist. Graf Berchem wurde schließlich der amtliche Testamentsvollstrecker
der Kurfürstin.
Eine Bekanntschaft des Schlossbesitzers von Wanghausen zu Maria-Leopoldine war also aus dieser Beziehung heraus durchaus möglich.
411 Wichtigste Lebensmomente aller königl. baierischen Civil- und Militär-Bedienstigten dieses Jahrhunderts, Zweites Heft, Augsburg 1819, S. 49.
412 Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Baiern 1812, München 1812, S. 78. Auch Platen, Tagebücher, S. 53
und 56.
413 Ow, Landsitz Haiming, S. 190.
414 Ow, Landsitz Haiming, S. 193ff.
192
Sie kann allerdings auch andere Gründe gehabt haben:
•
Zum Beispiel beteiligte sich die Kurfürstin Maria-Leopoldine am Salzhandel Bayerns. Schon in ihren Heiratsverträgen waren Rechte an den Salinen von Bad Reichenhall und Traunstein als Siche rung ihres Wittums eingetragen; sie hatte diese Bedingungen selbst ausgehandelt. Von großem
Nutzen in diesem Geschäftsbereich dürfte ihr der Berater Joseph von Utzschneider gewesen
sein, welcher schon 1784 Administrator der bayerischen Salinen der Fürstpropstei Berchtesgaden gewesen war, zwischenzeitlich in Ungnade fiel, aber 1807 wieder Generalsalinenadministrator wurde (1807 Bau der Saline von Rosenheim, 1809 Administration der Salinen Berchtesgaden
und Hallein). Im Rahmen ihrer Aktivitäten im Salzgeschäft hatten Maria-Leopoldine und von Utzschneider sicherlich auch mit dem Salzamt Landshut zu tun, und zwar schon seit früher Zeit. Dort
saß Johann Nepomuk von Prielmayer, vormals Hofkastner, jetzt Rentbeamter. Es ist anzunehmen,
dass sich die Herrschaften als Geschäftspartner bestens kannten, zumal der junge von Utzschnei der wie von Prielmayer eine Zeit lang Illuminat gewesen war. Genauer gesagt: Utzschneider hatte
im Jahr 1783 als Geheimsekretär der Herzogin-Witwe Maria Anna, seiner Tante, bei den Intrigen
des Geheimbundes gegen Kurfürst Karl Theodor sogar eine Schlüsselrolle eingenommen, aber
unmittelbar danach den Orden wieder verlassen und mit einigen anderen dazu beigetragen, dass
die Umsturzpläne des Illuminatenbundes aufflogen bzw. der Bund enttarnt wurde. Dass allerdings hierbei von Utzschneider die treibende Kraft war, wie von namhaften Historikern behauptet, hat der Illuminatenforscher und Neo-Illuminat Leopold Engel schon 1906 mit überzeugenden
Argumenten widerlegt. So stand z. B. von Utzschneider auch in späteren Jahren mit dem Gründer des Illuminatenordens, Adam Weißhaupt, in einvernehmlichen Kontakt. 415
•
Die frühere Mitgliedschaft im Illuminatenorden betraf übrigens auch den Schwager MariaLeopoldines, Graf Maximilian von Montgelas, der sich bald von dem Orden lossagte und später
den Geheimbund heftig bekämpfte, aber auch die meisten anderen Mitglieder der Grafenfamilie
von Arco, in die Maria-Leopoldine hineingeheiratet hatte, speziell auch ihren Ehemann Ludwig
von Arco und nicht zuletzt, wie soeben erwähnt, ihren Berater Joseph von Utzschneider. Dieser
war ähnlich wie Johann Nepomuk von Prielmayer wegen seiner vorherigen Beteiligung beim
Illuminatenbund aus dem Staatsdienst entfernt worden, ehe er begann, die junge KurfürstinWitwe in geschäftlichen Dingen zu beraten.
Dass sich die ehemaligen oder latenten Mitglieder des Illuminatenordens unter einander bestens
kannten, kann man unterstellen. So könnte auch über dieses Untergrund-Netzwerk ein Kontakt zwischen
der Kurfürstin und Johann Nepomuk von Prielmayer, aber auch zu den Erlanger Verschwörern angebahnt
worden sein.416
Wahrscheinlich griff das eine ins andere.
Bei so vielen Anknüpfungspunkten halten wir es für abwegig anzunehmen, dass sich Johann Nepomuk
von Prielmayer und Maria-Leopoldine erst spät, zufällig und flüchtig anlässlich der geschäftlichen Trans aktion zu Freinberg kennengelernt hätten. Vielmehr spricht alles dafür, dass sich beide seit langem gut
kannten. Damit avanciert der Freiherr von Prielmayer als Besitzer von Wanghausen zu einer der Schlüsselfiguren im Fall Kaspar Hauser, falls dieser tatsächlich von der Kurfürstin gezeugt und in Wanghausen
interniert worden war! Dabei ergibt sich u. a. folgende interessante Frage:
•
War es die Kurfürstin-Witwe, die Johann Nepomuk von Prielmayer für seine Dienste den Aufstieg
im jungen Königreich Bayern möglich gemacht hatte?
Da Maria-Leopoldine in ihrem Geschäftssinn nichts machte, was nicht auch ihr persönlich einen Vorteil
verschafft hätte, stellt man sich eine zweite Frage mit Recht:
415 Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens, Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns, Berlin 1906, S. 166ff.
416 Wichtigste Lebensmomente aller königl. baierischen Civil- und Militär-Bedienstigten dieses Jahrhunderts, Erstes Heft, Augsburg 1819, 19ff.
193
•
War Johann Nepomuk von Prielmayer etwa bereit gewesen, ein heimlich gezeugtes Kind der Kurfürstin, von dem niemand etwas wissen durfte, in deren Auftrag bei sich in Wanghausen zu verstecken?
•
Oder wusste nur er, nicht aber die Kurfürstin von dieser Aktion?
Nun: Trotz der beiderseitigen Bekanntschaft und in Abwägung aller möglichen Argumente gehen wir
nicht davon aus, dass Kaspar Hauser im direkten Auftrag der Maria-Leopoldine in Wanghausen verwahrt worden wäre, wenn er in der Tat ihr leiblicher Sohn war.
•
Dagegen spricht zum einen die simple Berücksichtigung menschlicher Verhaltensweisen. Wir halten eine noch so abgebrühte und skrupellose Kurfürstin-Witwe für nicht im Stande, 1820 oder
1821 ein Schloss zu besuchen oder auch nur in dessen Nähe zu verweilen, in dem sie ihren eigenen Sohn als Gefangenen elend vor sich hin darben wusste. In jenem Schicksalsjahr 1809 wird
vielmehr der Kurfürstin-Witwe vornehmlich daran gelegen gewesen sein, ihr ungewolltes Baby
auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu sehen, so wie ihr dies auch bei ihrem ersten Sohn ge lungen war. Sich später mit ihm freiwillig zu konfrontieren, setzt eine seelische Grausamkeit voraus, die wir Maria-Leopoldine nicht zutrauen.
•
Zum anderen deutet in diese Richtung der anzunehmende Weg Kaspar Hausers nach seiner Geburt, so wie er sich aus den Angaben des Johann Samuel Müller und der Caroline von Albersdorf,
aber auch den biographischen Eckdaten der Dalbonne und einigen weiteren Indizien ergibt. Damit befassen wir uns im Weiteren noch genauer!
Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn Maria-Leopoldine nicht die leibliche Mutter Kaspar Hausers
gewesen wäre. In diesem Fall könnte sie durchaus von dessen Aufenthalt in Wanghausen erfahren und
ihn sogar gezielt dort untergebracht und später besucht haben können. Dies gibt uns Grund, denn Fall
Kaspar Hauser nochmals aus anderer Perspektive zu beleuchten:
Nahm Maria-Leopoldine in Bezug auf Kaspar Hauser nur eine Mittlerrolle ein?
Dieser Ansatz führt uns unmittelbar zur Beantwortung der Frage, ob der in Vergessenheit geratene
und nicht richtige überprüfte Ansatz Trumpps, Kaspar Hauser sei ein Napoleon-Sohn der Stephanie von
Beauharnais gewesen, nicht doch richtig ist.
Immerhin hatte Napoleon Bonaparte im Kriegsjahr 1809 bei seiner Anreise zum Kriegsschauplatz in
Bayern in Schloss Durlach, wie bereits oben geschildert, zwei Stunden „zum Ausruhen“ in einem Boudoir
des Schlosses seiner Stieftochter verbrachte was er nachweislich sonst nie tat! Dies war Zeit genug zur
Zeugung eines nicht-gewollten Kindes! Dies sei zur Ehrenrettung des Julius Trumpp ganz klar festgehal ten. Im Übrigen passt der von Edmond Bapst aufgrund von zahlreichen Zeugenaussagen gesteckte Rahmen in den Jahren 1809/1810 sehr gut zu einer verheimlichten Schwangerschaft Stephanies, welche
dann vermutlich ebenso heimlich in Frankreich beendet wurde. 417
Gerade am Beispiel dieser Stephanie-de-Beauharnais-Hypothese wird deutlich, dass für eine Anerkennung eines Beziehungskonstruktes zwischen Stephanie und Napoleon plausibel zu erklären ist, durch
wessen Vermittlung ein illegitimer Sohn Stephanies auf den Weilhart und nach Wanghausen verbracht
worden wäre, um dort später als Napoleonide aus politischen Gründen in Gefangenschaft zu gehen. Dass
es sich dabei nicht um den ausgetauschten Erbprinzen von Baden handeln konnte, haben wir bereits
dargelegt.
Man muss einräumen: Die Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine von Österreich hätte den notwendigen
weiblichen „Mittelsmann“ sehr gut abgeben können! Trumpp selbst hatte übrigens beiläufig auf MariaLeopoldine hingewiesen, allerdings ohne sich mit ihr näher zu beschäftigen. 418 Was er nicht sah, war ihr
großes Potential für eine derartige Vermittlungsaufgabe:
417 Vgl. Edmond Bapst:À la conquête du trône de Bade …, Paris 1930, Chap. X et XI, S. 171ff. und S. 191ff.
418 Trumpp: Kaspar Hauser – Napoleon und Stephanie – der Tatsachenbericht, Gerabronn 1953, S. 142.
194
Maria-Leopoldine hatte nicht nur beste Beziehungen zum bayerischen Königs- und zum österreichischen Kaiserhaus, sondern auch zu vielen anderen europäischen Höfen und Fürstenhäusern. Falls z. B.
Stephanie de Beauharnais den Mann ihrer Schwägerin, König Max I. von Bayern, in der delikaten Angelegenheit eines unehelichen Kindes um Hilfe gebeten hätte, dann hätte weniger dieser selbst als eine von
ihm eingeweihte Maria-Leopoldine ihre Beziehungen spielen lassen können, z. B. zu einem Bekannten
namens Johann Nepomuk von Prielmayer. Ein weiterer Draht nach Bayern hätte über Eugène de Beau harnais, einen Cousin Stephanies, laufen können, denn dieser hatte 1805 die Königstochter Auguste von
Bayern geheiratet und war von daher mit den Personen und Verhältnissen am bayerischen Hof vertraut.
Später, nach Napoleons Entmachtung, erhielt er vom bayerischen König den Titel eines Herzogs von
Leuchtenberg und als eigenes Territorium das Fürstentum Eichstätt, womit er ein unmittelbarer Nachbar
der Maria-Leopoldine als Stepperger Schlossherrin wurde. In dieser Zeit, ja selbst noch nach seinem Tod,
schenkte ihm Maria-Leopoldine auffallend ihre Sympathie.
Ein illegitimer, mit Napoleon gezeugter Sohn Stephanies musste auf jeden Fall verborgen bleiben, hät te das Bekanntwerden der Affäre doch nicht nur beide Elternteile in unerträglicher Weise persönlich
kompromittiert und das fragile Ehebündnis mit dem Haus Baden aufs Spiel gesetzt, sondern ein noch viel
wichtigeres Ehebündnis gefährdet, nämlich die geplante Hochzeit Bonapartes mit Maria Luise von Öster reich im Folgejahr: Diese raffiniert eingefädelte Entente cordiale wäre wohl unter dem Gelächter ganz
Europas geplatzt!
Wenn im Schlosspark von Wanghausen ein echter Napoleon-Sohn verwahrt wurde, dann darf man
auf jeden Fall Maria-Leopoldine die volle Mitwisserschaft, ja sogar eine Vermittlerrolle zutrauen!
Soweit nochmals zur Trumpp'schen Theorie des Napoleoniden, die u. E. zu früh und ohne echten Gegenbeweis ad acta gelegt wurde. Dass diese Theorie auch mit den Zielen des Täterkreises aus der Freimaurer-Szene Erlangens konform geht, haben wir bereits zuvor belegt. Ein echter Napoleon-Sohn recht fertigte vermutlich in deren Augen ein jegliches Verbrechen, wenn es nur der Befreiungsbewegung dienlich war!
Hierzu am Ende ein Hinweis:
Wie leicht wäre es, die Frage des Napoleoniden abschließend zu klären: Man bräuchte nur den genetischen Fingerprint Napoleons, der aufgrund seiner sterblichen Überreste und sonstigen Hinterlassenschaft vermutlich leicht zu erhalten wäre, mit Kaspar Hausers bereits erstelltem Fingerprint vergleichen, und das Thema hätte sich ein für allemal erledigt!
Vielleicht ist abschließend ein weiterer Hinweis angebracht: Es handelte sich bei Kaspar Hauser im
Wesentlichen um zwei Verbrechen, welche u. U. getrennt betrachtet werden müssen:
1. um das seiner frühen Beseitigung und Einsperrung,
2. um das seiner Ermordung.
Beide können, müssen aber nicht zwangsläufig miteinander zu tun haben!
Wir behalten im Folgenden beide Mutterschafts-Hypothesen im Auge, beschäftigen uns aber
schwerpunktmäßig weiterhin mit der möglichen Mutterschaft Maria-Leopoldines, da sich hierfür weitaus
mehr Indizien beibringen lassen als für die Geschichte mit Stephanie.
195
Maria-Leopoldine und Napoleon Bonaparte
Wenn man die verheimlichte Mutterschaft der Maria-Leopoldine von Österreich-Este bejaht, dann
stellt sich zwangsläufig die Frage, ob jener Offizier, der die Kurfürstin-Witwe ungeplant geschwängert
hatte, nicht Napoleon Bonaparte selbst gewesen sein könnte.
Ein Gerücht darüber, so wie es die fränkischen Verschwörer vielleicht konkret beflügelt hat, war
nämlich keineswegs aus der Luft gegriffen: Man kannte sich, und beider Wege kreuzten sich mehrfach,
so auch in jenem Kriegsjahr 1809.
Dennoch scheidet eine solche Liebschaft aus. Zu Erklärung müssen wir ein wenig ausholen:
Maria-Leopoldine war nachweislich in ihrer Jugend eine glühende Napoleon-Verehrerin und schätzte
sehr zum Leidwesen ihrer österreichischen Familie alle liberalen Entwicklungen in Frankreich, die ihrer
Meinung nach durch die Französische Revolution und Napoleon angestoßen worden waren. 419 Eine an
sich gute Ausgangslage für eine heimliche Liaison mit dem „Empereur“!
Als Napoleon im Jahr 1804 die Städte Aachen und Mainz besucht hatte, war Maria-Leopoldine incognito extra dorthin gereist, um Napoleons persönliche Bekanntschaft zu machen. Nach dem Treffen fühl te sie sich geschmeichelt, „den Beifall Seiner Majestät erhalten zu haben“.420 Allerdings war dieses SichBekannt-Machen zu kurz und zu offiziell, um ein Tête-à-tête zu rechtfertigen.
Im Jahr darauf hätte sich für die junge Kurfürstin-Witwe eine weitere Chance ergeben, mit Napoleon
Bonaparte anzubandeln, und nunmehr wäre die Sache auch besser planbar gewesen, zumindest was die
Räumlichkeiten betraf.
Doch sehen wir zu, wie sich Maria-Leopoldine damals verhielt: Zu einem Festakt mit Konzert am
Abend des 26. Oktober 1805, den Napoleon und seine schon damals ungeliebte Gattin Josephine für die
Damen des bayerischen Hofes gab, war auch Maria-Leopoldine eingeladen. 421 Da Napoleon auch noch
den ganzen nächsten Tag in Schloss Nymphenburg blieb, hätte sich die prinzipielle Gelegenheit zu einem
heimlichen Treffen ergeben. Allein, der kurze Briefwechsel, welchen die Kurfürstin mit Maximilian I. Joseph in dieser Angelegenheit führte, bringt einige Ernüchterung. Maria-Leopoldine teilte dem bayerischen Kurfürsten und König in spe mit, dass sie auf ein Erscheinen in München verzichte, falls der Kurfürst mit Gattin Caroline zum Empfang gar nicht erschiene:
„Folglich wäre es auffallend, wenn ich wegen des Kaisers Napoleon käme, und sogar embarrassant (lästig) für mich, wenn ich allein da wäre von der Familie, besonders als geborene Erzher zogin.“
Lediglich für den Sonderfall, dass Kurfürstin Caroline den Empfang allein bestreiten wolle, kündigte sie
ihren Auftritt an. Offensichtlich überwog hier die Eifersucht Leopoldines auf diese Frau, die sie nicht besonders mochte, der sie sich aber in Bezug auf Napoleon überlegen fühlte.
Alles in allem spricht aber die nüchterne Haltung und das politische Räsonieren der MariaLeopoldine dafür, dass keinem napoleonischen Liebeszauber erlegen war! Gesetzt diesen Fall, hätte
die taktische Absprache mit Max Joseph erst gar nicht stattgefunden! 422
Die Wege Napoleons und Maria-Leopoldines kreuzen sich ein weiteres Mal im besonders interessierenden Jahr 1809, als der 5. Koalitionskrieg Frankreich/Bayern gegen Österreich ausgebrochen war: Napoleon verbrachte im April bei seiner Anreise aus Frankreich einen Abend in Dillingen an der Donau, wo419 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 199ff.
420 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 200.
421 Albert Schuermans (Herausgeber): Itinéraire général de Napoléon, 2. Auflage 1911, S. 214.
422 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 168.
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hin sich der gesamte Bayerische Hof inklusive des Königspaares vor der österreichischen Invasion geflüchtet hatte. Es ist durchaus denkbar, dass auch Maria-Leopoldine mit ihrem erstgeborenen Sohn vor
Ort war.
Napoleon hielt sich aber in Dillingen
nur eine Stunde auf, wobei er sich die
Hälfte der Zeit mit König Max Joseph
unterhielt. Noch in derselben Nacht
reiste er weiter nach Donauwörth und
übernachtete dort ein weiteres Mal,
ehe er sein Hauptquartier nach Ingolstadt verlegte. In Ingolstadt blieb Napoleon zwei Tage, dann schlug er am
20. April die Schlacht bei Abensberg.423
Wäre Napoleon ungeachtet seiner
psychischen und physischen Anspannung unmittelbar vor Ausbruch der
Feindseligkeiten wirklich auf die Idee Abb. 122: J.-B. Debret: Napoleon hält eine Rede an die bayerischen
gekommen, mit Maria-Leopoldine Soldaten vor der Schlacht bei Abendsberg. Gemälde von 1810.
einen trauten Abend zu verbringen, so
hätte er als Treffpunkt sicherlich Schloss Stepperg, welches zwischen Donauwörth und Ingolstadt am linken Ufer der Donau lag, bevorzugt und diese dort aufgesucht. Doch auch dem war nicht so! Im Gegen satz zu anderen Truppenteilen der Franzosen befuhr Napoleon mit seiner Kutsche den Schnellweg am
rechten Ufer der Donau und besuchte während der Anfahrt nach Ingolstadt exakt auf Höhe des Schlosses
Stepperg das heute noch verehrte Grabmal des französischen Freiheitshelden Latour d'Auvergne.424 So
waren sich Napoleon und die Kurfürstin zwar räumlich sehr nahe, aber unüberbrückbar getrennt durch
den Donaustrom und seine Auwälder!
Maria-Leopoldine brachte unterdessen ein französisches Offizierskorps in ihren Räumlichkeiten unter,
welches sie unterhalten und verköstigen musste. Der Generalissimus Napoleon war aber nicht dabei!
An einem Treffen mit der Kurfürstin scheint dem Korsen auch sonst nichts gelegen haben, obwohl die se lange Zeit so frankophil war, dass sie später als „die Spionin des französischen Gesandten“ betitelt wurde. Gemeint war hier der französische Gesandte Comte Auguste de la Garde, in den sie sich wieder einmal verliebt hatte; allerdings geschah dies spät (1817-1820), sodass ein Kaspar Hauser dieser Schwärme rei nicht entsprungen sein kann.425
Was aber Napoleon anbetrifft, so hätte ihm Maria-Leopoldine in jenem Jahr 1809 zumindest eine interessante Gesprächspartnerin abgegeben, denn sie verfügte über Insider-Wissen über den österreichischen Hof wie keine zweite in Bayern. Aber wie gesagt: Der französische Kaiser hatte kein Interesse, was
allerdings dann verständlich wird, wenn man berücksichtigt, dass er damals heimlich eine Mätresse mit
sich führte. Die Dame wurde bereits im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt. Sie war eine Bürgerliche,
stammte aus Österreich und hieß Emilia Victoria Kraus. Emilia war es gewohnt, Napoleon auf seinen
Kriegszügen zu begleiten, als Page verkleidet, damit sie im Heer nicht weiter auffiel. Diese Mätresse
kannte Napoleon seit 1805; er hatte sie zwischenzeitlich bei sich in Paris untergebracht. Was die gute
Emilia wiederum nicht wissen konnte, war, dass Napoleon inzwischen auch eine weitere Busenfreundin
von seinem Feldzug nach Wien verständigt hatte. Es handelte sich um die Gräfin Maria Walewska aus Po len, mit der er schon vor Jahren intim verkehrt war.
423 Itinéraire, S. 294f. Angaben dazu auch bei C. L. F. Panckoucke: Oeuvres de Napoléon Bonaparte, Bd. 4, Buch 5:
Empire 1906, Paris 1811.
424 Auch der angehende Landgerichs-Aktuar Karl Mayer besuchte im November 1809 dieses Denkmal, kurz vor seinen Abschlussprüfungen in Neuburg an der Donau.
425 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 201.
197
Beiden Frauen müssen tatsächlich während des Krieges mit Napoleon geschlafen haben, denn sie kamen im Mai des darauffolgenden Jahres in Wien mit nur 4 Tagen Unterschied von unehelichen Söhnen
des Korsen nieder – Kinder, die später eine eigene Adelskarriere machten.
In diesem Kriegs-Liebesleben des Korsen wäre also für eine Kurfürstin Maria-Leopoldine einfach
kein Platz gewesen, und diese wusste dies wohl!
Damit lohnt es sich u. E. nicht mehr, der Frage nachzugehen, ob Maria-Leopoldine im Herbst
desselben Jahres nach Wien oder München gereist ist, um dort Napoleon zu treffen, selbst wenn die
Detektivin Caroline von Albersdorf in ganz anderem Zusammenhang und für einen anderen Zeitpunkt
eine Reise in dieser Richtung in den Raum gestellt hatte. Zwar weilte Bonaparte mehrere Monate bei
Wien und beim Rückzug zwei volle Tage in Schloss Nymphenburg bei München, aber dafür, dass die
Kurfürstin anwesend gewesen wäre und mit ihm etwas gehabt hätte, gibt es nicht den geringsten
Hinweis!426
Ungeachtet der Tatsache, dass Ort und Zeit perfekt gepasst hätten: Die Napoleon-Geschichte geht
mit Maria-Leopoldine nicht auf!
So bleibt der Kindsvater weiter im Verborgenen, wir vermuten aber wegen der bereits geschilderten
Gesamtkonstellation einen anderen hohen französischen Offizier. In diesen Kriegszeiten war vieles möglich!
426 Itinéraire, S. 306f.
198
Kaspar Hausers Schicksal unmittelbar nach seiner Geburt
Wir haben bisher versucht, zum Fall Kaspar Hauser einen dichten Dschungel an Indizien und Hinweisen zu lichten, dabei die Spreu vom Weizen, das Brauchbare von Unbrauchbarem zu trennen, und am
Ende einen roten Faden zu knüpfen, in dem alle validierten Befunde aus Bayern, Österreich und von
woanders her widerspruchslos zusammengehen. Dabei formte sich in ersten Umrissen ein Bild, das wir
wie folgt zusammenfassen:
Kaspar Hauser wurde vermutlich im Kriegsjahr 1809 gezeugt. Er kam noch am Ende dieses Jahres oder
wahrscheinlicher im darauffolgenden Jahr zur Welt. Der bereits vorgestellten und sofort verworfenen
Zeugenaussage von Ansbach, dass in Ansbach eine Herzogin von einem ungewollten Kind entbunden
und dieses einer Witwe zu einem ersten Aufziehen mittels einer Leihamme überlassen hätte, eher es
nach einem dreiviertel Jahr von einer französisch sprechenden Dame abgeholt wurde, messen wir hohe
Bedeutung zu.
Damit konnte, wie gesagt, durchaus Maria-Leopoldine und eine von ihr nach Bayern geholte
Dalbonne, die ihrerseits in dieser Kriegszeit eine Liebschaft mit einem Franzosen begonnen hatte,
gemeint sein! Und auch ein Entbindungsort Ansbach ist sehr plausibel – und eine Ironie des Schicksals
insofern, als Kaspar Hauser genau in diesem Ort ein Vierteljahrhundert später starb!
•
Wohin hätte sich eine hochschwangere Kurfürstin-Witwe in diesem schrecklichen Kriegsjahr
1809 zur Entbindung auch wenden sollen? Eine Hausgeburt in ihrem Schloss Stepperg? Diese
kam weniger in Frage. Vor allem gab es dort keine ausreichende medizinische Versorgung.
•
Zur Entbindung nach Neuburg a. d. Donau, München oder sonst wohin nach Südbayern? Keineswegs! Dort waren die Informanten des Königshauses viel zu nah, und niemand aus diesem Umfeld durfte von der heimlichen Schwangerschaft und Entbindung erfahren. Im Übrigen lag südlich
der Donau das Truppenaufmarschgebiet und die Schlachtfelder des Koalitionskrieges, die Kriegskontributionen hatten den Gemeinden unheimlich viel Opfer abverlangt, und die
Versorgungslage war in jeder Hinsicht schlecht, die Sicherheitslage miserabel.
•
Nach Österreich-Ungarn, wie von Caroline von Albersdorf aufgrund von Gerüchten angenommen? Dies erscheint uns noch viel abwegiger. Von den Wiener Adelskreisen durfte ebenfalls nie mand von der Schwangerschaft und Entbindung erfahren. Ganze Österreich war anhaltend
Kriegsgebiet, die medizinische Versorgung in der ungarischen Provinz weitaus schlechter als in
Bayern, und allein die Reise über mehrere hundert Kilometer in einer holprigen Kutsche hätte
die Kurfürstin in Gefahr gebracht, durch eine Früh- bzw. Totgeburt Schaden zu erleiden. Ganz davon abgesehen, dass sie ihr erstgeborenes Söhnlein aus der Ehe mit Graf Ludwig von Arco in Bayern hätte zurücklassen müssen.
Dass sich Maria-Leopoldine zur Entbindung nach Ansbach in Mittelfranken wandte, wo gar keine
Kriegshandlungen stattgefunden hatten und die Versorgungslage unverändert gut sowie der Rückweg
nach Stepperg kurz war, klingt dagegen logisch!
Ebenso logisch ist es, wenn Maria-Leopoldine für dieses Kind, mit dem sie persönlich nichts anfangen
konnte und das ihrer Ehe im Weg stand, denselben Weg wählte wie für das erste:
Das erste Kind war 10 Jahre zuvor bei Laibach oder Görz verschwunden. Man munkelte, es sei nach
der Entbindung von dort nach Triest und später auf das Schiff eines Seefahrers gebracht worden. Dies
war, wie bereits ausführlich weiter oben beschrieben, alles in allem ein sehr plausibler, Erfolg versprechender „Entsorgungsweg“ für ein hochadeliges Kind, sozusagen ein Entlassen in eine unbestimmte,
aber letztlich für das Kind doch Chancen enthaltende Zukunft, von der es allerdings kein Zurück in die el terliche Existenz gab. Dabei hatte die Familie Frisacco der Kurfürstin vermutlich die entscheidende Schützenhilfe gegeben; Anna Frisacco war danach direkt in ihre Dienste getreten. Man kannte sich also aus
dieser Zeit!
199
Nach der Besetzung durch die Franzosen 1805 war es mit der Wirtschaftskraft der Hafenstadt Triest
steil bergab gegangen, außerdem war die Sicherheitslage alles andere als gut. Mag sein, dass sich Anna
Frisacco schon in diesem Jahr erneut in die Dienste Maria-Leopoldines in Bayern trat. Diese Datierung
hätte es auch möglich gemacht, dass Anna zuvor ihre Ausbildung als Erzieherin hätte beenden können.
Es ist aus der Biographie Maria-Leopoldines gesichert, dass sie auf solche Art und Weise eine ganze
Reihe von Kindern und jungen Leuten bei sich aufnahm.
Es ist aber auch gut möglich, dass Anna Frisacco erst anlässlich der Geburt des ersten Sohnes Aloys Nikolaus am 6. Dezember 1808 nach Stepperg kam, oder gar erst dann, als Maria-Leopoldine ein weiteres
Mal im Jahr 1809 – und nun absolut ungewollt – schwanger wurde und einer gewissen Hilfe bedurfte.
Schloss Stepperg war im Lauf des Jahres 1809 vor den Schlachten bei Eggmühl und Abensberg von
französischen Truppen besetzt worden, im Haupt- und in den Nebengebäuden hatten sich Teile des fran zösischen Offizierscorps einquartiert. Diese Situation mag der einsamen Kurfürstin, deren Mann weit
weg in München oder gar selbst im Krieg weilte, Anlass zu einer Liebschaft mit einem hohen Offizier gegeben haben – mit der Folge einer ungewollten Schwangerschaft.
Wollte sie diese Schwangerschaft verheimlichen, dann muss der verheirateten Gräfin Arco das Mäd chen Anna Frisacco aus Triest, das nun bereit eine junge Frau von 21 Jahren geworden war, wie der
rettende Engel erschienen sein. Vermutlich wurde Maria-Leopoldine auch von Anna Frisacco nach
Ansbach begleitet. Damit war diese in eben jene Stellung „seitlich von Nürnberg“ gelangt, wie sie ein
Johann Samuel Müller später für sie genau beschrieb.
Was Maria-Leopoldine jedoch vermutlich nicht wusste, dass Anna Frisacco inzwischen ein Doppelle ben führte. Durch intime Kontakte mit einem Mann des Widerstandes gegen Napoleon, der selbst Franzose war und sich „Major Dalbon“ nannte, war sie in Triest zu einer Art von Geheimagentin ausgebildet
worden. Ober aber sie lernte jenen Dalbon erst in Bayern kennen. Ach das ist möglich.
Maria-Leopoldine schenkte Anna Frisacco Vertrauen und bat sie, sobald das Neugeborene nach der
Entbindung reisefähig war, dieses nach Triest und anschließend mittels ihrer Beziehungen auf ein Schiff
zu bringen – genauso, wie es eine Dekade zuvor mit einem anderen Kind der Kurfürstin-Witwe bereits
stattgefunden hatte. Anna Frisacco sagte ihre Hilfe zu.
Dass es dann ganz anders kam, lehrt uns die Geschichte. Nach dem Sieg Napoleons über Österreich
marschierte ein Teil der französischen Truppen als Besatzung in die von Napoleon neu gegründeten, den
Österreichern zuvor entwendeten „Provinces Illyriennes“ ein: Laibach, Görz und Triest sowie ihr Umland
waren ab sofort französisches Staatsgebiet! Ob die Dalbonne – so dürfen wir sie ab sofort nennen – wirk lich vorhatte, ihr Versprechen einzulösen und das Kind nach dem Intermezzo in Ansbach auf ein Triestiner Schiff zu bringen, bleibt offen. Auf jeden Fall wäre es mit höchsten Schwierigkeiten verbunden gewe sen, denn England hatte inzwischen eine funktionierende Seeblockade vor Triest aufgebaut und unterzog
jedes passierende Schiff einer scharfen Kontrolle – auch im Hinblick auf den Personenschmuggel. 427
Offenkundig ist außerdem, dass die Dalbonne noch in Franken Kontakte zur dortigen Antibonapartisten-Szene geknüpft haben muss, die sich aus lokalen, preußischen und englischen Freimaurer-Elementen
nährte. So ergab sich schließlich der Kontakt zum Pfarrer Ludwig Würth und seinen Kommilitonen. Es
kam wohl damals in den Geheimzirkeln der Studenten und Freimaurer das Gerücht auf, dass der hochadelige Neugeborene zum Faustpfand gegen Napoleon werden könnte, womöglich ein Nachkömmling
desselben sei. Oder aber, dass sehr viel Geld im Raum stünde. Gut möglich, dass damals in Absprache
mit dem englischen Geheimdienst bald der Entschluss fiel, den Transfer des Kindes nach Triest vorzutäu schen, den Jungen zu entführen und stattdessen zunächst in oder an einem Schloss in der Nähe von Ans bach unterzubringen.
In dieser Zeit scheint ein Priesteramtskandidat aus Ödenburg namens Johann Samuel Müller, der of427 Allerdings hatte England seinerseits Interesse an Kaspar Hauser. Es ist gut denkbar, dass in diesem besonders
gelagerten Fall die Hafenkontrollen der Franzosen, die keineswegs etwas davon erfahren durften, die größere
Hürde darstellten.
200
fenkundig im Rahmen eines Erfahrungsaustausches zwischen österreichisch-ungarischer Priesteramtskandidaten und evangelischen Gemeinden in Franken nach Nürnberg gekommen war, zum ersten Mal
den Vikar Ludwig Würth und die Dalbonne kennengelernt und dabei von einem entführten Kind Wind
bekommen zu haben.428
Dass die Krone und die anglikanische, anti-papistisch organisierte Kirche von England, vielleicht schon
damals durch die Aktivitäten eines Lords Stanhope vertreten, die Wegsperrung eines Kaspar Hauser un ter politischen Gesichtspunkten finanziell unterstützt hätten, liegt auf der Hand: Daher wohl das „Geld
auf einer englischen Bank“, von dem hinterher Johann Samuel Müller berichtete.
Die politischen Verbindungen von England reichten in der Tat nach Mittelfranken und hinein in das
markgräfliche Erlangen. Im Jahr 1801 hatte ein Henri Stanhope, von der Regierung seines Onkels William
Pitt ins geheimdienstliche Rennen geschickt, nicht umsonst seine Ausbildung gerade dort begonnen.
Dass er, dessen Vorfahren als Freimaurer eine berühmte Loge in Den Haag gegründet hatten, direkte
Kontakte zur Erlanger Freimaurer-Loge und zu einer revolutionär gestimmten Studentenszene pflegte, ist
ebenfalls möglich, wenngleich quellenmäßig nicht belegt. Zumindest unterhielt Stanhope zum Logenmeister Ernst Wilhelm Martius, bei dem er in Erlangen 1801 bis 1802 die Arzneidrogenkunde erlernt hat te, lebenslang Kontakt. Stanhopes postulierte Einbindung in die Freimauerei bietet auch eine gute Erklä rungsgrundlage dafür, wie sich der Lord später Kaspar Hauser gegenüber verhielt. Hierzu passt z. B. auch
sein intensiver Kontakt mit dem Freimaurer Graf von Ungern-Sternfeld. 429
Damit kommen wir zu einem Gerücht, welches in ganz anderem Zusammenhang 430 nach Kaspar Hausers Tod aufgekommen war:
Im Jahr 1863 hatte ein gewisser Fischer alias „Baron Alexander von Artin“ oder „Philipp von Künsberg“,
mit angeblichen Verbindungen zum badischen Hof, in einer Veröffentlichung 431 behauptet, Kaspar Hauser
sei als Kind eine Zeit lang im sog. „Roten Schloss“ resp. im „Falkenhaus“ in Triesdorf bei Ansbach
verwahrt worden. Das Schloss war dem späteren Kaspar Hauser nicht unbekannt; am 19. Januar 1832
hatte er unmittelbar nach dem letzten Kontakt mit Lord Stanhope zur Ablenkung einem Ausflug dorthin
mitgenommen. Fritz Klee fand seinerzeit noch Zeugen, die die Geschichte vom Hörensagen her
bestätigten.432 Der Schlossaufseher namens Kaspar (!), der für den entführten Säugling einst zuständig
gewesen sein, sei als Soldat längere Zeit in Ungarn gewesen und habe dort bestens ungarisch und
slavonisch fluchen gelernt. Dies ist eine sehr wichtige Bemerkung, denn von der Dalbonne hätte Kaspar
428 Für dieses frühe Kennenlernen sprechen zwei voneinander unabhängige, allerdings späte Quellen: ein geheimpolizeilicher Bericht aus Ofen vom 2.3.1830, sowie Nachrichten aus Ungarn, welche über Schmidt von Lübeck
an Caroline von Albersdorf gelangten. Vgl. Sittenberger, S.242, und Albersdorf 1, 1837, S. 68f. und Albers-
dorf 2, 1838, S. 2f. und 6.
429 Allerdings zeigen wir weiter unten die Möglichkeit auf, dass er sich unter Umständen seine späteren Aktionen
um Kapsar Hauser vom Bankhaus Simon Seligmann/-von Eichthal in München finanzieren ließ und seine Mittel
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von der englischen Regierung kamen. Der Anteil Stanhopes bleibt also undurch sichtig.
430 Mit der von Bayern aus lancierten Erbprinz-von-Baden-Theorie. Im Jahr 1796 hatte im neutralen Triesdorf der
badische Hof vor den Franzosen Zuflucht genommen; damals war die Reichsgräfin von Hochberg hier von ihrem
jüngsten Sohn Max niedergekommen.
431 Fritz Klee enttarnte in seiner Veröffentlichung von 1929 den Autor als den am 11. November 1833 in Karlsruhe
geborenen Sohn eines großherzoglichen Forstmeisters, mit Namen Ernst Wilhelm Andreas Fischer. Einer seiner
Brüder oder Vettern hätte bei Markgraf Wilhelm, dem zweitältesten Sohn der Reichsgräfin Hochberg, die Stelle
eines Adjutanten innegehabt und sei der eigentliche Informant gewesen. Das Buch erschien 1883 und 18921905 (5. Auflagen!) im Verlag Alfred Coppenrath in Regensburg, unter dem Titel „Kaspar Hauser. Seine Lebens geschichte und der Nachweis seiner fürstlichen Herkunft“ und den genannten Pseudonymen. Dies war derselbe
Verlag, in dem auch die Schriften Georg Friedrich Daumers und der Caroline von Albersdorf aufgelegt worden
waren. Die Triesdorf-Passage findet sich auf den Seiten 60f. Eine französische Ausgabe soll schon 1870 oder
1872 erschienen sein. Mit Recht wurde diese Veröffentlichung von Fritz Klee wegen einiger Ungereimtheiten als
tendenziell und wenig glaubwürdig eingestuft - mit Ausnahme der Triesdorf-Geschichte. Siehe Klee, Kap. 11.
432 Klee, Kap. 11.
201
Hauser die ungarischen Wörter und Satzbrocken, der er zu kennen angab, nicht erlernen können, und in
Ungarn selbst war (abgesehen von seiner späteren Reise) er nie gewesen.
Aufgrund der baulichen Disposition des Schlosses Triesdorf kam Fritz Klee wohl zum richtigen Schluss,
dass dort eine längere Verbergung Kaspar Hausers ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sei; „dagegen
wäre es denkbar, dass Hauser … für kurze Zeit irgendeinem Schlossangestellten in Triesdorf zur Pflege
übergeben war.“
Diese Geschichte bekommt unter Berücksichtigung der fränkischen Entführer, von denen Klee
natürlich nichts wusste, eine ungeahnte Aktualität. Es ist in der Tat so:
Kaspar Hauser könnte als Säugling eine Zeit lang in oder bei Schloss Triesdorf bei Ansbach verwahrt
worden sein – genauer gesagt im Jahr 1811, als er soeben Ansbach verlassen hatte, denn dieses Schloss
liegt in der Gemeinde Weidenbach, und in der zum Schloss gehörigen Hofkirche hatte der angehende
Pfarrer Ludwig Würth ausgerechnet 1811 eine Stelle als Vikar erhalten! Kirche und Schloss liegen gerade
200 m Luftlinie auseinander. Das kann kein Zufall gewesen sein!
Das Schloss Triesdorf war erst 1806 an die bayerische Krone gefallen; der Ort und die Bedienstete
standen 1811 nach wie vor ganz in Ansbacher, preußischer und protestantischer Tradition, Nachrichten
von dort an bayerischen Hof waren eher unwahrscheinlich.
Maria-Leopoldine kann zwar von einem Verbringen ihres unerwünschten Kindes nach Triesdorf
erfahren haben, eher war aber das Gegenteil der Fall: Wahrscheinlicher wähnte sie in jenem Jahr 1811,
in dem sie bereits wieder von ihrem zweiten legitimen Sohn Maximilian Joseph Bernhard schwanger war,
längst wohlbehalten in Triest oder auf einem Schiff.
Das Kind aber konnte auf Dauer nicht in Triesdorf bleiben und es ist gut möglich, dass die Dalbonne ei nes Tages beschloss, es doch von dort mit in ihre Heimat zu nehmen – nicht zuletzt auch deshalb, um sei nen Lebensweg weiter zu verschleiern, und weil die männlichen Entführer sich anschickten, sich beruf lich zu verändern und in den neuen Salzach-Kreis ins heutige Oberösterreich umzuziehen.
Gut möglich, dass Kaspar bei seiner Reise
in den Süden jetzt mit Schlössern des Herzogtums Krain konfrontiert wurde, z. B. in
Laibach433 oder Görz, deren verbliebene Engramme später seine Schlossträume nährten. Triesdorf kommt hierfür jedenfalls weniger in Frage.
In dieser Zeit der ersten Sprachentwicklung könnte der kleine Kaspar von der Dalbonne auch die slavonischen Sprachbrocken,
und von ihrem fanzösischen Geliebten Dalbon das „mon cher“ gehört haben, das man
ihm später als bekannt nachwies.
Schon seit dem Jahr 1809 wurden in den Abb. 123: Stadt und Festung Laibach. Kolorierter Stich, 1820.
illyrischen Provinzen im Rahmen der von
Napoleon angestoßenen Verwaltungsreform Reihenimpfungen gegen Pocken durchgeführt, und speziell
im Jahr 1811 wurde die Impfung mit Schaffung eines zentralen Impfkomitees breit organisiert. 434 Gut
möglich, dass Kaspar Hauser, nunmehr ca. 3 Jahre alt und am Beginn seines Erinnerungsvermögens,
433 Das französisch besetzte Schloss Laibach entspräche genau die Beschreibung Kaspars in seinen beiden Schlossträumen, die ja mit Wanghausen nur zum Teil und mit Pilsach oder Beuggen überhaupt nicht korrelieren. Kaspar
hatte damals eine mehrflügelige Anlage um einen weiten Innenhof herum vor seinem Auge, ähnlich der Nürn berger Burg, ziemlich weitläufig, mit einem stattlichen Brunnen und zahlreichen, aufwändig möblierten Repräsentationsräumen. Vergl. Pies, Dokumentation, S. 53ff. Siehe hierzu auch das Bild oben.
434 Vgl. Erlass im Télégraphe officiel, Provinces illyriennes, Nr. 70, Laibach, den 31. August 1811.
202
damals seine bekannten Impfnarben bezog.
Im selben Jahr 1811 war übrigens von den Franzosen erstmals der Reiseverkehr in das neu eroberte
Staatsgebiet stark erleichtert worden, und speziell für Reisende, die aus Österreich oder Bayern kamen,
war nur noch ein einfacher Pass, aber kein besonderes Visum mehr nötig. 435 Dies sollte der Anna Frisacco
den Antransport eines Kindes enorm erleichtert haben!
In Zusammenhang mit einem potentiellen Aufenthalt des kleinen Kaspar Hauser in den Illyrischen Provinzen ist es interessant zu erfahren, dass unmittelbar nach der Entmachtung Napoleons und dem Rück fall Illyriens an das Kaiserreich Österreich die Mutter der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine,
Erzherzogin Maria Beatrix von Este, mit ihren Söhnen Franz und Maximilian in Triest auftauchte. Auch
wenn der Anlass dieses Besuches im Jahr 1814 ein offizieller gewesen sollte: Es ist gut möglich, dass die
nächste Angehörige Maria-Leopoldines dort heimlich Erkundigungen über einen dort vermuteten,
verheimlichten Sohn derselben einzog!
In denselben Zusammenhang könnte man auch einen Besuch des österreichischen Kaiserpaares im
April 1818 stellen. Es fällt auf, dass sich nach einigen offiziellen Empfängen die ehemalige Prinzessin Karoline Auguste von Bayern (1792-1873), die Tochter des bayerischen Königs Maximilian I. Joseph, die seit
eineinhalb Jahren mit Kaiser Franz I. von Österreich in dessen 4. Ehe verheiratet war, sich eigens die Zeit
nahm, in Begleitung ihrer Obersthofmeisterin Gräfin Lazansky und ihres Obersthofmeisters Graf Wurm brand „im strengsten Incognito“ die Mädchenschule von San Cipriano in Triest zu besuchen, in welcher
einst Anna Frisacco und danach auch ihre Tochter erzogen worden waren. Was wollte die Kaiserin wohl
dort in Erfahrung bringen, als sie einen Tag lang Nonnen und Schüler aushorchte? Erst ganz am Ende des
Besuchs deckte sie ihre Identität auf.436
Genauere Angaben über einen etwaigen Aufenthalt des kleinen Kaspar Hauser in oder bei Triest und
die diesbezüglichen Aktivitäten der Anna Frisacco sind jedoch nicht möglich. Auch die Trennung der Dal bonne von ihrem Geliebten, die angeblich in Laibach stattfand, bleibt im Dunklen. Dass der Russlandfeld zug Napoleons im Jahr 1812 als Anlass für dessen Tod nur ein Vorwand war, ist so gut wie sicher, ob die
Anna Frisacco dies durchschaute, schon weniger.
Spätestens als sich abzeichnete, dass nach der Niederlage Napoleons das Herzogtum Krain wieder
Kriegsgebiet werden und möglicherweise zurück an Österreich fallen würde, muss der Entschluss gefallen sein, Kaspar Hauser wegen der verschlechterten Sicherheitslage in das bayerische Hausdruckviertel
zu bringen, eben zu seinen fränkischen Entführern, die inzwischen dorthin umgezogen waren.
Die Region war in diesem Zusammenhang als Unterbringungsregion nicht schlecht gewählt, Baden und
Frankreich waren weit weg, und die frankreichfeindliche Stimmung und der anti-bonapartistische Untergrund in Oberösterreich waren, wie am Beispiel der Geheimprotestanten geschildert, sehr vital. So landete Kaspar an Ende als ca. Vierjähriger nach einem kurzen Intermezzo in einer Kapelle bei Vöcklabruck
in seinem Dauerverlies am Schloss Wanghausen.
Alternativ haben wir eingangs die Frage diskutiert, ob Kaspar nicht schon im Herbst 1812 direkt – also
ohne den Umweg an die Adria – in den neuen bayerischen Gegenden hinter Inn und Salzach eintraf und
sogleich in die Obhut des Abdecker-Ehepaares Anna Maria und Simon Drechsler gegeben wurde. Prinzipiell ist dies möglich, allerdings bleiben bei dieser Sicht der Dinge ein Teil der Schlossträume Kaspars un geklärt und die Verbrechensbeteiligung der Anna Frisacco wäre stark relativiert.
So oder so muss man sich ungefähr den frühen Weg Kaspar Hausers vorstellen. Vielleicht mag dem
einen oder anderen Leser die Hypothesenbildung zu weit gehen. Wir weisen allerdings darauf hin, dass
sich nur durch den Umweg Kaspars über die „Illyrischen Provinzen“ Frankreichs alle Phänomene der
frühen Beseitigung Kaspar Hausers in einen logischen Gesamtzusammenhang bringen lassen.
Einen weiten Weg des kleinen Kaspar hatte schon der für seinen siebten Sinn bekannte Gerichtspräsid435 Vgl. Erlass im Télégraphe officiel, Provinces illyriennes, Nr. 71, Laibach, den 4. September 1811.
436 Löwenthal, Geschichte Triest, S. 138 und 169.
203
ent Paul Anselm von Feuerbach im Sinn. Er schrieb am 8. April 1830 an König Ludwig I. :
„Dass Hauser die frühesten Jahre der Kindheit in Freiheit gelebt, auch damals schon etwas
sprechen gelernt hat, alsdann aber erst (vielleicht im zweiten oder dritten Jahre) auf die Seite ge schafft wurde, ergibt sich durch Kombination mehrerer Umstände als sehr wahrscheinlich, wo
nicht als gewiss. Auch ist nicht unwahrscheinlich, dass der früheste Aufenthaltsort des unglücklichen Kindes, während seiner Freiheit von dem Orte, wo es später so lange gefangen gehalten
wurde, verschieden, vielleicht sogar weit entfernt sei …“437
437 Pies, Dokumentation, S. 78.
204
Die Bedeutung der Protestanten im Hausruckviertel für den Fall Kaspar Hauser
Ab einem gewissen Zeitpunkt muss erneut Anna Dalbonne in Kontakt zu Ludwig Würth und Christian
Lampert gekommen sein, also jener Kontakt aufgefrischt worden sein, die die Dalbonne schon nach der
Entbindung Kaspars in Franken gepflegt hatte. Spätestens jetzt komplettierten Karl Mayer und Adam Leydel das Enbtführer-Quartett, das von Anfang an ganz andere Ziele mit diesem Kind verfolgte als dessen
Mutter, der nur an seinem Verschwinden gelegen war. 438 Auch ein Johann Samuel Müller spielte, den übrigens ein Pfarrer Würth noch 1826 in seinem Buch über die protestantische Gemeinde von Vöcklabruck
als durchaus erfreuliche Bekanntschaft erwähnte, 439 über längere Zeit dieses Spiel mit, ehe er sich lossagte.
Es steht zu vermuten, dass bei der Übernahme Kaspar Hausers von Anfang an der erklärte Wille bestand, dieses Kind, dem man aufgrund welcher Gerüchte auch immer einem Vater Napoleon oder einer
diesem nahestehenden, hohen Persönlichkeit zuschrieb, auf Dauer greifbar zu verwahren, um ggf. später
mit ihm ein gutes Geschäft zu machen oder ihn als politisches Druckmittel zu verwenden.
Damit kehren wir nochmals zurück in die Gegend von Vöcklabruck und zum persönlichen Scheitern
des Pfarrers Johann Samuel Müller in der Toleranzgemeinde Rutzenmoos im September 1819:
Was sich in den Wiener Geheimakten und in den Kirchenarchiven Österreichs als „Charakterschwäche“ und „mangelnder Leumund“ Johann Samuel Müllers liest, war vermutlich Folge des Versuchs von
Würth, Mayer, Leydel und Lampert, ihn von einem gewissen Zeitpunkt an ganz gezielt mundtot zu
machen und aus seiner Stellung zu verdrängen: Müller hatte zuvor die Teilnahme an der sogenannten
„Erweckungsbewegung“ verweigert, die sich aus der verbotenen Freimaurerei speiste, widersetzte er
sich ab 1813 zunehmend standhaft dem Intrigenspiel dieser Männer in der Sache „Geisel Kaspar Hauser“
Kein Wunder, wenn man ihn alsbald im Dörflein Rutzenmoos als „ungarischen Quertreiber“ durch den
Pastor von Neukematen, Johann Georg Blank, zu ersetzen versuchte. Blank hatte bereits 1809, also während der französischen Okkupation, in Rutzenmoos ausgeholfen und verfügte offensichtlich über etliche
Unterstützer in der Gemeinde. Dass bei diesem Spiel auch Würth und Leydel ihre Hand im Spiel hatten,
ehe sie 1816 nach Franken zurückkehrten, liegt auf der Hand: Selbst wenn Blank einige Jahre älter als
Würth war und dem vom Freigeist Würth verachteten Pietismus frönte, so war er doch derselben
fränkischen Herkunft wie diese und hatte damit auch einen ähnlichen politischen Hintergrund.
Hier ein paar Eckdaten seiner Biographie: Im Dorf Unternbibert bei Ansbach am 4. Februar 1764 geboren, hatte Johann Georg Blank früh seinen Vater verloren. Er absolvierte wie Würth seine Schulausbildung am Gymnasium zu Ansbach, studierte später an der Universität Jena und trat danach in russische
Dienste, beim Rat und Oberst von Cancrin, dessen Sohn, den späteren Finanzminster, er erzog. Im Jahr
1808 kam er schließlich nach Österreich. Dort wurde der politisch und weltanschaulich engagierte Mann
alsbald der „Pietistenkönig“ genannt; er wird in jungen Jahren, so steht zu vermuten, nicht minder als
seine beiden Kollegen ein Anti-Bonapartist und vielleicht auch ein preußischer Spion gewesen sein. 440
438 Dies gilt, um es nochmals zu betonen, mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Fall der Mutterschaft MariaLeopoldines. Sollte sie nur als Vermittlerin für eine andere hochadelige Mutter tätig geworden sein, dann war
sie in die Wanghausen-Pläne einbezogen bzw. diese stammten sogar von ihr.
439 Würth erwähnt die heitere Seite des Lebens in Vöcklabruck und schreibt: „Hiezu gehörte vorzüglich die
Nachbarschaft zweyer protestantischer Pfarrer (freilich Müller und Leydel). Der eine befand sich auf dem österreichischen Pastorat zu Ruzenmoos, und war aus Ungarn dahin gekommen. Die ziemliche Gleichheit unseres Alters und unserer Berufsverhältnisse legte zwischen uns den Grund zu einem fast täglichen Umgang, zumal da
wir nur 1 Stunde von einander entfernt waren. Außerdem, daß wir freundlich Freude und Leid mit einander
theilten, fand ich zugleich erwünschte Gelegenheit, mit dem Zustande seiner Gemeinde bekannter zu werde…“
J. C. S. F. Ludwig Würth: Die Protestantische Pfarrey Voecklabruck…, Nürnberg 1826, S. 38.
440 Steffen Meier-Schomburg, Dieter Arnold, Wolfgang Fischer, Hans Hubmer, Martin Rößler (Herausgeber): Rutzenmooser Chronik, Selbstverlag, Regau 2009, S. 38ff.
205
Johann Samuel Müller war sich über diese Zusammenhänge im Klaren: In einem Brief an den Superin tendenten Tielisch aus dem Jahr 1816 bezeichnete er Blank als denjenigen, welche die „Rottierer“, also
die Mitglieder einer Rotte oder Bande, gegen ihn ausspielten. Wer konnte mit „Rotte“ anderes gemeint
sein, als Würth, Leydel und die von ihnen zuvor gezielt aufgestachelten Protestanten von Rutzenmoos?
Die Aversion der vormaligen Geheimprotestanten Oberösterreichs gegen das politische Establishment
– erst gegen die katholischen Habsburger in Österreich, dann gegen Napoleon Bonaparte und am Ende
gegen beide – machte sich auch das anglikanische England zunutze. Genau hier an der Nahtstelle zwischen Bayern und Österreich lag für England bis 1814 der richtige Nährboden für einen Umsturz gegen
Napoleon und den Staatskatholizismus zugleich. So ist es schon ein Schlüsselerlebnis, wenn man erfährt,
dass bereits früh, im Jahr 1806, das Konsistorium in Wien an die evangelischen Prediger, die zuvor unter
dem Einmarsch der Franzosen gelitten hatten, Entschädigungen aus den Beiträgen „wohltätiger Menschenfreunde in England“ auszahlen konnte.441
Genau dieselbe Geldquelle vermuten wir auch bei der unglaublich guten Bezahlung von zusätzlich 300
Gulden jährlich, die der Pfarrer Ludwig Würth von Anfang an in Vöcklabruck erhielt. 442 So konnte es sich
Würth z. B. schon ganz am Anfang leisten, die für ihn bereitgestellte Dienstwohnung in Vöcklabruck zu
verweigern und eine weitaus größere anzumieten! Die erwähnten „Überschüsse des zentralisierten protestantischen Kirchenvermögens“ werden gezielte englische Zuwendungen enthalten haben. In diesem
englischen Zubrot, das Müller in seinen Briefen nach Ansbach expressis verbis erwähnte, findet auch
Würths Engagement bei der Beseitigung des geglaubten Napoleoniden Kaspar Hauser seine Begründung.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass das Geld von einer reichen englischen Lady kam, wie man seitens
der Verschwörer dem Johann Samuel Müller aus Ablenkungsgründen weiszumachen versuchte, als die
Geschichte mit dem reichen Mündel nicht mehr zog. 443 Der englische Adel war wie fast der gesamte
Hochadel Europas durch die napoleonischen Kriege in schwere Schulden geraten und hing am Tropf der
großen Banken. Keine adelige Engländerin hätte aus ihrem Privatvermögen die Schweigegelder für mehr
als 4 Verschwörer über Jahrzehnte bestreiten können. Nein – es kam schon vielmehr auf eine englische
Großbank an, welche dahinterstand und nicht nur die evangelischen Protestgemeinden von Österreich
unterstützte, sondern mit Kaspar Hauser auch in ein politisches Druckmittel investierte!
Dafür kam im Grund genommen nur eine englische Bank in Frage: Wir gehen davon aus, dass ein Gutteil des Geldes von Nathan Mayer Rothschild kam, der sich als Textilhändler in Manchester hochgearbeitet und im Jahr 1808 die später hochberühmte Bank „N. M. Rothschild & Sons“ in London gegründet hatte. Nur diese Bank war imstande, mittels ihrer diversen Handelsbeziehungen im Rahmen eines Familiennetzwerks die Kontinentalsperre gegen England zu umgehen und die weitere Finanzierung des Krieges
gegen Napoleon zu finanzieren. Mit Napoleons endgültiger Niederlage bei Waterloo – eine Schlacht, die
sie finanziert hatten! - waren Nathan Mayer Rothschild und seine Brüder in den anderen Hauptstädten
binnen kürzester Zeit zu den Finanziers aller Fürstenhöfe Europas aufgestiegen!
„Das große Vermögen der Rothschild ist nun da: es gilt also, es nicht nur zu erhalten, sondern
noch auszubauen und möglichst fruchtbringend arbeiten zu lassen. Die Erschütterungen und
großen militärischen Anstrengungen aller Staaten Europas im letzten Vierteljahrhundert haben
überall Unordnung in die finanziellen Verhältnisse gebracht. Nachdem alle Staaten durch so lan ge Zeit ihr Gold mit vollen Händen ausgegeben, ist nun die Geldknappheit sehr groß geworden.
So müssen die notleidenden Staaten die zur Gesundung nötigen Bargelder bei denen suchen, die
die Kriegsverhältnisse auszunützen und große Reichtümer aufzuhäufen verstanden. Dazu gehört
vor allem das Haus Rothschild, das seinerseits Fürsten und Staaten gerne leiht, da die Rückzah441 Chronik Rutzenmoos, S. 34.
442 Schimik, Gemeinde Vöcklabruck, S. 25.
443 Johann Samuel Müller beantwortete am 21. März 1830 einen Fragenkatalog des Kreis- und Stadtgerichtes
Nürnberg schriftlich. Frage 8 lautete: „Worauf sich die Vermutung gründe, dass Hausers Vermögen in der engli schen Bank niedergelegt sei“. Dieser antwortete: „Es ist mir nur wie ein Traum, als wenn im Jahre 1813 beim
Pfarrer Wirth wäre gesagt worden, dass des Kindes Mutter eine reiche Engländerin gewesen sei.“ Siehe Linde 1,
S. 211.
206
lung durch deren Untertanen gesichert ist. Nathan nimmt nun unbestritten die führende Stellung
unter den fünf Brüdern ein, obwohl er nur der drittälteste ist. Weit davon entfernt, auf seinen Lor beeren auszuruhen und sich auf Erhalten und Genießen des großen Vermögens der Familie zu beschränken, ist er bestrebt, die Machtstellung seines Hauses noch zu steigern und vertritt die Ansicht, dass Dukaten genau so wie Soldaten, wenn man einen Sieg gewinnen will, plötzlich, unerwartet und in Masse auf einen bestimmten Punkt geworfen werden müssen. Diese Erwägung
bestimmt im großen seine und seines Hauses Politik in den kommenden Jahrzehnten …“
Diese treffenden Worte stammen vom Rothschild-Kenner Egon Caesar Corte Conti. 444
Dass die Exponenten der evangelischen Kirche in Österreich damals nicht immer der reinen Lehre Luthers folgten, sondern sich den politischen Zwängen und vor allem den Einflüsterungen „schwärmerischer Elemente“ unterwarfen, entnimmt man der Rutzenmooser Chronik an mehreren Stellen. Damit es
an dieser Stelle keinen Zweifel gibt: Gerade Martin Luther hatte die „Schwarmgeister“ in der Kirche verurteilt, mit der reinen lutherischen Lehre und dem evangelischen Glauben hat dies also nichts zu tun!
Der „schwärmerische Pietismus der Erweckten“, das bedeutete in der damaligen Zeit nichts anderes als
eine religiös verbrämte, aber radikale Form des nationalen Separatismus, den Luther nicht voraussehen
konnte und sicherlich nicht wollte. Diese Spielart einer Befreiungstheologie stellte sektiererisch den
Kampf gegen den Materialismus und den leibhaftigen Antichristen Napoleon Bonaparte, solange dieser
lebte, in den Mittelpunkt allen religiösen Strebens. Exakt an dieser Stelle mischten sich die Ziele mancher
Protestanten in Oberösterreich mit denen der freimaurerischen Widerständler aus Bayern, die gerade zu
jenem Zeitpunkt die Schlüsselpositionen in den neuen Pfarrgemeinden weit weg ihrer eigentlichen Heimat besetzten, als Napoleon kurz zuvor im nahen Braunau mit der standrechtlichen Erschießung des Re gimekritikers Johann Philipp Palm ein abschreckendes Exempel gegen solche Tendenzen hatte statuieren
wollen.
Dazu brauchte man Geld, viel Geld – und dieses kam eben aus England und nach aller Wahrscheinlichkeit von den Rothschilds.
Zusätzlich hatte die Gegend von Vöcklabruck unter den Einmärschen der Franzosen 1800, 1805 und
1809 schwer gelitten – mit der Folge inflationärer Preisanstiege und einer weitgehenden Verarmung der
Bevölkerung. Direkt zwischen dem Ort Vöcklabruck und seinem Vorort Regau hatte 1800 sogar eine
Schlacht am Grenzfluss Ager stattgefunden, die viele Opfer unter den Landleuten kostete. Kein Wunder
also, wenn sich in der dortigen Bevölkerung – und gerade in den protestantischen Kreisen – die
Stimmung aufgeheizt hatte: Der Anti-Bonapartismus war dort geradezu endemisch – und virulent!
Vor diesem politischen Hintergrund fällt nun auf die Einsperrung Hausers, die 1810/1811 in Franken
begann, aber Anfang 1814 im bayerischen Innviertel bei Wanghausen vollendet wurde, ein neues
Licht: Wer auch immer vor Ort in die Entführung Kaspar Hausers eingeweiht war, er dürfte die Tat
unter dem Aspekt, dass es sich dabei um die Beseitigung eines Napoleoniden handelte, als
notwendige und sinnvolle Befreiungstat aufgefasst haben!
Von solchen Einstellungen waren gerade die evangelischen Geistlichen in den Landgemeinden nicht
frei, bei denen die verschiedenen Untergrundströmungen der „Erweckten“ zusammenliefen. Nun wird
auch verständlich, warum in Vöcklabruck ein Pfarrer Würth und ein Aktuar Mayer relativ frei über die Gefangenschaft Kaspar Hausers gegenüber einem Johann Samuel Müller zu sprechen wagten. Im internen
protestantischen Kreis war dies wohl eine Selbstverständlichkeit. Dass sich Johann Samuel Müller plötz lich einer Beteiligung verweigerte, obwohl ihm sogar Geld in Aussicht gestellt wurde, dürfte für anderen
die allergrößte Überraschung gewesen sein! Erst von diesem Zeitpunkt an war er ihr Intimfeind, und man
betrieb nun, wie bereits zu vernehmen war, gezielt sein Mobbing.
Die politische Unruhe in den Toleranzgemeinden war allerdings auf lange Sicht auch nicht im Sinn der
allmählich erstarkenden Landeskirche bzw. des Wiener „Konsistoriums A. C.“ (Augsburger Konfession).
444 E. C. Conte Corti: Aufstieg der Familie Rothschild, 1949, verbesserte und erweiterte 2. Auflage, Frankfurt 1962,
S. 71. Im Weiteren abgekürzt mit Corte Conti und Seitenzahl.
207
Als sich dieser hohe Kirchenrat nach dem Sturz Napoleons mit der Staatsmacht in Österreich einigermaß en arrangierte hatte, bemühte er sich zunehmend um eine Entpolitisierung der oberösterreichischen
Protestanten. So verlangte z. B. der beauftragte Superintendent Tielisch immer wieder in Sendschreiben
die Abschaffung „gefährlicher nächtlicher Zusammenkünfte“ der „erweckten Kreise“. In diesem Zusammenhang kam selbst ein Pfarrer Blank, der Nachfolger Johann Samuel Müllers in Rutzenmoos, mit
dem Konsistorium in Konflikt: Im Jahr 1824 rügte man offiziell seine Hinneigung zur pietistisch-schwärmerischen Ideologie, seine Begünstigung von geheimen Konventikeln und die Abhaltung von sogenannten Winkelandachten. Im Jahr 1829 wurde ihm als „Erweckungsprediger“ ersten Ranges sogar die Versetzung in die attraktive Gemeinde von Scharten verweigert, was seine weitere Karriere behinderte.
Alles in allem kommt man, wenn man die wenigen Informationen der Rutzenmooser Ortschronik in
Zusammenhang mit dem Fall Kaspar Hauser entsprechend verwertet, zum Schluss, dass in diesen äußerst schwierigen, von Verfolgung, Not und Hunger geprägten Zeiten die evangelische Kirche in Oberösterreich mehr, als ihr lieb sein konnte, von politischen Agitatoren und Freimaurern aus Franken unterwandert war und für den Widerstand – erst gegen die bonapartistische Okkupation und anschließend gegen den reaktionären Katholizismus und Papismus Österreichs – mit ausländischem, resp. englischem Geld der Rothschilds getrimmt wurde.
Natürlich wäre eine solche Botschaft für die empfindlichen Gemeindeseelen von heute ein starker
Tobak. Deswegen kann man es den Herausgebern der Rutzenmooser Chronik nicht verdenken, wenn sie
sich über solche Dinge nur in Andeutungen ergingen und stattdessen das unzweifelhaft starke religiöse
Engagement der neuen Toleranzgemeinden betonten, das aber, wie soeben erklärt, nach den Drangsalen
der Vergangenheit gar kein Widerspruch zur politischen Untergrundaktivität gewesen sein muss. Der
enorme Einsatz dieser Diaspora-Gemeinden wirkt bis heute nach und findet augenscheinlich Nieder schlag in dem schönen, multimedial gestalteten Evangelischen Museum von Rutzenmoos, das die Erinnerung an die harten Zeiten im Untergrund am Leben erhält.
Damit kehren wir zurück zum Fall Kaspar Hauser:
Ab 1813 bestand die leere Chance, im Innviertel bei Wanghausen das Kind, das man zwischenzeitlich
einer Dalbonne überlassen hatte, endgültig in einem Geheimverlies zu konservieren – als Faustpfand für
spätere Zeiten. Über geheimdienstliche Kontakte mit England, die schon aus der gemeinsamen Erlanger
Studentenzeit herrührten und im Salzach-Kreis fortwirkten, übernahm der bei Vöcklabruck installierte
Verschwörertrupp im Lauf des Jahres 1813 das Kind und brachte es nach einem kurzen Intermezzo in
Vöcklabruck zur definitiven Versenkung in das vom Freimauerer-Kollegen Johann Nepomuk von
Prielmayer und seiner Schwester Anna bereitgestellte Verlies beim brachliegenden Schloss Wanghausen.
Dies war alles in allem ein genial gewählter Ort – am Rand verschiedener politischer Einflusszonen und
im Bereich eines neu entstandenen Verwaltungsvakuums liegend!
Als Kaspar Hauser in Wanghausen ankam, war er etwa 4 Jahre alt.
Wenig später wurde er dort „schlafend in einem dunklen Verlies“ vom Pfarrer Johann Adam Leydel
anlässlich seiner Brautfahrt nach Bayreuth gesehen.
208
Geld regiert die Welt – auch Bayern!
Machen wir an dieser Stelle in Kaspar Hausers Biographie einen großen Sprung nach vorn, zu seinem
Leben unter den Menschen. Anlässlich der Sprachversuche, die mit Kaspar Hauser gemacht wurden, nut zen wir die Gelegenheit, die gewichtige, um nicht zu sagen entscheidende Rolle der europäischen Hochfinanz für den Fall Kaspar Hauser weiter herauszuarbeiten:
Im frühen 19. Jahrhundert litt der dynastische Hochadel in Europa an einem noch gravierenderen
Mangel an freier Liquidität als zuvor. Die Finanzierung der Koalitionskriege hatte auf allen Seiten Unsummen verschlungen, in Bayern nicht minder als anderswo, wobei aber in Bayern auch noch die Kosten für
die Gründung eines Königreiches von Napoleons Gnaden und den damit verbundenen Austausch des
politischen und administrativen Apparates hinzukamen. Hinzu kamen anschließend die Kosten für die Befreiungskriege gegen das Napoleonische Regime. Bei einem immensen Schuldenstand drohte nicht nur
vielen kleineren Staatsgebilden, sondern auch den neu gegründeten süddeutschen Königreichen der
Staatsbankrott, und dies schlug auf den gesamten Hochadel durch. So begab man sich damals notgedrungen in die Hände privater, meist in jüdischer Hand befindlicher Bankhäuser, hervorgegangen aus den
ehemaligen Hoffaktureien, welche sich nun ihre Dienste mit staatlichen und privaten Anleihen fürstlich
entlohnen ließen und dadurch ungeheuren Einfluss auf die Politik gewannen. Ungeachtet des relativ
rechtelosen Gesellschaftsstatus der Juden, der erst 1871 durch das Emanzipationsgesetz vollständig beseitigt wurde, entwickelte sich eine zwar kleine, aber umso mächtigere, jüdische Wirtschaftselite:
•
Den überragenden Einfluss des Hauses Rothschild auf die europäischen Staatsfinanzen haben
wir bereits erwähnt. Er wird später noch Gegenstand eingehender Betrachtungen.
•
Daneben agierten im Hintergrund diverse andere Bankhäuser wie z. B. Oppenheim, Westheimer,
Bethmann, Hirsch, Seligmann/von Eichthal, Speyer, Stern, von Haber u. v. a. m., die allerdings
mit wenigen Ausnahmen nach und nach unter den Einfluss der Rothschilds gerieten.
Die geballte Wirtschaftskraft dieser sog. „Geldjuden“, die sicherlich nicht mehr als 3 Prozent des Ge samtjudentums und eine verschwindende Minderheit in der Gesellschaft ausmachten, verschob in vielen
Fällen die realen Machtverhältnisse mehr als Kriegshändel und diplomatische Bemühungen. Viele der
Bankiers-Familien schlossen zur eigenen Absicherung Ehebündnisse, manche konvertierten um des Geschäftserfolgs willen zum christlichen Glauben, einige von ihnen waren aber auch Konkurrenten und tru gen heftige Fehden untereinander aus. Was die Länderregierungen Mitteleuropas anbelangt, so befanden sich zu der Zeit, als Kaspar Hauser unter den Menschen lebte, fast alle in Händen der durch die na poleonischen Kriege groß gewordenen Rothschild-Gruppe und ihrer alliierten Bankhäuser – so in Eng land, Frankreich, Österreich, Belgien, Hessen, Preußen, zuletzt auch in Württemberg und Baden.
Lediglich das Königreich Bayern hatte sich eine gewisse Unabhängigkeit von den Rothschilds bewahrt –
allerdings um den hohen Preis, sich ganz in die Hände der konkurrierenden Bankengruppe Seligmann/von Eichthal begeben zu müssen. Aron Elias Seligmann hatte bereits dem Kurfürsten Karl Theodor
aus finanziellen Engpässen geholfen; dem Kronprätendenten Maximilian IV. Joseph von Bayern machte
er durch Finanzierung fast der gesamten kurbayerischen Staatsschulden die erfolgreiche Grün dung des
Königreiches Bayern überhaupt erst möglich! Eduard Vehse nannte Aron Seligmann den „bairischen
Rothschild“ und zitierte den Ritter von Lang mit drastischen Worten, um deutlich zu machen, was dies
konkret bedeutete, wobei ein unguter, antisemitischer Unterton nicht zu überhören ist:
„Ruder und Segel waren in den baierischen Finanzen verloren und das an der jüdischen Küste
gelandete Schiff einer völligen Plünderung preisgegeben. Die Gesandten und das auswärtige Ministerium erhielten ihre Besoldungen unverkürzt und auf den Tag – aus den Händen der dankba ren Judenschaft durch Herrn Hofbanquier Aaron Elias Seligmann, der aber dem König dafür wieder Spesen und Provision aufrechnete. Der König, außer den 1000 Gulden baar, die ihm täglich
früh um sechs der Generalkassirer überbringen musste, stellte außerdem noch eine Menge Wechsel aus auf Herrn Seligmann, auf die Schuldentilgungskasse, auf die Lottokasse und die
209
Kriegsökonomiekasse …“445
Der Bankier, der zu Zeiten Kaspar Hausers nahezu
ausschließlich den bayerischen Hof- und Staatshaushalt finanzierte, war der jüngste Sohn des genannten
Oberhoffaktors, der 1819 zum katholischen Glauben
konvertierte und 1824 verstarb. Er hieß Simon Aron
Seligmann, wurde aber auf den christlichen „Leonhard“ getauft und wegen seiner Verdienste vom bayerischen König unter dem Familiennamen „von Eichthal“ nobilitiert, zusammen mit 9 weiteren Geschwistern.
Die Familie stammte ursprünglich aus Leimen bei
Heidelberg und hatte einen sagenhaften Aufstieg hinter sich: Der Großvater war dort noch einfacher Krämer und Trödler gewesen, doch schon in der nächsten
Generation waren die Seligmanns durch Tabakproduktion und Übernahme des Salzmonopols in Württemberg (erworben 1759) zu immensem Reichtum gekommen.
Drei der Söhne taten es dem Vater Aron Elias nach, Abb. 124: Simon „Leonhard“ von Eichthal.
traten aus geschäftlichem Opportunismus heraus in
München zum katholischen Glauben über und wurden erfolgreiche Bankleute.
Simon Leonhard führte nach seinem Vater das Stammhaus in München, sein Bruder Arnold gründete
eine Bank in Augsburg, Bruder Louis eine weitere in Paris, Bruder David übernahm Bankhäuser in Karlsruhe und Baden, eine Schwester hatte den einflussreichen Mannheimer Hoffaktor Ignaz Mayer geheiratet. Es dürfte wohl kaum eine größere finanzielle Transaktion in Bayern und Süddeutschland gegeben ha ben, die an diesem Bankenkonsortium der Seligmanns/von Eichthal vorbeiging.
Simon Leonhard von Eichthal war nicht nur einem Lord Stanhope gut bekannt, wie wir weiter unten
noch nachweisen werden, er stand vor allem in den Jahren nach 1816 mit der Kurfürstin-Witwe MariaLeopoldine auf vertrautem Fuß: Sie zählte den Bankier zu ihren engsten Geschäftspartnern und wahrscheinlich auch zu ihrem Freundeskreis, wie sich an einigen Begebenheiten manifestiert:
•
Zum Geschäftspartner prädestinierte Simon Leonhard von Eichthal allein seine Verbindungen
zum Salzhandel, einem Geschäftsfeld, in dem sich auch Maria-Leopoldine und ihr Freund Joseph
von Utzschneider bewegten.
•
Einem weiteren Vertrauten der Maria-Leopoldine, einem gewissen Karl von Abel, der gerade um
1832/1833 unter Graf von Armansperg Regentschaftsmitglied in Griechenland geworden war
und sich dort mit diesem entzweit hatte, griff der Bankier von Eichthal mit 40000 Gulden Schwei gegeld unter die Arme. Entlastet wurde dadurch vor allem Maria-Leopoldine, wegen ihrer finanziellen Spekulationen mit griechischen Staatsanleihen. 446 Karl von Abel wird später bayerischer Innenminister und spielt im Fall Kaspar Hauser noch eine besondere Rolle.
•
Als Maria-Leopoldine in München die sogenannte „Schenkgerechtigkeit“ ihres Cafés im „TraiteurHaus“ wegen Abriss desselben abtrat, trat Simon von Eichmann als Zwischenkäufer auf. Der Bankier, dem bereits das Englische Kaffeehaus in München gehörte (wo vielleicht auch ein Lord Stanhope verkehrt sein mag), stattete damit das neue Münchner Hofgarten-Café an der Ludwigstraße
aus, in dem Maria-Leopoldine viel verkehrte. Das renommierte Lokal existiert unter dem Namen
„Luigi Tambosi am Hofgarten“ bis heute, benannt nach dem ersten Betreiber, der ebenfalls ein
445 Vehse, Geschichte der Höfe …, S. 285f.
446 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 240f.
210
guter Bekannter und Landsmann der Kurfürstin-Witwe war. 447
•
Wie eng die Freundschaft zwischen den Familien von Arco und von Eichthal war, erkennt man
auch daran, dass eine Tochter des Bankiers namens Anna Sophia 1837 im Alter von 22 Jahren
den Grafen Caspar Anton von Berchem (*1807, +1881) heiratete. Caspar war der Bruder von
Maria-Leopoldines Geliebten, Siegmund von Berchem.
•
Hierzu noch ein weiteres Beispiel: Rebekka, die Schwester Simon von Eichthals, hatte den geadelten jüdischen Konvertiten Eduard von Weling (vorher Eduard Seligmann) geheiratet, dessen
Töchter wiederum die Brüder Andreas (*1794) und Joseph (*1800) von Großschedel. Deren
Schwester Elisabeth von Großschedel (1787-1833) war von Maria-Leopoldine als Hofdame in
ihre engste Umgebung aufgenommen worden; sie war z. B. Vizepatin ihres früh verstorbenen
Töchterchens.
•
Was Maria-Leopoldine mit Simon von Eichthal noch einte, war die Aversion gegen das Bankhaus
Simon Spiro. Maria-Leopoldine hatte zunächst mit Spiro Geschäftsbeziehungen gepflegt, aber im
Krisenjahr 1816 mit diesem wegen unvorhergesehener Einbrüche im Lotteriegeschäft gebrochen, worauf Spiro Bankrott anmelden musste und sein Partner Nockher sich sogar erschoss.
Schon zuvor hatte Simon Spiro zu den Erzfeinden Simons von Eichthal gezählt; beide unterlagen
in München einer Art von Verdrängungswettbewerb. In dem besagten Skandal behielten z. B.
durch vorherige Manipulationen die Seligmann-Eichthal'schen Papiere wegen hypothekarischer
Sicherung ihren Wert, nicht dagegen die Papiere Spiros. Was nur wenige wissen: Maximilian Graf
Montgelas musste wenig später wegen dieser heiklen Sache seine Demission aus Staatsdiensten
entgegennehmen.448
Dies alles beschreibt vermutlich nur den geringsten Teil der wechselseitigen Beziehungen. Damit ist ei nigermaßen präzisiert, was der Dichter August von Platen in seinen Tagebüchern über die KurfürstinWitwe Maria-Leopoldine angedeutet hatte:
„Sie ist sehr reich und hat sich viel durch jüdischen Handel erworben.“ 449
Die großen Konkurrenten der Familie von Eichthal außerhalb Bayerns war die beim mosaischen Glauben gebliebene Familie Rothschild, die ebenfalls aus kleinen Anfängen in der Frankfurter Judengasse heraus einen schwindelerregenden Aufstieg genommen hatte. Der Stammvater der Familie, Mayer Amschel
Rothschild (1744-1812), hatte durch Rettung der hessischen Staatskasse vor den Zugriffen Napoleons
den Vermögensstock der Familie begründet. Mit seiner Frau Gutle Schnapper zeugte er insgesamt 20
Kinder, von denen neben ein paar Töchtern 5 Söhne überlebten, die in der Folge zusammen mit ihrem
Vater das bereits erwähnte europaweite Netz an Bankhäusern aufbauten: Nathan Mayer Rothschild
(1777-1836) begab sich nach London, finanzierte den englischen Krieg gegen Napoleon Bonaparte und
stieg dadurch in kurzer Zeit zu sagenhaftem Reichtum auf. Amschel (Anselm) Mayer Rothschild (17731855) übernahm die Frankfurter Zentrale und damit das Mutterhaus. Er finanzierte u. a. den Haushalt
des Hofes von Hessen-Kassel. Salomon Rothschild (1774-1855) war der Begründer der österreichischen
Linie und finanzierte alsbald das gesamte System Metternich und den Kaiserhof in Wien. Kalman alias
Carl Mayer Rothschild (1788-1855) ging nach Neapel und übernahm die italienischen Geschäfte. Jakob
alias James Rothschild (1792-1868) gründete die Rothschild-Bank in Paris. Alle Brüder kooperieren nach
den Prinzipien ihres 1812 verstorbenen Vaters sehr eng und erwarben als Staatsfinanziers von England,
Frankreich, Preußen, Österreich u. a. sagenhaften Reichtum.
Bis ca. 1835 waren die konkurrierenden Bankhäuser der Seligmanns/von Eichthal und der Rothschilds nicht gut aufeinander zu sprechen. Man bemühte sich, beim Abstecken der eigenen Claims der
jeweils anderen Bankengruppe soviel wie möglich wegzunehmen.
447 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 251f.
448 Weis, Montgelas, S. 772.
449 Platen, Tagebücher, S. 51.
211
So spricht Niall Ferguson in seiner Rothschild-Biographie von einer „hard battle“, einer heißen
Schlacht, die lange Zeit zwischen den beiden Bankhäusern tobte 450 Die folgenden Zitate aus Originalbriefen belegen z. B. die Vorbehalte der rechtgläubigen Rothschild-Söhne gegen die zum Katholizismus übergetretenen Söhne der Familie Seligmann/von Eichthal:
„I prefer not to mix with the meshumed families … - Ich mag mich nicht mit konvertierten Familien gemein machen …“ „It is a bad thing when one has to deal with an apostate … - Es ist
schlecht, wenn man mit einem Apostat zu verhandeln hat …“451
Erst nachdem ein Kaspar Hauser verstorben war, begannen allmählich die früheren Fronten zwischen
den Bankhäusern sich zu verwischen, weil sie angesichts einer gewaltigen Aufgabe, nämlich der Erschlie ßung des europäischen Kontinentes durch die Staats-Eisenbahnen, zunehmend zur Kooperation und
Konsortien-Bildung gezwungen waren. In Bayern lässt sich dies exemplarisch bei der Gründung der Baye rischen Hypotheken- und Wechselbank am 1. Juli 1834 nachvollziehen, der zwar ein Simon von Eichthal
als Hauptaktionär vorstand, in die aber über Umwege (Bankhaus Hirsch) auch Rothschild-Geld floss.
Über die kompletten Abhängigkeiten der damaligen Regierungen von der jüdischen Hochfinanz als
Staats-Kreditoren wird heute mit Rücksicht auf die schlimmen Gräuel des Nationalsozialismus verständlicherweise oft hinweggegangen. Wenn wir an dieser Stelle immer wieder darauf hinweisen,
dann nur um der Korrektheit der historischen Darstellung willen, aber nicht, um irgendwelchen antisemitischen Ideologien Vorschub zu leisten. Dies wollen wir an dieser Stelle ausdrücklich klarstellen. Es
geht uns bei der Einführung der genannten Bankhäuser in den Fall Kaspar Hauser nicht um eine religiöse oder ethnische Einordnung oder gar Abwertung, sondern ausschließlich darum, mit einer Diskussion der Hintergrundaktivitäten einiger Bankhäuser ein generelles Dilemma der traditionellen HauserForschung zu überwinden: Man hat sich in der Vergangenheit viel zu sehr um die Personen aus Adel
und Politik gekümmert, aber viel zu wenig um ihre Geldgeber im Hintergrund!
Der Adel verfügte wohl über Titel, Grundbesitz und politischen Einfluss; freie Geldmittel standen ihm
aber nur in den seltensten Fällen erfolgreichen Wirtschaftens zu Verfügung. Ungleich häufiger drückten
den Hochadel schwere Schulden.
Was nun den Fall Kaspar Hauser anbelangt, so bitten wir zu bedenken: Er kostete unbestreitbar sehr
viel Geld! Dies gilt nicht nur für Kaspars Entführung und Wegsperrung über viele Jahre, wobei ja
inklusive der Nebenpersonen gleich ein Quintett oder Sextett für seine Dienste bezahlt werden wollte,
dies gilt auch für sein Leben unter den Menschen, für seine Förderung und Unterbringung, wobei
beides nachweislich den Nürnberger Magistrat in erhebliche Bedrängnis brachte. Erst recht gilt dies für
seine Beseitigung, denn auch diese musste mit hohem Täterlohn und Schweigegeld finanziert werden.
Die Rolle des Geldes erkennt man auch beispielhaft an der Tatsache, wie bereitwillig seinerzeit Kaspar
Hauser einem in Nürnberg gänzlich unbekannten und durchaus suspekten englischen Lord überlassen
wurde. Dies wollen wir im nächsten Kapitel noch ausführlicher behandeln. Einstweilen genügt die Feststellung, dass es allein Stanhopes offenes, von einem bestimmten Bankhaus gefülltes Portemonnaie war,
das 1831 alle Kritiker zum Verstummen brachte. Damals war man in Nürnberg heilfroh, mit Übertragung
der Pflegschaft auf Lord Stanhope einen teuren Kostgänger loszuwerden, und kein Hahn krähte in der
Folge danach, woher Stanhopes dieses Geld eigentlich bekam, bis auf eine Ausnahme ganz am Schluss.
„Willst du die Wahrheit finden, folge der Spur des Geldes“, sagt ein bekanntes Sprichwort.
Auf diese Spur wollen wir uns in den folgenden Kapiteln begeben, so mühselig das Unterfangen bei
der generellen Armut an Beweismitteln im Fall Kaspar Hauser auch ist.
450 Niall Ferguson: The House of Rothschild, Money Prophets 1798 - 1848, TB, London 1998, S. 256.
451 Ferguson, a. a. O., S. 167.
212
Das ungarische Experiment mit Kaspar Hauser
Damit kommen wir zunächst zu den Jahren 1830 und 1831 und zur Frage der ungarischen Abstam mung Kaspars Hausers. Dass am Ende bei der ungarischen Spur so gut wie nichts herauskam, ist dem Le ser bereits bekannt; dass alle Aktivitäten aber keineswegs Zufallsprodukte waren, sondern Teile in einer
gut geplanten und besonders finanzierten Inszenierung, dürfte vielleicht entgangen sein.
Eine Vorhut eigener Art bildete ein gewisser Dr. Franz
Schedel aus Pest. Er besuchte am 26. September 1829 Kaspar
Hauser im Daumer'schen Anwesen in Nürnberg.
Dieser Mann hat bisher in der Hauser-Rezeption keine
große Beachtung gefunden. Dabei handelt es sich nicht um
eine x-beliebige Person aus Ungarn, sondern um einen hochberühmten Arzt und Literaten, der heute einen festen Platz
in der ungarischen Literatur- und Medizingeschichte hat.
Selbst ein berühmtes Gymnasium im Budaer Burgviertel und
ein Krankenhaus sind nach ihm benannt.
Franz Karl Joseph Schedel stammte aus einer alteingesessenen deutschen Familie in Ofen; er wurde dort am 10. August 1805 als Sohn des königlichen Hofbeamten Franz Schedel und seiner Frau Josepha Thalherr geboren. Die Eltern
schickten ihren begabten Jungen ganz bewusst in ein auswärtiges, rein ungarisches Gymnasium, um ihm die volle Zweisprachigkeit und Integration zu ermöglichen.
Nicht nur dieser Umstand, sondern auch der ganze Aufwand, mit dem sie den weiteren Werdegang ihres Sohnes gestalteten, spricht für eine außerordentliche Weitsicht der ElAbb. 125: Ferenc Toldy alias Franz Schedel. Li- tern - lange bevor die Nationalitätenkonflikte in Ungarn austhografie von J. Rusz, 1871, Petofi Literaturm- brachen, von denen ihr Sohn verschont blieb.
useum, Budapest.
Franz Schedel war noch nicht einmal volljährig, als er bereits mit eigenen Dichtungen und einer ungarischen Übersetzung von Friedrich Schillers „Die Räuber“ auf
die Autorenbühne trat. Wenig später studierte er 6 Semester Geisteswissenschaften und machte sich da bei in der ungarischen Literaturszene einen Namen.
Trotz seiner literarischen Begabung scheinen die Eltern darauf beharrt haben, dass der junge Mann
einen einträglicheren Beruf als den des Dichters erlernte. So absolvierte Schedel auch noch mit Erfolg ein
10-semestriges Studium der Humanmedizin, zwischen 1822 und 1827. Noch vor dem Abschluss als Dok tor der Medizin legte sich Franz Schedel sein ungarisches Schriftsteller-Pseudonym zu: Ferenc Toldy.
Unter dem Namen Franz Toldy gab er 1828, noch als Student, sein erstes „Handbuch der Ungrischen
Poesie“ heraus. Dies ist, wenn man so will, die erste zweibändige Literaturgeschichte Ungarns, die gleich zeitig in Pest und Wien erschien. Fast zwanzig Jahre später, im Jahr 1847, wurde der Name Ferenc Toldy
sein offizieller Name, womit Schedel sein früheres Deutschtum endgültig ablegte.
Die von Anfang an wohlgeplante Berufskarriere liest sich in etwa so:
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1830 ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften,
1833 bis 1844 außerordentlicher Professor für Diätetik an der Pester Universität,
1835 ständiger Sekretär der ungarischen Akademie,
1836 Gründungsmitglied der Kisfaludy-Gesellschaft, danach deren Direktor und Vizepräsident,
ab 1843 Präfekt der Universitätsbibliothek Budapest,
213
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1842 Ehrendoktor der Universität Jena,
1843 bis 1874 Direktor der Universitätsbibliothek Budapest,
1848 Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften,
ab 1850 Dozent für Ästhetik und Literaturgeschichte,
1851 Herausgabe des zweibändigen Werkes „Geschichte der ungarischen Nationaliteratur“,
1861 ordentlicher Professor für ungarische Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte.
Im Jahr 1871 erhielt Ferenc Toldy 4000 Forint Jahresrente auf Lebenszeit für seine Verdienste. Am 10.
Dezember 1875 verstarb der Schriftstellerarzt in Budapest nach einem erfüllten und von zahlreichen Eh rungen begleiteten Leben.
Seine Karriere hatte Franz Schedel alias Ferenc Toldy vornehmlich seinen Eltern zu verdanken. Ob da neben noch ein weiterer Mäzen für ihn tätig war, wissen wir nicht. Denkbar ist es schon, allein im Hinblick auf die sicher sehr kostspielige Veröffentlichung seiner zweibändigen Literaturgeschichte in jungen
Jahren. Durch dieselbe Geldquelle wurde ihm nach Abschluss seines Medizinstudiums auch eine zweijährige Studienreise nach Zentraleuropa (1829-1830) finanziert, bei der er Deutschland, Frankreich und Eng land besuchte und in einflussreichen Kreisen sein „Handbuch der Ungrischen Poesie“ vorstellte. In
Deutschland lernte Schedel neben Tieck, Schlegel, Hegel und Hufeland am 4. September 1829 auch den
80-jährigen Johann Wolfgang von Goethe kennen, dem er schon im Vorjahr ein Empfehlungsschreiben
mit seinem Werk gesandt hatte. Goethe erwähnt Schedel mit Anerkennung in seinem Tagebuch, dem er
sogar das persönliche Referenzschreiben beilegte. 452
Bei der Vorstellung in Weimar hatte den Franz Schedel ein Berliner Professor namens Hecker begleitet,
mit dem er mehrere literarische Stätten zwischen Leipzig und Weimar besuchte. Es handelt sich hier um
den Medizinhistoriker Justus Friedrich Carl Hecker, der wie schon sein Vater Professor an der Universität
Berlin war und später durch seine Veröffentlichungen (u. a. als Herausgeber der 33-bändigen „Litterarischen Annalen der gesammten Heilkunde“) hochberühmt wurde.
Dass Hecker für Schedel eine Zufallsbekanntschaft war, wie er selbst in einem Brief angab, halten wir
für sehr unwahrscheinlich. Das Treffen der beiden war allein wegen ihrer gemeinsamen beruflichen Interessen mit Sicherheit arrangiert worden! Und es war möglicherweise Hecker, der Schedel nun auf das
Findelkind Kaspar Hauser aufmerksam machte. Damit haben wir, wie gleich zu sehen sein wird, einen
ersten Preußen, welcher wenigstens indirekt in den Fall Kaspar Hauser eingeschaltet war. Weitere wer den folgen, und man fragt sich mit Recht, warum und durch wen vermittelt!
Kurz nach der Stippvisite bei Goethe besuchte Franz Schedel Kaspar Hauser im Daumer'schen Haus auf
der Insel Schütt in Nürnberg. Prof. Hecker hatte sich zuvor verabschiedet. Es war der 26. September
1829.
Wir zitieren im Folgenden aus dem „Karlsruher Unterhaltungsblatt 1830“, welches Schedels Tour insgesamt als „wissenschaftliche Reise“ apostrophierte, wobei man den Abstecher nach Nürnberg eher als
ein Resultat fachlicher oder menschlicher Neugier bezeichnen sollte, wenn nicht ein konkreter Auftrag
von dritter Seite dahintersteckte.453 Nachdem Dr. Schedel am Daumer'schen Hause geläutet hatte, machte Kaspar ihm persönlich die Tür auf und unterhielt sich mit ihm einige Stunden. Caroline von Albersdorf
sprach allerdings später in ihrem Werk von 1839 von nur „etwas über einer halben Stunde“ Gesprächszeit.454 Schedel scheint damals einen äußerst positiven Eindruck von Kaspar gewonnen zu haben. Dieser
sei höflich, beschlagen, freundlich gestimmt und logisch und präzise in seinen Antworten gewesen:
„Ich war nun im Fragen ebenso unerschöpflich, als er bereit und befriedigend in Antworten …“,
„So glänzend sich sein Geist von Seite der Auffassung, der Aneignung und selbst des Urtheils in
seinen Verhältnissen zeigt, eben so liebenswürdig erscheint sein kindliches Gemüth, das voll
452 Ludwig Geiger (Herausgeber): Goethe-Jahrbuch 28, Frankfurt 1907, 251ff.
453 Karlsruher Unterhaltungsblatt 1830, 3. Jg., Nr. 1ff., speziell S. 14ff.
454 Albersdorf 2, 1839, S. 84.
214
Güte, Liebe und Vertrauen die Welt umfasst, und gegen Jene, die sich Verdienst um ihn erwerben
oder ihm Theilnahme schenken, vor Dank überströmt. Schnell war mir mit ihm die Zeit verflossen,
und ich grollte der Post, die mich eilen ließ. Als ich ihn umarmte, bat er mich, seiner oft zu geden ken. Ich verließ das Haus, ohne außer ihm irgend Jemand darin gesehen zu haben (Anm.: auch
den kranken Daumer nicht, der sich zuvor hatte entschuldigen lassen), und verließ es mit einiger
Sorgfalt für seine Sicherheit; aber nie hätte ich's ahnen können, dass ihm so nahe ein Mordan schlag bevorstehe, der sein kaum wieder gewonnenes Leben enden sollte …“
Schedel exkulpierte sich mit diesen Schlussworten quasi für ein Ereignis, das Kaspar Hauser genau drei
Wochen später, am 17. Oktober 1829, traf, nämlich das vielfach erwähnte Hackmesser-Attentat. Caroline
von Albersdorf berichtete, Schedel habe den Bericht 3 Wochen nach dem Mordversuch in Berlin verfasst
und ihn inklusive seiner „Sorge um die Sicherheit Hausers“ zunächst über Pester Zeitungen verbreiten
lassen. Wer Schedel in Berlin bei der Abfassung und in Pest bei der Publikation half, ist nicht bekannt.
Von irgendwelchen Sprachtests mit Kaspar ist hier nicht die Rede.
Es ist schwer einzuschätzen, was und wer Schedel dazu motiviert hatte, Hauser überhaupt aufzusu chen. Selbst Professor Hecker spielt hier vermutlich nur eine vordergründige Rolle. Gab es einen politischen Hintergrund? Oder war es Tavernikus Fidel Pálffy in Ungarn gewesen, der Schedel vor seiner
Abreise dazu aufgefordert hatte, Erkundigungen über Kaspar Hauser einzuziehen? Was bringt uns zu einer solchen Vermutung?
Das Buch über die „Ungrische Poesie“, das Schedel damals bei sich führte, enthält zu Beginn eine pan egyrische Widmung für den Grafen Tavernikus – so überschwänglich im Stil, dass man an der persönlichen Bekanntschaft der beiden kaum zweifeln kann. In des Tavernikus Diensten stand wiederum die Dal bonne.
Vielleicht war es diese Gouvernante und nicht ihr damaliger Dienstherr gewesen, die Schedel zuvor
konkret auf Kaspar Hauser aufmerksam machte, weil sie sein plötzliches Auftauchen in Nürnberg auf geschreckt hatte! Etwas über ihn zu erfahren, muss in ihrem allerhöchsten Interesse gelegen haben.
Und die Familien auf dem Ofener Burgberg und ihre Bediensteten kannten sich untereinander gut!
Vielleicht war Fidel Pálffy auch jener Sponsor im Hintergrund gewesen, der die Reise finanziert hatte.
Gab es einen offiziellen Auftrag, Kaspar Hauser auszuforschen?
Einstweilen resümieren wir:
Franz Schedel ist der erste Ungar – man sollte besser sagen Deutsch-Ungar – aus einer ganzen Reihe
von Intellektuellen, die wir bei Kaspar Hauser nachweisen können.
Für die weiteren Personen aus Ungarn, die wir nun vorstellen, erscheint im Gegensatz zu Franz Sche del eine Allianz mit Graf Fidel Pálffy eher unwahrscheinlich. Dagegen erkennen wir bei diesen erstmals
ein gewisses System, und dabei spielt eine bestimmte Großbank eine Rolle!
Die Episode der ungarischen Sprach-Irrungen und -Wirrungen, um die es nun geht, begann im Folgejahr, am 27. März 1830, als in Nürnberg plötzlich ein gewisser Otto Ferdinand Dubislav von Pirch, Premier-Lieutenant im Königlich-Preußischen ersten Garde-Regiment (*1.5.1799 + 20.6.1832), auftauchte,
der dem ersten Anschein nach aus reiner Neugier heraus Kaspar einigen Sprachtests mit ungarischen und
polnischen Wortbrocken unterzog.
215
Otto von Pirch kam nicht aus dem Nichts. Als Spross einer renommierten pommerschen Soldatenfamilie wurde
er schon in jungen Jahren in den preußischen
Generalstab berufen und stand in Kontakt mit so
berühmten Leuten wie Gneisenau oder Clausewitz. Im
Jahr 1829 wollte der gebürtige Bayreuther nach eigenem
Bekunden am russischen-türkischen Krieg teilnehmen,
wurde aber stattdessen vom Kriegsdienst suspendiert
und mit einer diplomatischen Mission betraut. So unternahm er Ende 1829 und Anfang 1830 monatelange Reisen durch Serbien, Ungarn und Oberitalien. Das über die
Serbienreise von Pirch noch persönlich veröffentlichte
Reisebuch zeigt, dass es sich hierbei keineswegs um eine
Privatreise gehandelt hatte, sondern um eine Mission im
Auftrag Preußens, welche ihm in dem jüngst den Türken
entrissenen Land Serbien alle Türen öffnete, bis hin zum
Fürsten Milan Obrenowitsch persönlich. Das zweite Reisebuch über Ungarn und Italien erschien erst posthum,
denn Otto von Pirch verstarb früh und unerwartet, am
20. Juli 1832, angeblich an den Folgen eines Reitunfalls.
Beide Bücher von Pirchs erfuhren in ganz Europa große
Anerkennung und Verbreitung. Wenigstens das erste Abb. 126: Otto von Pirch in seinem Buch
„Caragoli“.
wurde sogar ins Englische übersetzt.
Zwischen diesen Reisen war also Otto von Pirch plötzlich bei Kaspar Hauser in Nürnberg präsent, und
man darf sicher sein, dass dies nicht „rein zufällig“ geschah, wie Anselm von Feuerbach in einem Schreiben an König Ludwig I. unterstellte. Joseph Hickel berichtete in seinem nachgelassenen Manuskript sogar, Feuerbach habe Herr von Pirch herbeigeholt:
„Herr von Pirch, preußischer Leutnant, dessen Bekanntschaft ich hier im Feuerbach'schen Hause machte … wurde vom Präsidenten von Feuerbach aufgefordert, Hauser in Nürnberg bei seiner
Durchreise aufzusuchen und die Probe zu machen, ob die ungarische Sprache keinen Anklang und
keine Rückerinnerungen hervorrufen würde. An diesen reihte sich der weitere Antrag, er möge
seinen in Berlin lebenden Freund, den k. preußischen Kriminal-Direktor v. Hitzig zur Mitwirkung
zu einer Subskription veranlassen, durch welche die Mittel erworben werden sollten, a) den Magistrat zu Nürnberg der immer lästiger werdenden Sorge für Hauser zu entheben und letzteren
als einen Sohn Europas zu adoptieren, b) die nötig werdenden Untersuchungskosten zu decken.
Herr von Pirch versprach beides; er brannte vor Begierde, Hauser zu sehen …“455
Am 27. und 28. März 1830 testete also Otto von Pirch Kaspar Hauser bezüglich seiner Sprachherkunft,
und hinterher sollte er Drittmittel besorgen. Es ging also wieder einmal um Geld!
Bei den Tests stellte sich heraus, dass Kaspar Hauser einige Wörter und Satzteile in Ungarisch und Slavisch (Polnisch) verstand; zu einem komplexeren Verständnis der jeweiligen Sprachen war er jedoch nicht
imstande. Allerdings hätte sich sein Tester auch nicht fließend mit Kaspar in den fremden Sprachen unterhalten können, da er diese ja selbst erst kurz zuvor in den Grundzügen erlernt hatte. Auf die Frage,
welche Person ihm seine Sprachkenntnisse vermittelt hatte, legte man Kaspar in den Mund: „Meine
Kindsmagd … meine Kindsfrau“.
Als Otto von Pirch am 30. März 1830 in einem polizeilichen Verhör nach den Motiven seines Besuchs
in Nürnberg befragt wurde, nannte er „das allgemeine Interesse an Kaspars Hausers unglücklichem
455 Julius Mayer (Herausgeber): Caspar Hauser. Hinterlassenes Manuskript v. Joseph Hickel, Gendarmerie-Major,
Mitglied der Hauser'schen Untersuchungs-Commission und gerichtlich bestelltem Vormund desselben nebst einer Selbstbiographie Caspar Hausers, Ansbach 1881, S. 58. Im Weiteren abgekürzt mit Hickel und Seitenzahl.
216
Schicksal und in Sonderheit die in öffentlichen Blättern aus Ungarn neuerdings erteilten Nachrichten.“ 456
Dass dies nicht der vollen Wahrheit entsprach, entnimmt man dem Umstand, dass sich Pirch auf eine
Veröffentlichung bezog, welche erst am Vortag seines Tests in München erschienen war. Nie hätte von
Pirch in der knappen Zeit von München nach Nürnberg reisen können!
Der Publizist Moritz Gottlieb Saphir hatte am 26. März 1830 in seinem jüngst gegründeten Frühstücksblatt „Der Bazar für München und Bayern“ einen anonymen, laut van der Linde jedoch von einem
gewissen Frank stammenden Privatbrief aus Wien zum Fall Kaspar Hauser veröffentlicht:
„Wien im März 1830. In einer Eile, die nur ein solcher haben kann, der vom Monde auf die Erde
fällt, melde ich Ihnen Folgendes: Schon vor sechs Monaten hatte ich die einzig mögliche und
wahre politische Vermutung von der Geburt des Caspar Hauser – und sie hat sich nun vollkom men bestätigt! Vor wenigen Tagen ist in Ungarn eine Erzieherin des fürstlich ****schen (Pálffy'schen) Hauses, die sich früher längere Zeit in Gesellschaft des großen französischen Generals
(Murat, und/oder Jérôme de Bonaparte) befand, geheimgerichtlich verhaftet worden. Der Mitwisserschaft um die Geburt des Caspar Hauser, so wie daher um die des Mordversuchs, vielleicht
gar als Verwandte, beschuldigt, – gab sie sich für wahnsinnig aus, und eine hiesige gewisse Ge sandtschaft suchte ihre Freilassung zu bewirken. Ein gewonnener Arzt jedoch entdeckte ihre List
durch eine zweite List – – – Übrigens scheint man in Beziehung auf Caspar Hauser mit der Erkaufung von Dolchen nicht sparsam umzugehen – die Enthüllung der Wahrheit könnte also wohl
auch für mich mit Lebensgefahr verbunden seyn? – – – eine Thatsache an's Licht zu stellen, die
vielleicht ganz Europa in eine elektrische Spannung versetzen dürfte! u.s.w.“
Der aufmerksame Leser weiß bereits, von wem hier die Rede ist: von Anna Frisacco alias Dalbonne. Ein
fürwahr bemerkenswertes Schreiben, dessen genaue Analyse wir an dieser Stelle beiseite lassen, weil die
meisten Sachverhalte bereits vorgestellt wurden. Das Schreiben trägt insofern prophetische Züge, als in
ihm drei Jahre vor dem tatsächlichen Ereignis die Ermordung Kaspars bereits angedacht wurde.
Uns kommt es an dieser Stelle auf die Feststellung an, dass mit diesem Brief die Dalbonne-Geschich te genau zu einem Zeitpunkt in die bayerische Öffentlichkeit getragen wurde, als sämtliche Ermittlungen Bayerns und Österreichs in dieser Richtung soeben eingestellt worden waren!
Dass Otto von Pirch schon deutlich vor dem Publikationstermin auf Kaspar Hauser angesetzt worden
war, erkennt man auch an der Tatsache, dass sich Vermittlungspersonen einschalten mussten, z. B. ein
Uffenheimer Magistratsrat namens Johann Jakob Scherr und der k. preußische Major von Weiterhausen, ein Verwandter von Pirchs. Diese hatten beim Magistratsrat Biberbach in Nürnberg eigens
um einen Gesprächstermin gebeten. Von Feuerbachs Initiative, wie von Joseph Hickel später berichtet,
ist nichts bekannt.
Damit steht definitiv fest, dass Otto von Pirch über Moritz Saphirs anstehende Veröffentlichung bereits geraume Zeit vorher informiert worden war!
Die Aktivitäten Saphirs und von Pirchs waren also abgestimmt: Es ging offenkundig darum, mit dem
Brief und den Sprachtests der bayerischen Öffentlichkeit gegenüber eine Kinderfrau Kaspar Hausers na mens Dalbonne in Erinnerung zu rufen, welche etwas Ungarisch und Slawisch sprach, und soeben von
den offiziellen Staatsorganen Bayerns und Österreichs zum Vergessen bestimmt worden war.
Der Plan ging auf!
Wer ist als Auftrag- und Geldgeber Saphirs und/oder von Pirchs denkbar? Wer fädelte dieses raffinier te Spiel ein?
456 Pies, Dokumentation, S. 7ff.
217
Es steht zu vermuten, dass die entsprechenden Kontakte über Preußen zustande kamen, denn sowohl
Saphir als auch von Pirch kamen mehr oder weniger direkt aus Berlin!
An dieser Stelle wollen wir daran erinnern, dass auch der Reisebegleiter des Franz Schedel, Professor
Hecker, ebenfalls aus Berlin gekommen war, und Schedel im Vorjahr nach seinem Aufenthalt in Nürnberg
nach Berlin weitergereist war, nachdem er komischerweise zuvor schon bei seinem Besuch bei Goethe
die halbe Strecke dorthin zurückgelegt hatte!
Beschäftigen wir uns zunächst ein wenig mit
Moritz Gottlieb Saphir. Saphir war ein in Ofen gebürtiger Jude, der sich mit seinem Elternhaus
entzweit und nach einem Studium in Pressburg
und Pest der Schriftstellerei und dem Journalismus gewidmet hatte. Franz Schedel dürfte ihn
von der Pester Studentenzeit her gekannt haben.
Als Saphir 1829 von Berlin nach München umzog, um dort mit Hilfe der Stuttgarter Verleger
Johann Friedrich und Friedrich Gottlob Franckh
ab 1830 die Zeitschrift „Bazar“ herauszugeben,
war er zuvor aus Wien und Preußens Hauptstadt
als Pamphletist ausgewiesen worden.
In München ereilte ihn noch 1830 dasselbe
Schicksal: Er wurde nach einer kurzen Gefängnisstrafe des Landes verwiesen, offiziell mit der
Begründung
Majestätsbeleidigung. Hierauf
wechselte er nach Wien.
Abbildung 127: Moritz Gottlieb Saphir, gedruckt bei Hanfstängl, München, ohne Datum.
Es steht zu vermuten, dass Saphirs AgentenTätigkeit für Fürst Metternich der eigentliche
Grund war, ihn zur persona non grata in Bayern
zu erklären!
Erst im Nachhinein, am 24. Oktober 1831, teilte Fürst Metternich dem bayerischen Generalfeldmarschall und Diplomaten Carl Philipp von Wrede mit, er habe Saphir für seine informatorischen Dienste mit
1500 Gulden jährlich entlohnt.457 Was Metternich dazu brachte, diese Information gerade an Wrede
weiterzugeben, ist uns nicht bekannt. Vermutlich ging es darum, Saphir in Bayern zu diskreditieren, nach dem er dort im selben Jahr aus gewissen Gründen, die weiter unten noch zur Sprache kommen, plötzlich
Gnade gefunden hatte.
Moritz Saphir war eine schillernde Persönlichkeit, die mit spitzer Feder schrieb. Wo immer Saphir auch
weilte, er erregte unglaublich viel Aufsehen. Wie wenig objektiv er sich in seinen Texten verhielt, hatte
bereits der Zeitgenosse Freiherr Franz von Andlaw durchschaut, der zwischen 1826 und 1835 als Sekretär der badischen Gesandtschaft in Wien fungierte und Saphir folgendermaßen charakterisierte (Hervor hebungen durch uns):
„Durch das Eintreffen Saphirs in Wien erhielt die Tagesliteratur eine andere Richtung; die
schwerfällige, langweilige Kritik wurde durch die hell leuchtenden Witzesfunken jenes Humoristen aus ihrer Lethargie geweckt, und alsbald entspann sich, wie allenthalben, wo dieser Blaustein
noch erschienen, ein Federkrieg, der nicht selten in Tätlichkeiten überging. Es riss nun ein bitterer
Ton der Polemik ein, und wenn es auch nur wenige gab, die sich dem gefürchteten Kritiker anschlossen, so waren doch alle seine Gegner, vereint, nicht im Stande, es mit Saphirs spitzen
Waffen aufzunehmen … Ich habe ihn oft gesehen, viel und gerne gehört, doch mich in seiner
Nähe, selbst bei seinen ergötzlichen Vorträgen, nie eines unheimlichen Gefühls erwehren können.
457 Viktor Bibl: Metternich, der Dämon Österreichs, Leipzig, Wien 1936, 257f.
218
Mit seiner äußeren Erscheinung, der eines wahrhaften Satyr ähnlich, verband sich eine in Gift ge tauchte Feder, von der man nicht nur wusste, dass sie schonungslos, geifernd, gefährlich, sondern
auch vor allem käuflich war, und der Meistbietende immer sicher auf Saphirs Lob oder zum mindesten seine Nachsicht rechnen konnte. Mit seinem überwiegenden Geist und unübertroffenen
Witz, seine echt … (Auslassung von Andlaw!) Unverschämtheit beherrschte er durch 20 Jahre das
Feld der Wiener Kritik, gab Vorlesungen, veranstaltete zahllose Konzerte zu seinem und anderer
Bedürftigen Besten. Oft mit Geld, noch öfter mit Gefängnis bestraft … Er erheiterte, ärgerte, verletzte, vergriff sich am Heiligsten, und schwieg nur, wo er bestochen war, hatte die Lacher aber
meist auf seiner Seite, zahllosen Feinden gegenüber jedoch keinen Freund. Selbst seine entschie densten Anhänger versicherten, dass es ganz unmöglich sei, sich mit Saphir in die Länge zu vertragen … Mitten unter unzähligen Fehden ereilte ihn im 64. Jahre (1854) der Tod in Baden, wo er
sich immer gerne aufhielt …“458
Wenn dieser „gefährliche“ und „käufliche“ Moritz Saphir im März 1830 gezielt die Geschichte mit der
Dalbonne hochspielte, kann er jedoch keinesfalls im Auftrag Fürst Metternichs gehandelt haben, denn
dieser war ja soeben dabei, im Einvernehmen mit Bayern die Affäre niederzuschlagen. Hieraus resultiert,
dass ein weiterer Auftraggeber Saphirs existiert haben muss, der entgegen der offiziellen politischen
Doktrin in Österreich durchaus ein Interesse hatte, die Affäre um die Dalbonne am Köcheln zu halten.
Wer könnte dieser Unbekannte gewesen sein?
Wir haben hier keine schriftlichen Belege. Es spricht jedoch vieles dafür, dass dieser Auftraggeber aus
einer Großbank Österreich-Ungarns kam und wahrscheinlich wie Saphir mosaischer Religion war. Damit
kommt im Fall Kaspar Hauser erstmals konkret Salomon von Rothschild (1774-1855) ins Spiel, der Sohn
des legendären Mayer Amschel Rothschild (1744-1812). Unterstützt wurde Rothschild wahrscheinlich
von Samuel und Rudolf Wodianer, ungarischen Bankiers mit Niederlassung in Pest, die sich im Woll- und
Tabakhandel Ungarns engagierten und mit den Rothschilds eng zusammenarbeiteten.
Salomon von Rothschild – er wurde vom Kaiserhof geadelt – fungierte im Familienunternehmen als
Leiter der Wiener Filiale und galt an sich als Metternich-treu. Er war es z. B. höchstpersönlich gewesen,
der dem Fürsten Metternich den jungen Saphir als Agent anempfohlen hatte, was dieser bereitwillig
abgenommen hatte.459
Für die Rothschild-Familie war es kennzeichnend, Intellektuelle aller Couleur, Politiker, Künstler,
Schriftsteller, Publizisten, um sich zu scharen, diese in ihren Projekten zu unterstützen und ggf. als Agenten zu beschäftigen, um so gesellschaftliche Anerkennung und leichteren Zutritt zu den jeweiligen Staats organen zu finden. Nicht zuletzt konnte man durch solche strategischen Bekanntschaften den Zeitgeist
und die öffentliche Meinung positiv im eigenen Sinn beeinflussen.
„Langsam, aber stetig steigen die reichen jüdischen Bankherren auch gesellschaftlich immer
höher. Die Rothschild geben große Diners und sehen bald häufig Träger hochadeliger Namen und
Würden aller Art an ihrem Tische. Sie erfahren auf diese Weise so manche Neuigkeit, die sie im
geschäftlichen Leben gewinnbringend verwerten können. ’Seitdem ich wieder hier bin’, schreibt
darüber ein Besucher aus Frankfurt, ’finde ich zu meinem großen Erstaunen, dass Leute wie die
Bethmann, Gontard, Brentano usw. mit den ersten Juden essen und trinken und man hat mir auf
mein Verwundern darüber geantwortet, man könne nun einmal kein Geldgeschäft von Bedeu tung mehr ohne Zuziehung dieser Leute machen, man dürfe es sich nicht mit ihnen verderben.
Nach diesen Vorgängen sind die Rothschild demnach von einzelnen Gesandten eingeladen worden.’“460
458 Aus Franz von Andlaw: Mein Tagebuch …, Bd. 1, Frankfurt 1862.
459 Conte Corti, S. 168ff.
460 Corte Conti, S. 92.
219
Nicht nur Moritz Saphir, sondern auch der Metternich-Vertraute und Stanhope-Freund Friedrich von
Gentz (1764-1832) gehörten zu den Rothschild'schen Geld-Vasallen. Gentz arbeitete lebenslang am Wiener Hof für die Rothschilds und erhielt von ihnen immer wieder Zuwendungen für gewisse Dienste, z. B.
für die Abfassung eines wohlwollenden Brockhaus-Artikels!
Was Saphir anbelangt, so ging er noch in seiner späten Wiener Zeit im Haus Rothschild ein und aus.
Hieraus ergeben sich einige Anekdoten, von denen wir zwei dem Leser nicht vorenthalten wollen, weil
sie plastisch den Saphir'schen Wortwitz, aber auch die gegenseitige Vertrautheit deutlich machen:
„So wurde einmal bei einer Mahlzeit bei Rothschild, zu welcher auch Saphir geladen, köstlicher
Lacrymae-Wein aufgetragen. Warum, Freund Saphir, fragte Rothschild, heißt wohl dieser Wein
Lacrymae Christi? Weil, Herr Baron, entgegnete Saphir, jeder gute Christ Thränen vergießt, wenn
ein Jude diesen Wein trinkt.“461
„Bei einem Abendbankett bat der alte Rothschild Saphir, etwas besonders Originelles in sein
Autogramm-Buch zu schreiben. Zwei Minuten später erhielt der Bankier das Buch mit folgendem
Eintrag zurück: ’Verpflichten Sie mich, lieber Baron, mit einem Kredit von 10000 Gulden, und vergessen Sie hinterher Ihren gehorsamen Diener, M. G. Serum.’“ 462
Saphir stand also im Jahr 1830, als er in München den „Bazar“ herausgab, für die Rothschild'schen In teressen. Nicht in jedem Fall müssen diese den Interessen Metternichs entsprochen haben. Deshalb
wäre es kein Wunder, wenn Moritz Saphir im geschilderten Fall eine Art von Doppelagententätigkeit
wahrnahm und nun primär für das Bankhaus Rothschild Spitzeldienste leistete bzw. einen Auftrag übernahm, selbst wenn er sich damit in gewissen Gegensatz zu seinem Auftraggeber Metternich brachte. Dieser musste ja nichts davon erfahren.
Salomon von Rothild war innerhalb seiner Familie der
einzige, der intensive geschäftliche Kontakte nach Preußen unterhielt; er war es gewesen, welcher in gestaffelten Aktionen seit 1818 preußische Staatsanleihen gezeichnet hatte, um die Finanzen des Königreichs zu entlasten. Als Mittelmann hierzu diente vor allem der preußische Staatsminister Karl August von Hardenberg
(1750-1822), der sich im Gegenzug schon früh für die
Emanzipation der preußischen Juden eingesetzt hatte.
Salomons Sohn Anselm Rothschild (1803-1874) studierte eigens in Berlin, um so die Kontakte seiner Familie
zum preußischen Hof auch nach dem Tod von Hardenbergs aufrecht zu erhalten.
Nehmen wir einmal an, dass Moritz Saphir den oben
zitierten Artikel auf Rothschild'sche Order hin an die Öffentlichkeit brachte. Welches Interesse könnten die im
Hintergrund agierenden Bankiers von Rothschild getragen haben, die Metternich-Linie ausnahmsweise zu
verlassen und die Herkunftsfrage eines Kaspar Hauser
entgegen dem erklärten politischen Willen nicht ein- Abb. 128: Salomon von Rothschild, Lithographie
von Friedrich Lieder, ca. 1830, Originallithographie
schlafen zu lassen?
der Albertina in Wien.
Obwohl Salomon von Rothschild bereits als offizieller
Hoffinanzier Wiens fungierte, hatte er damals noch zahlreiche Widerstände in Österreich und Ungarn zu
überwinden, u. a. den Einfluss des griechischstämmigen Bankiers Georg von Sina in Pest. Außerdem sah
er sich der Konkurrenz anderer, von außen nach Österreich herein drängender Bankhäuser ausgesetzt.
461 Artikel „Saphir“ im „Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreich“, Bd. 28, 1874, S. 213.
462 Übersetzt aus Spectator, 22. Oktober 1887, S. 12.
220
Es könnte vor einem solchen Hintergrund durchaus im Kalkül Salomon Rothschilds gelegen haben,
im Rahmen der eigenen Expansionsbestrebungen einem unliebsamen Konkurrenten im Königreich
Bayern namens Simon von Eichthal eins auszuwischen!
Notabene: Die Rothschild-Dynastie war zu diesem Zeitpunkt fast überall in Europa, jedoch nicht im Königreich Bayern präsent. Dies wird sich erst 1834/1835, mit der 100-%-ige Vorfinanzierung des LudwigDonau-Main-Kanals (9,5 Mill. Gulden!) ändern. Im Jahr 1830 agierte jedoch das Bank-Unternehmen von
Eichthal quasi allein als Platzhirsch unter den Banken in Bayern, nachdem es seinerseits Konkurrenten
wie den Bankier Spiro aus München verdrängt und fast die gesamte Finanzierung des bayerischen Hofes
an sich gezogen hatte.
Doch inwiefern hätte ein Schüren der Affäre „Dalbonne“ dazu beigetragen, die angestrebten Ziele
Rothschilds zu erreichen? Dies hätte genau dann funktioniert, wenn es mit öffentlichem Druck gelungen
wäre, die politische Widerstände in Wien und München gegen die Aufklärung des Falles Kaspar Hauser
zu überwinden und die Gouvernante Dalbonne doch noch zu einem umfassenden Geständnis zu bringen.
Dazu musste man aber allerdings subtil und unauffällig vorgehen. So versuchte man jetzt mit Hilfe von ei gens beauftragten Intellektuellen, die wenigstens einen gewissen Bekanntheitsgrad genossen und öffentlichkeitswirksam waren, den Skandal aus Bayern allmählich nach Ungarn hinein und wieder zurück nach
Bayern zutragen und ihm dabei eine gewisse Eigendynamik zu verleihen.
Demnach sollte Salomon Rothschild, informiert durch seine Spitzel und Agenten, genau über Kaspar
Hausers Elternschicksal Bescheid gewusst haben!
Zwar hätte es bei Gelingen des Planes erhebliche Erschütterungen gegeben, bis hin zur Kompromittie rung der „bayerischen“ Habsburgerin Maria-Leopoldine von Österreich. Aber noch empfindlicher wäre
deren Geldgeber im Hintergrund, eben der bei den Rothschilds unbeliebte Simon von Eichthal, getroffen
worden, so er die frühere Beseitigung Kaspar finanziert hätte.
Als alternatives oder ergänzendes Motiv eines Engagements in Sachen Kaspar Hauser käme für die
Rothschilds die Verschiebung des inner-ungarischen Kräfteverhältnisses vom erzkonservativen deutschen
Beamtenapparat Ofens zu einer aufstrebend-ungarischen, eher dem Geschäftsleben Pests verbundenen
Adelsschicht in Frage. Hier ist die Gruppe der Banken neben dem Gespann Rothschild/Wodianer um das
bereits genannte, in Wien und Pest präsente Bankhaus des Georg Simon von Sina (1783-1856) zu erweitern. Die griechisch-stämmige, katholische Bankierfamilie Sina war über den Tabakhandel im osmanischen Reich groß geworden und konkurrierte in Ungarn vor allem mit den Bankleuten Wodianer um Ein fluss und wirtschaftlichen Erfolg. Überwunden wurde diese Konkurrenz erst durch die gemeinsame Finanzierung der Kettenbrücke zwischen Ofen und Pest im Jahr 1838, die auf Initiative des Grafen István
Széchenyi (1791-1860) zustande kam.
Falls nun jemand Zweifel an einer solchen Sicht der Dinge anmeldet und die Rothschild-Hypothese als
zu weit hergeholt ansieht, bitten wir ihn darum, uns wenigstens einen politischen Exponenten in Bayern,
Österreich oder Ungarn zu nennen, der es damals mit dem Spitzel-Apparat des Systems Metternich hätte
aufnehmen können, und obendrein über die Mittel verfügte, dagegen zu agieren und noch dazu mehrere
kostspielige Reisen zu finanzieren.
Es wird sich keiner finden!
Geld – allein Geld – dürfte dieses Engagement entschieden haben! Geld drehte bedarfsweise auch
Agenten um – und dieses Geld kam am wahrscheinlichsten aus der Banken-Szene der beteiligten Länder und vornehmlich aus der Familie Rothschild!
Das österreichische Regime oder die Regierung Preußens kamen jedenfalls dafür nicht in Frage: Wie
wenig die Pirch'schen Versuche dem politischen Willen Österreichs entsprachen, sieht man z. B. an einem Schreiben des Hofkanzlers von Reviczky an Fürst Metternich vom 25. Juni 1830, in dem er jegliche
221
weitere Nachforschung aufgrund der Tests des Otto von Pirch ablehnte. 463 Und dennoch waren diese
Versuche zustande gekommen!
Man kann es drehen und wenden, wie man will:
Es muss eine von der Regierung unabhängige Kraft in Österreich-Ungarn gegeben haben, die sich damals zur Einmischung in den Fall Kaspar Hauser entschloss und im Folgenden alles daran setzte, die Affäre „Dalbonne“ zum eigenen Vorteil hochzuziehen, nachdem sie einzuschlafen drohte. Diese Kraft sehen wir in der Hochfinanz der Rothschilds. Deren Doktrin, die vornehmlich das konkurrierende Bankhaus von Eichthal in Bayern belasten sollte, galt allerdings nur solange, bis diese Feinde im eigenen
Boot saßen, d. h. bis ca. 1834!
Genau dieser Sachverhalt zieht sich durch die gesamte Ungarn-Geschichte Kaspar Hausers wie ein ro ter Faden und erhellt viele bislang ungeklärte Phänomene!
„Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild ist sein Prophet …“, sagte Heinrich Heine.
„…und Kaspar Hauser sein Opfer!“, möchte man hinzufügen.
Es handelt sich hierbei um die erste Phase der Rothschild-Einmischung in den Fall des Nürnberger Fin delkindes. Weitere schließen sich an.
An dieser Stelle ist es nicht zu umgehen, auf Eduard Maria Oettinger zurückzukommen, gerade auf jenen Mann, welchen der Pressburger Domprediger Johann Samuel Müller in Zusammenhang mit dem
Hauser-Entführer Ludwig Würth stellte.
Eduard Oettinger (1808-1872) stammte aus einer vormals reichen Familie, die durch die napoleonischen Kriege ihr ganzes Vermögen verloren hatte. Sein Abitur
machte er in Breslau, wo er auch geboren war; ein nachfolgendes Studium musste er jedoch mangels finanzieller
Mittel abbrechen.
Abb. 129: Eduard Oettinger. Grafik zu seinem Tod,
von Hermann Scherenberg von 1872.
Oettinger war 13 Jahre jünger als Moritz Saphir, aber
wie dieser war er Jude, und er war gemeinsam mit Saphir
in Wien durch die Schule des Adolph Bäuerle gegangen,
ehe er sich als Journalist und Publizist satirisch-politischer Zeitschriften selbständig gemacht hatte. Beide, Saphir und Oettinger, erwarben ihre ersten herausgeberischen Meriten in Berlin: Ihre Zeitschriften wurden
von Leopold Wilhelm Krause verlegt, der später in Zusammenhang mit dem Polizeirat Merker noch eine Rolle
spielen wird. Beide wirkten im Berliner Publizisten-Club
„Der Tunnel“, den sie später gemeinsam wieder verließen, ehe sie aus Berlin und Preußen ausgewiesen wurden. Oettinger betraf das vor allem wegen subversiv-anzüglicher Äußerungen in seiner Zeitschrift „Der Eulenspiegel“.
Prompt wechselten beide wegen der relativen Pressefreiheit nach Bayern, gründeten dort neue
satirische Blätter, Oettinger das „Schwarze Gespenst“, Saphir den „Bazar“ und den „Deutschen Horizont“.
Die beiden Männer, denen ein Ruf wie Donnerhall vorausging, hatten in Bayern publizistischen Erfolg,
d. h. ihre Blätter fanden reißenden Absatz. Aber schon nach kurzer Zeit gerieten sie wegen ihrer losen
Sprüche gegen die staatliche Autorität und ihrer ätzenden Persiflage der Münchner Geschehnisse in
463 Sittenberger, S. 252.
222
Konflikt mit dem Königshaus und der Staatsmacht. Am Ende gerieten sie in die Fänge des
Geheimdienstes, wurden gemeinsam verhaftet und möglicherweise als Agenten enttarnt. Noch 1830
erfolgte ihre gemeinsame Ausweisung aus dem Königreich Bayern.
Oettinger und Saphir waren also ein gut eingespieltes Tandem – quasi Schicksalsbrüder, die sich,
wenn es nötig wurde, auch gegenseitig deckten und verteidigten. Und kein Zweifel: Beide waren
heimliche Auftragsschreiber und Agenten der Bankiers Rothschild!
Auf deren Anweisung hin und unter verlegerischem Flankenschutz des renommierten Verlagshauses
Cotta464 und der Gebrüder Franckh aus Stuttgart hatten sie offensichtlich 1830 den Auftrag erhalten, speziell in Bayern mit den Mitteln der politischen Satire für publizistischen Wirbel und antimonarchische
Stimmung in den bürgerlichen und intellektuellen Kreisen zu sorgen.
Kurz: Es ging den Rothschilds darum, in einem Staatengebilde, in dem sie bislang keinen Fuß auf den
Boden gebracht hatten, Unruhe zu stiften, das Königshaus in seiner Autorität und speziell den Hausbankier des bayerischen Hofes, Simon von Eichthal, in seiner Exklusivität zu schwächen und so das Terrain für eine spätere feindliche Übernahme vorzubereiten. Vier Jahre später war es soweit: Mit der ex klusiven Finanzierung des bayerischen Ludwig-Donau-Main-Kanals durch das Bankhaus Rothschild in
Frankfurt war 1834 das jahrzehntelange Eis endlich gebrochen und die Rothschilds ans Ziel gelangt. So viel im Vorgriff.
Speziell das mit den Rothschilds verfeindete Bankhaus von Eichthal öffentlich durch den Kakao zu
ziehen, gelang dem begabten Oettinger bereits zu einem Zeitpunkt, als er noch gar keinen Fuß nach
Bayern gesetzt hatte:
Mit Unterstützung des Buchdruckers Joseph Rösl erschien am 10. Dezember 1829 im Münchner-Conversations-Blatt „Eulenspiegels Trostrede an alle Damen, deren Porträts nicht in der Bilder-Gallerie sind“.
Jeder in München wusste, wer der Verfasser war und worum es in dem Artikel ging: Wenige Jahre zuvor
hatte der für seine zahlreichen Liebschaften bekannte bayerische König Ludwig I. den Hofmaler Karl Stieler angestellt und durch ihn die Portraits seiner heute so berühmten Schönheiten-Galerie malen lassen.
In dem Schelmenstück Oettingers – sozusagen seine Begrüßungsworte für München – findet sich nun
der folgende, bezeichnende Satz:
„Man hat mir erzählt, dass bereits vier reiche Bankierstöchter, die so eitel waren, sich für die
Schönsten ihres Geschlechts zu halten, weil ihr Herr Papa ebenso viel Geld als Arroganz besitzt
(und das will viel bedeuten) aus Gram närrisch geworden wären, weil man sie in der Wahl der abzuzeichnenden Schönheiten übergangen habe …“
Kein Zweifel, dies war ein ironischer Seitenhieb auf die Damen des Hauses von Eichthal! Uns stellt sich
lediglich die Frage, ob hierbei die Schwestern oder die Töchter Simons von Eichthal im Visier waren.
Das war eine Persiflage ganz nach dem Gusto der Rothschilds, sie sollte gewisse Autoritäten untergraben, und Oettinger wurde für solche Bemerkungen genauso wie Moritz Saphir fürstlich bezahlt! Es
ist nun gewiss auch kein Zufall, wenn sich Eduard Oettinger genau wie sein Kollege Moritz Saphir nach
seiner Ausweisung aus Bayern nach Paris begab. Wenn seine Familie in nach-napoleonischer Zeit nicht
Teile ihres früheren Vermögens dorthin gerettet hatten, dürfte sich Oettinger unter die finanziellen Fitti che eines Magnaten wie James Rothschild geflüchtet haben!
In Paris kurz vor der bürgerlichen Revolution soll er plötzlich über eine große Dampf-Druckerei mit 97
Pressen verfügt haben, was ihm ermöglichte, dort sein „Neues deutsches Blatt“ aufzulegen, in das
bereits 17000 ganze und 500 halbe Abonnenten eingeschrieben hätten, darunter Mulei Ab-er-Rhaman,
der Kaiser von Marokko.
Natürlich waren diese Angaben im Münchner Tagblatt vom 16. Februar 1830 satirische
Übertreibungen. Aber solche beruhen meistens auf einem Wahrheitskern!
464 Für dessen Enzyklopädie Friedrich Gentz eigens eine Rothschild-Eloge geschrieben hatte!
223
An den geschilderten Beispielen des journalistischen „Umsturzversuches“ in München durch
Saphir und Oettinger, der aus heutiger Sucht fast
burleske Züge trägt, scheint eine gewisse Dichotomie Rothschild'scher Strategie auf: Es war der
Bankiersfamilie auf der einen Seite möglich, als
aristokratie- und monarchie-tragende Kraft und
als Rechtsgarant aufzutreten, zumindest in den ihnen gewogenen Staaten. Auf der anderen Seite
verschloss man sich nicht den progressiven, z. T.
modernistischen Moden im neuen Bildungsbürgertum, also dort, wo sich die gewieften Geschäftsleute vielleicht auf die Dauer mehr Innovation, Fortschritt und Rendite erwarteten als in den
verkrusteten Strukturen der Hocharistokratie.
Die Rothschilds erscheinen so je nach Situation
und Notwendigkeit einmal als Katalysatoren und
Regulative des Fortschritts (und damit letztlich
auch als Unterstützer der bürgerlichen Revolution
und politischen Union in Deutschland), zum anderen als Bremser und Schützer geordneter Staatsstrukturen, Bewahrer der Monarchie und der spätfeudalen Ständeordnung.
Nur wenn man beide Seiten bediente, hatte
man das ganze Gefüge im Griff und konnte man
nach Bedarf bei neuen, unvorhergesehenen Entwicklungen adäquat reagieren!
Indem sie sich unentwegt als Äquilibranten, als
Ausgleich widerstrebender Kräfte betätigten, entwickelten die Rothschilds eine gewisse friedenser- Abb. 130: „Oettingers Vermächtnis“: in „Das Schwarze
haltende Wirkung in Europa. Das soll hier nicht Gespenst“, redigiert von Eduard Oettingers Schatten, Nr.
21, 24. Januar 1830, S. 84.
unerwähnt bleiben, denn angesichts des zunehmenden Aufbegehrens des Bürgertums und der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die die Industrialisierung und die Verbesserung der Verkehrswege und Kommunikationsmöglichkeiten in ganz Europa mit sich brachten, mit der Folge einer ganz neuen Mittelschicht, hätten neue Kriege und Konflikt herde ungeheure Sprengkraft nach allen Seiten entwickeln können und sicherlich nicht mehr die Gewinne abgeworfen, die noch im Kampf gegen Napoleon möglich waren. Dabei agierten die Gebrüder Rothschild immer in einer subtilen, den direkten Blicken verborgenen, allerdings auch nicht immer ganz lega len Art und Weise. Lieber zog man bei gesellschaftsrechtlich noch immer nicht voll anerkanntem Status
die Strippen im Hintergrund, ließ die wirtschaftlich und finanziell abhängigen Marionetten in Politik und
Publizistik tanzen, ehe man sich selbst öffentlich in die Waagschale warf und dabei Gefahr lief, sich als
wucherische, auf den eigenen Vorteil bedachte Andersgläubige zu kompromittieren.
Wenn Oettinger und Saphir ein journalistisches Agenten-Brüderpaar Rothschild'scher Provenienz waren, die bezüglich ihrer Intentionen zu trennen sich gerade für die Münchner Phase nicht lohnt, dann bekommt nicht nur ein Moritz Saphir, sondern speziell auch ein Eduard Oettinger indirekten Bezug zur Affä re um Kaspar Hauser. Um so frappierender ist es, wenn wir nun durch Johann Samuel Müller gerade im
betreffenden Jahr 1830 einen direkten Bezug Oettingers zum Fall Kaspar Hauser vermittelt bekamen.
Müller scheint in der Tat einen siebten Sinn gehabt zu haben:
224
•
In der Tat musste es auffallen, dass sich Oettinger derselben Nomenklatur bediente wie der Pfarrer Ludwig Würth. Dessen anti-bonapartistische Haltung und Freidenkertum vor 1813 haben wir
bereits herausgearbeitet.Oettinger wird speziell in Bezug auf Napoleon eine geistige Nähe zu
Ludwig Würth aufgewiesen haben, denn wenn man seinen Biographen trauen kann, dann hatte
seine Familie durch Napoleon ungeheuren materiellen Schaden erlitten, was diese wiederum als
Glaubensbrüder in die Nähe eines Nathan Rothschild gerückt haben mag. Deshalb würden wir
uns nicht wundern, wenn sich der Vater oder auch der eine oder andere Bruder Oettingers zu
Napoleons Zeiten der Bewegung eines Pfarrers Würth und seiner Kommilitonen angeschlossen
hätte (speziell bei einem Studienort Erlangen). Leider können wir mit dem Mitteln, die uns
aktuell zur Verfügung stehen, über Oettingers Familie keine verlässlichen Informationen
beibringen, womit auch der Vermögensverlust der Breslauer Familie im Unklaren bleibt.
•
Es ist durchaus denkbar, dass Ludwig Würth in jenem Jahr 1828, indem er von Müller in Wien
verortet worden war, gerade im Hause Salomon Rothschild in direkten Kontakt mit Eduard Oettinger und zu einem Interessenaustausch mit ihm kam. Dies gilt umso mehr, wenn Oettinger auf grund seiner Familiengeschichte Würths vormaligen Anti-Napoleonismus geteilt, und Nathan
und Salomon Rothschild die protestantische Erweckungsbewegung in Vöcklabruck unterstützt
oder gar als vormaliger Geldgeber der Hauser'schen Entführungsaktion fungiert hätte. Wie sonst
als durch ein gegenseitiges Kennen- und Schätzenlernen erklärt sich die Tatsache, dass Oettinger
und Würth in Bezug auf ihre Weltanschauung einer gemeinsamen Terminologie und Ideenwelt z. B. gegen Mystizismus, Okskurantismus und Pietismus – präsentierten?
Dass Würth überzeugter Protestant war, Eduard Oettinger aber 1828 formell zum Katholizismus
übertrat, tut dieser Sicht der Dinge keinen Abbruch, denn letztlich handelte es sich bei beiden
um ausgesprochene Freigeister und allenfalls um Vernunftgläubige (um elende Naturalisten,
hätte der orthodoxe Müller gesagt). Eine Konversion Oettingers zum Christentum – ähnlich wie
bei von Eichthal oder Saphir – hatte vermutlich rein gar nichts mit religiöser Überzeugung zu tun,
sondern begründete sich bei Fortbestehen eines Krypto-Judentums durch geschäftliche Vorteile
und eine Art von gesellschaftlichem Mimikri. Österreich, in dem Oettinger als Norddeutscher
1828 wirkte, war durch einen rigorosen Katholizismus geprägt, also bot ihm dort der formelle
Übertritt zur Papstkirche eben das beste Fortkommen.
Wenn man diese spezifische Rolle des Vielschreibers Oettinger verstanden hat, dessen Karriere damals
erst begann und später um einige Facetten erweitert wurde, dann ist auf jeden Fall der siebente Sinn ei nes Johann Samuel Müllers zu bewundern, welcher aufgrund weniger Äußerungen in einer einzigen An nonce die Geistesbruderschaft Oettingers und Würths durchschaute und Oettinger intuitiv der Bande
Würths zuordnete. Womit er in der Quintessenz unserer Recherche durchaus recht gehabt haben kann!
Bei Johann Samuel Müller handelte es sich also, wie wir nun schon zum wiederholten Mal belegen
konnten, um alles andere als um einen von Verfolgungswahn und religiösem Fanatismus geprägten
Spinner, sondern für den Fall Kaspar Hauser um einen Kronzeugen ersten Ranges!
Nach diesem Exkurs zur Münchner Publizistik kehren wir zurück zur Ungarn-Geschichte Kaspar Hausers und konzentrieren uns nun auf den weiteren Ablauf:
225
Der dänische Justizrat Georg Philipp Schmidt von Lübeck
berichtete in seinem Kaspar-Hauser-Büchlein, dass eine
Meldung über den Zusammenbruch der Dalbonne den Ort
Pest schon am 25. Februar 1830 verlassen hatte. Die
Meldung erschien zeitnah im Altonaer Merkur Nr. 50,
Jahrgang 1830. Leider konnten wir das genaue
Erscheinungsdatum nicht eruieren. Am 31. März 1830
wurde laut dem Hamburgischen Correspondenten Nr. 55
„vom Main“ bereits erste Gerüchte darüber gemeldet, dass
die Gräfin von Majthényi Kaspars Mutter gewesen sein soll.
Die Kunde von den Pirch'schen Versuchen hatte sich also wie
ein Lauffeuer verbreitet!465
Was
brachte
ausgerechnet
zwei
Hamburger
Wochenzeitungen dazu, für Publizität in der Affäre Dalbonne
zu sorgen?
Die Sache erfährt am ehesten dadurch eine Erklärung,
dass das Bankhaus Rothschild auch in Hamburg eine
Agentur mit entsprechenden Verbindungen zur Presse
Abb. 131: G. Ph. Schmidt von Lübeck, Stich besaß!
von Bendixen, 1826.
Dass nun auch die Frau von Majthény auf der
Fahndungsliste stand, dürfte ein zunächst ungeplanter Nebeneffekt gewesen sein, denn immerhin ging ja
die eigentliche Stoßrichtung in Richtung des bayerischen Hofs resp. Maria-Leopoldines und des Barons
von Eichthal. Schaden konnte dies der Sache, um die es eigentlich ging, nicht. Später mag sogar der
gezielte Versuch der Diffamierung dieser Frau hinzugekommen sein, wie noch aufzuzeigen sein wird.
Wie dem auch sei: Man strickte im Folgenden publizistisch fleißig an der Legende von der ungarischen Herkunft Kaspars.
465 Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Über Caspar Hauser, Heft 2, Altona 1832, S. 31f.
226
Das „Kind Europas“ ein Kind der Familie Rothschild?
Währenddessen ergaben sich in Nürnberg immer größere Finanzierungslücken, was den Unterhalt und
die Ausbildung Kaspar Hausers anbelangt, zumal der Aufwand des Personenschutzes nach dem Hackmesser-Attentat hinzugekommen war.
Am 6. Januar 1830 hatte die Stadt Nürnberg aus dem Fond des Armen-Pflegschaftsrates für die Versorgung Kaspar Hausers 300 Gulden jährlich für Unterhalt und Ausbildung bewilligt. Dieser Betrag reichte
aber offensichtlich nicht aus, so dass der Freiherr Gottlieb von Tucher ein Gesuch um weitere Unterstützung an König Ludwig I. von Bayern persönlich richtete. Der Antrag wurde von der klammen bayerischen
Staatsregierung abschlägig beschieden.466
Not macht bekanntlich erfinderisch:
Da Kaspar Hausers Schicksal nach dem Attentat mittlerweile in ganz Europa Anteilnahme gefunden
hatte, kam der bedrängte Herr von Tucher auf eine grandiose Idee. In einem Brief vom 26. März 1830
schlug er dem Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach eine europaweite Geldsammlung zu
Errichtung einer Kaspar-Hauser-Stiftung vor, aus der sein weiterer Unterhalt zu bestreiten sei. In seiner
Begeisterung lehnte sich der Nürnberger Patrizier ein Stück zu weit aus dem Fenster: Er habe, so schrieb
er, in Hamburg, Berlin und Paris Freunde, und in Prag, Wien und Frankfurt Verwandte. Er könne mit
deren Hilfe und durch Kaufleute auf allen großen Handelsplätzen Geld sammeln lassen. So stünden ihm
auf leichte Weise alsbald große Summen zu Verfügung! 467
Daraufhin setzte sich Paul Anselm von Feuerbach mit Otto von Pirch ins Einvernehmen, um „der Angelegenheit eine Wendung ins Große zu geben, um sie von Tucher und Bayern zu lösen“. Pirch hatte ein weiches Herz für Kaspar Hauser und fragte seinerseits am 4. April 1830 bei Feuerbach nach, „ob es erwünscht wäre, wenn in Berlin ein vereinter Beitrag veranlasst würde. Es könnten Reisen notwendig wer den, und für diese muss doch dann ein Fonds vorhanden sein.“ 468
Da wollte sich auch ein Gerichtspräsident von Feuerbach nicht länger lumpen lassen. Mit sichtlicher
Begeisterung, allerdings auch mit einer gewissen Großspurigkeit schrieb er am 7. April 1930 Kaspars Vormund:
„Vom Staat ist nichts zu erwarten … Meine Gedanken gegen auf nichts Geringeres als auf eine
europäische Subskription. Einen bedeutenden Teil von Deutschland, namentlich Berlin, Dresden,
Weimar, Württemberg, Frankfurt, dann Frankreich, Holland und Dänemark nehme ich auf mich,
und wenn einige Nürnberger und Frankfurter Handelshäuser (von denen Sie für die ersteren sor gen müssen, ich die letzteren mir beigesellen werde) mich gehörig unterstützen, so zweifle ich
kaum, dass ein Kapital zusammenkommen werde, dessen Zinsen hinreichend für alle Bedürfnisse
Kaspar Hausers sorgen werden …“469
Jetzt kam tatsächlich, wie schon oben durch ein Zitat Hickels angedeutet, ein gemeinsamer guter Be kannter von Feuerbach und Pirch in Spiel, der Berliner Verleger und Kriminaldirektor Dr. Julius Eduard
Hitzig. Hitzig gab in Berlin zwei kriminologische Monatsschriften heraus, die „Zeitschrift für die preußi sche Kriminalrechtspflege“ und die „Annalen für deutsche und ausländische Kriminalrechtspflege“, wo bei letztere, wie der Titel bereits besagt, europaweit aufgelegt war. Hitzig griff die ihm vorgetragene Idee
begeistert auf, versprach seinen publizistischen Einsatz und wollte Sonderdrucke eines Aufsatzes, den
Otto von Pirch über Kaspar Hauser verfassen sollte, in alle europäischen Hauptstädte zu versenden.
Das erste Mal und noch zu dessen Lebzeiten sollte Kaspar Hausers anrührendes Schicksal europaweit vermarktet werden!
466 Mayer-Tradowksy, S. 107.
467 Mayer-Tradowsky, S. 399.
468 Mayer/Tradowksy, S. 107f.
469 Mayer/Tradowksy, S. 108f.
227
Wenig später, am 16. Juni 1830, berichtete Otto von Pirch wie verabredet über seine Sprachtests mit
Kaspar Hauser in einem Artikel, den er „Skizze der bis jetzt bekannten Lebensmomente des merkwürdi gen Findlings Caspar Hauser in Nürnberg“ nannte. Von Pirch rief dabei auftragsgemäß zu einer Spenden aktion auf:
„…Es ist leicht einzusehen, dass das Gelingen der Untersuchungen (freilich zur Aufklärung der
Herkunft Kaspar Hausers) zum Theil von dem Geheimhalten der Maßregeln und der Resultate abhängt. Zwei Jahre hindurch aber beschäftigt Caspar Hauser das gebildete Europa so lebhaft, dass
man ihm mit Recht den Namen des Kindes von Europa gegeben hat …
Dass in unserer Zeit, in einer Periode, wo der Friede das Handhaben der polizeilichen Ordnung
erleichtert, in dem Mittelpunkt des gesetzlich-geordneten Deutschlands ein Verbrechen, wie das
an Caspar Hauser verübte, zwölf Jahre lang unentdeckt fortgeführt werden konnte, steht wie eine
fast unglaubliche Sache da …
Ich bin genau genug von der Sache unterrichtet, um mit gewissenhafter Bestimmtheit sagen zu
können: Es ist nicht alles geschehen, was hätte geschehen müssen, wollte man das Verbrechen
und Hausers Herkunft entdecken. Dies ist kein Vorwurf für die mit der Sache beschäftigten Männer, denn es fehlt nicht an Eifer, sondern an den nötigen Mitteln – mit einem Wort es fehlt an
Geld! Bis heute ruht die Last seines Unterhalts, seiner Erziehung und der ganzen Untersuchung
auf der Stadt Nürnberg allein …
Dies reicht indessen für den bedeutenden und verwickelten Gegenstand nicht aus, und hier
wird es nötig sein, dass Europa seine passive Teilnahme in eine aktive verwandle; es bedarf einer
allgemeinen Beisteuer; nur mit bedeutenden Mitteln wird etwas Bedeutendes geschehen können …
Zwei Jahre sind verflossen; geht auch noch das dritte hin, ohne Entdeckung, so dürfte diesselbe
kaum mehr zu hoffen sein …
Noch einmal komme ich darauf zurück – vor allem sind Mittel, Geldmittel dazu nothwendig!“ 470
Mit dieser Aktion hatte das um Kaspar Hauser bemühte Männer-Trio Tucher, Feuerbach, Pirch und
Hitzig den Bogen überspannt – und wir kommen unter Berücksichtigung des Nachfolgenden nicht umhin, auf die Blauäugigkeit des Unterfangens hinzuweisen. Obendrein hatte Hitzig Feuerbach noch versprochen, die damals gerade aufkeimende Erbprinz-von-Baden-Theorie zu verbreiten!
Wer aus dem politischen Establishment wäre denn zu dieser Zeit als generöser Spender für Kaspar
Hauser in Frage gekommen?
Der bayerische König? Fehlanzeige! Dieser hatte schon zuvor abgewunken.
Einer der anderen deutschen Fürsten oder Könige? Der Souverän von Frankreich, England, Polen,
Preußen? Der Papst? Ebenso Fehlanzeige! Sie alle litten an der massiven Überschuldung ihrer Staatshaushalte und an fehlender Liquidität.
Wer auch immer mit Rang und Namen in Europa für Kaspar Hauser hätte Geld spenden wollen – benötigt hätte man für eine Stiftung geschätzt 200 000 Gulden! -, er hätte es zuvor bei einer Bank aufnehmen müssen, und diese hieß in der Regel, wenn man von der Mittlerfunktion ihrer Vasallenbanken
absieht – Rothschild!
Obendrein war in diesem Jahr 1830 auch dieses größte und mächtigste Bankhaus Europas in Bedräng nis geraten. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der inneren Unruhen in fast allen anderen Staaten war die Kriegsgefahr enorm gewachsen. Rentenpapiere und Aktienkurse standen schlecht.
Die vorherige, fast ausschließliche Konzentration der Rothschilds auf die Stützung der maroden Staats470 Pirch in Johann F. K. Merker: Caspar Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger. Dargestellt von dem Polizeirath Merker, Berlin, 1830, S. 50ff. und 90.
228
haushalte hätte im Fall eines kriegerischen Flächenbrandes sogar diese um ihr immenses Vermögen bringen können! Erst im Folgejahr 1831 war das Allerschlimmste überstanden, die Turbulenzen an den Bör sen legten sich und die durch den allmählichen Wiederanstieg der Renten bedingten Erleichterungen ge statten dem Hause Rothschild nach und nach, wieder Vorschussgeschäfte mit Staaten und Privaten aufzunehmen, wenn auch unter besonderen Vorsichtsmaßregeln und Einschränkungen.
Kein Staatschef und erst recht keine Bank hätte also Geld für so ein unrentables Projekt wie Kaspar
Hauser übrig gehabt!
Was namhafte Geldgeber aus dem Adel und deren Privatvermögen anbelangte, so war hier erst recht
nicht zu holen. Hören wir dazu nochmals die Stimme Corte Contis:
„Neben den staatlichen Geschäften des Hauses laufen die Bitten zahlreicher Privater um Geld vorstreckung, die insbesondere von Seiten des arg verschuldeten, vielfach über seine Verhältnisse
lebenden hohen Adels an die Rothschild'schen Häuser gerichtet werden. Obwohl die Brüder immer bestrebt sind, hochstehenden Familien nützlich zu sein, so gehen sie doch dabei sehr vorsichtig zu Werke, wissen aber trotzdem die Kreditwerber in geschickter Weise so zu behandeln, dass
sie sich dem Hause verpflichtet fühlen, auch wenn dieses die vorgebrachten Wünsche nicht erfüllt …“471
Kaspar Hauser im Jahr 1830 zum „Kind Europas“ erklären, hieß also in der Quintessenz nichts anderes,
als ihn auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise zum Kind der Familie Rothschild zu erklären, eine absurde Idee! Diese investierte gerade zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit nicht zusätzlich in eine Person, in
deren Angelegenheiten man bereits zuvor Einiges investiert und nichts zurückerhalten hatte und die nun
weiteres Geld gekostet hätte, ohne je eine Rendite einzufahren. Solche Minus-Geschäfte kamen für die
Rothschilds nicht in Frage!
Es war also ein törichtes, von Unkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge zeugendes Unterfangen,
Kaspar Hauser zum Zielobjekt einer europaweiten Stiftung machen zu wollen.
Die Reaktion der Brüder Rothschild ließ nicht lange auf
sich warten; die ungekrönten Finanzkönige Europas zogen unverzüglich die Notbremse!
An Julius Eduard Hitzig in Berlin kamen sie allerdings
nicht heran. Ihn umzudrehen wäre ihnen auch mit einer
Geldspritze schwer gefallen, denn Hitzig stammte zwar aus
einer jüdischen, aber allezeit Rothschild-unabhängigen
Bankiersfamilie, welche gerade durch die Aktivitäten der
Rothschild-Brüder ihren Einfluss und ihre alte Stellung am
preußischen Hof verloren hatte. Hitzigs Großvater David Itzig war noch königlich-preußischer Hoffaktor und Oberhofbankier gewesen. Seine 13 Kinder machten ausnahmslos
Karriere als Geschäftsleute und Wissenschaftler oder
gründeten literarische oder musikalische Zirkel, die sie mit
einer ganzen Reihe von namhaften Künstlern der damaligen Zeit zusammenführte. Eine Tochter David Itzigs heiratete in die in Bayern etablierte Familie Seligmann ein.
Julius Eduard Hitzig trug eigentlich den Geburtsnamen
Isaac Elias Itzig, er war aber – ähnlich den Seligmanns in
Bayern – schon mit 19 Jahren in Wittenberg zum Christen- Abbildung 132: Julius Eduard Hitzig, Federzeichtum konvertiert und hatte dabei seinen Namen gewech- nung von Adolf Menzel.
selt, zum Spott Heinrich Heines. Seine Karriere begann Hitzig nach einem Studium in Halle und Erlangen beim preu471 Corte Conti, S. 154.
229
ßischen Staats- und Justizdienst, musste aber diesen 1807 wegen Napoleon demittieren und sich an schließend eine zweite Karriere als Buchhänder, Verleger und Publizist aufbauen, was ihm auch gelang.
Im Jahr 1814 konnte Julius Eduard Hitzig in den Dienst am Berliner Kammergericht zurückkehren, er wur de 1815 zum Kriminalrat und 1827 zum Director des Inquisitoriats und zum Mitglied des Criminal-Senats
ernannt. Als Herausgeber kriminologischer Fachzeitschriften und sonstigen Publikationen genoss Hitzig
europaweit einen untadeligen Ruf.
Julius Eduard Hitzig erlaubte sich mitunter sogar das, was sich andere nicht getrauten, nämlich gegen
die Rothschilds publizistische Spitzen zu setzen. So liest man in den von ihm verlegten Werken Adalberts
von Chamisso ein Bonmot des Dichters:
„Ein Wort, ein Wort nur im Vertrau'n! Ist's weis', auf Rothschild Häuser zu baun?“ 472
An anderer Stelle bezeichnete Hitzig die Rothschilds als „die ersten Kapitalisten Englands“.473
Wenn man von Seiten der Rothschild einen renitenten Julius Eduard Hitzig in seinem Engagement für
Kaspar Hauser aushebeln und neutralisieren wollte, dann am ehesten dadurch, dass man eine fachliche
Gegendarstellung aus berufenem Munde finanzierte. Uns so geschah es wohl auch.
Zur Verfügung stellte sich ein weiterer Berliner Herausgeber kriminologischer Fachliteratur, der Polizeirat Johann Friedrich Karl Merker.
Hören wir zur Person den Hauser-Forscher Johannes Mayer:
„Johann Friedrich Karl Merker (*13. März 1775 in Frankfurt/Oder, +1842 in Berlin) war von
1820 bis 1841 Polizeirat im preußischen Ministerium des Innern und der Polizei, Ressort in im Polizeipräsidium zu Berlin unter seinem Präsidenten von Puttkamer, 4. Abteilung PolizeiSicherheitsamt. Sein Vorgesetzter dort war der Geheime Hofrat Falckenberg. Zuvor war Merker
Geheimer Sekretär im königlichen Militärkabinett gewesen, dann - seit 1818 - Polizeirat in Erfurt,
wo er auch erstmals publizistisch mit Arbeiten über ’Die Notwendigkeit des Paßwesens zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit …’ (Erfurt 1818) hervortrat; ferner im selben Jahr mit einem
’Handbuch für Polizeibeamte’ sowie ’Andeutungen, wie durch eine zweckmäßige Benutzung der
bestehenden Einrichtungen in ganz Deutschland bei geringer Belästigung des Publikums eine hö here Stufe der Sicherheit gegen Raub, Diebstahl und ähnliche Verbrechen zu erreichen sein wür de’. Rege Mitarbeit entwickelte er außerdem in den ’Mitteilungen zur Beförderung der Sicherheitspflege’ sowie den ’Beiträgen zur Erleichterung des Gelingens der praktischen Polizei’, in denen Merker bald als ständiger Autor einen festen Platz einnahm. Beide Fachblätter wurden später von ihm herausgegeben. Ein Karrierebeamter, der schon frühzeitig auf sich aufmerksam
machte! Die von Merker herausgegebenen ’Mitteilungen …’ stellten ein Zirkular für alle Polizeidienststellen in Deutschland und den angrenzenden Staaten dar, in denen sämtliche Steckbriefe
und Meldungen von Mordtaten und Verbrechen aller Art auf schnellstem Wege verbreitet wurden. Insofern war Merker eine wohl von allen mitteleuropäischen Innenministerien geachtete
und bekannte Persönlichkeit. Seit 1821 bezogen auf Anordnung des Innenministeriums sämtliche
preußischen Polizeireviere und Grenzposten das Merkersche Blatt und innerhalb weniger Jahre
europaweit annähernd jede wichtige Dienststelle, die mit der Verbrechensbekämpfung zu tun
hatte. Der Berliner Polizeirat war demnach ein international geachteter Experte, dessen Urteil
Gewicht besaß …“474
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde der Polizeirat Merker von den Rothschilds gegen ein entsprechendes Salär veranlasst, publizistisch Kaspar Hausers Ruf zu untergraben bzw. diesen zum Betrüger und Hochstapler zu stempeln – nur, damit ja keine Stiftung für ihn zustande kam. Mit diesem
472 Julius Hitzig: Adalbert von Chamisso Werke, Bd. 3, 1836, S. 104.
473 Julius Hitzig, Annalen…, Bd. 3, 1829, S. 128.
474 Mayer, Stanhope, S. 545f.
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raffinierten Trick schuf man für alle Rothschild-abhängigen Fürsten und Adeligen in Europa quasi einen
Freibrief dafür, die Finger von einer Spende für Kaspar Hauser zu lassen, ohne dabei das Gesicht zu
verlieren. Dies war die Geburtsstunde der Betrüger-Theorie! Einem potentiellen Betrüger gibt man
eben nichts!
Wahrscheinlich rannte der Rothschild-Agent in Berlin beim Polizeirat Merker offene Türen ein. Hitzig
war diesem schon immer ein unliebsamer Konkurrent gewesen, und im Gegensatz zu Hitzig war es Merker auch nicht gelungen, bezüglich Kaspar Hauser an entscheidende Informationen aus Nürnberg zu gelangen. Sowohl der Bürgermeister Binder als auch Herr von Röder aus der k. Kreis- und StadtgerichtsKommission hatten z. B. im Januar 1830 abgelehnt, Merker Akteneinsicht zu gewähren (was bei einem
schwebenden Verfahren auch gar nicht gegangen wäre). 475
„Nun verdächtigt 1830 Merker in seiner Zeitschrift Hauser als Betrüger, ohne aber diesen je gesehen zu haben und ohne positive belastende Tatsachen gegen Hauser anführen zu können. Er
behauptet einfach a priori, dass bei der Seltsamkeit des Falles unbedingt Betrügerei im Spiele
sein müsste. Das ging dem Untersuchungsgericht, das aus persönlicher Anschauung von der
Schuldlosigkeit Hausers überzeugt war, natürlich gegen die Ehre. Auf amtliche Requisition hin
wurde Merker in Berlin gerichtlich vernommen, konnte jedoch auch dort keine irgendwie belastenden positiven Tatsachen vorbringen, sondern verwies lediglich auf die in seiner Zeitschrift (da nach auch als Broschüre gedruckt) vorgebrachten Theorien.“ 476
Das von Pies genannte Büchlein Merkers erschien noch 1830 bei A. Rücker in Berlin. Der Titel: „Caspar
Hauser, nicht unwahrscheinlich ein Betrüger.“ Merker wies, indem er die ihm zugänglichen Quellen, vor
allem eine Hauser-Schrift Franz Hanfstengels und den Bericht Ottos von Pirch, benutzte, auf einige be rechtigte Dinge hin, und kein Mensch hätte sich dran gestört, wenn er dabei von Ungereimtheit, Klä rungsbedarf oder Widerspruch gesprochen hätte – alles Phänomene und Sachverhalte, die heute als ge klärt gewertet werden dürfen, z. B. die Früherziehungsphase Kaspars. Daraus jedoch niedere Motive Kaspars abzuleiten und diesen sozusagen aus dem Blauen heraus zum abgefeimten Betrüger zu stempeln, ja
sogar das Wort „Betrüger“ selbst in den Titel zu nehmen und mit dem halbseidenen „nicht unwahrscheinlich“ zu versehen- ein solches Vorgehen ist an Gehässigkeit und Perfidie wohl nicht zu überbieten.
Viele haben sich hinterher gefragt, was Merker eigentlich dazu brachte, Kaspar Hauser publizistisch
derart fertig zu machen, und dies sogar unter Preisgabe editorischer Grundsätze (keine Originalquellen,
keine persönliche Kenntnis). Darüber hat sich Merker kein Blatt vor den Mund genommen. Wir zitieren:
„Wenn ich gegenwärtig meine Ansicht vor dem Schluss der Untersuchung ausspreche, so bin
ich hierzu durch die von dem Herrn Criminal-Direktor Hitzig befürwortete Aufforderung zu einer
allgemeinen Geldsammlung für Caspar Hauser veranlasst worden, die noch zu früh erfolgen dürfte, wenn sie dazu dienen soll, dem Findling ein beträchtliches Vermögen zuzuwenden …“477
Da war es wieder, das Stichwort Geld! Es ging, wie nach dem Gehörten nicht anders zu erwarten
war, nur um das liebe Geld! Dass eine Stiftung zunächst gar kein Privatvermögen war, focht den
Verleger eben sowenig an wie die Tatsache, dass er mit dem „zu früh“ in Wirklichkeit ein „nie“ meinte,
„um dieses Publikum gegen die Überlistungen eines Gauners zu bewahren …“
Ungeniert werden von Feuerbach, von Tucher und von Pirch ohne Namensnennung als Katalysatoren
des vermeintlichen Betrugs gebrandmarkt:
„Wie konnte, fragt man, ein achtzehn Jahr alter Bursche wohl den Plan ersinnen, die Theilnah me von ganz Europa erregen zu wollen? Einen solchen Plan hatte Hauser gewiß nicht. Die ver suchte Täuschung beschränkte sich unzweifelhaft auf die Erwerbung mäßiger Vorteile. Erst durch
die Art des Verfahrens gegen ihn wurde er ein Betrüger von größerer Bedeutung, so wie er sich
sehr wohl darin zu fügen wüsste, wenn der Wunsch, ihn durch Sammlung großer Summen zu ei475 Pies, Fälschungen, S. 15f.
476 Pies, Fälschungen, S. 255.
477 Merker, Betrüger, Vorwort IV.
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nem begüterten Jüngling zu machen, den erhofften Erfolg haben sollte …“478
„Bei einer Unterredung zwischen dem Herrn von Pirch und mir sind einige Umstände berührt
worden, welche meiner Ansicht von einem vorliegenden Betruge noch mehr Bestimmtheit geben …“479
Bei diesem Textstellen wird klar, dass Polizeirat Merker Kaspar Hauser dem Dunstkreis der ihn bisher
betreuenden Personen entzogen wissen wollte, weil sie angeblich die weitere Aufklärung behinderten. 480
In Nürnberg entschloss sich der
Stadtgerichts-Accessist Rudolf Giehrl
dazu, eine Gegendarstellung gegen
Merker zu schreiben. Giehrl war schon
zuvor durch giftige anti-jüdische Pamphlete aufgefallen. Im Fall Hauser
scheint Giehrl der Rothschild-Einfluss
klar gewesen zu sein, auch wenn er tunlichst vermied, den Namen in den
Mund zu nehmen, da es ansonsten viel
zu gefährlich für ihn geworden wäre.
Auf jeden Fall hielt er seine Aktivitäten
um Kaspar Hauser für so wichtig, dass
Abb. 133: Leserbrief der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung Nr. er sich hinterher dafür eine dienstliche
296 von 1830.
Beförderung ausrechnete!
Auch Julius E. Hitzig gab nicht klein bei, sondern setzte sich mit scharfsinnigen Worten zur Wehr, z. B.
mit einem in seinen Annalen von 1830 abgedruckten Leserbrief der Allgemeinen Preußischen Staatszeitung, desgleichen auch ein Anonymus mit den Initialen A. B., in eigenen apologetischen Schriften gegen
Merker.
Es nutzte alles nichts:
Die Betrüger-Theorie hatte ihren Zweck erreicht: Die geplante Spendenaktion unterblieb!
Nach einiger Zeit muss Merker von Seiten der Öffentlichkeit heftiger Gegenwind ins Gesicht geblasen
haben. Nachdem in Nürnberg Dr. Osterhausen und Dr. Preu schriftliche Gegengutachten zu seinen Thesen vorgestellt hatten und sich auch Georg Friedrich Daumer zu Wort gemeldet hatte, war Merker zum
Erhalt seiner verlegerischen Reputation und zur Untermauerung seiner Objektivität im Folgejahr dazu gezwungen, 1831 diese Gutachten in einer weiteren Veröffentlichung, „Nachrichten über Caspar Hauser
aus authentischen Quellen“, vorzustellen und dabei einige seiner vorherigen Behauptungen zu relativieren, ohne allerdings den Betrugs-Vorwurf ganz fallen zu lassen. Im Gegensatz zum Vorjahr, als ihm noch
August Rücker als Verleger gedient hatte, übernahm jetzt Leopold Wilhelm Krause (+16.1.1846) neben
dem Druck auch den Verlag der Merker'schen Publikationen. Krauses Zeitschriften-Verlag hatte in den
Zwanziger Jahren durch Übernahme der Litfaß'sche Druckerei geschäftlichen Aufschwung genommen –
nicht zuletzt dadurch, dass er sämtliche Berliner Veröffentlichungen Moritz Saphirs übernahm, selbst die
der Zensur anheimfallenden. Deshalb dürfen wir mit Recht auch Krause wie Saphir der Rothschild-Seite
der Berliner Publizisten-Szene zurechnen.
Wahrscheinlich hatte Merker im Vorjahr etwas über das Ziel hinausgeschossen, wenn nun von Seiten
Krauses ein gewisses Korrektiv erforderlich war und speziell die Rufschädigung von Feuerbachs in einem
Herausgeber-Wort revidiert wurde. Der Hintergrund ist dabei klar: Wenn man ohne Rücksicht auf Verlus te weiter auf der Betrüger-Theorie herumritt, war Kaspars Schicksal für die Rothschilds auf Dauer der
Verwendung zu strategischen Zwecken entzogen, was nun sicherlich weider zu weit ging und auch nicht
478 Merker, Betrüger, S. 9.
479 Merker, Betrüger, S. 14, Fußnote.
480 Merker, Betrüger, S. 93.
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im Interesse des Bankhauses lag.
„Aliquid semper haeret – Etwas bleibt immer hängen“, sagt ein lateinisches Sprichwort.
Allen Korrekturen zum Trotz stand ab 1830 der Betrugs-Verdacht im Raum und klebte an Kaspar
Hauser wie Pech!
Bleibt ergänzen, dass Johann F. K. Merker in Berlin im Haus Hausvogteiplatz 5 wohnte. 481 Auf der bei
Mayer wiedergegebenen historischen Aufnahme aus dem Bundesarchiv, die von 1889 stammt und auch
vergrößert bei Wikipedia einsehbar ist, kann man erkennen, dass Merkers Wohnung mitten in einem Ein kaufsviertel lag, welches, wie die Ladenschilder verraten, vom jüdischen Konfektionshandel Berlins domi niert wurde. Wenn Merker gerade hier wohnte, kann man ihm wenigstens Kontakte zur Berliner Judengemeinde unterstellen. Von dort war es zu den Rothschilds nicht mehr weit. Oder sollte Merker gar
selbst mosaischer Religion gewesen sein? Wir konnten diese Frage nicht klären.
Abb. 134: Berlin 1889: Der Hausvogteiplatz, anstelle der Bastion III der Memhardt'schen Festungsanlagen des 17.
Jhd., entwickelte sich zum Zentrum des Konfektionshandels. Blick auf die Westseite des Platzes mit der Einmündung
de Mohrenstraße. Merker wohnte in dem Haus mit der Aufschrift „Gebr. Heller & Horwitz“.
Dass die Betrüger-Theorie nach einer Latenzphase, mit der Jahreswende 1833 und vor allem im Jahr
1834, weiteren Aufschwung erhielt, war nun Lord Stanhope zu verdanken. Unter Mithilfe Merkers
installiuerte er erneut und dauerhaft gegen Kaspar Hauser den Betrugsvorwurf. Diese Rufmordkampagne
lag nicht unbedingt im Interesse des Hauses Rothschild, wie wir im Folgenden deutlich machen werden,
allerdings dürften die Rothschilds nach Kaspars gewaltsamen Tod auch nichts Grundsätzliches mehr
dagegen gehabt haben, denn nunmehr ging es darum, vor allem die Spuren der eigenen Beteiligung zu
verwischen, wozu die Betrüger-Theorie allemal taugte. Außerdem war 1833/34 der bayerische Königshof
inzwischen zum Geschäftspartner geworden, so dass ein weiterer Vorstoß gegen Bayern und MariaLeopoldine nicht mehr opportun war.
Vor 1833 galt dies allerdings keineswegs.
Speziell die Aktivitäten eines Staatsrats Johann Ludwig Klüber, den wir weiter unten als Rothschild-Vertreter vorstellen, deuten nicht in diese Richtung. Und so muss es, solange Kaspar lebte, einen weiteren
Player im Hintergrund gegeben haben, der vorübergehend die Betrüger-Theorie aufgriff, um sich damit
in einen gewissen Gegensatz zur Rothschild-Doktrin zu setzen. Soweit im Vorgriff zum Nachfolgenden!
Zunächst jedoch verfolgen wir dem weiteren Ablauf von Kaspar Hausers „ungarischer Sinfonie“!
481 Mayer, Stanhope, S. 549.
233
Neuauflage: Kaspars Mythos als ungarischer Magnat
Die Rothschilds werden mit dem Merker'schen Notnagel zufrieden gewesen sein, ihr Geldschrank
blieb vor „humanitärer Plünderung“ verschont, Feuerbach war in seinem Ruf beschädigt.
Nichtsdestotrotz war Kaspar in der Rolle des Betrügers als politisches Druckmittel gegen Bayern kaum
brauchbar. Also fuhr man im Folgenden wieder die zuerst gewählte Schiene und versuchte, gegen Bayern
und die Gruppe Seligmann/von Eichthal mit der Ungarn-Geschichte weiteren publizistischen Druck aufzubauen!
Gefördert wurde sie z. B. durch Professor Dr. Karl Georg Rumy aus Gran, der in einem Artikel der in
Ofen erscheinenden, deutschsprachigen Zeitschrift „Der Spiegel“ Kaspars Herkunftsregion ins Neutraer
oder Neograder Komitat verlegte. Wenn dieser vielseitige Historiker, der später, 1832, auch mit Anselm
von Feuerbach in Briefkontakt stand, 482 aufgrund der Pirch'schen Sprachanalysen im Jahr 1830 schrieb,
„das Gefängnis Kaspars scheint nicht in Ungarn oder im Böhmerwald, sondern in Österreich ob der Enns,
ungefähr 15 Meilen von Nürnberg gewesen zu sein“, so lag er intuitiv richtig, beschrieb er doch mit dem
Land ob der Enns eine Region, der man zwanglos Vöcklabruck und Wanghausen zuordnen könnte, selbst
wenn diese Orte am Rand lagen! Auch die „15 Meilen nach Nürnberg“ standen nicht dagegen; damals
entsprach einer österreichisch-ungarischen Postmeile die Strecke von 7,585 Kilometern. 483
Dennoch genügten all diese Aktivitäten und Erkenntnisse nicht, um von Nürnberg aus via Ungarn den
Fall des Findlings auf die Dalbonne und damit auf Bayern hinzuwenden; speziell Rumy's Schrift wurde ge flissentlich nicht beachtet. Es bedurfte also weiterer Lockmittel in Richtung Ungarn.
Am 9. und 10. August 1830 erschien plötzlich der Rothschild-Agent Moritz Saphir persönlich in
Nürnberg. Man darf sicher sein, dass sein Test Kaspars, zu dem er ohne Überprüfung der Person, aber
vermutlich mit Geldmitteln Zutritt fand, nicht aus Lust und Laune heraus stattfand, sondern ebenfalls auf
eine klare Order hin. Es war allerdings ein Pech, dass Saphir selbst gar kein Slawisch, sondern nur Unga risch sprach. Deshalb reagierte Kaspar zunächst auch gar nicht auf sein Kauderwelsch. Erst als er explizit
darauf aufmerksam gemacht wurde, meinte er einige von Saphir vorgesagte Sätze und Wörter zu erkennen, und auch das nur mit Mühe. Moritz Saphir war also im Grunde genommen der verkehrte Mann,
aber er war eben derjenige, der gerade in Bayern greifbar war und am leichtesten in Nürnberg vorstellig
werden konnte. Erst als Saphir ganz gezielt mit dem Satz „Papa ist fort in Posonyba“ (Pressburg) sozusagen seinen letzten Joker zog, brachte er Kaspar in Wallung resp. in ein gewisses Erinnerungsvermögen. 484
Dieses Saphir-Interview erregte das gewünschte Aufsehen in der bayerischen Presse. Vielleicht lohnt
es sich, an dieser Stelle zu erwähnen, dass sich Moritz Saphir bei der Titelsuche zu seiner Zeitschrift „Ba zar“ zwar eines Gemeinplatzes, aber zugleich auch eines Namens bedient hatte, der sich in München bei
dem von Leo von Klenze projektierten und vom Bankhaus von Eichthal finanzierten Kaufhauses „Bazar“
wiederfindet. Dieses Haus am Hofgarten hatte einen großen kommerziellen Erfolg, galt wegen seines
vielfältigen und gehobenen Warenangebotes geradezu als Sensation und beispielgebende Innovation.
Heute würde man einen solchen Namen schützen und bei der Übertragung des geschützten Namens ein
Verfahren wegen Urheberrechtsverletzung ernten. Damals war die Leihgabe des Titels offensichtlich un gestraft möglich, allerdings durfte Saphir sein Blatt alsbald aus anderen Gründen einstampfen.
Was die Belebung der „ungarischen Verbindungen“ Kaspar Hausers im Sommer 1830 anbelangt, so
war Saphirs Auftrag erfüllt. Wenig später wurde er in München als Agent enttarnt und aus Bayern entfernt. Die Tatsache, dass er schon im Jahr 1831 mit ausdrücklicher Erlaubnis Königs Ludwigs I. wieder zurückkehren durfte und alsbald als Redakteur des „Bayerischen Beobachters“ zum evangelischen Glauben
482 Daumer, Wesen, S. 456.
483 Linde 1, S. 229f.
484 Pies, Dokumentation, S. 90f.
234
konvertierte, spricht dafür, dass er von bayerischer Seite aus umgedreht worden war. Wendehälsisch wie
z. B. ein Joseph Heinrich Garnier in Frankreich/England, verdiente Saphir so als Publizist seine Brötchen
am besten! Vielleicht stellte man Saphir bewusst von Seiten des bayerischen Hofes als Mitwisser in der
Sache Kaspar Hauser ruhig, in dem man ihn nun zum gut dotierten Hoftheater-Intendantsrat ernannte.
Wer weiß, was der Mann alles hätte verraten können! So aber verhielt er sich im Gegensatz zu seinem
Voraufenthalt auffallend ruhig und regierungskonform. Allerdings hielt es Moritz Saphir auf Dauer auch
diesmal nicht in München; im Jahr 1834 zog er wieder nach Wien um.
Soweit zur an Verwerfungen reichen Karriere eines eher mittelmäßigen Agenten, Schriftstellers und
Feuilletonisten, von dem sich einige Werke erhalten haben.
Mit seinem „Vater ist fort in Posonyba“ hatte jedenfalls Saphir zum richtigen Zeitpunkt die richtige
Steilvorlage gegeben und alsbald war das angestrebte Ziel erreicht!
Im Juli 1831 reiste Kaspar Hauser in Obhut des Barons von Tucher und des Oberleutnants Hickel nach
Ungarn, um in der Slowakei hinter Pressburg nach einem Schloss zu suchen, in dem er angeblich verwahrt gewesen sein soll. Der entscheidende Tipp hierzu soll von Staatsrat Klüber aus Frankfurt gekommen sein, dem wir später ebenfalls eine Rothschild-Verbindung zuschreiben. Leider scheiterte die Reise
an unvorhergesehenen Widrigkeiten. In der Slowakei bracht die Cholera aus, der um Pressburg gezogenen Sanitäts-Kordon machte die Weiterreise unmöglich, und die Reisegesellschaft musste unverrichteter
Dinge nach Nürnberg zurückkehren.
Ein Zufall hatte den Akteuren im Hintergrund erneut einen Strich durch die Rechnung gemacht. Somit
bedurfte es eines noch stärkeren Druckmittels, um den ins Stocken geratenen Karren wieder zum Laufen
zu bringen.
Über die inzwischen von Stanhope veranlassten Sprachversuche eines Dr. Manso möchten wir hinwegsehen. Dieser in Nürnberg lebende Ungar hat mit der hier erzählten Geschichte nichts zu tun. Immerhin
erbrachten seine Tests die Erkenntnis, dass sich Kaspar lebhaft an den Eigennamen „Istwan“ (Stephan)
erinnerte und dabei angab, er sei in seiner frühesten Jugend so genannt worden. Stanhope selbst de mentierte allerdings diese Behauptung. 485
Nun wird die Situation etwas unübersichtlich:
Im Oktober 1831 erschien beim Bürgermeister Binder in Nürnberg ein „auf der Flucht vor der Cholera
befindlicher“ ungarischer Graf namens Ladislaus Mérey mit seinem „hoffnungsvollen“ Sohn und seinem
Hofmeister (wohl sein Bruder). Dieser Graf wollte Kaspar Hauser unbedingt erneut testen. Die Motive
des Grafen bleiben zunächst im Dunkeln, aber selbstredend war er gezielt angereist; zuvor hatte er sich
in München aufgehalten.486
Dies waren nun erstmalig autochthone Ungarn aus adeligem Geschlecht, die bei Kaspar auftauchten.
Bürgermeister Binder sprach über das Eintreffen der Gruppe in einem Brief an Gottlieb von Tucher am
10. Oktober 1831 und drängte diesen zum Empfang, weil „diese Vögel, deren Pässe nach bayerischem
Gesetz nicht einmal bei der Polizei liegen … schnell entfliegen könnten.“487
Damit ist klar, dass auch diese Adeligen in geheimer, jedenfalls nicht-offizieller Mission unterwegs waren, also bereits in Ungarn bestens über den Fall instruiert worden sein mussten. Drei Tage später
berichtete von Tucher von dem stattgehabten Gespräch mit Kaspar. Dieser sei bei dem Satz „Istvan
Szalakuszra vidd – trage den Stefan nach Szalakusz“ in höchste Aufregung geraten, er habe am ganzen
485 Philip H. Earl Stanhope: Materialien zur Geschichte Kaspar Hausers, Heidelberg 1835, S. 26. Im Weiteren abgekürzt mit Stanhope und Seitenzahl.
486 Meyer, Mitteilungen, S. 554.
487 Mayer-Tradowsky, S. 496.
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Leib gezittert.488 Als ihm der Name Bartakovics zusätzlich genannt wurde, soll er nach tiefem Besinnen
gesagt haben: „Das ist nicht so deutlich, gerade wie die Mutter.“ 489
Stanhope behauptete nach Hickels Bericht später, Kaspar habe sogar geschrien: „Die ist meine Mutter und der Name,
nach dem ich solange gesucht habe …“490
Auch den Ortsnamen „Neutra“ soll er in
auffälliger Weise reflektiert haben.
Ob dieses Interview des Grafen Mérey
in dessen Absteige „Bayerischer Hof“ in
Nürnberg unter Zeugen stattfand, ist
nicht gesichert, wenngleich die Berichte
Tuchers es in den Raum stellen. Wahrscheinlicher ist es, dass bei diesem Abb. 135: Das Dorf Szalakusz heute. Im Hintergrund rechts die
Sprachtest niemand dabei war, und der Anhöhe mit den Ruinen des Schlosses der Bartakovics.
ungarische Graf hinterher nur von seinen
Ergebnissen erzählte. Dies entnimmt man einer Stellungnahme Stanhopes, der wir glauben wollen: Die
Herren hatten Kaspar allein sprechen wollen! Kaspar habe paradoxerweise schon nach seinem Eintreffen
zuhause die ihm scheinbar so wichtigen Begriffe auf Nachfragen nicht mehr erinnert. 491
Nun endlich standen ganz spezifische Begriffe für die Öffentlichkeit im Raum: Szalakusz – Neutra –
Bartakovics.
Wiederum verbreitete sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Und erstmalig ging die Stoßrichtung nicht
nur gegen die Gouvernante Dalbonne, deren Name gar nicht gefallen war, sondern vor allem gegen Frau
von Majthényi, geb. Bartakovics! Vom Prinzip her hätte diese tatsächlich in ihrem ehelosen Jahr 1809 ein
Kind zeugen und austragen können, nur war dem nicht so.
Wenn aber Mérey diesen Teil der Gerüchte gezielt förderte, dann muss auch dies eine spezielle
Bedeutung gehabt haben. Im Vaterschloss Szalakusz bei Neutra hielt sich Frau von Majthényi sicherlich
des Öfteren in den Sommermonaten mit ihren Kindern auf, und die Dalbonne war als angestellte Kinder dame jeweils dabei!
Damit schloss sich der Reigen, der mit dem Brief in Saphirs „Bazar“ im Vorjahr eröffnet worden war.
Recht viel mehr an Publizität hätte man von Rothschild'scher Seite aus der „ungarischen Herkunft“ Kas par Hausers nicht mehr verleihen können, wobei es ja für die Bank im Hintergrund darauf ankam, selbst
im Unverfänglichen zu bleiben. Deshalb mussten die Informationen über Umwege wie Norddeutschland
gestreut oder in den Mund des Findlings gelegt werden!
Zum Grafen László Mérey de Kaposmére – so lautet die ungarische Schreibweise – konnten wir ermitteln, dass er hoher Richter und k. k. Kämmerer war. Er wurde 1784 in Dunapentele geboren und starb am
12. Juni 1851 in Pest. Er vermählte sich am 1. August 1813 mit einer gewissen Terézia Földváry aus Pest.
Der Graf selbst scheint jedoch ein Magnat aus Ofen gewesen zu sein, wie die Ofener Subskribentenliste
zu einem National-Schauspiel von 1827 ausweist. Insofern war er über die Verhältnisse der Marianne
von Majthényi bestens informiert; er muss in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gewohnt haben. Den
Namen seines Sohnes, der 1831 in Nürnberg dabei war und damals noch unter 18 Jahren gewesen sein
sollte, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.
Über den Grafen selbst ist weiter nicht viel bekannt. Berühmter als er selbst war sein Bruder Sándor
(Alexander) Mérey (*20.09.1778 + 19.10.1848). Dieser tat sich nicht nur mit den Titeln „k. k. Geheimrat“
488 Mayer-Tradowsky, S. 497.
489 Sittenberger, S. 265ff.
490 Meyer, Mitteilungen, S. 554. Stanhope, S. 27.
491 Meyer, Mitteilungen, S. 554. Stanhope, S. 28.
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und „k.k. Kämmerer“ hervor, sondern auch als Repräsentant des Königs im Obersten Gerichtshof. Sandort Mérey war Übersetzer mehrerer Dramen und ein hoch erfolgreicher Geschäftsmann mit Verbindungen zur ungarischen Banken-Szene. Damit gehörte er zur politischen und kulturellen Avantgarde in Ungarn.
Eines ist sicher: Lászlo Mérey hatte etwas gegen die Dalbonne, aber er hatte auch etwas gegen die
Maria Anna Bartakovics, verwitwte Majthényi!
Dass er die Dalbonne im Visier hatte, entnehmen wir der Tatsache, dass einer seiner Freunde aus dem
Stand der Barone – in der Quelle leider ungenannt – die wertvolle Information gab, nach dem Verhör
habe die Dalbonne eine geistige Umnachtung simuliert und sich in das Pressburger Rochus-Spital geflüchtet. Wir haben darüber bereits oben berichtet.
Damit steht auch fest, dass sich der Ofener Graf mit seinen Aktivitäten einem Tavernikus Regalium Magister Fidel Graf Pálffy widersetzte. Den königlichen Schatzmeister, der als einer der vier Reichsbarone zu den höchsten Würdenträgern in Ungarn von des Kaisers
Gnaden (neben dem Palatin, dem Judex Curiae und dem Ban von
Kroatien) zählte, haben wir am Anfang dieses Kapitels schon in Zusammenhang mit dem Dichterarzt Franz Schedel erwähnt.
Fidel Graf Pálffy deckte nachweislich die Dalbonne – wohl aus
der Erkenntnis heraus, dass andernfalls nicht nur sein eigener Ruf,
sondern auch der seiner Familie Schaden genommen hätte.
Wenig später, im Jahr 1837, machte Fidel Pálffy aufgrund seiner
streng konservativen Haltung am Wiener Hof eine Karriere als Hofkanzler. Dies rief allerdings den heftigen Widerstand der Opposition
in Ungarn hervor. Da es wegen seiner Person und seiner reaktionären Entscheidungen beinahe zum Aufstand gekommen wäre – er
Abb. 136: Fídel Pálffy, Jugendbildnis. wollte u. a. die berühmte Kettenbrücke über die Donau verhindern,
um die Ofener Adels-Clique vor den aufstrebenden Pestern zu schützen –, musste Kaiser Ferdinand II. ihn kurzerhand wieder absetzen. Zu dieser ungarischen Opposition
darf man wohl auch einen László Mérey zählen.
Bei Betrachtung des politischen Umfeldes tun sich also beiderseits der Donau, in Ofen (später Buda)
und Pest, inner-ungarische Fronten auf. So ist es gut möglich, dass ein László Mérey neben persönlichen
Zielen auch einen Auftrag von dritter Seite wahrnahm, wobei nunmehr nicht nur die Bankhäuser Rothschild/Wodianer in Frage kommen, sondern letztlich auch ein Georg von Sina, je nachdem wie die aktuelle Interessenlage damals beschaffen war. Wer von beiden Seiten welche konkreten Absichten verfolgte,
und wie dabei der Graf Mérey einzuordnen ist, wagen wir wegen der brüchigen Informationslage nicht
zu entscheiden.
Nur eines scheint sicher zu sein:
Während sich in der aufstrebenden Stadt Pest die Kaufleute und die Gewerbetreibenden, die Bankund Wechselhäuser sowie eine authochthon-ungarische Adelsschicht mit einem Grafen Széchenyi an der
Spitze als ausgesprochen reformfreudig, zukunftsorientiert und kulturbeflissen erwiesen, herrschte auf
der Festung Ofen und in der Ofener Oberstadt unter den konservativen, meist deutschstämmigen
Hochadeligen, die den strengen ungarischen Verwaltungsapparat stellten, die Angst vor dem Neuen.
Zu dieser älteren Adelsschicht, die sich längst mit der österreichischen Fremdherrschaft zu eigenen
Gunsten arrangiert hatte und sich jeglichem ungarischen Nationalgefühl verweigerte, zählte vor allem
die Familie Pálffy.492 Der Tavernikus Fidel Pálffy sprach nicht einmal Ungarisch! Zu seinen Unterstützern
492 Ursprünglich „Hedrich“, dann „Paul Kont“; Pálffy = „Pauli filius“.
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wird man die Familie Majthényi (ehemals „Milbich“) zählen, die in Ofen und im Ofener Bergland residierte. Deren Verwandter (vermutlich Schwager der Witwe Majthény) war wiederum Graf Joseph Brunswick, ebenfalls ein hoher Ofener Staatsbeamter. Er hatte Johann Samuel Müller um 1825 den Posten im
Haus Majthényi verschafft. Nur die Schedels hatten sich, wie oben erwähnt, von dieser Clique frühzeitig
abgesetzt, zumindest, was die Erziehung ihres Sohnes anbetrifft.
Kein Wunder, wenn clevere Geschäftsleute wie die Familien Rothschild, Wodianer oder Sina instinktiv
ihre Fühler zur geschäftstüchtigen, politisch-fortschrittlichen Seite der künftigen Donaumetropole Buda pest hin ausstreckten, selbst wenn dies zunächst gewisse Risiken barg. Dabei mussten sie allerdings mit
Rücksicht auf das Kaiserhaus und Fürst Metternich mit äußerster Vorsicht vorgehen.
Soweit zu den politischen Hintergründen, ohne die Kaspar Hausers Ungarn-Geschichte nicht verstanden werden kann.
Wir fassen zusammen:
Selbst so unverfänglich und heiter wirkende Episoden im Leben Kaspar Hausers wie die genannten
Sprachtests können nicht richtig verstanden werden, wenn man nicht den soziokulturellen Hintergrund
in Ungarn und die politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Interessen der agierenden Personen
berücksichtigt. Im Fall des „ungarischen Experimentes“ verbanden und ergänzten sich preußische, inner-ungarische (und damit anti-österreichische) sowie finanzpolitische Interessen in eigenartiger Weise und übten ihren unguten Einfluss auf Kaspar Hausers Leben aus. Kaspar wurde über die BankenSzene für Zwecke instrumentalisiert, die mit seinem Wohlergehen nicht das Geringste zu tun hatten
und wovon er nicht die geringste Ahnung hatte!
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Die zweite Ungarnreise Hickels und ihr planmäßiges Scheitern
Veranlasst durch die Erkenntnisse, die sich aus den Mérey'schen Sprachtests ergeben hatten, konnte
Lord Stanhope nicht anders, als im Frühjahr 1832 den inzwischen zum „Spezialkurator“ Kaspar Hausers
ernannten Joseph Hickel ein zweites Mal nach Ungarn zu schicken, nunmehr allein.
Dabei agierte Stanhope mit Sicherheit nicht im Sinne der bisherigen Rothschild-Strategie, sondern
nach einem neuen Frankfurter Konzept, das wir im nächsten Kapitel besprechen. Der bayerische Hof hatte an dieser Reise verständlicherweise kein Interesse; König Ludwig I. von Bayern lehnte eine finanzielle
Beteiligung expressis verbis ab.
Angesichts der politischen Umtriebe in Deutschland kurz vor dem Hambacher Fest hatte sich im Jahr
1832 speziell bei den deutschen Großbanken die Erkenntnis durchgesetzt, dass jede weitere Beunruhi gung der Fürstenhöfe in Deutschland unabsehbare Folgen hätte zeitigen können. Insofern könnte man
nun erstmals von Rothschild-Seite Stanhope nahegelegt haben, die ungarische Spur zunächst nicht weiter zu verfolgen. Das traf sich bestens mit dessen heimlichen Aktivitäten für Maria-Leopoldine und den
Bankier von Eichthal in Bayern, auf die wir im folgenden Kapitel noch ausführlich eingehen werden.
Jedenfalls sollte Hickels zweite Reise 1832 kein Ergebnis zeitigen – und genau dies tat sie auch nicht!
So behauptete Stanhope hinterher, „der ungarische Edelmann, der im Oktober vorigen Jahres nach
Nürnberg kam, sagte (Hickel), es wäre ihm und seinem Sohne augenscheinlich gewesen, dass Kaspar
Hauser mit Ihnen Komödie spielte, und sie hätten sehr oft darüber gelacht …“493
Die Mitteilung Hickels kann sogar der Wahrheit entsprochen haben. László Mérey vermutete, dass
Stanhope für die wittelsbachische und letztlich wegen der Familienzugehörigkeit Maria-Leopoldines auch
für die habsburgische Sache stand und u. U. über die Achse Gentz-Metternich ein gefährlicher Informant
dem Kaiserhaus gegenüber war. Also galt es für die Méreys, als Stanhopes Adlatus Hickel bei ihnen un vermutet auftauchte, jeden Verdacht von sich selbst abzulenken, indem man die Sache Hickel gegenüber
einfach ins Lächerliche zog. Andernfalls hätte es für Mérey brenzlich werden können!
Doch konnte Joseph Hickel László Mérey damals überhaupt sprechen?
Der Hauser-Forscherin Sylvia Kemming verdanken wir den wertvollen Hinweis, dass nach geheimen
Berichten der Wiener Kriminalpolizei Joseph Hickel in Ungarn auftragsgemäß sehr säumig ermittelt ha ben muss.
In Pest suchte er lediglich den Tabakgroßhändler und
-fabrikanten Fuchs auf und traf sich mit diesem zu mehreren gemeinsamen Mahlzeiten.494 Dieses vermutlich von
Stanhope eingefädelte Aufeinandertreffen schlüge laut
Amelie Lanier zunächst die Brücke zum Bankhaus Georg
von Sina: Die Firma „Fuchs, Philipps und Compagnie“ war
zum damaligen Zeitpunkt das einzig größere tabak-verarbeitende Unternehmen in Ungarn, das eng mit dem österreichischen Tabak-Monopol und damit mit von Sina
zusammenarbeitete.495 Dass hierin eine klare Front zur
Abbildung 137: Zigarrenbinde der österreichiGruppe Rothschild/Wodianer aufscheint, ist indes nicht schen Tabakregie, gegründet 1784.
sicher, denn auch ein Samuel Wodianer engagierte sich
nachhaltig im Tabakgeschäft. Insofern gelingt es nicht, Fuchs eindeutig einem der beiden Lager
zuzuordnen, zumal die Bankhäuser nach und nach zusammenarbeiteten.
493 Mayer, Stanhope, S. 29.
494 Information aus einem Brief des Freiherrn Johann Nepomuk von Malonyay, Obergespan des Neutrer Comitats
und Hofvizekanzler Ungarns, an den Fürsten Mitternich, in: http://www.robl.de/hauser/wienerakten.html.
495 Amelie Lanier: The Budapest Chain Bridge, S. 32.
239
Auch die Hintergründe der Parteinahme eines László Mérey gegen das Haus Majthényi bleibt im Unklaren. Dass Joseph Hickel in jenem Frühjahr beim Tabakhändler Fuchs in Pest László Mérey getroffen
hätte, ist unwahrscheinlich, denn dieser wohnte in Ofen, und die Donau war damals von Pest aus nur per
Schiff und unter gewissen Risiken zu überwinden: Im Februar war der Schiffsponton, der die Städte
verband, abgebaut und die Fährüberfahrt wegen des Treibeises sehr gefährlich.
Zum günstigen Augenblick muss dann Joseph Hickel doch in Richtung Stuhlweißenburg (heute Székesfehérvár) abgefahren haben. Hickel konnte an unbekanntem Ort Méreys berühmten Bruder, wohl den k.
„Personal“496 Sándor (Alexander) Mérey, auch k.k. Kämmerer und wirklicher Geheimrat, sprechen. Vielleicht hatte dieser die „Komödie um die Sprache Kaspar Hausers“ inszeniert. Obendrein besagte der Brief
Malonyays, dass Laszló Mérey damals auf einer Gesandtschaftsreise gewesen sei. Wenn dies stimmt,
dann hätten Hickel bzw. Stanhope in seinem Buch von 1835 klar gelogen!
Von Stanhope hatte Hickel ein Empfehlungsschreiben an den Stuhlweißenburger Bischof Johann Horvath in der Tasche, von dem er, wenn man seinem Briefroman folgt, 497 zu einem kurzen Gespräch vorgelassen wurde, das der Geheimpolizei entging. Außerdem wollte er die Dalbonne treffen, die sich gerüchteweise im Ort befand. Dasselbe gilt auch für den inzwischen als geisteskrank erklärten Johann Samuel
Müller, der nach Stuhlweißenburg versetzt worden war. Hickel wird diese beiden Besuche nicht ansatzweise versucht haben; er verließ laut Geheimpolizeibericht sein Hotel in Stuhlweißenburg überhaupt nur
für eine halbe Stunde und machte weder Besuche, noch empfing er welche!
Insofern bleibt es auch fraglich, ob sich Hickel auf die weitere Spur der Dalbonne in das Komitat Neu tra hinein begab, selbst wenn er behauptete, er habe die dort gelegenen Bartakovics-Schlösser S. (wohl
Szalakusz) und P. (wohl der weitere Familiensitz Bartok in der Nähe) besucht und von einer Geburt Hau sers nichts erfahren. Wie hätte er auch? Wenn hinterher sein Urteil lautete „Hauser ist kein geborener
Ungar; diesbezügliche Behauptungen seien ’thörichte Faseleien’!“ und er dieses allein damit begründete,
dass bei Szalakusz nicht der Mais wachse, der beim Kukuruz-Test Kaspar Hausers eine Rolle gespielt hatte, dann war Hickel klar von Stanhope beeinflusst. Welch oberflächliche Argumentation! 498
Dennoch hinderte die dünne Argumentationsbasis Lord Stanhope nicht daran, Kaspar Hauser hinterher in Bausch und Bogen als Lügner abzustempeln, womit Merkers Betrüger-Hypothese wieder ans
Licht gezogen war. In der Folge arbeiteten Merker und Stanhope diesbezüglich über Kaspar Hausers Tod
hinaus eng zusammen – und auch dies wahrscheinlich mit Hilfe einer Großbank, die aber nun weder den
Namen „Rothschild“ noch den Namen „Eichthal“ trug, sondern den Namen „Bethmann“! Wir werden
darauf zurückkommen.
Stanhope berichtete zunächst triumphierend, dass ihm Hickel nach seiner Reise am 23. Mai 1832
einen Bericht zugesandt habe,
„…der mit voller Gewissheit zeigte, dass alle die anscheinenden Rückerinnerungen von Kaspar
Hauser nichts als Irrwische waren. Das Schloss, dessen Name er ’so lange gesucht hatte’, musste
ihm ganz fremd gewesen sein, wie auch die Dame, die er für seine Mutter hielt.“
Woher wusste Hickel das eigentlich, wenn Kaspar Hauser doch gar nicht dabei gewesen war?
Für uns besteht kein Zweifel: Der Spezialkurator Jospeh Hickel sollte als treuer, weil gut bezahlter
Diener seines Herren Stanhope über die Dalbonne und die Herkunft Kaspar Hausers nichts
Wesentliches herausbekommen!
Sein Ermittlungsauftrag, zu dem noch ein König Ludwig sein Plazet erteilt hatte, war also nichts ande res als ein Scheinauftrag gewesen! Möglicherweise hatte inzwischen auch Moritz Saphir der bayerischen
Geheimpolizei gegenüber „gepfiffen“, so dass man Stanhope gerade von bayerischer Seite aus die rasche
496 Vertreter des Kaisers/Königs in Gerichtssachen.
497 Julius Meyer (Hrsg.): Caspar Hauser. Hinterlassenes Manuscript von Josef Hickel, k. b. Gendarmerie-Major,
Mitglied der Hauser'schen Untersuchungs-Commission und gerichtlich bestelltem Vormund desselben, nebst
einer Selbstbiographie Caspar Hausers. C. Brügel und Sohn, Ansbach 1881, S. 90ff.
498 Meyer, Mitteilungen, S. 559.
240
Beerdigung der Angelegenheit dringend ans Herz gelegt hatte.
Der Plan ging auf:
Die Pseudo-Informationen Joseph Hickels brachten die Aufklärungsversuche zur Herkunft Kaspar
Hausers via Ungarn gänzlich zum Versiegen!
Nur einmal noch kam es zu Sprachtests, nunmehr durch Feuerbach persönlich durchgeführt. Im Sommer 1832 schickte Staatsrat Johann Ludwig Klüber aus Frankfurt 50 magyarische Schlüsselwörter aus einem Fachbuch über europäische Sprachen 499 nach Ansbach. Kaspar verstand erneut keines dieser Wörter, so dass seine Ungarn-Geburt definitiv ad acta gelegt wurde.
Klüber berichtete davon Lord Stanhope in einem Schreiben vom 2. August 1832, der hierauf trium phierende Gefühle entwickelt haben dürfte. 500
Damit hatten sich am Ende die Vertuschungsstrategie der Staatsmacht in Bayern und Österreich mit
dem Verleumdungsfeldzug Lord Stanhopes vereinigt, und ein zuvor mit Unterstützung progressiver ungarischer und österreichischer Kräfte begonnener, durchaus hoffnungsvoller Weg der Aufklärung endete im Leeren. Die Méreys mussten wohl alsbald in Deckung gehen, die weitere Finanzierung von Ermittlungsreisen zwischen Nürnberg und Ungarn fand nicht mehr statt. Von politischer Seite war in Be zug auf die Aufklärung erst recht nichts zu erwarten!
Am Schluss dieser Ausführungen möchten wir mögliche Missverständnisse ausräumen:
•
Wir selbst gehen selbstverständlich nicht davon aus, dass Kaspar Hauser längere Zeit auf dem
Landsitz in Sazalakusz weilte.
•
Wir gehen auch nicht davon aus, dass die Wörter „Szalakusz“ oder „Bartakovics“ für ihn
überhaupt eine größere Bedeutung hatten.
•
Wir gehen lediglich davon aus, dass in den Jahren 1830 und 1831 mit dem Ort Szalakusz eine erfolgversprechende Spur zur endgültigen Aufklärung der Verbrechensbeteiligung der Dalbonne
alias Anna Frisacco gelegt war. Dort in Szalakusz (heute Podhorany, 8 km nördlich von Neutra)
hätten wichtige Informationen fließen können – weit weg von den Höfen Münchens oder Wiens.
Wer kam als Informant in Frage?
In Szalakusz gab es eine größere Judengemeinde mit eigener Synagoge. Wäre bei der ersten Ungarn-Reise ein Kontakt mit ihr erfolgt, dann hätten von Tucher und Hickel vielleicht über die Achse Samuel Rothschild/Wodianer von den Szalakuszer Juden interessante Dinge in Erfahrung brin gen können!
Im Jahr 1832 gab es diese Chance definitiv nicht mehr! So verlief die Sache im Sand – und Kaspar Hau sers Verhängnis nahm seinen Lauf!
Damit blenden wir erneut zurück und beschäftigen uns etwas näher mit Lord Stanhope und seinen
Geldgebern. Insbesondere ist die Frage zu klären, wie er mit der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine und
Teilen des bayerischen Hofes in Kontakt und in Geschäftsbeziehungen hatte kommen können. Diese Ver bindung ist nirgends expressis verbis dokumentiert – und zieht sich dennoch wie ein roter Faden durch
seine Aktivitäten.
499 C. G. von Arndt: Ursprung und Verwandtschaft der europäischen Sprachen, Frankfurt 1818, S. 351ff.
500 Linde 1, S. 254.
241
Die Agententätigkeit Lord Stanhopes für Maria-Leopoldine
Wir können es nicht explizit beweisen, aber zumindest vermuten, dass die Kurfürstin-Witwe MariaLeopoldine, falls sie in der Tat die Mutter Kaspar Hausers war, trotz ihrer Bekanntschaft mit Johann
Nepomuk von Prielmayer über fast 2 Jahrzehnte nichts Konkretes über den Verbleib ihres zweiten
weggegebenen Kindes wusste und dieses vielleicht sogar ganz vergessen hatte – bis zu jenem 26. Mai
1828, als der Findling Kaspar Hauser plötzlich auf den Nürnberger Unschlitt-Platz auftauchte.
Wenig später muss Maria-Leopoldine ihren Mann, Graf Ludwig von Arco, in ihre frühere Affäre eingeweiht haben, vielleicht auch ihren erstgeborenen Sohn Aloys.
Dass sich nach Kaspars Auftauchen im Haus Arco zunehmend eine innere Unruhe breit machte, ist verständlich. Spätestens seit dem Hackmesser-Attentat auf Kaspar Hauser bestand zunehmend die Gefahr
der Enttarnung, außerdem drohte in diesem Fall für die legitimen Kinder Maria-Leopoldines der Verlust
von großen Teilen des Familienvermögens. Es muss nicht das Tattenbach-Erbe gewesen sein!
Die brenzlige Situation mag nun auch Maria-Leopoldines engste Vertraute am bayerischen Hof und
ihre Geldgeber und Geschäftspartner auf den Plan gerufen haben!
Genau zu diesem kritischen Zeitpunkt trat erstmalig ein Lord Stanhope in Aktion! Dies ist sicher kein
Zufall.
Nicht nur sein zwiespältiges Verhalten gegenüber Kaspar Hauser, sondern auch bestimmte Koinzidenzen in den Reise- und Aufenthaltsorten brachten Lord Stanhope früh in den Verdacht, weitaus mehr als
nur ein idealistischer Gönner Kaspar Hausers gewesen zu sein. Kam er auch als Mitwisser oder Mittäter
des an Kaspar verübten Verbrechens in Frage, so gelang es dennoch bis heute nicht, ihn dessen konkret
zu überführen. Noch viel weniger wurde der englische Lord dahingehend überprüft, ob er in Sachen Kas par Hauser direkte oder indirekte Kontakte zur Kurfürstin Maria-Leopoldine und/oder zur Arco-Familie
pflegte, selbst wenn ihn eine Caroline von Albersdorf in diesem Zusammenhang schlimmster Machenschaften verdächtigt hatte.
Wurde Lord Stanhope von Maria-Leopoldine persönlich oder einem ihr nahestehenden Mitglied des
bayerischen Hofes auf Kaspar Hauser angesetzt?
An den Haaren herbeigezogen sind solche die Verdachtsmomente nicht:
•
Als diplomatischer Tausendsassa muss Stanhope schon seit seiner Dresdner Zeit (vor 1816) Kontakte zum bayerischen Königshof gepflegt haben. 501
•
Bereits im Juli 1829 soll Stanhope mehr als 30 Unterredungen mit dem Metternich-Vertrauten
und Rothschild-Agenten Friedrich von Gentz in Wien geführt 502 haben. Dabei orderte er aus England am Parlament vorbei Gelder für eine wichtige, streng geheime Aktion. Nach einem einwöchigen Intermezzo in Karlsruhe (aus welchen Gründen?) weilte Stanhope im Herbst 1829 ein weiteres Mal in Wien, anschließend ausgerechnet in Pressburg (bei Johann Samuel Müller?) und
dann erneut in Wien! Ehe er am 16. Oktober 1829 nahezu überstürzt Wien in Richtung Nürnberg
verließ, erhielt er von Gentz einige Blätter aus der Wochenschrift „Hesperus“, Kaspar Hauser betreffend, und dazu die geheimnisvolle Mitteilung „…ich gehe, ehe Sie Wien verlassen, mit Ihnen
noch einmal zum Kasperl …“503 Es handelte sich dabei möglicherweise um eine Art von chiffrierter Botschaft; es ging vielleicht um die Beseitigung Kaspars, im Sinne Maria-Leopoldines und ihrer österreichischen Habsburger-Verwandtschaft, finanziert mit Geldern Englands. Das einzige,
501 Mayer, Stanhope, S. 201.
502 Dabei sei 8mal der badische Gesandte von Tettenborn anwesend gewesen. Die Angaben Mayers sind leider
ohne Referenz, insofern ungewiss. Vgl. Mayer, Stanhope, S. 271ff.
503 Mit „Kasperl“ war formal eines der drei Vorstadttheater Wiens gemeint, kann aber hier durchaus den Charak ter eines Losungswortes in Bezug auf Kaspar Hauser annehmen.
242
das uns dabei stört, ist die Tatsache, dass man für die Planung eines politisch motivierten Mords
wohl kaum ein so großes diplomatische Parkett gewählt haben würde, wie es Mayer angegeben
hat. Aber vielleicht ging es dabei ja auch noch um andere Dinge.
Als nun am 17. Oktober 1829 in Nürnberg auf Kaspar Hauser das Hackmesser-Attentat verübt
wurde, war der aus Wien herbeieilende Stanhope schon nicht mehr fern. Vier Tage später, ab 21.
Oktober, traf er in Nürnberg ein und logierte im Gasthof „Wildeman“ am Kornmarkt. Tags darauf
vereinbarte er mit dem Bankier Johann Merkel, dass er ihm künftig genaueste Informationen
über Kaspar Hauser liefern solle. Johann Merkel hatte eine ähnliche Familientradition wie Stanhope: Er war der Sohn des Begründers der Nürnberger Freimaurer-Loge „Zu den drei Pfeilen“
und war selbst Freimaurer!504 Stanhopes Sondieren in Sachen Kaspar Hauser geschah also lange
Zeit, bevor er mit dem Findling in persönlichen Kontakt kam (erst am 28. Mai 1831).
•
Dass zur Zeit des Attentats Kurfürstin Maria-Leopoldine und ihr Mann, Graf Ludwig von Arco, sowie ein weiterer „Kavalier“ (vermutlich Sohn Max) in Nürnberg weilten, haben uns u. a. Heinrich
Ritter von Lang und Caroline von Albersdorf verraten (siehe oben). Diese Angabe wird durch unabhängige Quellen bestätigt!
Abb. 138: Auszug aus: G. A. Hammerbacher: Historische Beschreibung der Stadt Nürnberg..., Bd. 2, Heft
17, Nürnberg 1867, S. 810.
Maria-Leopoldine war mit Mann und Sohn nach langer Reise durch die mittel- und norddeutschen Fürstenhöfe über Kassel und Bad Brückenau nach Nürnberg gekommen. Sie hatte hierzu
extra einen Umweg gemacht, denn ihre nächsten Ziele am 18./19. Oktober (Schloss Ellingen,
Fürst Wrede) und 19./20. Oktober (Stepperg und München) wären via Würzburg und Ansbach
viel schneller zu erreichen gewesen.505
Ob das Paar im selben Gasthof wie Stanhope logierte, ist aktuell nicht bekannt; ein Kontakt über
das Bankhaus Merkel ist denkbar, allerdings nicht zwingend. Lediglich Caroline von Albersdorf
sprach später davon, dass man sich nicht nur zu dieser Gelegenheit, sondern auch nachfolgend
getroffen hätte! Höchst auffallend und verdächtig ist diese Präsenz am Tatort aber deshalb, weil
Maria-Leopoldine und ihr Mann zuvor in Nürnberg nie gesichtet worden waren, was wiederum
sogar den Bürgermeister Binder dazu veranlasste, in dieser Sache ermitteln zu lassen. 506
•
Am 13. Juni 1831 brach Lord Stanhope nach dem ersten Kennenlernen Kaspar Hausers von Nürnberg nach München auf, um dort die für die angepeilte Übernahme der Pflegschaft notwendigen
Bonitäten zu besorgen. In seiner Begleitung war Graf Alexander von Ungern-Sternberg (18061868). Dieser Poet war ein weiterer Freimaurer, den es von seinem Geburtsland Estland bis nach
Bayern verschlagen hatte, und der übrigens später in einer seiner obskuren Erzählungen auch
von einem untergeschobenen Kind berichtete. Wie die Bekanntschaft Ungern-Sternbergs mit
504 Mayer, Stanhope, S. 282.
505 Die Biographin Krauss-Meyl berichtet ausführlich von dieser 81-tägigen Reise mir 125 Poststationen, 500 Ortschaften und 23 Gasthäusern, welche die Kurfürstin-Witwe gemacht deshalb habe, „um neue Erfahrungen zu
schöpfen, um daraus soviel Gewinn als möglich zu ziehen“. Aus unklaren Gründen bleibt gerade der belastende
Nürnberger Aufenthalt vom 17. Oktober unerwähnt. Maria-Leopoldine habe an sich über diese Reise ein detailliertes Reisetagebuch geführt (BHStA NL Gundelinde71). In Kassel muss Maria-Leopoldine Kontakte mit Wirtschaftsleuten, eventuell sogar zu Vertretern des Bankhauses Rothschild gehabt haben, denn sie sprach in ihrem
Tagebuch von „außergewöhnlichen Einkünften des Kurfürstentums Hessen-Kassel, wo ’als Meister der Kunst,
Einnahmen aufzutreiben’, die Frankfurter Bankiers Rothschild in die Bresche gesprungen seien und sich auf diese Weise beträchtlichen politischen Einfluss verschafft hätten“. Vgl. hierzu Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S.
347ff.
506 Albersdorf 2, 1839, S. 117.
243
Stanhope zustande kam, ist nicht näher bekannt.
•
Nach Johannes Mayer habe Stanhope in München mehrere Wochen damit zugebracht, erst bei
König Ludwig und anschließend auch bei der Königin Mutter Caroline in Tegernsee zu anticham brieren (ab dem 10. Juli) – ohne Erfolg. 507
Wichtiger als diese Dinge, die Mayer aus dem existierenden Briefwechsel erschloss, erscheint uns die
Frage, in welcher Bank Stanhope die Kreditbriefe erhielt, die er später für den Erhalt der Pflegschaft Kaspar Hausers in Nürnberg den Gerichten vorlegte. Dabei wollen wir vorausschicken, dass der zuhause in
England relativ mittellose Stanhope selbst keinerlei Sicherheiten von höherem Wert anbieten konnte.
Mit anderen Worten:
Das Bankhaus in München (oder anderswo), welches Stanhope in Sachen Kaspar Hauser unterstützte, muss eigene, von der Situation des Lords nicht zwingend abhängige Motive zur Kreditvergabe gehabt haben!
Bei der Suche nach Stanhopes Finanziers sind wir wie schon im Vorkapitel auf das sorgfältige Registrie ren diskreter Hinweise und auf Analogieschlüsse angewiesen, denn gerade die Bankhäuser haben uns
nicht den Gefallen getan, beweisende Dokumente zu hinterlassen.
Speziell von der Bank-Dynastie Rothschild ist bekannt, dass sie vor Einführung der Telegraphie zur Mitte des 19. Jahrhunderts alle wichtigen Nachrichten doppelt-chiffriert und über ein eigenes Netz an Flug tauben-Stationen versandte und hinterher alle etwaigen Beweisstücke sorgfältig vernichtete. Ähnliches
dürfte für ihre bayerischen Konkurrenten aus der Familie Seligmann/von Eichthal gegolten haben. Perfekte Diskretion ist gerade bei Bankhäusern das A und O jeglichen Geschäftserfolgs! Dennoch wäre es,
das wollen wir nochmals betonen, angesichts der Quellenarmut äußerst blauäugig anzunehmen, dass
Geld bei Kaspar Hauser keine Rolle gespielt hätte.
Wir sind uns dessen sicher: Geld spielte im Fall Kaspar Hauser die alles entscheidende Rolle – und
damit auch die dahinter stehenden Banken!
Den entscheidenden Hinweis, mit welchem Bankhaus Lord Stanhope im Sommer 1831 in München in
Verbindung stand, entnehmen wir einem seiner Schreiben, welches er erst zwei Jahre später abfasste. Es
handelt sich um den Nachtrag zu seinem letzten Brief an Kaspar Hauser vom 16. Dezember 1833, erstellt
unmittelbar vor der Abreise aus Wien am 17. des Monats.
In ihm gab Lord Stanhope Kaspar Hauser den Tipp, er solle künftige Briefe nicht an ihn, sondern „zu
der Besorgung des Herrn von Eichthal, Banquier in München“ adressieren!508
Interessanterweise gibt Hermann Pies, welcher den Brief 1928 veröffentlichte, an anderer Stelle seiner
Werke den Text ganz anders und ohne die betreffende Passage wieder. Welche Fassung des Briefes lag
Pies damals vor? War das der Text des Julius Meyer? War die Passage mit dem Bankier von Eichthal in zwischen gezielt aus den Akten entfernt worden? 509
Das besondere Vertrauensverhältnis Stanhopes zum Münchner Bankier Simon von Eichthal ist von
essentieller Bedeutung. Diesem Hausbankier des bayerischen Hofes und der Kurfürstin-Witwe MariaLeopoldine traute Stanhope offensichtlich das Wissen zu, wo er sich in und um München aufhielt!
Wenn Lord Stanhope und Maria-Leopoldine mit der Ermordung Kaspar Hausers zu tun haben, was wir
aufgrund zahlreicher Verdachtsmomente annehmen, dann ist in unseren Augen der Bankier von Eichthal
das entscheidende Bindeglied zwischen den beiden, d. h. derjenige, der Stanhope für die Durchführung
der Projekte zugunsten Maria-Leopoldines mit dem notwendigen Kleingeld versorgte und wichtige Mitteilungen entgegennahm und weitergab! Dabei muss Stanhope allerdings den Namen Maria-Leopoldines
nicht expressis verbis erfahren haben!
507 Mayer, Stanhope, S. 341ff.
508 Pies, Tod, S. 126.
509 Pies, Fälschungen, S. 62.
244
Die Verbindung Stanhopes zu Seligmann/von Eichthal überrascht insofern, als zunächst alles dafür
sprach, dass Stanhope wie so viele Engländer in europäischer Mission vom Eichthal-Konkurrenten Nathan Mayer Rothschild in London finanziert wurde! Dies liegt allein deshalb auf der Hand, weil der
mächtige englische Ableger der Rothschild-Gruppe, der letztlich durch seine Aktivitäten die Schlacht von
Waterloo entschieden, den Sturz Napoleons herbeigeführt und den Wiener Kongress entscheidend
beeinflusst hatte, die gesamten englischen Staatsfinanzen und einen Großteil des verschuldeten
englischen Hochadels in der Hand hatte.
So betätigte sich z. B. der frühere „Joint Secretary to the Treasury“, Charles Arbuthnott, 1832 wie zuvor sein Vorgänger John Charles Herries als Rothschild-Agent. Das war exakt jener Charles Arbuthnott,
der 1829 nachweislich mit Lord Stanhope einen geheimdienstlichen Briefwechsel in Sachen Gentz/Metternich pflegte.510 Der Metternich-Vertraute Friedrich Gentz befand sich, wie bereits geschildert wurde,
bei einer erheblichen Last persönlicher Schulden ebenfalls in der Hand der Rothschilds. Er war unzählige
Male für die Familie tätig, z. B. dadurch, dass er für sie jenen Brockhaus-Lexikonartikel schrieb, der den
Rothschilds Anerkennung in ganz Europa verschaffte. Mit Friedrich Gentz wiederum stand Lord Stanhope
auf vertrautem Fuß. Die beiden verkehrten, wie wir wissen, sehr eng und häufig. Einmal, im Jahr 1829,
lässt sich sogar eine Anweisung Stanhopes an die Bank Rothschild zugunsten des finanziell angeschlage nen Gentz nachweisen.511
Wenn Stanhope als englischer Geheimdienstler eigentlich Rothschild-Interessen zu vertreten hatte,
aber eine Verbindung zum konkurrierenden Bankhaus Seligmann/von Eichthal pflegte und dessen Ziele verfolgte, dann können wir uns dies vorderhand nur dadurch erklären, dass Stanhope eben ein Doppelagent war, der auf dem internationalen Parkett jeweils die Interessen dessen vertrat, der ihm am
meisten dafür bot – und dies nicht nur hintereinander, sondern manchmal auch gleichzeitig. Einen solchen zweiten Auftrag-/Geldgeber sehen wir bis kurz vor Kaspars Tod in Bayern in der Entourage der
Kurfürstin Maria-Leopoldine.
Eingedenk dessen wenden wir uns nun dem genaueren Verlauf der Taktik Stanhopes in Bezug auf Kaspar Hauser zu:
Im Lauf seines Lebens schrieb Lord Stanhope einige hundert Briefe, die der Stanhope-Biograph Johan nes Mayer in den Kent-Archiven auswertete. Zwei davon aus dem Jahr 1831 befassen sich mit der vergeblichen Reise Kaspar Hausers nach Ungarn. Wir greifen sie exemplarisch heraus, um deutlich zu machen, wie Stanhope innerhalb eines Jahres grundlegend seine Strategie wechselte.
Im Sommer 1831 hatte Stanhope über geheimdienstliche Kontakte mit dem Wiener Polizeiminister,
Graf von Sedlnitzki, die erste Reise nach Ungarn vorbereitet und sich in einem Schreiben an denselben
insofern verraten, als er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, Kaspar sei der „rechtmäßige Erbe
vermutlich einer hohen Familie und gewiss eines sehr großen Vermögens“.
Man beachte den Ausdruck: Erbe einer hohen Familie und eines großen Vermögens!
Das war nomenklatorisch auf Maria-Leopoldine, auf die Familie Arco und/oder auf das Tattenbach' schen Erbe gemünzt und passte kaum zur Theorie über den badischen Erbprinzen, bei dem es vornehm lich um den Verlust landeshoheitlicher Primogenitur-Rechte, also um einen politischen Skandal ging, und
allenfalls nachrangig um Geld!
Stanhope hatte also zu dieser Zeit noch nichts dagegen, dass ein Mitglied des bayerischen Königshauses resp. Maria-Leopoldine ganz im Sinne der Rothschilds belastet worden wäre. 512
510 Conte Corti, S. 162. Mayer, Stanhope, S. 272.
511 Mayer, Stanhope, S. 242.
512 Mayer-Tradowsky, S. 127.
245
In einem nachfolgenden Brief vom 7. August 1831 schlug Stanhope dann dem Freiherrn Tucher vor,
„…der öffentlichen Meinung eine irrige Leitung zu geben und zu sagen, dass man Spuren in
Bayern gefunden hat (welches wirklich der Fall ist mit der Gegend, wo das Gefängnis liegen
müsste) und dass man die erste Überzeugung hat, Kaspar ist nicht so weit als von Ungarn nach
Nürnberg gebracht worden …“513
Stanhopes Stoßrichtung hatte sich geändert! Durch einen zweiten Besuch in Ungarn hätte die Affäre
„Dalbonne“ zu Lasten Maria-Leopoldines nochmals hochgekocht worden können, falls diese wirklich in
ihrem Vorleben mit der Dalbonne zu tun hatte, was wir bereits weitgehend dingfest gemacht haben.
Zu ihrem Schutz lenkte Stanhope nun plötzlich Gottlieb von Tucher von Ungarn ab!
Wenn Stanhope zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, das Kaspars Verlies in Wanghausen gelegen war,
dann konnte er ruhig auf Bayern verweisen, weil ja Wanghausen zu diesem Zeitpunkt dem Königreich gar
nicht mehr angehörte und deshalb in Bayern ein Verlies nicht gefunden worden wäre. Der Verweis auf
Bayern war also eine Nebelkerze, um seinen Seitenwechsel Tucher gegenüber zu kaschieren.
Im Dezember 1831 war bei Stanhope – vermutlich unter dem Einfluss des Bankhauses Seligmann/von
Eichthal in München – bereits eine neue Stoßrichtung zementiert, die nun eindeutig gegen das Haus
Baden ging:
Ab sofort ging es Stanhope keineswegs mehr darum, den Münchner Hof und Maria-Leopoldine zu
belasten, sondern vielmehr subtil die Erbprinz-von-Baden-Theorie zu fördern und damit ein urbayerisches Anliegen voranzubringen! Allein dieser Seitenwechsel hatte ihm ja die Pflegschaft für Kaspar
Hauser gebracht, die der bayerische König persönlich bewilligt und gutgeheißen hatte!
Deshalb musste auch die zweite Ungarnreise Hickels erfolglos verlaufen! Wir haben darüber bereits
berichtet.
Stanhope versuchte nun sogar, die badische Großherzogin Stephanie die Beauharnais persönlich auf
Kaspar Hauser zu konditionieren, indem er ihr z. B. ein geheimes Treffen mit diesem vorschlug – ein raffiniertes Ansinnen, das er später noch mündlich wiederholte! 514
Einen Tag nach seinem Schreiben an Stephanie
erhielt Stanhope eine Note des Wohlwollens von
König Ludwig I., ausgerichtet durch den Regierungspräsidenten des Rezat-Kreises, Arnold von Mieg! 515
Von Mieg wird weiter unten in anderem Zusammenhang noch eine gehörige Rolle spielen!
Damit besteht kein Zweifel: Ab sofort arbeitete
Stanhope nicht mehr dem Haus Rothschild zu, sondern dem bayerischen Hof und damit MariaLeopoldine, vor die sich Baron Simon von Eichthal
mit seinem Münchener Bankhaus gestellt hatte!
Am 24. Dezember schrieb Stanhope an König
Ludwig I. zurück. Er sprach dabei zwar weiterhin
vom „Erbe eines glänzenden Vermögens“, fügte allerdings im Nachsatz hinzu, es sei ein „Erbe, das
mehr ist als von einem Untertan“, und bat den König, sich dafür einzusetzen, dass Kaspar wieder in
Abb. 139: Das Bankhaus und Palais von Eichthal in der
seine Rechte eingesetzt wurde (freilich im Großhersogenannten Max-Vorstadt Münchens heute.
zogtum Baden)!
513 Mayer-Tradowsky, S. 490.
514 Mayer, Stanhope, S. 394f.
515 Mayer, Stanhope, S. 395.
246
Damit war von Stanhopes Seite das Haus Baden unverblümt ins Spiel gebracht! 516
Nun dürfte einem jeden klar sein, auf wessen Betreiben hin Stanhope im Herbst 1831 mit hohem fi nanziellen Aufwand die Pflegschaft für Kaspar Hauser an sich gezogen hatte!
Blenden wir dazu kurz zurück in den Sommer 1831:
Schon aus Zeiten des Salzhandels unterhielten die Bankiers Seligmann/von Eichthal eine Dependance
in Stuttgart, der Hauptstadt des Königreichs Württemberg. Nachdem die Ungarnreise Kaspar Hausers, die
er zusammen mit Freiherrn von Tucher und Oberleutnant Hickel unternommen hatte, am 10. Juli 1831
an formalen Widrigkeiten (Cholera-Kordon bei Pressburg) gescheitert war, und man sich im Rahmen der
Rückreise über Braunau am 16. Juli noch kurz mit Stanhope in München getroffen hatte, brachen der
Lord und der Graf von Ungarn-Sternfeld am 21. Juli 1831 gerade in Richtung Stuttgart auf, mit Zwischenstationen in Weilheim, Kaufbeuren, Lindau, Friedrichshafen und Tübingen. Am 30. Juli trafen sie in der
württembergischen Landeshauptstadt ein, um dort für drei Wochen zu bleiben. Von Stanhope selbst erfährt man so gut wie nichts über den Zweck dieses Aufenthaltes, aber man darf sich sicher sein, dass er
gerade in Stuttgart jene Kreditbriefe „aus anderen deutschen Häusern“ erwarb, die ihm hinterher in
Nürnberg dazu dienten, die Vorschüsse des Bankhauses Loedel und Merkel abzusichern, mit denen Stan hope Kaspar Hauser seinem bisherigen Vormund Baron von Tucher entfremdete und am Ende dessen
Pflegschaft an sich zog.517
Als Stanhope in Stuttgart anlangte, war seine eigene Reisekasse relativ leer, denn er hatte allein bis
zum 12. Juni 1831 bereits 3000 Gulden für Kaspar Hauser ausgegeben. In Stuttgart konnte er nun diskret
und von der bayerischen Öffentlichkeit unbemerkt seine Kasse wieder auffüllen, wobei wohl der größere
Teil der Mittel bargeldlos in Form von Kreditbriefen floss. Wenn man das nachfolgende Einschwenken
Stanhopes auf die bayerische Linie im Fall Kaspar Hauser und die Vehemenz berücksichtigt, mit der er
nun die Erbprinz-von-Baden-Theorie vorantrieb, dann dürfte es sich bei der kreditgebenden Instanz viel
eher um die Stuttgarter Zweigstelle der Eichthal'schen Bank gehandelt haben als um das Karlsruher
Bankhaus von Haber, welches unter Rothschild-Einfluss stand und von Johannes Mayer favorisiert wurde.518 Die Geldwäsche hätte allerdings in beiden Fällen gleich funktioniert!
Bleibt an dieser Stelle zu ergänzen, dass Stanhope zwei Jahre später, bei seiner Anreise 1833 von
Frankfurt nach Konstanz, erneut den Umweg über Stuttgart nahm, möglicherweise aus denselben Grün den.
Dass das Stanhope finanzierende Bankhaus die Kreditbriefe Stanhopes in Stuttgart ausstellte, war insofern sinnvoll, als Stuttgart als neutraler Boden für die Ausführung der Transaktion ein weitaus
unverfänglicheres Pflaster darstellte als München, wo sich Stanhope zuvor aufgehalten hatte, und wo
man aber die notwendige Diskretion nicht unbedingt hätte gewährleisten können. Ein anonymes
Brieffragment in der Hinterlassenschaft Stanhopes verweist übrigens in Zusammenhang mit Kaspar
Hauser nicht nur auf Stuttgart, sondern auch auf Paris, wo die Eichthals nachweislich eine weitere
Zweigstelle betrieben, wenngleich weitaus unbedeutender als die dortige Rothschild'sche Repräsentanz.
Auch diese konnte u. U. als Zwischeninstanz fungieren. Mayer veröffentlichte dieses Schreiben und
sprach dabei von der eindeutigen „Textgestalt konspirativer Mitteilungen“ (Hervorhebung durch uns):
„Milan, Dec., 31., Teuerster S(tanhope), ich bin sehr enttäuscht, nichts von Ihnen gehört zu haben, seit Sie S(tuttgart) verlassen haben. Vielleicht werde ich einen Brief in Genf vorfinden, wo ich
morgen auf der Reise eine Nacht schlafen werde. Ich hoffe, Sie werden mir bald schreiben und
mir alle Einzelheiten über C(aspar) Hauser geben – verwickeln Sie sich nicht selbst da hinein, ich
habe Furcht, dass Sie auch einen Schlag abbekommen, binnen kurzem würde ich gern hören, dass
Sie sicher sind. Ich füge einen Brief bei, den ich gestern von Lord R. erhalten habe … Frau R. hat in
516 Mayer, Stanhope, S. 396.
517 Mayer, Stanhope, S. 352.
518 Mayer, Stanhope, S. 353ff.
247
der letzten Zeit nicht ihren Lohn bekommen, noch irgend etwas von dem so dringend benötigten
Gehalt, seit sie Engl. verlassen haben, ich habe nicht alle meine Bezüge aufgebraucht, so müssten
auch Sie einen großen Kassenbestand haben, aber ich nehme an, in Paris werden sie ihr Geld
zählen. Es gibt auch noch meine 200 bei Coutts, die mir P. gegeben hat. — Auf Wiedersehen, ich
wünschte ich könnte notfalls etwas über Sie erfahren, ich könnte Sie treffen, wenn ich über …? …
nach Genf fahre, auch von Baden nach Frankfurt eine ausgezeichnete Straße.“ 519
Die hier aus Sicherheitsgründen nur mit dem Anfangsbuchstaben des Namens gekennzeichneten Personen R. Und P. bleiben im Dunklen. Der Schreiber wusste offensichtlich, dass Stanhope seinen Kassenstand in Stuttgart erheblich aufgebessert hatte, dass aber demnächst wieder Ebbe sein würde – in Paris
(?). Mit den Orten Milan und Genf erscheint eine geographische Achse durch Länder, entlang welcher
Stanhope zwei Jahre später, im Jahr 1833, tatsächlich reiste, angeblich frustran, was die Reisequalität
anging, wie er Kaspar Hauser kurz vor dessen Tod persönlich mitteilte.
Mit Mailand ist auch ein Ort bezeichnet, zu welchem Maria-Leopoldine wegen der vormaligen Hofhal tung ihrer Eltern Zeit ihres Lebens beste Beziehungen und viele Kontakte unterhielt, zumal sie dort geboren war. Im Jahr 1932 hatte sie mit Ehemann Ludwig von Arco und Sohn Max ihren Urlaub in ihrer Ge burtsstadt Mailand verbracht; ob dies auch 1833 der Fall war, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Stanhope reiste in diesem Jahr 1833 über die Schweiz nach Oberitalien und vom 5. September 1833 an weilte
er tatsächlich für einige Tage in Mailand, ehe er sich durch die Po-Ebene nach Friaul und Kärnten begab,
also in die Nähe der Adriaküste, wo einst eine Dalbonne ihren Ursprung genommen hatte. Dort blieb
Stanhope fast den ganzen Oktober. Was er in dieser Ecke Italiens und Österreichs tat, wissen wir nicht.
Erst danach reiste er nach Wien, um den Winteranfang und schließlich Kaspars Tod in Ansbach abzuwar ten.520
Zurück ins Jahr 1831. Wir fassen zusammen:
Angesichts der vielfältigen Bezüge ist es plausibel, dass Maria-Leopoldine resp. ihre Hausbank als
Geldgeber für Lord Stanhope fungierten, wobei der Mittelzufluss unverfänglich nicht über Bayern, sondern über externe Deckadressen erfolgte, und der Bankier Simon von Eichthal, ein Mann von untadeli ger Reputation in Bayern, die Geldströme durch Gewährung von anonymen „deutschen“ Kreditbriefen
so gestaltete, dass sie nur schwerlich hätten zurückverfolgt werden können.
In Nürnberg oder München wären bei einem solchen Vorgehen selbst im Fall korrekter gerichtlicher
Ermittlung die eigentlichen Geldgeber nie aufdeckt worden. Dies war wohl der Zweck der ganzen Angele genheit:
Stanhope sollte mit dem Geld Kaspar Hauser an sich zu ziehen, um ihn anschließend in Richtung
England „lebend zu entsorgen“, d. h. aus der unmittelbaren Gefahrenzone für die Familie von Arco
bringen!
Hier mögen sich die früheren Ziele des Hauses Rothschild noch mit den bayerischen Zielen gekreuzt
und vereinigt haben. Denn seit der Zeit der Einkerkerung hatte man von englischer Seite aus in Kaspar
Hauser einen Napoleoniden gesehen und vermutlich sogar dessen Beseitigung durch den Pfarrer Würth
und seine Bekannten im Salzach-Kreis finanziert! Dass selbst ein nach England verbrachter Findling für
das Haus Baden weiterhin eine ständige Drohkulisse abgeben würde, mag nun wiederum für Bayern ein
angenehmer Nebeneffekt gewesen sein!
Einer aufmerksamen Privatdetektivin namens Caroline von Albersdorf fiel später auf, dass 1831 bei
Stanhope nicht alles mit rechten Dingen zuging: Sie schrieb in ihrem Büchlein von 1839, Stanhope habe
im Sommer 1831 zunächst in München und Innsbruck logiert, ehe er mit „enormen Creditbriefen“ –
wohlgemerkt deutscher, nicht englischer Provenienz! - nach Nürnberg zurückgekommen sei. Dennoch
519 Mayer, Stanhope, S. 352.
520 Mayer, Stanhope, S. 470.
248
habe Stanhope in Nürnberg angegeben, er sei aus London eingetroffen! Das machte seine Landsmännin
misstrauisch!
„Die großen Creditbriefe waren nicht sein Eigentum, sondern ihm von Jenen anvertraut, denen er den
Kaspar in die Hände liefern wollte …“ 521
Damit hatte Frau von Albersdorf haarscharf ins Schwarze getroffen! Mit Innsbruck mag sich die Gräfin
allerdings getäuscht haben, falls Stanhope nicht wirklich von Tegernsee aus dorthin einen Abstecher
gemacht hatte; denn erst im Folgejahr suchte Stanhope Innsbruck wirklich auf. Mit allem anderen hatte
die Spürnase der Albersdorf den Braten in Bayern richtig gerochen!
Im Januar 1832 war Anselm Feuerbachs Werk „Kaspar Hauser, Beispiel eines Verbrechens am Seelen leben des Menschen“ erschienen. Wenig später, am 15. Januar, schickte es Lord Stanhope höchstpersönlich an König Ludwig I. mit der wärmsten Empfehlung. 522 Vier Tage später verließ der Lord Ansbach und
damit auch Kaspar Hauser, den er nie mehr wiedersehen sollte.
Seine Reiseroute führte ihn zunächst über Schwäbisch Hall nach Mannheim, wo er auch der Großherzogin Stephanie de Beauharnais ein Exemplar der Feuerbach'schen Schrift übergab und, wie Johannes
Mayer schildert, in mehreren Vier-Augen-Gesprächen weiterhin raffiniert am Baden-Mythos strickte, so
dass sich Stephanie immer mehr als Mutter Kaspar Hausers fühlen musste. Wiederum schlug Stanhope
ein geheimes Treffen mit Kaspar vor und berichtete hinterher Anselm von Feuerbach davon per Brief.
Dieses Schreiben macht deutlich, dass es letztendlich Stanhope gewesen war, der auf beiden Seiten
die Erbprinz-von-Baden-Theorie zu Realität verdichtete. Zwischen Stanhope und Feuerbach ist hier noch
nicht die geringste Kluft erkennbar!523
Doch dann kommt es zu einer geradezu dramatischen Wende!
521 Albersdorf 2, 1839, S. 10f.
522 Mayer, Stanhope, S. 399.
523 Mayer, Stanhope, S. 404ff.
249
Johann Ludwig Klüber und der Fall Kaspar Hauser
Stanhope reiste nach Frankfurt weiter und weilte einige Tage zu Gast im Haus des Staatsrats und Professors für Staatsrecht, Johann Ludwig Klüber. Vermutlich kannte er den Mann noch von seiner Erlanger
Studienzeit her, denn Klüber hatte bis 1804 in Erlangen öffentliches Recht gelehrt. Klüber berichtete am
24. Februar 1832 seinem Fachkollegen Paul Anselm von Feuerbach von mehreren mehrstündigen Treffen
mit Stanhope zwischen dem 27. Januar und 5. Februar 1832:
„Durch mich erhielt Stanhope volle Überzeugung, dass der Argwohn auf Mannheim völlig
grundlos sei!“524
Diese Äußerung Klübers war ein Volltreffer gegen seinen „hochgeschätzten Freund“ von Feuerbach,
der fünf Tage zuvor Joseph Hickel sein Mémoire Königin Karoline von Bayern hatte überreichen lassen, in
dem er glatt das Gegenteil behauptete!
Es folgt nun, was uns Johann Ludwig Klüber so nicht mitgeteilt hat, was aber aufgrund der jüngsten
politischen Entwicklung im Frühjahr 1832 zu vermuten steht:
Der dringende Rat Klübers an Stanhope, die Erbprinzen-Theorie fallen zu lassen, kam nicht von
Klüber allein, dem Stanhope wahrscheinlich auch gar nicht gefolgt wäre, sondern er kam vor allem aus
der Frankfurter Zentrale des Hauses Rothschild, für das der Professor sprach! Vor den mächtigen Rothschilds wird Stanhope nach wie vor einen Heidenrespekt gehabt haben, selbst wenn er zwischenzeitlich auftragsgemäß „fremdgegangen“ war!
Dr. Johann Ludwig Klüber (*1762, + 16. Februar 1837)
war kein x-beliebiger Mann, sondern einer der bedeutendsten europäischen Juristen in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Beschäftigen wir uns ein wenig mit
seinem Leben, um am Ende deutlich zu machen, dass
man ihn getrost als Sprachrohr der Gebrüder Rothschild
auffassen kann, selbst wenn von ihm kein Wort darüber
zu vernehmen ist.
Der aus dem Raum Fulda stammende Klüber begann
nach einer Gymnasiallaufbahn in Schweinfurt und einem
Jurastudium in Gießen und Leipzig seine berufliche Laufbahn 1786 als Professor der Rechte in Erlangen, wo er zuvor noch studiert und im Alter von 23 Jahren seinen Doktortitel erworben hatte.
Während seiner Lehrtätigkeit in Erlangen war Klüber
vor allem mit dem schon erwähnten preußischen Minister Karl August von Hardenberg eng befreundet, der
wiederum eng mit dem Haus Rothschild verbunden war
und als eingefleischter Freimaurer und Mitglied mehrerer
Logen auch in Erlangen Freimaurer-Aktivitäten an den
Tag legte, in der bereits vorgestellten Loge „Libanon zu
den drei Cedern“.525
Im Hinblick auf die intime Freundschaft der beiden Abb. 140: Marmorbüste Klübers. Stich von Chr.
Männer wäre es Unfug anzunehmen, dass Klüber dieser Hoffmeister. Aus Klübers „Öffentliches Recht des
Loge nicht angehört hätte. Das Gegenteil wird der Fall ge- teutschen Bundes…“, Ausgabe 1840.
wesen sein!
524 Mayer, Stanhope, S. 408.
525 E. W. Martius: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1847, S. 304.
250
Unter von Hardenberg, der damals wie ein Vizekönig in Ansbach, Triesdorf (!) und Bayreuth residierte
und Hof hielt, ging die Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth nach Resignation des letzten Markgrafen in den
Besitz der preußischen Krone über.
Der makellos glänzenden Fassade des noch jungen Jura-Professors Klüber steht eine Aktivität entge gen, die man ihm nicht zutrauen würde, wenn nicht ein kürzlich editiertes Büchlein aus seinem Nachlass
so trefflich darüber Auskunft gäbe: Andreas Deutsch: Ein Geheimbund mit Lizenz zum Töten. Der AntiIlluminaten-Orden des Johann Ludwig Klüber, Edition der Geheimbundsatzung mit Einleitung,
Wiesbaden 2010.
Dieser Veröffentlichung zufolge hatte Klüber, der als Prorektor und Prokanzler um 1800 höchste Universitätsämter in Erlangen bekleidete, entweder selbst oder eine ihm sehr nahe stehende Person einen
quasi staatstragenden Geheimbund in Erlangen gegründet, der sich gegen Jakobiner, Illuminaten, Theophilanthropen und andere antimonarchische Umstürzlergruppen richtete. Bei diesem Geheimbund, des sen schriftliche Satzung Klüber entwarf, ging es darum, die Staatsfeinde sozusagen mit gleichen Waffen
zu bekämpfen. Dazu waren letztlich alle Mittel recht, sogar politischer Mord!
Mit diesem Werk aus dem Klüber'schen Nachlass, das die Handschrift des versierten Juristen verrät,
bestätigt sich eindrucksvoll, was wir weiter oben anlässlich der Schilderung der Erlanger Freimaurer-Aktivitäten eines Karl von Soden, Ludwig Würth und Christian Lampert vermutet hatten:
Es gab zur damaligen Zeit in Erlangen diverse Gruppen im Untergrund, die sich z. T. aus der Professorenriege, z. T. aus den Studentenverbünden, z. T. aus der Freimaurer-Szene rekrutierten und politische
Ziele außerhalb jeglicher Legalität verfolgten!
Klübers Geheimbund steht für eine Anti-Umsturz-Organisation, bei der es um Stabilisierung des politischen Establishments geht und nicht etwa um dessen Beseitigung, wie bei anderen radikal-aufklärerischen Untergrundvereinigungen. Der Bund reflektiert damit die nach Ausbruch der Französischen Revolution 1789 immens gestiegene Angst vor revolutionärer Anarchie im eigenen Land. Zwar wissen wir
nicht, was aus diesem Projekt konkret geworden ist. Es muss aber beeindrucken, dass es neben diversen
Geheimhaltungsklauseln auch ein Vermummungsgebot bei Versammlungen vorsah – analog zum KuKlux-Klan in Amerika -, sowie die faustrechtliche Liquidation von Verrätern und Feinden. Und dies alles
aus der Hand eines renommierten Juristen!
Solche Statuten als Jux und Tollerei bzw. klüber-fremd abzutun, wie kürzlich durch einen Illuminatenforscher geschehen,526 steht uns schon deshalb nicht an, weil wir, wie bereits geschildert, einen ähnlich
strukturierten Erlanger Bund von Napoleon-Gegnern als verantwortlich für die ersten Verbrechen an Kaspar Hauser ansehen. Auch hier war die Bereitschaft zur Anwendung von physischer oder psychischer Ge walt an einem Kind beeindruckend – und dies umso mehr, als sogar evangelische Geistliche an diesem
Komplott beteiligt waren. Im Übrigen wissen wir aus den Aufzeichnungen von Ernst Martius, dass ein
nicht unerheblicher Teil der Erlanger Logenmitglieder damals auf eine schiefe, den Ursprungszielen der
Freimauerer zuwiderlaufende Bahn geraten war.
Was speziell Klüber anbelangt, so hatte dieser bereits 1788 einen sogenannten „Clubb“ – den ersten in
Erlangen! - gegründet, der sich zunächst als Gesellschaftsverein konstituierte, bald aber in den Sog der
politischen Ereignisse anlässlich der Okkupation Bayerns durch die Franzosen geriet und im Untergrund
verschwinden musste.527
Die Freimaurerei in Europa wird wiederum von vielen Forschern sowieso mit dem Haus Rothschild assoziiert. Hierbei ist nicht annähernd auch nur die Spitze des Eisbergs bekannt, was leider Anlass zu unbegründeten Spekulationen und vor allem antisemitischen Lehren gibt, von denen wir uns nochmals ausdrücklich distanzieren. Speziell die Unterstützung der ursprünglich umstürzlerischen Illuminaten durch
Rothschild, wie oft unterstellt, erscheint uns im vorliegenden Fall undenkbar, da ein Flächenbrand von
526 Reinhard Markners Rezension in: Wege der Lichtsuche, Freimaurerei zwischen Renaissance und Enlightenment,
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 48, 2011, S. 260ff.
527 Martius, Erinnerungen, S. 225f.
251
Revolutionen über ganz Europa im Gegensatz zu einem bilateralen Krieg das gesamte Finanzimperium
der Rothschilds auf einen Schlaf hätte zum Einsturz bringen können. Dies wurde bereits weiter oben
deutlich gemacht. Hier sind die Rothschilds u. E. viel eher staatstragend als umstürzlerisch wirkmächtig
geworden, und dazu passt der Klüber'sche Bund schon viel eher! 528 Wenn anlässlich der Entführung Hausers nach 1809 von Erlangen aus englisches Geld geflossen ist (z. B. an seine Entführer bzw. die „erweckten“ Kreise in Oberösterreich), dann liegt ein maßgeblicher Anteil des Hauses Rothschild am Klüber'schen Geheimbund ebenfalls nahe.
Es lässt sich nicht ausschließen, dass Klübers Gruppierung in der eines Pfarrers Würth und seiner Kom militonen aufging – oder umgekehrt -, denn die sich ursprünglich gegen Obskurantismus im Allgemeinen
und bayerisch-österreichischen Jesuitismus im Besonderen richtende Aktivität der letzteren Clique konnte ja angesichts der napoleonischen Okkupation in einen gemeinsamen Anti-Bonapartismus gemündet
sein, dem sich auch ein staatstragender Geheimbund eines Klübers verpflichten konnte, zumal in Erlan gen damals viele Exil-Franzosen lebten und ein Anti-Jakobinismus bei steigender Invasionsgefahr pro blemlos zum Anti-Bonapartismus erweitert werden konnte. Letzterer liegt bei Klüber auch deshalb nahe,
weil er wiederum von Frankreich aus mit Argwohn beäugt und sogar seinerseits den napoleonfeindlichen Illuminaten zugerechnet wurde, wie ein französisches Mémoire wiedergibt:
„Kluber, professeur d'Histoire, ancien chef de cotteries révolutionnaires à Claugen… - Klüber,
Professor für Geschichte, ehemaliger Chef revolutionärer Cliquen in Erlangen …“529
Als anti-bonapartistisch sind auch Teile der Klüber'schen Geheimbundsatzung selbst zu werten. So
liest man in Kapitel 2, § 18:
„Jedes Mitglied der Vereinigung dessen Stand, Alter und Umstände es ihm gestatten, muss,
wenn es möglich ist, bei einem feindlichen Einfall, dem angegriffenen Theile zu Hülfe eilen. Zu gleich muss jedes Mitglied, wenn es immerhin es thun kann, nicht durch stärkere Macht vertrieben wird, und der Bund ihm Hülfe versprochen hat, wenn der Feind sein Vaterland erobert, in
demselben verbleiben; in dem es auf diesen Fall, auf die Beihülfe und den Schutz der ganzen Ver einigung zählen darf.“530
Welcher „Feind“ hätte damals das „Vaterland“ erobert, wenn nicht Napoleon mit seinen Truppen? Allerdings ist hier nur von Selbstschutz die Rede, nicht von einer subversiven Tätigkeit gegen das französi sche Regime, was jedoch nicht viel bedeuten muss, da ja zum Abfassungszeitraum der Statuten der Einmarsch Napoleons noch nicht unmittelbar bevorstand und Geheim-Aktivitäten sowieso nichts in den Sta tuten zu suchen hatten.
Bei diesen Anspielungen und Bezügen kommen sich u. E. der Klüber'sche Geheimbund, welcher
nach dessen Weggang aus Erlangen noch dazu eine Eigendynamik erfahren haben kann, und die AntiHauser-Clique eines Würth et. al. doch sehr nahe, falls nicht sowieso Identität besteht!
In diesem Zusammenhang erinnern auch spezifische Begriffe aus der Klüber'schen Geheimbund-Sat zung an die Geschichte Kaspar Hausers: Hier ist von einem Dolch als Mitgliedswaffe die Rede, und nicht
etwa von einem Degen, der viel mehr zu Studenten passen würde; hier findet man die Begriffe „Rotte“
und „Rottenmeister“. „Rottierer“ hatte wiederum Johann Samuel Müller die Würth'sche Clique genannt,
was nach einem zeitgenössischen Handbuch „Glieder einer Rotte oder lasterhaften Versammlung“
bedeutet.531
Klüber selbst zeigte in der anderen Hälfte seines Doppellebens, d. h. in seinen staatspolitischen Veröffentlichungen, allenfalls eine verdeckte, keinesfalls eine offene franzosen-feindliche Haltung. Etwas ande528 Hierzu mehr bei Corte Conti und Ferguson, an diversen Stellen.
529 Unter Revolution wird hier selbst verständlich die Auflehnung gegen Napoleon verstanden, nicht die Französische Revolution. Zitat aus Andreas Deutsch: Ein Geheimbund mit Lizenz zum Töten. Der Anti-Illuminaten-Orden
des Johann Ludwig Klüber. Edition der Geheimbundsatzung mit Einleitung, Wiesbaden 2010, S. 43.
530 Deutsch, Geheimbund, S. 84.
531 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 1182.
252
res wäre bei ihm als interstaatlich operierenden Diplomaten, zu dem er sich nach seiner Erlangener Zeit
machte, auch nicht opportun gewesen.
Den Gegner mit gleichen Waffen schlagen, das war auch ganz im Sinne des Klüber-Intimus von Hardenberg. Wir zitieren hierzu nochmals Andreas Deutsch:
„Im September 1807 schrieb Hardenberg in einer Denkschrift über die aufgrund der napoleoni schen Bedrohung dringliche Reorganisation des preußischen Staates, dass ’in solcher Zeit Geheimbünde unentbehrlich’ seien, und zwar ’zur Verbreitung guter politischer Grundsätze’. Schließlich bediene sich Napoleon gleichfalls der Freimaurerei zur Durchsetzung seiner Interessen. Hardenberg meinte auch, man könne die ’Maurerei’ gleich einem Nachrichtendienst zur Beschaffung
politischer Geheiminformationen gebrauchen …“
Dieses Zitat besagt eigentlich alles!
Mit dem Weggang seines Freundes von Hardenberg aus Erlangen änderte sich auch für Johann Ludwig
Klüber einiges: Er wandte er sich zunächst dem badischen Herzogshaus zu, das er schon 1796 bei dessen
Flucht nach Ansbach kennengelernt hatte. Im Jahr 1804 folgte er einem Ruf als „Geheimer Referendar“
nach Karlsruhe, unterrichtete dort persönlich den Kurprinzen Karl und begleitete diesen im April 1806
auch zur Vermählung mit Stephanie de Beauharnais nach Paris. Es folgten Beförderungen zum Staatsund Kabinettsrat. Im Jahr 1807 erhielt Klüber die Stelle des ersten Professors der Rechte zu Heidelberg,
Ende des Jahres wurde ihm von der badischen Regierung die Aufsicht über die Sternwarte Mannheim
übertragen. Das dazugehörige Intrigenspiel und die Empörung der Studenten über die dirigistisch-reaktionären Personalentscheidungen schildert Andreas Deutsch. 532
Später, an der Seite von Hardenbergs beim sog. Aachener Kongress, wird sich Klüber für die Sekundo geniturrechte des Hauses Hochberg bei der Sukzession im Großherzogtum Baden einsetzen. Seit dieser
Zeit galt Klüber stets als treuer Sachwalter badischer Interessen, was für den Fall Kaspar Hauser ebenfalls
nicht ohne Bedeutung ist.
Dass Klüber indes weiterhin ein „Geheimer“, nunmehr sogar ein „Geheimdienstler“ im badischen Auftrag war, erkennt man an der Publikation des „Lehrbuchs der Geheimschreibekunst in Staats- und Privatgeschäften“ (1809), in dem er sich umfassend und
scharfsinnig mit der Kryptographie, mit der Chiffrierung und Dechiffrierung von Dokumenten befasste.
Kein Wunder also, wenn man über Klübers dunkle
Seite so wenig erfährt. Der Mann wusste bestens,
was man sich diskret mitzuteilen hatte, und vor allem, dass hinterher alle Beweisstücke beseitigt werden mussten. Die versehentliche Hinterlassenschaft
der obigen Geheimbundstatuten blieb vermutlich
sein einziger Lapsus.
Am Wiener Kongress nahm Johann Klüber, vom
Abb. 141: Klübers Lehrbuch der Verschlüsselungskunst Haus Baden beurlaubt, ohne offizielle Funktion teil.
von 1809.
Dennoch liefen – man höre und staune! - bei ihm als
Privatmann sämtliche Beschlussdokumente zusammen, so dass er in den Jahren zwischen 1815 und
1819 die Akten in einem Sammelwerk von 9 Bänden veröffentlichen konnte. Dem Klüber-Biographen
Klaus-Peter Schröder zufolge erschien es schon den Zeitgenossen unbegreiflich und rätselhaft, wie
Klüber dies schaffen konnte.533
532 Deutsch, Geheimbund, S. 28.
533 Deutsch, Geheimbund, S. 29f.
253
Wenn man aber weiß, dass damals in Wien nahezu ausschließlich Regierungen beieinandersaßen, die
finanziell am Tropf des Rothschilds-Imperiums hingen, und deshalb dieser „Kongress der zwei Kaiser und
fünf Könige“ im Grunde genommen als reine Rothschild-Veranstaltung unter der Ägide eines Metternich
und Gentz apostrophiert werden kann, wenn man außerdem weiß, dass in Wien rein gar nichts ohne
Zustimmung der Rothschilds beschlossen wurde, dann kann man auch annehmen, dass die RothschildBrüder damals den Privatier Klüber beauftragt haben, in ihrem Sinn publizistisch tätig zu werden. Allerdings streute Klüber in seine damaligen Bücher mitunter noch leise juden-kritische Untertöne ein, was
jedoch nichts bedeuten muss, da man es als reines Mimikri auffassen kann. Die Kongressreihe erschien,
wie könnte es anders sein, bei Palm und Enke in Erlangen.
Klüber wurde durch Minister von Hardenberg protegiert und unter ihm im Jahr 1817 „Geheimer Legationsrat“ von Preußen, er musste allerdings nach dessen Tod und einer Intrige gegen seine Person Preußen unverzüglich wieder verlassen. Die Hintergründe hierzu sind uns aktuell nicht bekannt; es muss aber
in Preußen auch rothschild-skeptische Kreise gegeben haben. Klüber nannte sich selbst „Gegenstand eifriger politischer Verketzerungen“.534 Was von Hardenberg anbelangt, so hatte er sich 1812 im Rothschild'schen Auftrag sehr für die Judenemanzipation im Königreich Preußen eingesetzt.
Im Jahr 1822 setzte sich Johann Ludwig Klüber im Alter von 60 Jahren als Privatmann in der nach wie
vor freien, zur europäischen Geschäftsmetropole aufgestiegenen Stadt Frankfurt zur Ruhe und lebte dort
noch 15 Jahre. Klüber soll ein großes Vermögen erworben haben, das er nachweislich über Jahrzehnte
von Bankhaus Rothschild in Frankfurt verwalten ließ. Man fragt sich unwillkürlich, ob dieses Vermögen
allein aus seiner edukatorischen, politischen und publizistischen Tätigkeit kam. Eine diesbezügliche Akte
im Generallandesarchiv Karlsruhe (Best. 69, Nr. 22) harrt noch ihrer Auswertung. Im selben Archiv hat
sich auch ein persönlicher Briefwechsel Klübers mit Anselm 535 und Karl von Rothschild erhalten.
Klübers Bruder Johann Samuel Klüber, selbst ein Rechtswissenschaftler, tat sich übrigens mit mehreren Schriften hervor, die sich der gesellschaftlichen Anerkennung der Juden widmeten und deshalb
ebenfalls von den Rothschilds gesponsert gewesen sein dürften. So lesen wir in seinem Werk über die Ju den-Emanzipation von 1838, das ebenfalls bei Palm und Enke in Erlangen erschien:
„Sprösslinge aus diesem Volke (freilich Juda) leiten jetzt die europäischen Geldgeschäfte und
geben aus ihrem Talente, Einflusse und ihrer Geldmacht Staatsmännern Finanzregeln, z. B. die in
den Freiherrnstand emporgekommene Familie von Rothschild …“
An der Bedeutung der Rothschilds ließ aber im Jahr 1830 auch ein Johann Ludwig Klüber keinen Zwei fel, wenn er sie in einem seiner Bücher als „Fünfer im Lotto“ betitelt:
„Die fünf Brüder Rothschild sind in der Finanzwelt eine Erscheinung wie eine Quine in dem Lotto di Genova.“
Unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände bleibt kein Zweifel daran, dass Johann Ludwig
Klüber in Frankfurt, wie ein Friedrich Gentz in Wien, über Jahrzehnte für die Rothschilds als Berater
und Informant tätig war. Allein seine Niederlassung in der Rothschild-Zentrale, zu der er sonst gar
keinen speziellen Bezug hatte außer einen vorherigen Aufenthalt, legt diese Tätigkeit nahe!
„Er war zweifellos der führende Staatsrechtler seiner Zeit, ein fruchtbarer Schriftsteller, ein gesuchter (und hochbezahlter) Gutachter und Agent!“
So urteilt Wolfgang Leiser analog in einem geschichtlichen Sammelwerk über Erlangen. 536
534 Deutsch, Geheimbund, S. 31.
535 Alias Amschel, dem Sohn von Salomon Rothschild.
536 Alfred Wendehorst: Erlangen, Geschichte der Stadt …, München 1984, 133f.
254
Es kam sicher nicht von ungefähr, sondern aus einer ganz bestimmten Ecke der Bankenwelt, wenn
sich Johann Ludwig Klüber plötzlich in den Fall Kaspar Hauser einmischte und auf seinen Verlauf Ein fluss nahm!
Dass ihn bei diesem Unterfangen niemand von offizieller Seite aus beauftragt hatte, spielte keine Rolle: Johann Ludwig Klüber hatte als europaweit anerkannte Kapazität solches nicht nötig. Auch seine Bekanntschaft mit Feuerbach, wie so oft apostrophiert, dürfte eher eine Nebensache gewesen sein.
Schon am 6. Dezember 1829 hatte Klüber anonym ins „Frankfurter Journal“ einen Artikel über Kaspar
Hauser, „das Kind von Nürnberg“, lanciert und dabei geschrieben:
„Der Ort der Einkerkerung … scheint vorzüglich nach der Richtung hin zu liegen, wo in der Sprache des Volks die von Hauser bei seiner Ankunft in Nürnberg gesprochenen Wörter und ihre Aus sprache üblich sind, z. B. hoam statt heim, Ross statt Pferd …“537
Damit wäre der Herr Staatsrat von Wanghausen gar nicht so weit entfernt gewesen und er hätte alles
in allem richtig gelegen, wenn er nicht fast im selben Atemzug dazu aufgerufen hätte, 10 Wegstunden
um Nürnberg herum alle Schlösser, Burgen und Burgverliese zu inspizieren. Dabei hätte Klüber, der in
Schweinfurt seine Gymnasialzeit zugebracht hatte, an sich genau den Unterschied zwischen einem fränkischen und einem altbayerischen Idiom kennen müssen.
Und woher wusste er eigentlich, dass Kaspar bei einem Schloss eingesperrt war?
So richtig ins Spiel kam Klüber allerdings erst, als im Frühjahr 1832 Lord Stanhope bei ihm auftauchte,
um für die Erbprinz-von-Baden-Theorie zu werben. Dass er dabei angesichts der bekannten Vorliebe
Klübers für das Haus Baden an den Falschen geriet, hätte er sich denken können. Dennoch gaben Klübers
Vorbehalte nicht den Ausschlag dafür, dass Stanhope nach Frankfurt seine Taktik grundlegend wechselte,
denn diese kamen von dritter Seite. Wir dürfen sicher sein:
Erst durch den Wink mit dem Zaunpfahl eines Amschel Mayer Rothschild wurde Stanhope in Frankfurt das Festhalten an der für Bayern so günstigen Erbprinzen-Theorie ausgetrieben! Woraufhin Stanhope, wie Klüber andeutete, sofort eine 180-Grad-Kehrtwende nahm!
Was war der unmittelbare Anlass?
Wie wir schon im Vorkapitel kurz gestreift haben, war nach der französischen Juli-Revolution
1830, der belgischen Revolution und dem polnischen Novemberaufstand von 1830/31 auch in
Deutschland in der ersten Jahreshälfte 1832 die
politische Lage sehr instabil, ja hochexplosiv geworden. Überall hatten sich Zirkel der nationalen Erhebung gebildet, die von der Aristokratie
lauter und lauter nationale Einheit, Freiheit und
Volkssouveränität forderten. Diese für die Rothschilds bedrohliche und vor allem unkontrollierbare Entwicklung, bei der schon der kleinste Anlass eine Lawine des Umsturzes mit unabsehbaren Folgen für die Bankenwelt hätte auslösen
können, ließ es den Rothschilds alles andere als Abb. 142: Zug zum Hambacher Fest. Zeitgenössische
opportun erscheinen, auch nur in einem einzi- Darstellung.
gen deutschen Kleinstaat, wie z. B. Baden, die
politische Führung in Frage zu stellen.
537 Linde 1, S. 165 und 256, Fußnote.
255
Außerdem werden gerade zu dieser Zeit die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Abraham Oppenheim geknüpft worden sein, die in die Einheirat desselben in das Haus Rothschild im Jahr 1834
mündeten. Oppenheim hatte wiederum einen guten Draht zum Hoffinanzier Badens, Salomon von Haber
und seinen Söhnen, und damit zum Herzogshaus Baden. Dieses musste also aus Sicht der Rothschilds,
die selbst in Baden noch nicht präsent waren, aber über die genannten Umwege gute Aussichten hatten,
den Fuß in die badische Tür zu bekommen, umgehend aus der Schusslinie der Bayern genommen
werden, was ganz im Sinne Klübers war.
Damit galt es ab jetzt (und im Gegensatz zu zuvor) für die Rothschilds, für Ruhe im Herzogshaus Ba den zu sorgen!
Dafür gibt es weitere, triftige Indizien: Als z. B. im Jahr 1834 der Vormärz-Publizist Joseph Heinrich
Garnier von Paris aus die 2. Auflage seines Kaspar-Hauser-Pamphletes plante (in einer Auflage von 2000
Stück; die Erstauflage hatte vor allem in Rheinbayern und Baden aus den genannten Gründen heraus rei ßenden Absatz gefunden), wurden gerade von Frankfurt aus 800 Exemplare geordnet und sofort vorausbezahlt.538 Das war kein Zufall!
Selbstredend ging es damals den Interessenten nicht darum, diese Schrift, die besonders die Erbprinzvon-Baden-Hypothese propagierte, in Frankfurt weiter zu verbreiten, ganz im Gegenteil: Es ging darum,
einen gehörigen Teil der Auflage, fast die Hälfte, unverzüglich aus dem Verkehr zu ziehen! Wer wäre da mals im Stande gewesen, aus dem Ärmel heraus das Geld dafür hinzulegen, wenn nicht eine Großbank?
Die Privatschatulle eines Klüber kam für einen solchen Aufkauf sicher nicht in Frage, der Tresor der Roth schilds durchaus!539
Und was Stanhope anbelangt: Es gibt zwar kein beweisendes Dokument darüber, aber man darf guten
Gewissens davon ausgehen, dass Stanhope, der früher von den Rothschilds (in England) alimentiert
worden war, inzwischen aber als Agent zu Simon von Eichthal in München gewechselt war, in Frankfurt
nun erneut von der Rothschild-Seite aus an seine früheren Verpflichtungen erinnert wurde und un missverständlich – vielleicht sogar unter Drohungen im Fall der Zuwiderhandlung, vielleicht aber auch
unter Gewährung einer Gratifikation im Falle der Umkehr – dazu motiviert wurde, die Verdächtigungen
gegen das Haus Baden sofort einzustellen!
Stanhope reiste nach den Gesprächen mit Klüber nachdenklich zurück in seine englische Heimat –
über Mainz, Bingen, Bonn, Bergheim, Aachen, Brüssel, Tournai, Calais und Dover. Zunächst richtete er
noch relativ liebevolle, wenn auch zunehmend belanglose Briefe an Kaspar Hauser. 540 Wenig später hörte
auch dies auf.
Stanhope ließ nicht nur den Auftrag der bayerischen Krone resp. Maria-Leopoldines wie eine heiße
Kartoffel fallen, sondern ab sofort auch seinen Pflegesohn Kaspar Hauser!
538 Die Information entnimmt man einem Brief Ernst Dieffenbachs an Joseph Garnier vom 30. April 1834. Im
nächsten Brief Dieffenbachs steht: „In Frankfurt ist das Paket angekommen, wird aber nun wahrscheinlich kas siert sein …“ Vgl. Kemming, Ferdinand Sailer, S. 113ff.
539 Ein gehörte geradezu zum Konzept der damaligen Pamphletisten, sich ihre durchaus gefährliche Arbeit doppelt
bezahlen zu lassen, einmal von den Lesern, und dann von denjenigen, die die Verbreitung der Schriften verhin dern wollten. Geld war mit beidem verdient, nur darum ging es letztendlich. So plante Garnier, der sich inzwi schen in London niedergelassen hatte, im Jahr 1847 ein weiteres Kaspar-Hauser-Buch und ließ schon zuvor in
William Howitts „Journal of Literature and Popular Progress“ öffentlich durchblicken, dass er nun auch Amschel
Mayer Rothschild und den badischen Bankier Moritz von Haber auf der Kimme habe. Das angekündigte Enthül lungsbuch erschien nie. Dafür, dass dem so war, nahm Garnier mit Sicherheit größere Summen von den Londo ner Rothschilds entgegen!
540 Linde 1, S. 250.
256
Eine erste Saat des Misstrauens gegen Kaspar Hauser, das nun Stanhope für den Rest seines Lebens
zur persönlichen Maxime erhob, muss allerdings schon zuvor in Ansbach aufgegangen sein, denn der
Lord hatte zuletzt noch versucht, Kaspars Tagebuch an sich zu bringen – sicher nicht ohne triftigen
Grund.541 Vermutlich wollte er damit über seine vorherigen bayerischen Auftraggeber bzw. deren Draht zieher im Hintergrund mehr Klarheit gewinnen!
Hatte also Stanhope schon vor Frankfurt einen gewissen Stimmungsumschwung erlitten?
Spezialkurator Joseph Hickel deutete in einem Brief vom 31. März 1832 einen solchen Vorgang an und
bezog sich dabei auf „einen Brief des Grafen aus Haag“.542
Was hat es mit diesem Brief und dem erwähnten Ort Haag auf sich?
Zunächst sollte man meinen, es handle sich hier um ein Schreiben Stanhopes aus England, da es sich
mit inner-englischen Dingen befasst. Wurde der Brief etwa in Den Haag aufgegeben? Philip Dormer, ein
Vorfahr Stanhopes, hatte in Den Haag eine berühmte Freimaurer-Loge gegründet, die ganze Familie Stanhope stand im Grunde genommen unter dieser Freimaurer-Tradition. 543 Dass Philip Henry Stanhope
jedoch in diesem Frühjahr 1832 in Den Haag gewesen wäre, dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis.
Auch war er, wie oben zu vernehmen war, nicht über die Niederlande, sondern über Belgien nach Hause
gereist und hatte anschließend England für längere Zeit gar nicht verlassen.
Als plumpe Fälschung wollen wir diesen Brief dennoch nicht abtun. Der Hauser-Forscher Ivo Striedinger unterstellte bei den spät aufgetauchten Briefen Hickels eine Art von Memoiren-Literatur, bei der Hickel die Briefform nur benutzte, um zum Ende seines Lebens seine Eindrücke zusammenzufassen. 544
Selbst wenn dieser Brief aus einem von Julius Meyer gefälschten Briefzyklus stammen sollte, wie von
Hermann Pies unterstellt, behält er für uns seinen Wert. Denn auch Meyer dürfte sich die eigenartige
Ortsangabe nicht einfach aus den Fingern gesogen, sondern vielmehr auf eine bestehende Quelle
zurückgegriffen haben.
Somit könnte es sich unter Akzeptanz der Prämissen Striedingers um einen Brief handeln, der zwar inhaltlich Stanhopes Eindrücke in England rekapituliert, sich aber bei der Definition des Aufenthaltsortes
auf einem Ort bezieht, in dem Stanhope zeitnah gewesen war, und dann womöglich nicht auf Den Haag,
sondern auf den Markt Haag in Oberbayern! Dies müsste noch im Winter 1831 gewesen sein – zu einer
Zeit, als Stanhope noch relativ eindeutig für die bayerische Seite, d. h. für Seligmann/von Eichthal arbeitete!
Haag in OB war fest verbunden mit einem bekannten Namen, nämlich mit Maria-Leopoldine von
Österreich!
Im November 1813 hatte die KurfürstinWitwe als Investorin das Haager Braun- und
Weißbierbrauhaus aus dem königlichen,
vormals kurfürstlichen Fundus übernommen. Dort saßen ihre Angestellten, dort saß
ihr Verwalter, von dort konnten Kontaktleute wegen der durchziehenden Hauptpostlinien von West nach Ost, von Süd nach Nord
und umgekehrt Nachrichten aus allen Teilen
Abb. 143: Schloss und Markt Haag in Oberbayern, Stich von Bayerns und aus Österreich absenden und
Michael Wening, 1750. Rechts unterhalb der Burg die Brauerei empfangen. Haag stellte also so etwas wie
der Kurfürstin Maria-Leopoldine.
einen Dreh- und Angelpunkt auf der Achse
München-Wien und Regensburg-Innsbruck
541 Pies, Tod, S. 127f.
542 Meyer, Mitteilungen, S. 543.
543 Mayer, Stanhope, S. 22.
544 Striedinger, S. 429f.
257
dar, es war ein äußerst geeigneter Ort dafür, diskret und außerhalb der Klatsch-Zone Münchens mit
Stanhope Kontakt aufzunehmen, ohne dass die Kurfürstin selbst mit einem Treffen kompromittiert
werden musste.
Maria-Leopoldine hatte übrigens schon vor der Akquise des Brauhauses für den Ort eine Schwäche
entwickelt und wahrscheinlich dorthin auch Beziehungen gepflegt. Als im Jahr 1796 die Franzosen
heranrückten, war sie mit ihrem ersten Gatten Karl Theodor incognito als „Graf und Gräfin von Haag“ zu
Verwandten nach Sachsen geflohen.545 König Ludwig I. wird später dasselbe tun.
Wenn Joseph Hickels Angaben stimmen, hätte sich gerade in Haag bereits ein erster Stimmungsumschwung Stanhopes gegenüber Kaspar Hauser ereignet. Hatte Stanhope etwa um die Jahreswende
1831/1832 in Haag in Oberbayern durch Agenten von Eichthals erfahren, dass die weitere Finanzierung
für Kaspars Daueraufenthalt in England von bayerischer Seite aus nicht mehr gesichert war?
Aus der Luft gegriffen ist eine solche Vermutung nicht!
Es ist gut möglich, dass man von Seiten der Kurfürstin-Witwe und von Eichthals ab sofort auf die
kostspielige Versorgung Kaspars in England zu eigenen Lasten verzichten wollte, weil sich die Erbprinzvon-Baden-Theorie inzwischen so festgesetzt hatte, dann man nun in Bayern nichts Weiteres zu Lasten
des Hauses Arco mehr befürchtete. Oder man scheute jetzt ganz einfach die immensen Kosten, die damit
verbunden gewesen wären.
Dies würde auch erklären, was Heinrich von Lang später in seinem Artikel in der Jenaer Allgemeinen
Literatur-Zeitung behauptete, dass Stanhope schon damals plötzlich beschloss, Kaspar Hauser „den Händen des Freiherrn von Feuerbach zu entziehen und ihn zu einer ernsthaften zur Erforschung dem Herrn
Staatsrat Klüber zu Frankfurt zuzuführen.“ 546
Klüber sollte jetzt im Rothschild'schen Auftrag das weitere Schicksal Kaspar Hausers moderieren, nachdem die Geldquelle von Eichthal so schnöde ausgefallen war. Dass dies für Stanhope ein Schuss war, der
wegen der Erbprinz-von-Baden-Geschichte nach hinten losging, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch
nicht ahnen. Aber immerhin mag Stanhope bereits damals so konditioniert worden sein, dass er hinterher in Frankfurt seine Kehrtwendung in Bezug auf Kaspar Hauser umso reibungsloser hinlegte!
Als der Lord nach dem Klüber'schen Denkzettel bei sich zuhause in Chevening angekommen war, war
es auch mit der vorherigen Freundschaft zu Kaspar Hauser aus, der Lord zog sich sichtlich von ihm zu rück, scheute alle weiteren Kontakte und beließ es bei einigen läppischen Briefen.
Als nach dem Hambacher Fest vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832 die Protestwelle der nationalen
Erhebung in Deutschland wieder etwas abgeebbt war, und gewaltsame Umstürze wie in Frankreich
ausblieben, mögen die Rothschilds ihre Doktrin „Kein Flächenbrand! Keine Schwächung der regierenden
Geschäftspartner! Ruhe an allen Fürstenhöfen!“ wieder etwas gelockert haben.
Jedenfalls registriert man beim Staatsrat von Klüber eine gewisse Öffnung der Hauser-Problematik,
wobei er aber weder der Erbprinzen-Theorie noch der nun von Stanhope favorisierten Betrüger-Theorie weiteren Vorschub gab!
Die entscheidende Information entnehmen wir einigen Briefen des Metternich-Vertrauten und öster reichischen Gesandten in London, Johann Freiherr von Wessenberg (1773-1855), welche dieser zwischen dem 9. Juni, dem Todestag Gentz’, und dem 9. Juli 1832 an seinen Freund Lord Stanhope in Che vening richtete, um ihn zu warnen.547
545 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 58 und 253.
546 Karl Heinrich Ritter von Lang: Anonym vorgetragene Invektive gegen Kaspar Hauser, in: Jena'ische Allgemeine
Literatur-Zeitung, Nr. 101 bis 106, Juni 1834, S. 352.
547 Mayer, Stanhope, S. 423f.
258
Zu einem Zeitpunkt, an dem man es an sich gar nicht mehr erwartet hätte, wird nun plötzlich an
Stelle des Hauses Baden ganz konkret das Königreich Bayern und vor allem auch die Kurfürstin-Witwe
Maria-Leopoldine belastet! Mit dieser Breitseite hatte man auf Seiten von Maria-Leopoldine und den
von Eichthal sicher nicht gerechnet!
Wir zitieren:
9. Juni 1832: „Ein wichtiger Mann hat mir geschrieben, dass er sicher zu sein glaubt, dass Kaspar Hauser nichts anderes ist als die heimliche Frucht einer illegitimen Liebe zwischen einer baye rischen Dame und einem Offizier, und dass der Mann, bei dem er untergebracht war, es leid war,
ihn zu hüten. Mein Korrespondent, der Feuerbach kennt, beteuert, dass alles übrige nur Mystifikation ist. Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen von dieser Mitteilung Kenntnis zu geben. Das Beste
wäre vielleicht, den armen Elternlosen in ein Kavallerie-Regiment zu tun, indem man ihm so eine
kleine Pension sichert. Ich hätte nicht gewagt, Ihnen das zu sagen, wenn der Mann, der mir da von geschrieben hat, sich nicht der höchsten Achtung erfreute. Ich teile Ihnen mit, dass ich das
niemanden gegenüber erwähnt habe …“
Hier stößt man genau auf die Albersdorf-Geschichte! Es ist unschwer zu erkennen, dass mit dem
„wichtigen Mann, der Feuerbach kennt“, Staatsrat Klüber gemeint war! Die Information passt gut zur
Wanghausen-Theorie und zu unseren Annahmen in Bezug auf Maria-Leopoldine! Und dies kam jetzt aus
berufenem Mund!
22. Juni 1832: „Ich habe noch keine weitere Antwort von meinem Korrespondenten in Bayern
bezüglich Casparum H. erhalten, aber eine Dame schreibt mir aus München mit Datum vom 13.,
dass ich sicher sein könne, dass er nur der nicht anerkannte Sohn irgendeiner fröhlichen Bayerin
ist, wie sie hie und da existieren …“
Hatte die „Dame“ Maria-Leopoldine persönlich einen Brandbrief an von Wessenberg gerichtet? Von
wem hatte sie vom neuen Sachstand erfahren, der sich gegen sie selbst richtete und sie nun auf die Idee
gebracht haben mag, von sich selbst abzulenken und auf eine „fröhliche Bayerin“ aus dem einfachen Volk
zu verweisen? Fragen über Fragen!
27. Juni 1832: „Ich wollte Ihnen sagen, dass ich gestern, nachdem ich Sie gesehen habe, einen
Brief von einer Person erhalten habe, die mit Klüber befreundet ist, den Sie kennen, und die mir
sagt, dass dieser von der Mystifikation überzeugt ist und dass sie mir bald mehr schreiben würde.
Ich beeile mich, Ihnen von diesem Hinweis Mitteilung zu machen, was Ihnen vielleicht Anlass gibt,
noch ein wenig mit der Veröffentlichung, von der Sie mir gestern erzählt haben, zu warten. Klüber
ist eine große Autorität für mich. Auf jeden Fall bin ich neugierig auf das, was Feuerbach aus dem
jungen Mann selbst herausbringen konnte … Denn der junge Mann weiß mehr als jene, die Bücher über ihn schreiben, aber er will nicht sprechen – da liegt die ganze Frage. Wenn er in Wien
wäre, würde er vielleicht sprechen …“
Klüber wird erstmals expressis verbis ins Spiel gebracht! Die Veröffentlichung, von der hier die Rede
war, bezog sich auf die englische Übersetzung von Feuerbachs Kaspar-Hauser-Schrift. Sie galt es nun um
jeden Preis zurückzuhalten! Und genau dies geschah! Der genannte „junge Mann“ war zweifelsohne Kaspar Hauser, von dem wir weiter unten erfahren, dass er hier ganz korrekt eingeschätzt wurde. Paul Anselm von Feuerbach scheint kurz vor seinem Tod noch Entscheidendes von Kaspar selbst erfahren zu ha ben, Dinge, die leider anderweitig nicht dokumentiert sind und die ihm selbst womöglich das Leben kosteten. Wir werden darauf zurückkommen. Aufgrund von Kaspars Äußerungen auf dem Sterbebett, die
wir am Schluss dieser Arbeit noch vorstellen, bezogen sich diese Erkenntnisse klar auf München!
Notabene:
All diese Informationen, von einem österreichischen Gesandten in Richtung Stanhope lanciert, verweisen nach Bayern, nach München, zu einer großen Dame und zu einer Banalität, was die vorherige
Freilassung Hausers betrifft: Der Mann, „bei dem er immer gewesen“, hatte ihn ganz einfach nicht
mehr bei sich behalten wollen!
259
Wir meinen:
In diesen Briefen des Johann von Wessenberg scheint als Schlüsselfigur erneut Staatsrat Klüber auf!
Die Stoßrichtung ging nun ganz eindeutig gegen Bayern. Die Rothschilds hatten über ihr Sprachrohr
von Klüber den alten Kampf gegen die rothschild-freie Zone Bayern wieder aufgenommen!
Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief Klübers vom 2. August 1832, den von Wessenberg zur Warnung an Stanhope weitergab. 548 Klüber dementierte in diesem langen Schreiben wie
schon zuvor die Erbprinz-von-Baden-Theorie, schilderte viele interessante Aspekte zum Leben Kaspar
Hausers, beerdigte allerdings auch die ungarische Geburt Kaspar Hausers nach Sprachtests mit eigens
ausgesuchten, ungarischen Testwörtern. Vor allem aber wies er die Betrüger-Theorie, die nun vornehmlich Stanhope vorantrieb, klar von sich.
Damit war die weitere Aufklärung des Falles Kaspar Hauser von Klübers Seite aus wieder offen. Die
weiteren Ermittlungen konnten sich durchaus gegen das Haus Bayern resp. Maria-Leopoldine richten,
wenngleich nicht mehr über die Schiene Ungarn!
Wenn dahinter erneut eine Rothschild-Order stand, was wir annehmen, dann wich Lord Stanhope
allerdings mit seiner unerhörten Impertinenz, Kaspar weiterhin und unaufhörlich als Trickser, Täuscher
und Lügner darzustellen, deutlich von dieser Doktrin ab!
548 Mayer, Stanhope, S. 425ff.
260
Stanhope in der Zwickmühle
Was mag den englischen Lord umgetrieben haben? Stand er nicht von Seiten der Rothschilds unter ge hörigem Druck?
Stanhope befand sich in der Tat in einer schlimmen Zwickmühle:
•
Die Rothschilds hatten offensichtlich sein Doppelspiel durchschaut, und speziell der englische
Zweig der Familie wird nun dem Lord alle früheren Geldhähne zugedreht haben. Nathan Mayer
Rothschild war an einer Finanzierung von Kaspars Aufenthalts in London sicherlich nicht mehr in teressiert, zumal sich auch die Napoleoniden-Geschichte nach der französischen Julirevolution
von 1830 und der Einsetzung Louis’ Philippes von Orléans als Bürgerkönig Frankreichs vorläufig
erledigt hatte.
Stanhope wusste die Angelegenheit …
„…zur Zufriedenheit der vormundschaftlichen
Gerichte in der Art definitiv zu ordnen, dass für
Hauser eine jährliche fixe Rente auf Lebenszeit
fundiert und auf das pünktlichste quartalsweise, allenfalls durch das Haus Rothschild ausgezahlt werde …“549
Wenn so der Fürstlich-Wallerstein'sche Hofrat Eugen
Hofmann aus Ansbach an Staatsrat Johann Ludwig
Klüber am 1. Juni 1833 schrieb, dann schwang in diesen Worten eine gehörige Portion beißenden Sarkasmus’ gegenüber dem finanzschwachen Lord mit. Denn
mit einer Rothschild-Zahlung für Kaspar rechnete wohl
selbst in Ansbach keiner ernstlich. Wenngleich eine
derartige Leibrente für das Bankenkonsortium nur
„peanuts“ gewesen wäre: Kein Rothschild gab unnötig
Geld für Projekte aus, die sich erübrigt hatten und die Abb. 144: Philip Henry Stanhope. Zeitnur Geld kosteten, aber keines einbrachten! Ausbe- genössische Karikatur von Isaac Robert
zahlt hätte vielleicht Rothschild, doch der Lord hätte Cruikshank.
dazu sicherlich Schulden machen müssen!
•
Aber auch die bayerische Geldquelle in Sachen Kaspar Hauser war für Stanhope seit jenem Tag in
Haag vermutlich ausgefallen oder floss nur noch als kleines Rinnsal. Dennoch konnte sich Stanhope einen offenen Anti-Bayern-Pro-Baden-Kurs, wie dies nun von Klüber und die Rothschilds
bevorzugten, nicht leisten, zu groß wäre für ihn die Gefahr der Enttarnung bzw. Bestrafung durch
seine vorherigen, bayerischen Auftraggeber gewesen.
•
Stanhope allein hätte wiederum Kaspar Hauser nicht, wie zuvor besprochen, ein Leben lang in
Chevening alimentieren können, wenn von keiner Seite aus mehr für ihn Geld floss. Eines ist si cher: Stanhope und seine Familie verfügten mit Sicherheit nicht über die immensen Mittel, die
er in Ansbach zuvor vorgetäuscht hatte. Bei einer lebenslänglichen Leibrente für Kaspar Hauser
wäre einiges zusammengekommen, falls dieser bis ins hohe Alter gesund blieb. Der erforderliche
Betrag hätte den Stanhopes geradezu das finanzielle Genick gebrochen!
Stanhope befand sich also plötzlich in echter Not. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch!
549 Linde 1, S. 292.
261
Eingedenk der Tatsache, dass er letztlich beiden Seiten entgegenkommen musste, wenn er es nicht definitiv mit ihnen verscherzen wollte – den Rothschilds mit Fallenlassen der Erbprinzen-Theorie und dem
bayerischen Hof mit weiterer Deckung Maria-Leopoldines –, kam Stanhope auf die grandiose Idee, zwei
Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und Kaspar Hauser künftig ganz einfach als Gauner und Hochstapler
hinzustellen.
Wenn Kaspar sein Schicksal nur vorgetäuscht hatte und ein Betrüger auf der ganzen Linie war, dann
stand eben weder das Haus Baden noch das Haus Bayern unter irgendwelchem Verdacht! Und weitere
Verpflichtungen zur Rentenzahlung gab es im Grund genommen nicht mehr!
Daher also der eigenartige Kurswechsel des englischen Lords!
Dabei musste Stanhope seine Sicht der Dinge gar nicht neu erfinden, sondern nur mit Hickel und dem
Lehrer Meyer im Schlepptau auf einen bereits fahrenden Zug aufspringen, denn die Betrüger-Theorie
hatte schon zuvor an Fahrt aufgenommen, ab 1830 durch die Veröffentlichung des Polizeirats Merker in
Berlin, und dies sogar paradoxerweise auf Betreiben der Rothschilds. Wir haben davon berichtet. Damals
hatte diese Geschichte allerdings für das Haus Rothschild nur eine Art Notnagel dargestellt, um dem
Finanzierungszwang bei einer Kaspar-Hauser-Stiftung zu entgehen.
Sollte allerdings sein weiteres Vorgehen zur Diskreditierung Kaspars von Erfolg gekrönt sein, dann war
auch in Zukunft für das Propagieren der Betrüger-Theorie nicht unerheblicher publizistischer Einsatz nö tig, und auch das kostete Geld. Und nicht nur ein Polizeirat Merker, der sich nun bereitwillig ein weiteres
Mal vor den Betrüger-Karren spannen ließ, sondern auch ein Oberleutnant Hickel, ein Lehrer Meyer, der
übrigens als Protestant an der israelitischen Schule Ansbach unterrichtete, sowie neue „alte Zeugen“ wie
z. B. die Schuster Weickmann und Beck in Nürnberg, sie alle wollten entlohnt werden!
So wird sich Stanhope noch in Frankfurt der früheren Beziehung zu einem weiteren Bankhaus erinnert haben, mit dessen
inzwischen verstorbenen Chef ihn ein dunkles Geschäftsgeheimnis verband, und von dem er gerade deshalb Hilfe und finanzielle Unterstützung erwarten konnte.
Es handelt sich um das renommierte Bankhaus Bethmann in
Frankfurt.
Die Bethmanns waren sephardische Juden, welche allerdings
schon vor der Reformation zum Katholizismus und nach derselben zum Protestantismus konvertiert waren. Im 19. Jahrhundert
wurden sie deshalb ausschließlich als christliche Bankleute
wahrgenommen, die sich für viele wohltuend von den sog.
„Geldjuden“ Frankfurts abhoben. Allein dieser Umstand brachte
ihnen eine gewisse Reputation.
Schon im Jahr 1748 hatten Johann Philipp Bethmann und sein
Bruder Simon Moritz Bethmann sen. die Bethmann Bank in
Frankfurt gegründet. Unter Simon Moritz von Bethmann junior,
dem Sohn Johann Philipps, entwickelte sich dieses Bankhaus zur
Zeit der Jahrhundertwende zu einer weiteren, wichtigen Geldquelle der deutschen und europäischen Fürstenhäuser.
Abb. 145: Simon Moritz von Bethmann,
Ölgemälde von Johann Jakob de Lose, von
Allerdings hielt dieser Effekt nicht lange an, denn in demsel1812.
ben Maße, wie sich die benachbarten Rothschilds mit ausgefeil-
ter Strategie in die Schlüsselpositionen der Staatsfinanzierung drängten, ging es mit der finanzpolitischen
Bedeutung der Bethmann Bank bergab. Dazu mag auch beigetragen haben, dass Simon Moritz von
Bethmann nicht jenen geschäftlich hoch erfolgreichen Kurs gegen Napoleon wie die Rothschilds seit der
Schlacht von Waterloo fuhr und sich eher um Neutralität gegenüber Frankreich bemühte, was ihm sogar
das Vertrauen Napoleons einbrachte, der nach der Völkerschlacht bei Leipzig persönlich Quartier bei ihm
262
nahm. Dabei gelang es Bethmann, den verheerenden Beschuss Sachsenhauses durch die Franzosen auf
diplomatischem Weg zu beenden, was ihm die besondere Anerkennung der leidenden Bevölkerung
einbrachte. Aber auch am preußischen, österreichischen und russischen Hof war von Bethmann sehr
geschätzt; alle Fürstenhäuser verliehen ihm Ehrentitel, und Österreich sogar das Adelsprädikat.
Simon Moritz von Bethmann war ein kluger Mann, der nachweislich die Potenz der Familie Rothschild
früh und treffend erfasst hatte und sich in der Folge – u. a. als Erfinder der sog. „Partialobligationen“ –
auf die Finanzierung von Handelsgeschäften und privater Investoren verlegte und den Rothschilds das lukrativere Feld der Staatenfinanzierung überließ. Die Konkurrenz zu den Rothschilds trieb von Bethmann
von sich aus nie auf die Spitze, sondern er bemühte sich sogar um eine Art friedlicher Koexistenz, er be suchte u. a. ein Bankett der Rothschilds und unterstützte sie sogar ideell und finanziell in gewissen Projekten, z. B. bei der Gründung des „Philantropin“, einer jüdischen Realschule in Frankfurt.
Wegen des politischen Einflusses und
der noblen Haltung, wegen des unermüdlichen Einsatzes für die Stadt Frankfurt und wegen wissenschaftlicher, sozialer und künstlerischer Projekte wurde die Familie Bethmann von der Öffentlichkeit im direkten Gegensatz zu
den Rothschilds gesehen, was sogar auf
die Folgegeneration durchschlug, nachdem Simon Moritz von Bethmann 1826
im Alter von 58 Jahren bei einem Theaterbesuch plötzlich verstorben war - angeblich wie Feuerbach am Schlaganfall.
Zur Außendarstellung der Bethmanns
und Rothschilds besagt die beistehende
Karikatur, die das reziproke Verhältnis
zwischen aristokratischer Haltung und
Geschäftssinn beider Familien widerspiegelt, wohl mehr als viele Worte:
Abb. 146: E. Schalk & Ph. Herrlich, Baron Moritz von Bethmann, der
Sohn Simon Moritz' von Bethmann, und Baron Amschel von
Rothschild. Bilder aus Frankfurt Nr. 1, 1848. Ersterer zur Linken auf
hohem Bock als Lenker der Adelskutsche, wohingegen Amschel
Rothschilds Kutsche zur Rechten die Geldkiste ist, worauf er steht.
Der Name Bethmann stand für Noblesse und Ansehen, der Name Rothschild stand für Geld und Gewinnsucht!
Was verband nun einen Lord Stanhope mit Simon Moritz von Bethmann?
Darüber geben uns zwei Briefe des Jahres 1825 aus dem Frankfurter Stadtarchiv (Sammlung Beth mann) Auskunft, über die kürzlich ein Artikel des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte im Internet er schien. Leider hatten wir bislang nicht die Gelegenheit, die Briefe selbst einzusehen. 550
Demnach hatte sich Lord Stanhope im Jahr 1823 – nicht 1822, wie in besagtem Text steht –, von einer
Frankfurter Lebedame namens Susanna Elisabeth Schüttler um den Finger wickeln lassen, worauf er versprach, ihr die Eröffnung eines Damenhutgeschäftes zu ermöglichen, um sie aus der Abhängigkeit eines
gewalttätigen Freiers zu lösen. Daraus wurde allerdings wegen der charakterlichen Qualitäten der
besagten Dame nichts. Dummerweise muss ihr Stanhope per Brief auch noch wichtige Geschäfts- oder
Staatsgeheimnisse verraten haben, Dinge, die auch Simon von Bethmann betrafen, denn die Dame war
hinterher im Stande, Stanhope und Bethmann wegen eines ihr versprochenen Schweigegeldes, de klariert als jährliche Pensionszahlung, zu erpressen. Bethmann wurde zwar von Stanhope erst im Jahr
1825 per Brief als „Beichtvater“ eingeweiht, als dieser nicht mehr wie versprochen zahlen konnte. Da er
550 Sylvia Goldhammer: Ein mysteriöser englischer Lord auf der Durchreise in Frankfurt: Philip Henry 4. Earl of
Stanhope, online hier.
263
aber bereitwillig die weiteren Verpflichtungen übernahm, muss er seinerseits dringende Motive gehabt
haben, die Affäre zu vertuschen.
Im Jahr 1826, kurz vor Bethmanns unerklärlichem Tod, kam es deshalb zu einem schriftlichen Vertrag,
der die weitere Abwicklung der Zahlungen über das Bankhaus Bethmann sicherstellte. Dass das Bankhaus Bethmann hier nur als Vermittler fungierte, wie im oben genannten Artikel formuliert, kann nicht
sein. Denn das Bankhaus war, wie ein zweiter Prozess von 1835 wiedergibt, wenigstens Bürge für die
Zahlungen und im Grunde genommen der eigentliche Finanzier des Schweigegeldes, weil Stanhope weiterhin nicht selbst über das nötige Bargeld verfügte. Dies ging sogar soweit, dass in den Jahren 1839 und
1840, als Madame Schüttler bereits verstorben war, ihre Erben Ansprüche gegen das Bankhaus geltend
machen konnten. Erst nachdem die Forderung der Erben bis auf den letzten Heller beglichen war, konnte
die Angelegenheit mit einem Vergleich beendet werden. Dies geschah 7 Jahre, nachdem Moritz von
Bethmann die Bank seines Vaters übernommen hatte. Zuvor hatten Karl Friedrich Pfeffel, der Sohn des
Dichters Pfeffel, und Georg von Saint-George(s) als Vormünder des minderjährigen Moritz das Bankhaus
Bethmann geführt, wobei letzterer mit einer Cousine Simons von Bethmann verheiratet war. 551
Karl Friedrich Pfeffel schrieb 1839 verärgert, dass sich Lord Stanhope …
„in dieser Angelegenheit wahrlich sehr ungentlemanlike benimmt“ und ihm „… dünke, der Herr
Lord und Peer hätte Motive genug, es nicht bis zur Öffentlichkeit kommen zu lassen …“
Die heikle Affäre mit der Schüttler verfolgte also Stanhope weit über sein Intermezzo mit Kaspar
Hauser hinaus.
Dass mit Stanhope auch das Bankhaus Bethmann erpresst worden war, steht außer Zweifel. Warum
sonst hätte es für Stanhope die Schweigegeldzahlungen übernehmen sollen?
Es tun sich damit dunkle Seiten in einem weiteren und nun besonders renommierten Bankhaus auf!
Man erfährt: Illegale Aktivitäten wie Bestechung und Erpressung gehörten nicht nur zu Stanhopes,
sondern auch zu Bethmanns operativem Geschäft!
Vielleicht handelte es sich bei der Susanna Elisabeth Schüttler gar um eine auf Stanhope und Beth mann angesetzte Agentin der Rothschilds. Aus der Luft gegriffen ist eine solche Vermutung nicht, wenn
man bedenkt, wie raffiniert und zielgerichtet die Dame gegenüber Stanhope vorgegangen war, wobei sie
offenbar wenigstens den Inhalt eines Briefes in irgendeiner Weise doch verraten haben muss, ehe sie
starb.
Das Haus Bethmann und Lord Stanhope waren also durch obskure Machenschaften aneinander gebunden. Wenn man schon voneinander abhing, was liegt dann näher als die Vermutung, dass Stanhope
die Bank Bethmann bzw. den jungen Moritz von Bethmann auch in Sachen Kaspar Hauser um Geld an
pumpte? Wir beziehen dies auf das Jahr 1832 und die nachfolgenden Jahre, als Stanhope Geld brauchte,
um die Verbreitung der Betrüger-Theorie voranzutreiben! Dem Bankhaus Bethmann kam er mit einem
solchen Ansinnen sicher dahingehend entgegen, dass dieses damit die Strategie der konkurrierenden
Rothschilds hintertreiben konnte, die sich inzwischen darauf versteiften, erneut Bayern, MariaLeopoldine und damit das Bankhaus von Eichthal in München aufs Korn zunehmen.
Interessanterweise schildert der Artikel aus dem Frankfurter Stadtmuseum die Tatsache, dass Moritz
von Bethmann Zeit seines Lebens hohes Interesse am Fall Kaspar Hauser hatte:
„Abschließend sei noch erwähnt, dass die Kaspar-Hauser-Affäre auch im Hause Bethmann verfolgt wurde. Das zeigt ein Band aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Moritz von Bethmann
(1811-77) angelegten über 300 Bände umfassenden zeitgeschichtlichen Sammlung. Der Band
enthält Druckschriften und Zeitungsausschnitte zur Kaspar-Hauser-Affäre aus den Jahren 1859,
1872 bis 76. Er dokumentiert einen kurzen Ausschnitt der heftig geführten Debatte zwischen
Hauserianern und Antihauserianern über die Frage, ob Hauser ein Betrüger oder doch ein badischer Prinz sei …“
551 Neues Rheinisches Conversationslexikon, Köln 1832, S. 563.
264
Philip Henry Stanhope befand sich also ab 1832 mit den eingegangenen Verpflichtungen gegenüber
Kaspar Hauser in einer Zwangslage, woraus er sich sinnvollerweise nur mit finanzieller Unterstützung
des Bankhauses Bethmann, aber nicht der Rothschilds oder der von Eichthals, einigermaßen befreien
konnte, um im Weiteren die moralische Demontage seines Zöglings zu betreiben.
Den Auftakt machten seine Briefe, in denen er nach der 2. Ungarnreise Hickels Kaspar Hauser folgen dermaßen diskreditierte:
„Wie wäre dies alles zu erklären, als durch Verstellung?“
Klüber und Feuerbach begegnete Stanhope allerdings mit Vorsicht: Erst nach Monaten, am 5. und 6.
Oktober 1832, richtete er an beide Briefe, sprach Klüber gegenüber davon, er handle …
„…ohne Rücksicht auf Parteigeist, auf persönliche Verhältnisse oder auf den Vorurteilen, die
z. T. die Welt regieren.“
Genau das Gegenteil war der Fall! Ungeniert schürte Stanhope in diesen Briefen seine neuerlichen
Aversionen gegen Kaspar. Davon, dass er „seinen lieben Pflegesohn“ zu sich nach England zu nehmen
wolle, war nun nichts mehr zu vernehmen, was schließlich auch Kaspar Hauser selbst erfuhr. Dieser
wollte es lange Zeit nicht wahrhaben und richtete in seiner Not sogar an den britischen Geschäftsträger
in Frankfurt, Mr. Cartwright, ein Bittschreiben – umsonst. Schließlich bemerkte er:
„Mich kann's ärgern, wenn jemand etwas verspricht und nicht Wort hält!“
Und:
„Ich weiß, der Herr Graf hält mich für einen Betrüger.“
Kaspar war also am Ende ein Licht über Stanhope aufgegangen.
In dieser Phase setzten sich Hofrat Eugen Hofmann und Appellationsgerichtsrat Friedrich Schumann
in Ansbach zunehmend für Kaspars weitere Versorgung durch Stanhope ein, wobei sie dessen Betrugstheorie heftig dementierten. Und Staatsrat Klüber in Frankfurt unterstützte sie dabei! 552 So verging der
Rest des Jahres 1832. In Ansbach ließ sich ein Stanhope nicht mehr blicken, dagegen richtete er immer
wieder Briefe dorthin, die Kaspar ins schlechte Licht rückten.
Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle der Hinweis, dass die Vormundschaft für Kaspar Hauser an sich gar
nicht bei Stanhope lag. Dieser hatte mit Beschluss vom 2. Dezember 1831 und dem Plazet von König Lud wig I. nur die „Erziehung und Ernährung“ und Sicherstellung der Person im gerichtlichen Auftrag übernommen. Die Vormundschaft lag allerdings auch nicht mehr beim Freiherrn von Tucher, der sie am 7. De zember 1831 abgegeben hatte.
Bis kurz vor Kaspars Tod hatte die Kuratel-Behörde, d. h. das k. Kreis- und Stadtgericht Nürnberg,
schlichtweg versäumt, einen neuen amtlichen Vormund zu ernennen; erst ganz am Ende, genau am 26.
November 1833, trat der Bürgermeister Jakob Friedrich Binder in Nürnberg formal in die Vormundschaft
ein. Anselm von Feuerbach fungierte wiederum, solange er lebte, nur als Vertreter des „Pflegevaters“
Stanhope bei dessen Abwesenheit. Nach seinem Tod übernahm der Hofrat und Advokat Eugen Hofmann
in Ansbach diese Aufgabe.553
Hofmann wurde von Pies, Mayer, Tradowsky u. a. mit einem gewissen Andreas Hofmann verwechselt,
der um 1826 als gebürtiger Ansbacher im Personalstamm des Appellationsgerichtes Ansbach als Assessor
aufgeführt ist, dagegen nie Advokat war oder den Titel Hofrat trug. 554
552 Mayer, Stanhope, S. 434ff.
553 Meyer, Mitteilungen, S. 287.
554 Vgl. M. Jäck: Übersicht Justizorganisationen …, Bamberg 1826.
265
Der um 1777 gebürtige Ansbacher Eugen Hofmann schrieb sich am 18.
Oktober 1797 an der Universität Erlangen ins Fachgebiet Jura ein, zeitgleich
mit Karl Heinrich von Fahnenberg,
jenem Mann, der später großherzoglich
badischer Kammerherr wurde und als
Bekannter Stanhopes an der BetrügerTheorie mitstrickte, wobei beider
Bekanntschaft mit Stanhope durchaus
auf
die
gemeinsame
Erlanger
Studentenzeit zurückgehen konnte. Aus
dieser Zeit rührt wohl auch Hofmanns
Bekanntschaft mit Staatsrat von Klüber Abbildung 147: Aus dem Stammbuch eines unbekannten Studenten
her, der damals als Professor der Rechte (1795-1804) - Eintrag vom 26. August 1798 - MS 2822 UB Erlangen.
in Erlangen lehrte, und es lässt sich nicht
einmal ausschließen, dass Hofmann wie u. U. auch Fahnenberg sogar mit Klübers Geheimbund in Berüh rung gekommen waren. Da sich aus derselben Zeit der Eintrag Hofmanns in ein studentisches
Stammbuch mit einem Scherenschnitt erhalten hat, kennen wir wenigstens seine Handschrift und sein
Konterfei.
Nach dem Studium muss Eugen Hofmann als Advokat in die Dienste des Fürstentums von OettingenWallerstein getreten sein, das ab 1803 sukzessiv mediatisiert resp. zwischen Bayern und Württemberg
aufgeteilt wurde. Vielleicht hatte Hofmanns berufliche Tätigkeit, die ihm bereits früh den Titel Hofrat ein brachte, gerade mit den damit verbundenen, komplizierten Rechtsgeschäften zu tun. Im Jahr 1813 ist
Hofmann dann als Rechtsanwalt bereits in Ansbach nachweisbar, 1814 im Angestelltenverhältnis am dor tigen Stadt- und Landgericht, im Jahr 1825 auch als Wechselnotar des Wechselgerichts Ansbach, 2. In stanz. In ersterer Funktion dürfte er nach Feuerbachs Tod, u. U. im Auftrag des Appellationsgerichtes, die
Kuratel für Kaspar Hauser übernommen haben.
Erst lange nach Kaspar Hausers Tod, ab dem 16. Februar 1838, wechselte Hofmann als Advokat ans
Kreis- und Stadtgericht Nürnberg und ersetzte hier den verstorbenen Advokaten Wagler. Hofmann blieb
allerdings trotz seiner neuen Aufgabe in Nürnberg weiterhin auch als Notar in Ansbach tätig. Ab ca. 1840
bis zu seinem Tod am 4. Dezember 1842 vertrat Hoffmann juristisch den Fürsten Franz zu HohenloheSchillingsfürst, was mit seiner früheren Mediatisierungsaufgabe zu tun gehabt haben dürfte und worüber
sich mehrere Akten im Landesarchiv Baden-Württemberg erhalten haben.
Im Jahresbericht der Maximilians-Augenanstalt für Arme in Nürnberg von 1842 fand Eugen Hoffmann
posthum eine ehrende Erwähnung:
„Herr Eugen Hofmann, königlich-bayerischer Appellationsgerichts-Advokat und fürstl. Oettingischer Hofrath, (verstorben) in Nürnberg“.555
Wenn Eugen Hofmann in den letzten Tagen Kaspar Hausers häufig mit Staatsrat Johann Ludwig Klüber
in Frankfurt konferierte, dann hat dies u. U. mit der beiderseitigen Erlanger Bekanntschaft zu tun. Diese
Bekanntschaft mit Klüber sollte Hofmann allerdings nicht dazu gereicht haben, diesem Amtsgeheimnisse
zu Kaspar Hauser auszuplaudern.
Wer oder was Hofmann zu seiner Kompetenzüberschreitung autorisiert hat, bleibt letztlich unklar.
Eine nähere Beziehung seiner Person zum Haus Rothschild lässt sich nicht nachweisen, allerdings auch
nicht ausschließen.
555 Jahresbericht der Maximilians-Augenheilanstalt für Arme in Nürnberg , Jg. 29. 1842/43, IV.
266
Damit kehren wir zurück ins Jahr 1833:
Im Frühjahr, genau am 7. April 1833, hatte Hofrat Hofmann an Anselm von Feuerbach in Frankfurt geschrieben, es sei nun Pflicht, „die Sicherstellung der Subsistenz des Hauser auf Lebenszeit nachdrücklich
und nötigenfalls gerichtlich zu betreiben.“556 Wenig später muss er Stanhope das Messer direkt auf die
Brust gesetzt haben, wie van der Linde berichtet, wobei er nun sarkastisch das Haus Rothschild als Bür gen ins Spiel brachte (siehe das Zitat bei van der Linde weiter oben). Auf der Gegenseite scheint sich
Stanhopes Freund von Wessenberg nochmals eingeschaltet und dem Lord geraten zu haben, die Ausgaben für Kaspar zu drücken.557
Dies alles belegt, dass es ausschließlich ums liebe Geld ging! Kaspar Hauser war zum finanztechnischen Problemfall geworden, für welche Seite auch immer!
Stanhope plante noch zwei Schreiben an
König Ludwig in Bayern, die er jedoch wohlweislich nicht abschickte. Von Seiten der
bayerischen Krone war für ihn nichts mehr zu
holen.
Dem Druck, der inzwischen auf ihm lastete, gab er erst nach, als Staatsrat Klüber am
Abb. 148: Anzeige Klübers im Frankfurter Journal. Mayer,
8. Mai 1833 im Frankfurter Journal nebenStanhope, S. 450.
stehende Notiz über die Vernachlässigung
Kaspar Hausers durch den Lord veröffentlichte, was Stanhope nun definitiv in Zugzwang brachte.
Einen öffentlichen Rufmord in Deutschland konnte sich Stanhope keineswegs leisten!
Stanhope brach umgehend von England aus nach Deutschland auf, setzte wohl bei der Bank Bethmann die schnellen Gelder frei, von denen oben die Rede war, und begab sich anschließend direkt zu
Klüber. Dieser unterbreitete Stanhope eine Nachricht, die ihn erleichtert haben mag, mit der er aber un ter Umständen bereits hatte rechnen können:
Wenige Tage zuvor, am 29. Mai 1833, als Stanhope noch im nahen Andernach und damit in der preußischen Rheinprovinz weilte, war Paul Anselm von Feuerbach bei Frankfurt einen mysteriösen Tod gestorben!
Hatte Stanhope im Wissen um das, was nachfolgte, bewusst Preußen nicht verlassen?
Klüber hatte den Ansbacher Gerichtspräsidenten noch kurz zuvor in Frankfurt getroffen und daraufhin
an Eugen Hofmann in Ansbach geschrieben, Feuerbach habe sich seit fünf Jahren nicht mehr so kräftig
und gesund gefühlt!558 Allein wegen dieser Äußerung kann man Klüber mit einer Ermordung Feuerbachs
kaum in Verbindung bringen, wie es später der bayerische Innenminister Fürst Ludwig von OettingenWallerstein tat.559
Wem war der Gerichtspräsident im Weg gestanden?
556 Mayer, Stanhope, S. 443.
557 Mayer, Stanhope, S. 448.
558 Mayer, Stanhope, S. 451.
559 Linde 2, S. 131.
267
Das Leben des Gerichtspräsidenten Paul Anselm von Feuerbach
Ohne Kenntnis des beruflichen und privaten Werdegangs ist es nur schwer möglich, den Ansbacher
Gerichtspräsidenten Paul Anselm von Feuerbach und sein Engagement für Kaspar Hauser richtig zu
verstehen. Wir beschränken uns im Folgenden auf die wichtigsten Eckdaten.
Der aus einer Hochbegabtenfamilie stammende, in Thüringen geborene und in Hessen aufgewachsene
Paul Anselm von Feuerbach (1775-1833) hatte von Anfang an in Bayern keine berufliche Fortune gehabt.
Als er nach wenig einträglichen Professuren in Jena und Kiel mit Wirkung des Jahres 1804 als Dozent für
Zivil- und Kriminalrecht an die noch neue Landesuniversität nach Landshut berufen wurde, war er zwar
vorgewarnt, aber letztlich dem Lockruf eines vielfach gesteigerten Gehalts erlegen.
Die Virulenz der Landshuter „Schlangengrube“ hätte allerdings kein Auswärtiger erraten können. Noch immer
war hier unter den Studenten und Lehrern der Kampf zwischen Illuminaten
und Obskuranten nicht ausgekämpft;
nur in der Ablehnung der norddeutschen, meist protestantischen Wissenschaftler, die vom leitenden Minister
Maximilian von Montgelas (1759-1838)
im Rahmen der Aufklärung ins Land gerufen wurden, waren sich alle einig.
Was Feuerbach anbelangt, so besorgte Abb. 149: Universität Landshut um 1805, Kupferstich von Heinrich
den Rest die Missgunst des Juristen Ni- Adam (1787-1862).
kolaus Thaddäus von Gönner (17641827), der Feuerbach als Konkurrenten neben sich nicht ertragen konnte und diesem mit den Mitteln des
Rektors und Prokanzlers das akademische Leben so schwer wie möglich machte. Zum offenen Ausbruch
kamen die Feuerbach betreffenden Intrigen anlässlich der Invasion der Österreicher im Jahr 1805, wobei
auch Landshut besetzt wurde. Zuletzt öffentlich bei einem Doktoranden-Examen bloßgestellt, beendete
Feuerbach abrupt seine akademische Laufbahn und trat wenig später unter dem Titel eines „Geheimen
Referendärs“ ins Münchner Justiz- und Polizeidepartement über – wenige Tage vor Proklamation des Kö nigreichs Bayern.
In den folgenden achteinhalb Jahren erarbeitete Feuerbach das erste moderne Strafgesetzbuch Bayerns, welches u. a. die Folter abschaffte, und begann mit einer Umsetzung des „Code Napoléon“ in den
bayerischen „Codex Maximilianeus“. Wegen des 1811 ebenfalls nach München versetzten und ihm quasi
als Supervisor vor die Nase gesetzten Intimfeindes Gönner geschah auch dies zuletzt unter misslichen
Umständen. Schon 1808 hatte Feuerbach in einem Brief an seinen Vater geklagt, dass er derart in den
Brennpunkt politischen Umbruchs geraten war:
„Unser Staat ist in einer völligen, wiewohl unblutigen Revolution begriffen: das Alte wird eingerissen und eine neue Ordnung der Dinge begründet. Aufhebung des Feudalismus, Aufhebung
aller Fundamente, Rechte und Privilegien des Erbadels, eine neue Volkspräsentation, eine neue
Constitution: das sind die politischen Gegenstände, woran ich mitarbeite und wobei ich beinahe
mich die Hauptperson nennen kann …“560
Mit welcher Wucht und Intriganz sich die reaktionären Kräfte, die sich aus dem alten Patrimonial-Adel
rekrutierten, zur Wehr setzten, konnte weder ein Montgelas noch ein Feuerbach ahnen. Mit dem Wech sel von Ingolstadt nach München war Feuerbach im Grunde genommen vom Regen in die Traufe gekom560 Ludwig Feuerbach: Anselm Ritter von Feuerbach's Biographischer Nachlass, in 2 Bänden, Leipzig 1853, Bd. 1, S.
152. Im Weiteren abgekürzt mit Feuerbach, Biographie 1 oder 2 und Seitenzahl.
268
men: Während des Koalitionskrieges 1809 gerieten alle norddeutsch-protestantischen Gelehrten Münchens, darunter eben Anselm Feuerbach und seine Freunde Friedrich Heinrich Jakobi und Friedrich Wilhelm Thiersch, direkt ins Visier der reaktionären Kräfte. Gustav Radbruch, Juraprofessor und Justizminister der Weimarer Republik, begründete diese Aversion in seiner berühmten Feuerbach-Biographie mit …
„…dem Gegensatz von Süddeutschen zu Norddeutschen, von Katholiken zu Protestanten, von
Romantikern zu Aufklärern. Erbitterte Gegner, Franzosenfreunde und Deutschtümler, Illuminaten
und Obskuranten fanden sich in gemeinsamem bajuwarischem Patriotismus gegen die Eindringlinge. Vielfach verbarg sich hinter der patriotischen Fassade der platte Neid gegen die gut besoldeten und vielfältig ausgezeichneten Ausländer. Aber auch der Eifer und Übereifer der ’Nordlichter’ hatte Anteil an den Verstimmungen.“561
Feuerbach und seine „protestantische Fremdenkolonie“ wurden in Kürze zur Zielscheibe anonymer
Pamphlete, gehässiger Pasquillen, falscher Gerüchte und öffentlicher Anschläge; man unterstellte ihnen
mehr oder weniger unverhohlen Antibonapartismus, dann wieder Kollaboration mit Österreich und/oder
Preußen – kurz alles, was sie in ihrer Position diskreditierte und schwächte.
Interessanterweise erhielt Feuerbach in dieser Zeit eine größere Zuwendung von König Max Joseph,
kaschiert als Zuschuss für eine Erholungsreise. Dies war ein Geldsegen, welchen der Ex-Illuminat und
Domkapitular von München, Lorenz von Westenrieder, in seinen Tagebüchern erwähnte, und welchen
dessen Editor als Entschädigung für widerfahrene Unbill entlarvte, aber genauso gut als Schweigegeld für
einen Geheimnisträger verstanden werden kann. 562
Die Angriffe, hinter denen z. T. der erzkonservative Hofbibliothekar, Freiherr Christoph von Aretin
(1773-1824) steckte, hörten indes nicht auf. Am Ende drohte man nach manch makabrem Schabernack,
der sie zermürben sollte, den norddeutschen Protestanten sogar offen mit der baldigen Ermordung!
Nach einigen Monaten, am Rosenmontag 1811, wurde in der Tat auf Friedrich Wilhelm Thiersch das lan ge erwartete Attentat verübt. Nur mit viel Glück überlebte Thiersch einen Dolchstich in die Halsweichtei le! Auch das geschah mit juristischer Deckung, wie Feuerbach unterstellte.
„Die norddeutschen Gelehrten fühlten sich nach diesem Attentat von Meuchelmördern umlau ert. Feuerbach ging nur noch schwerbewaffnet und von einem Bedienten begleitet aus, auf seinem Nachtische lagen zwei neue Pistolen.“563
Feuerbach sprach sich in dieser Bedrängnis in einem Brief an seinen Vater selbst Mut zu:
„Meine politische Lage ist nicht die beste. Ich würde sie gefährlich nennen, wenn ich mich
fürchtete …“ Und dann (Original auf Lateinisch) „Im Bewusstsein meiner aufrechten Gesinnung
lache ich über dieses Lügengeschwätz!“ 564
Selbstverständlich fürchtete sich Feuerbach – und er fürchtete um sein Leben! Spätestens mit dem Anschlag auf seinen Freund resignierte er und wollte schleunigst aus München weg. Irgendetwas bleibt im mer hängen: Die Gerüchte, er kollaboriere heimlich mit Preußen und/oder Österreich, wurden nie be wiesen, aber sie standen im Raum und blieben selbst dann valide, als Feuerbach Freiherr Christoph von
Aretin als Rädelsführer enttarnte. Während dieser straffrei blieb und sogar noch befördert wurde, fand
561 Gustav Radbruch: Paul Johann Anselm Feuerbach – ein Juristenleben, Wien 1834, 3. Auflage Göttingen 1969, S.
94. Im Weiteren abgekürzt mir Radbruch und Seitenzahl.
562 Zwischen dem 18. April und 4. Mai 1810: „Item Sr. Majestät der König schenkten dem Feuerbach (izt geheimen
Rath) eine beträchtliche Summe Gelds, um eine Erhollungsreise machen zu können … Fußnote Kluckhohns: W.
setzt nicht hinzu, dass die Veranlassung zu dieser Gnadenbezeugung die „Bübereien“ waren, die an dem Refor mator der bayerischen Justiz, Anselm Feuerbach …, zu derselben Zeit verübt wurden, als der Präsident der Akademie Jacobi durch die Polizei vor den Insulten der aufgebrachten Menge geschützt werden musste. Vgl. August
Kluckhohn: Aus dem handschriftlichen Nachlasse L. Westenrieders, 1. Abtheilung: Denkwürdigkeiten und Tagebücher, in: Abhandlungen der Historischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd.
17, München 1882, S. 93.
563 Radbruch, S. 99.
564 Feuerbach, Biographie 1, S. 187.
269
die üble Nachrede am Ende auch bei Graf Montgelas, der Feuerbach ins Land geholt hatte, Gehör.
Seit Napoleons Russlandfeldzug im Winter 1812, der bekanntlich nicht nur das Schicksal des großen
Korsen und seiner Nation, sondern ganz Europas wendete, trat Feuerbach allerdings zunehmend offen
und intensiv, mit mehreren rechtsphilosophischen Schriften, als Napoleon-Gegner und Befürworter einer
neuen politischen Ordnung auf den Plan. Er entwarf das Modell eines mittleren Fürstenbundes unter
Bayerns Führung, sozusagen eingespannt zwischen den militärischen Großmächten Preußen und Österreich. Radbruch meinte, dies sei mehr unter den Aspekten der Freiheit, weniger des Nationalismus geschehen. Selbst wenn sich auch Bayern am Schluss von Napoleon lossagte, Feuerbach traf mit seinen
theoretischen Überlegungen zunächst nur die heimlichen Vorlieben des Kronprinzen Ludwig. Die Gesin nung der Regierung blieb jedoch noch lange dieselbe wie zuvor; Feuerbachs Vorpreschen fand dort nicht
den geringsten Gefallen.
„Bayerns Allianz mit Österreich und Abfall vom Rheinbunde. Jubel des Volks; Kälte des Ministeriums; Erbitterung und stille Hoffnung der französischen Partei …“565
So fasste Feuerbach selbst im Telegrammstil die damalige Stimmung in München zusammen. Als er mit
dem preußischen Gesandten in München, Johann Emanuel von Küster (1765-1833), Kontakt aufnahm, um
eine berufliche Veränderung in Richtung Norden auszuloten, geriet er erneut in den Verdacht, Preußens Spion
zu sein. Man munkelte sogar, er habe zuvor dem preußischen Tugendbund angehört. Da ließ Graf Montgelas
Feuerbach endgültig fallen und setzte beim König
durch, dass dieser aus den Regierungskreisen entfernt
und in die Provinz versetzt würde. So ernannte der König Feuerbach am 21. Juni 1814 zum 2. Präsidenten des
Appellationsgerichts Bamberg.
Der Bamberger Gerichtspräsident Carl August von
Seckendorf (1774-1828) stellte indes Feuerbach in
Bamberg so kalt, wie er nur konnte, so dass dieser am
Ende seine dortige Zeit resigniert in einer „Freistellung
vom Dienst“ verbrachte und wieder oft nach München
zurückpendelte – diesmal allerdings in einer Privatangelegenheit. Denn in der kritischen Umbruchsphase war
Abbildung 150: Stich aus „Anselm Ritter von Feuer- auch Feuerbachs Ehe mit der zwei Jahre älteren Eva
bachs Biographischer Nachlass“, Bd. 1, Leipzig Wilhelmine Tröster (1774-182), die ihm immerhin 8
1853.
Kinder geschenkt hatte, zerbrochen. Kurz nach der Geburt seiner Tochter Elise hatte Feuerbach ein heimliches Verhältnis mit Nannette Brunner begonnen, einer Buchhaltersgattin, welche ebenfalls von ihm schwanger wurde und ihr Kind unter einem Decknamen
in Bamberg austrug. Am 24. Juni 1815 kam es zur offiziellen Trennung Feuerbachs von seiner Frau, die
erst nach dem Tod der Nannette Brunner im Jahr 1822 wieder aufgehoben wurde.
Während die Liebschaft Nannette Brunner künftig mehr für das „leibliche Wohl“ Feuerbachs zuständig
war, begann dieser noch im selben Jahr eine weitere, nunmehr platonisch-geistige Beziehung zur balti schen Gräfin Elisa von der Recke (1754-1833). Die Herzensfreundschaft der beiden hielt über viele Jahre
an und gestaltete sich von Seiten Feuerbachs wegen der doch seltenen Zusammenkünfte mehr als Brief freundschaft zu einer Art von geistiger Mutter.
Über die Gräfin von der Recke und ihren Gesellschafter, den Dichter Christoph August Tiedge (17521841), bahnte sich für Feuerbach eine weitere Verbindung zum preußischen Hof an. Feuerbach bekam
vom dortigen Innenminister zunächst das unverbindliche Angebot einer Redaktion des preußischen
565 Feuerbach, Biographie 1, S. 271f.
270
Strafgesetzbuches, verbunden mit einer Professur an der Universität Berlin. Feuerbach bat sich Bedenkzeit aus und nahm erst dann die Verbindung wieder auf, als seine vorherigen Pläne, sich in den Dienst ei nes großen hanseatischen Handelshauses zu begeben oder sogar das Oberappellationsgericht in Lübeck
zu übernehmen, nach längeren Verhandlungen fehlgeschlagen waren. Am Ende zerbrachen auch die Plä ne mit Preußen: Staatskanzler Carl August von Hardenberg (1750-1822), von dem wir bereits wissen,
dass er Freimaurer und Rothschild-Mann war, machte im Jahr 1816 von sich aus den entscheidenden
Rückzieher. Offensichtlich hatte man Feuerbach inzwischen auch in Preußen wegen manch unbedachter
Äußerung als „politisch riskant“ eingestuft. Damit blieb Feuerbach sozusagen in bayerischen Händen.
„Er weiß zu viele Scandala aus einer gewissen Zeit, als dass man nicht fürchten müsste, ihn au ßer Bayern an einem unabhängigen Platze zu sehen. Selbst Montgelas fürchtete sich vor ihm.“
So räsonierte 1818 der Lübecker Syndicus Curtius über das Scheitern dieser Pläne. 566
Die Absicht der bayerischen Regierung, Feuerbach nun als Generalkommissär in den kurz vor der Auf lösung begriffenen bayerischen Salzach-Kreis abzuschieben und ihn sozusagen den Österreichern auszuliefern, konnte dieser mit vielen Mühen und Vortäuschung schwerer Krankheit gerade noch abwehren.
Der Tiefpunkt in seiner beruflichen Laufbahn war erst überwunden, als der leitende Minister Montgelas am 2. Februar 1817 plötzlich in den Ruhestand versetzt wurde – nicht zuletzt auf Betreiben des eher
deutsch-national gesonnenen Kronprinzen Ludwig, des späteren Königs Ludwigs I. (1786-1868). Dieser
war Feuerbach gewogen. Schon drei Tage nach der Demission Montgelas' richtete Feuerbach an ihn eine
Bittschrift und erinnerte daran, wie er mit seinen politischen Schriften die Sache des künftigen Königs zu
der seinen gemacht hatte. Wenige Wochen später konnte Paul Anselm Feuerbach schließlich nach vielen
stürmischen Jahren in jenen Hafen der Ruhe einlaufen, in dem er fast bis zu seinem Ende blieb: Am 18.
März 1817 wurde er von König Max Joseph zum 1. Präsidenten des Appellationsgerichtes für den Rezat kreis in Ansbach ernannt. Seinen begabten Söhnen Anselm und Karl genehmigte der König ein Stipendium in der Landeshauptstadt.
Soweit in aller Kürze zu den ersten beiden Lebensdritteln des Paul Anselm Feuerbach.
Es bleibt am Ende anzumerken, dass sich Paul Anselm Feuerbach in seinen zahlreichen Briefen fast re gelhaft als schwerkrank, von zahlreichen Bresthaftigkeiten in Mitleidenschaft gezogen bezeichnete. Dieses für heutige Ohren melodramatisch klingende Lamento begann schon in seiner frühen Studienzeit und
setzte sich bis in seine letzten Tage fort. Die Biographen haben dies u. E. allzu ernst genommen, und Feu erbach in seinen letzten Dekaden als körperlich schwerkranken und geistig erschöpften Mann gezeich net. Nachdem wir berufsbedingt Einiges von der Materie verstehen und gut zwischen den Zeilen lesen,
legen wir Wert auf die Feststellung, dass nur das allerwenigste von den Feuerbach'schen Krankheiten als
bare Münze genommen werden kann.
Seine Lebensweise scheint allerdings über Jahrzehnte mit exzessivem Rauchen und Trinken alles andere als gesund gewesen zu sein. So berichtete z. B. Feuerbach, dass er während einer Sitzung beim Justizminister einen halben Liter Burgunder und einen viertel Liter Rheinwein konsumiert habe, dazu drei Glä ser Champagner, ein paar Gläser „Eremitage“ und ein bis zwei Gläschen Malaga. 567 Es ist kein Wunder,
wenn Feuerbach unter diesen Umständen an Gicht litt, einer Krankheit, welche von ihm selbst oft mit einem Gelenkrheumatismus in einen Topf geworfen wurde. Die Chiragra aber scheint ihm tatsächlich im
Lauf der Zeit seine Schreibhand so schwer beeinträchtigt zu haben, dass er am Schluss kaum noch
schmerzfrei schreiben konnte und seine Briefe diktieren musste. Ansonsten aber war Feuerbach relativ
robust. Umso mehr neigte er zur Hypochondrie, wie er mehrfach eingestand. Er war ein von Stimmungsschwankungen und irrationalen Krankheitsängsten geplagter Mann, der in seinen depressiven Episoden
gerne „somatisierte“, d. h. nicht weiter begründbare körperliche Symptome vorgab, mit denen er bei seinen Adressaten um Mitleid und Aufmerksamkeit heischte und sich selbst aller Verantwortung enthob,
566 Radbruch, S. 124.
567 Feuerbach, Biographie 1, S. 192.
271
wenn ihm etwas zu viel wurde:
„Bei meiner zärtlichen Körperbeschaffenheit, äußersten Nervenreizbarkeit, hypochondrischen
Beschwerden und häufigen rheumatischen Anfällen … darf ich kein Unternehmen wagen, welches eine … Anstrengung des Geistes und des Körpers fordert …“ klagte z. B. Feuerbach 1828 in
einem Brief an den Ministerialrat von Spies. 568
Nicht selten kam es vor, dass Feuerbach aus taktischen Gründen eine Krankheit sogar simulierte, z. B.
damals, als es für ihn um die Verhinderung der Versetzung in den Salzach-Kreis ging. Die Radbruch'sche
Biographie schildert hier eine ganze Serie von eigenartigen „Anfällen“ und „Paroxysmen“. 569
Feuerbach scheint im Simulieren selbst schwieriger Symptomenkomplexe ziemlich gewandt gewesen zu sein!
Soweit zu den privaten Schwächen eines großen Geisteswissenschaftlers.
Wir ersparen uns im Folgenden eine Schilderung der Jahre zwischen 1817 und 1829, in denen Feuer bach weiterhin mit seinen Widersachern etliche Gefechte in seinem juristischen Fachgebiet ausfocht, die
jedoch hier nichts weiter zur Sache tun. Wir übergehen auch die Details der Krisen seiner Söhne, die ihm
schwere Sorgen bereiteten. So war sein Sohn Anselm zeitweise in schwere Depression verfallen, aus der
er nur mit Mühe wieder befreit werden konnte, und Sohn Karl, ein hochbegabter Mathematiker,
strandete in geistiger Umnachtung als Einsiedler und Sozialfall in Erlangen.
In Zusammenhang mit Kaspar Hauser, der gerade im schlimmsten Krisenjahr des Anselm Feuerbach
entführt und in einem Kerker versperrt wurde, interessieren vor allem die dunklen Flecke auf der ansons ten weißen Weste des Staatsrechtlers, speziell die Frage des Hochverrats. Mit den zur Verfügung stehen den Quellen ist es äußerst schwierig zu entscheiden, ob sich Feuerbach wirklich in irgendeiner Weise an
der anti-bonapartistischen Untergrundbewegung von 1806 bis 1813 beteiligte, ob er wirklich der
österreichischen und/oder preußischen Seite gezielt zuarbeitete. Unterstellt wurde ihm seitens der
Patrioten-Bewegung alles zugleich.
Es ist nur sicher, dass Feuerbach um 1811 von französischen Agenten ohne sein Wissen beschattet und
von diesen wie sein Freund Thiersch zu den verkappten Illuminaten gezählt wurde. Man entnimmt dies
einem Bericht des französischen Geheimdienstes vom 27. April 1811:
„Feuerbach, jurisconsulte célèbre, l'un de nos plus acharnés antagonistes s'est totalement emparé de l'esprit de Mr. de Reigersberg, ministre de la Justice … - Feuerbach, berühmter Rechtsgelehrter und einer unserer erbittertsten Gegner, nimmt massiv auf den Justizminister (Heinrich
Alois) von Reigersberg Einfluss …“570
Eine Beweislage lässt sich aus dieser vagen Unterstellung nicht ableiten. Zumindest war ein Mitstreiter
Feuerbachs und Thiersch's, Friedrich Heinrich Jakobi, Philosoph, Jurist und Präsident der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften zwischen 1807 und 1812, auch Mitglied des 1790 aufgelösten Illuminaten ordens Adam Weishaupts gewesen. Und Thiersch machte im besagten Jahr eine Reise nach Paris, um mit
dem dortigen Ordenszweig Kontakt aufzunehmen. 571
Es gibt also durchaus Indizien für eine Untergrundaktivität Feuerbachs in dieser Zeit, aber keine
schlagenden Beweise.
Feuerbach selbst machte in keiner seiner zahlreichen Schriften auch nur die geringste Erwähnung oder
Andeutung davon, er distanzierte sich vielmehr ausdrücklich von allen fanatischen Aufklärern, und das
nicht nur früh in seiner bayerischen Laufbahn, sondern auch spät: Man findet entsprechende Anmerkun 568 Feuerbach, Biographie 2, S. 294.
569 Radbruch, S. 125ff.
570 René le Forestier: Les Illuminés der Bavière, Paris 1914, S. 711.
571 Forestier, Illuminés, S. 711ff.
272
gen schon am 6. Juni 1804 in einem Brief an seinen Vater, genauso aber 20 Jahre später, als er am 20. Oktober 1824 dem Justizminister von Zentner eine Replik auf die früheren Machinationen des Christoph
von Aretin schickte.572
Was also soll man glauben?
Es gibt allerdings auch keine Gegenbeweise, d. h. keine hieb- und stichfesten Belege dafür, dass Feuerbach nicht untergrund-aktiv gewesen wäre. Wenn Biograph Gustav Radbruch mit einem Brief Feuerbachs
vom 25. April 1809, in welchen der Sohn seinem Vater gegenüber die Niederlage Österreichs ausdrücklich begrüßt hatte, in dieser Richtung argumentierte, so ist das nicht stichhaltig. Da Feuerbach wusste,
dass seine Briefe von den Geheimdiensten mitgelesen wurden, konnte er die gegen Österreich gerichtete
Bemerkung ganz gezielt eingefügt haben, um von seiner wahren Gesinnung abzulenken. 573 Feuerbach berichtete selbst an diversen Stellen seines Briefwechsels von der lästigen „Brieferbrechung“ durch die Ge heimdienste.574
Wenn wir am Ende bei Anselm von Feuerbach im Gegensatz zu seinem aalglatten Frankfurter Kollegen Johann Ludwig Klüber eine Unschuldsvermutung äußern, dann aus ganz anderen Gründen:
•
Zum einen ist es durchgängig in allen Schriften von politischer Relevanz zu bemerken, dass bei
Anselm Feuerbach am Ende immer der rechtschaffene, unbescholtene Vollblutjurist durchschlug, der Verfechter einer rechtsstaatlichen Verfassung, der Garant von Recht und Ordnung –
und damit ein Mann, der seinem Souverän, dem Königshaus, gegenüber allezeit loyal war. So
chaotisch Feuerbachs berufliches und privates Leben auch verlief, es wäre vermessen, ihm bei
dieser Amtstreue auch nur einen latent-subversiven oder antimonarchischen Charakter zu
unterstellen.
•
Im Gegensatz zu manchen Leuten seiner Entourage – bei Gönner angefangen und bei Montgelas
aufgehört – zeigte Feuerbach auch keine große politische Wendigkeit und diplomatische
Raffinesse, sondern lief in seiner Prinzipien- und Linientreue lieber in die aufgeklappten Messer
seiner politischen Gegner, zu denen übrigens auch Graf Karl von Arco, der Schwager Montgelas’
und der Kurfürstin Maria-Leopoldine, gehörte.
•
Am wichtigsten erscheint jedoch die Tatsache, dass es bei Feuerbach keinen konkreten Hinweis
dafür gibt, dass er sich trotz zeitweise hoher Verschuldung auf Dauer in die Fänge bzw. Abhängig keit einer Großbank begeben hätte. So wandte er z. B. in einer äußerst schwierigen Phase Anfang
1814, in der er sich von der Regierungspolitik bereits entfremdet hatte und obendrein in Privat schulden geraten war, anstatt an eine Bank direkt an den bayerischen König Maximilian I. Joseph,
der ihm prompt 500 Dukaten bewilligte. 575 Feuerbach sah sich allerdings zu solchen Bittstellungen berechtigt, denn die Regierung hatte das Honorar für seine legislativen Arbeiten – durch von
Feuerbach auf ursprünglich 12000 Gulden hoch-, dann nach Abzug erhaltener Posten auf 8000
Gulden wieder heruntergerechnet – nie korrekt ausbezahlt. 576
Laut einem Brief an Elise von der Recke war es Feuerbach bis 1815 sogar geglückt, einige Ersparnisse anzusammeln. Das war keine Selbstverständlichkeit in dieser Zeit! Er schrieb damals, er
müsse nach München reisen, „wegen eines dort anliegenden kleinen Kapitals, worin mein ganzes
mir erworbenes Vermögen besteht.“577 Bei Reisen musste sich Feuerbach mitunter von kleineren
Bankhäusern Geld leihen, in Abhängigkeit einer Bank aus dem Rothschild-Orbit scheint er jedoch
nie gekommen zu sein. Gegenüber den die Finanzwelt dominierenden Frankfurter Bankleuten
572 Feuerbach, Biographie 2, S. 218ff.
573 Radbruch, S. 100.
574 Feuerbach, Biographie 1, S. 185, und Biographie 2, S. 78.
575 Radbruch, S. 108. Feuerbach, Biographie 1, S. 199.
576 Feuerbach, Biographie 1, S. 262.
577 Feuerbach, Biographie 2, S. 5.
273
verhielt er sich indifferent bis wohlwollend, ohne sich anzubiedern. 578 Vielleicht kostete ihn gerade diese innere Distanz, die er sich ganz im Gegensatz zum weitaus wendigeren Klüber, mit dem
er in Frankfurt oft verkehrte, über lange Zeit bewahrt hatte, die avisierten Posten in Berlin.
Staatskanzler Hardenberg, der die Absage mitteilte, war, wie gesagt, eng mit den Rothschilds verknüpft und arbeitet diesen zu.
578 Feuerbach, Biographie 2, S. 89, 93ff. Und 161.
274
Paul Anselm Feuerbach und der „Erbprinz“ Kaspar Hauser
Dennoch war Feuerbachs Unabhängigkeit von den rivalisierenden Großbanken nicht total, denn ab
1817 stand er zwar nicht in der pekuniären, aber wenigstens psychologischen Schuld des Bankhauses
Seligmann/von Eichthal in München:
Wie Feuerbach in einem Brief an Freund Tiedke am 14. Dezember 1817 berichtete, sei er „noch zu
München ein nicht unbedeutendes Kapital bei dem Bankier Seeligmann (jetzt Baron Eichthal) schuldig“
gewesen. Zur größten Überraschung habe König Max Joseph ohne sein Zutun persönlich den ausstehenden Betrag beglichen und Feuerbach damit in München entschuldet. 579 Dieses erneute Königsgeschenk
erhöhte zwar Feuerbachs formale Unabhängigkeit gegenüber der Bank Simons von Eichthal, aber zur
Dankbarkeit gegenüber König und Bankier war Feuerbach umso mehr verpflichtet! Wir denken, dass die se einnehmende Geste von 1817 für Feuerbachs Verhalten in Sachen Kaspar Hauser und die von ihm
propagierte, nachfolgend geschilderte Erbprinz-vonBaden-Theorie eine nicht unbedeutende Rolle spielt!
Erst im fortgeschrittenem Alter, also gerade zu der
Zeit, als er sich in Ansbach um Kaspar Hauser kümmerte, scheint Feuerbach hautnah die zwischenzeitlich eingetretene Verquickung zwischen Politik und Hochfinanz
erfahren zu haben – in einer Weise, die er so sicher früher nicht gekannt hatte und die ihm nun sehr unangenehm wurde.
Denn gerade mit dem Fall Kaspar Hauser geriet Feuerbach in seinen beiden letzten Lebensjahren zwischen
die Fronten der rivalisierenden Bankhäuser, und er
wurde alsbald abwechselnd, erst von der einen, dann
von der anderen Seite, gehörig unter Druck gesetzt.
Wie ein aufgescheuchtes Huhn legte er am Ende
einen Schlingerkurs hin, den keiner so recht verstehen
kann, wenn er nicht jene Todesangst als Ursache ins Abb. 151: Feuerbach im Alter. Kreidezeichnung von
Kalkül zieht, der sich Feuerbach schon einmal zwischen F. R. Hahn.
1809 und 1812 in München ausgesetzt gesehen hatte.
Lassen wir die Ereignisse zwischen 1829 und 1833 in Bezug auf das eigenartige Verhalten des Präsidenten Anselm von Feuerbach noch einmal Revue passieren:
•
Was von bayerischer Seite aus geschah, darüber haben wir schon in einem früheren Kapitel be richtet. Was Anselm von Feuerbach betrifft, so hatte er sich in Sachen Kaspar Hauser noch 1828
strikte Zurückhaltung auferlegt:
„Zudem habe ich der Neider und Feinde so viele, dass besonders ich alle Ursache habe,
zumal bei solchen Dingen (freilich der Herkunft Kaspar Hausers) mich hinter den Verschanzungen meines Amtes zu halten …“580
•
Aber auch in den Folgejahren, 1829 und 1830, war Feuerbach noch indifferent. So hielt er die
zwischenzeitlich aufgekommene Erbprinz-von-Baden-Theorie für nicht verifizierbar, er verwies
sie trotz Beeinflussung durch Gottlieb von Tucher als romantisches Gerücht ins Reich der Fabel
und berichtete sogar König Ludwig I. von Bayern darüber. Diese ablehnende Haltung galt auch
noch, als der Nürnberger Unternehmer Georg Zacharias Platner, übrigens ein weiterer aktiver
579 Feuerbach, Biographie 2, S. 83f.
580 Brief an Elise von der Recke, vom 13. Oktober 1828, in: Feuerbach, Biographie 2, S. 279.
275
Freimaurer der Loge „Joseph zur Einheit“ und Begründer der ersten Eisenbahnstrecke Deutschlands zwischen Fürth und Nürnberg, eine angebliche Äußerung Moritz Saphirs mit nach Hause
gebracht hatte, derzufolge sich ausgerechnet die badische Gesandtschaft in Wien für die Dalbonne eingesetzt hätte, womit eine weitere Spur zum Haus Baden gelegt war! Feuerbach warnte damals Tucher davor, sich nicht mit diesem Unsinn zu „compromittieren“.
•
Spätestens 1830 muss sich Feuerbach dennoch mit der Erbprinzen-Theorie befasst haben. Er ließ
Kaspar seinen Schloss-Traum aufzeichnen, der ja zum Hochadel hinführte. Unvermutet und abrupt ließ er im Frühjahr 1830 den Zeugen Johann Samuel Müller fallen, dem er zuvor noch ge glaubt hatte, und drohte nun sogar mit einem Prozess gegen ihn. Anfang Juli 1830 unterstellte
der Verleger Julius Hitzig in einem Brief an Feuerbach, dass dieser die Erbprinzen-Version „bestens“ kenne. Für diesen abrupten Kurswechsel gibt es keine andere Erklärung, als dass Feuerbach
von Seiten des bayerischen Königshauses und/oder des Bankiers Simon von Eichthal gezielt für
die weitere Verbreitung der Erbprinz-von-Baden-Theorie angeworben worden war. Der Druck
kam aber auch aus dem Königshaus selbst, wie wir weiter vorne bereits ausführlich dargestellt
haben. Feuerbach war, wie oben geschildert, beiden Kräften zu äußerstem Dank verpflichtet,
dennoch scheint die Entscheidung, entgegen allen früheren Vorsätzen jetzt einseitig Partei zu
ergreifen, ihm einige innere Konflikte bereitet zu haben, denn er flüchtete sich in den Briefen an
seine Kinder vermehrt in Krankheit und beklagte z. B. seinen „nachlassenden Verstand“, an dem
er nicht im Geringsten litt, wie gerade seine nachfolgende Kaspar-Hauser-Schrift beweist.
Im Herbst 1831 machte sich Feuerbach an die Abfassung dieses Buches und strickte nun ganz
fest an der von ihm zuvor noch verpönten Baden-Geschichte. So zog Feuerbach Anfang 1832
nachweislich Erkundigungen über die verstorbenen badischen Prinzen und ihre Geburts- und
Sterbe-Daten ein, sogar bei Klüber und Stanhope. Wenn dem so war, dann muss Feuerbach bereits ab 1830 einem festen Auftrag aus Bayern gefolgt sein.
Am 21. Februar 1832 übergab dann Joseph Hickel vor seiner Ungarn-Reise Feuerbachs Mémoire
in dessen Auftrag der Königin Karoline in München, wobei er sich später in seinen Briefmemoiren mit Recht wunderte:
„Wie konnte ein solcher Vergleich zwischen den Geburts- und Sterbejahren der badischen Prinzen und dem Alter Hausers gezogen werden, da sich letzteres nur approximativ
angeben ließ?“
Das Mémoire soll eine Auftragsarbeit gewesen sein. Dass allerdings die Königin-Mutter die Auf traggeberin war, wollen wir bezweifeln, zumal diese von Feuerbachs Ansichten in dieser Sache
nichts hielt. Das kam schon aus einer ganz anderen Ecke des bayerischen Hofes! Joseph Hickel
soll hierzu ein weiteres Schriftstück hinterlassen haben, erst 1875 Julius Meyer mitgeteilt, durch
den Domkapitular Pflaum in Bamberg. 581
•
In seinem Werk „Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“ erging sich Präsident Feuerbach u. E. in einem konkreten, wenn auch dichterisch-metaphorisch ausgestalteten
Seitenhieb auf die Bankiers Rothschild! Wir zitieren wörtlich (Hervorhebung durch uns):
„Wenn nun aber die Neu- oder Wissbegier des Lesers noch mehr von mir zu vernehmen
wünscht …, wenn er gern wissen möchte, nach welchen Richtungen hin jene Spuren geführt haben, an welchen Orten die Wünschelrute wirklich ausgeschlagen hat …, so bin ich
im Falle antworten zu müssen, dass … ich dem Schriftsteller nicht erlauben darf, öffentlich von Dingen zu reden, welche vorderhand nur noch dem Staatsbeamten zu wissen
oder zu vermuten erlaubt sind …
Allein dem Arme der bürgerlichen Gerechtigkeit sind nicht alle Fernen noch alle Höhen
und Tiefen erreichbar, und bezüglich mancher Orte, hinter welchen sie den Riesen eines
581 Brügels Onoldina: Heimatkundliche Abhandlungen für Ansbach und Umgebung. Begründet von Julius Meyer.
Neu bearbeitet, ergänzt und vermehrt von Adolf Bayer, IV. Heft, Ansbach 1923, 1955, S. 62
276
solchen Verbrechens zu suchen Gründe hat, müsste sie, um bis zu ihm vorzudringen, über
Josuas Schlachthörner oder wenigstens über Oberons Horn gebieten können, um die mit
Flegeln bewehrten hochgewaltigen Kolosse, die vor goldenen Burgtoren Wache stehen
und so hageldicht dreschen, dass zwischen Schlag und Schlag sich unzerknickt kein Lichtstrahl drängen mag – für einige Zeit in ohnmächtige Ruhe zu bannen …“582
Auf dem zugehörigen Manuskript-Blatt war übrigens auch folgender Nachtrag festgehalten:
„… Geboren 30. April 1812/Gelegt 7. Oktober – Wann starb der letzte Großherzog?
Wann wurde die Hochberg anerkannt?/ Der Gemahl der Stephanie starb im Dezember
1818.“583
Dennoch beziehen wir obiges Zitat nicht auf das Haus Baden, das als politisch und finanziell relativ schwache Institution beileibe nicht das Substrat für Feuerbachs drastische Formulierungen
abgegeben hätte.
Wenn der Gerichtspräsident im gedruckten Text seines Buches aus dem „eisernen Tor“ seines
Manuskriptes ein „goldenes Burgtor“ machte, wenn er vom „Riesen eines solchen Verbrechens“
und von „Kolossen mit Dreschflegeln“ sprach, dann zielte er klar auf das Banken-Imperium der
Rothschilds ab, das sich auf die Seite des Hauses Baden gestellt hatte!
Kein Zweifel: Feuerbach hatte inzwischen die Knute der Frankfurter Rothschild-Zentrale zu spüren bekommen, er war vermutlich ernsthaft verwarnt worden, vielleicht sogar unter Todesandrohung!
•
Feuerbach entwickelte in der Folge enorme Ängste! Darauf deutet sein nachfolgendes Verhalten
hin, aber auch seine Anmerkungen über eine Gefahr in diversen Briefen, 584 besonders auch ein
Brief an den Hof- und Kabinettsprediger Schmidt in München, in dem Feuerbach den Schutz des
bayerischen Königs geradezu beschwor, um seine eigene Verunsicherung und Unruhe zu überspielen.
„Das Vertrauen auf heiliges Königswort gewährt mit sichere Bürgschaft und Beruhigung gegen die Gefahren, welche unter anderen Voraussetzungen Mitteilungen solcher
Art unvermeidlich über mein Haupt zusammenhäufen würden …“585
•
Am 24. Februar 1832 erfuhr Feuerbach von Staatsrat Klüber, dass sich inzwischen Lord Stanhope
unter Druck von der Erbprinz-von-Baden-Theorie verabschiedet hatte, was ihn nunmehr bei einem Antwortschreiben vom 20. März 1832 dazu brachte, plötzlich Zweifel am eigenen einge schlagenen Weg zu äußern und darüber zu spekulieren, ob „vielleicht … der Zufall uns einmal vor
die Füße wirft, was allem Scharfsinn nicht gelingen sollte.“
Welch ein Understatement des Juristen, wenn er nun behauptet, dass ihm und seinem Scharfsinn nichts gelänge! Man darf sich dessen sicher sein: Feuerbach hatte Angst, massiv Angst
sogar, und speziell seinem „Freund“ Klüber, der u. E. alles andere als ein echter Freund war,
durfte er, soviel verspürte er intuitiv, ja nichts auf die Nase binden!
•
Wenig später muss Feuerbach von bayerischer Seite aus Druck verspürt haben und aufgefordert
worden sein, gefälligst bei der Stange und damit bei der Erbprinzen-Theorie zu bleiben. So gewann er in der Folge wieder einen forscheren Ton. Am 12. Mai 1832 setzte er Stanhope von sei nem Mémoire in Kenntnis und davon, dass Hickel „höchstmerkwürdige“ Dinge bei seinen Audienzen bei Königin Karoline von Bayern kommuniziert habe. Wörtlich findet sich hier das Zitat
„Sie werden staunen und schaudern“, und: Klüber sei eine „schwache Autorität“ und spräche im
582 Feuerbach, Kaspar Hauser, S. 138.
583 Mayer-Tradowsky, S. 408.
584 Pies, Fälschungen, S. 345f.
585 Pies, Wahrheit, S. 272.
277
Interesse der Familie, die durch die Tötung der Prinzen gewonnen habe. 586
•
Hickel schrieb übrigens später in der Beilage der „Allgemeinen Zeitung“ (Jg. 1858, Nr. 290), Feuerbach habe ihn anlässlich seiner Ungarnreise gebeten …,
„…bei dieser Gelegenheit mit Rücksicht auf die damals öffentlich besprochene Hindeutung gegen B… Recherche zu pflegen, wozu mir in … die beste Quelle offen stand.“
„B…“ bedeutete wohl Baden. Feuerbach hätte demnach Hickel in Bezug auf Baden nach Ungarn
geschickt, obwohl dort nach der Maria-Leopoldine-Theorie nur etwas gegen Bayern zu finden ge wesen wäre, was Feuerbach offensichtlich nicht klar war. In einem Zusatz belegt allerdings Hickel,
dass Feuerbach mehr oder weniger von Rothschild-Seite unter Druck gesetzt worden sein muss,
nämlich, wenn er behauptete:
„Die wegen B(aden) gepflogene Recherche wurde vom Präsidenten von Feuerbach genügend befunden und nicht mehr weiter fortgesetzt.“
•
Was für einen anderen Grund hätte von Feuerbach für sein unverständliches Verhalten gehabt,
als Angst vor der Rache der Rothschilds? Tatsächlich gibt es nach dem 12. Mai 1832 bis zu sei nem Tod keine überlieferte Textstelle mehr aus Feuerbachs Feder, in der er auf die Baden-Theorie zurückkommt, was sich mit Hickels Aussagen in den Jahren 1858 und 1881 deckt. Hickel
schrieb:
„…die lockeren Fäden einer Vermuthung … gingen wie Spinnengewebe auseinander.“
•
Am 20. Juni 1832 berichtete Feuerbach seiner alten Freundin Elise von der Recke über eine Szene mit Kaspar, und dass er ihm „eine bittere Medizin eingegeben“ habe. Vermutlich hatte er ihm
mitgeteilt, er habe bei der Aufklärung seiner Herkunft als Erbprinz und auch von Stanhope nichts
Wesentliches mehr zu erhoffen!
Rothschild locuta, causa finita! Ein Machtwort Rothschilds und die Angelegenheit war beendet! So
möchte man an dieser Stelle knapp und bündig Bilanz ziehen.
•
Im Mai 1833 reiste Paul Anselm von Feuerbach in seine eigentliche Heimatstadt Frankfurt – an geblich, um sich dort mit seiner Schwester Rebekka, verheiratete Ruland, mit der er zuvor in
Streit gelegen war, zu versöhnen. Wahrscheinlicher war der Wechsel nach Hessen eine Art von
Flucht aus Ansbach, und die Versöhnung mit seiner Schwester nur ein Vorwand!
Trotz seines offenkundigen Rückziehers in Sachen Erbprinz-von-Baden-Theorie erlitt Paul Anselm
Feuerbach dort am 25. Juli 1832 eine später als „zweiter Schlaganfall“ apostrophierte, aber wohl
eher durch eine Vergiftung hervorgerufene Erkrankung.
U. E. hatte Paul Anselm von Feuerbach allenfalls 1829 einen Schlaganfall erlitten, und selbst dies
ist aus den oben genannten Gründen nicht ganz sicher. 587 Dass es sich beim Zwischenfall vom 25.
Juli 1832 sowie wie beim todbringenden Ereignis vom 27. Mai 1833 nicht um Apoplexien im medizinischen Sinn gehandelt haben kann, belegt allein die Tatsache, dass Feuerbach beide Male
unter massiven Schmerzen litt. Dies ist ein Phänomen, welches bei Schlaganfällen nie auftritt.
Beim ersten Anschlag soll Feuerbach so gebrüllt haben, dass auf der Straße die Leute zusammen liefen, und über Nacht seine Haare grau wurden. Beim zweiten Anschlag kurz vor seinem Tod war
der Leib massiv schmerzhaft aufgetrieben. All dies hat mit der Diagnose Schlaganfall nicht das
Geringste zu tun!588
586 Mayer, Stanhope, S. 416.
587 Radbruch, S. 184.
588 Anselm Johann Ludwig Feuerbach: Hinwegschaffung von Persönlichkeiten, 1908, in: Johannes Mayer, Jeffrey M.
Masson: Anselm von Feuerbach, Georg Friedrich Daumer, Eduard Feuerbach: Kaspar Hauser, Frankfurt 1995, S.
316f. Im Weiteren abgekürzt mit Feuerbach, Hinwegschaffung und Seitenzahl.
278
Der Version Radbruchs, Anselm von Feuerbach sei
Opfer eines erneuten Schlaganfalles geworden,
möchten wir uns auch deshalb nicht anschließen,
weil sich der Jurist in Frankfurt, wie Klüber bestätigte,
erholt hatte und zuletzt wieder körperlich gut belastbar war.
Auch das verschollene Protokoll der Obduktion seines
Leichnams soll in Richtung Schlaganfall keinerlei Phänomene beschrieben haben, was zwingend zu erwarten gewesen wäre (Infarkt oder Blutung); alle „edlen
Teile“ sollen als „gesund befunden“ worden sein. Vermutlich wurde das verräterische Protokoll gerade
deshalb gezielt beseitigt.589
Abb. 152: Anselm von Feuerbachs Grabplatte
auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, zu Füßen
des Grabmals seines Schwagers Johann L.
Ruland und seiner Schwester Rebekka M.
Feuerbach (mit Freimaurer-Symbolik!)
Die Angabe der Diagnose „rheumatischer Schlafanfall“ beim Ereignis von 183 – eine Diagnose, die von
seinem Hausarzt Dr. Albert stammte, die es aber so
gar nicht gib – spricht nur dafür, dass Feuerbach zuvor an seiner alten schmerzhaften Funktionsbehinderung der rechten Hand durch die Gicht gelitten hatte.
Dafür gibt es sogar einen klaren Beleg: In einem Brief
vom 16. November 1831 spricht Feuerbach von „einer sehr leidenden geschwollenenen rechten Hand“,
die ihn am Schreiben hindere. 590 Was hätte eine
schmerzhafte Schwellung mit eine apoplexie-bedingten Lähmung zu tun? Nichts!
Kurz vor seinem Ende schrieb Feuerbach nach Angaben seiner Angehörigen mit der verbliebenen
schreibfähigen Hand auf einen Zettel:
„Man hat mit etwas gegeben!“
Dazu legte er einen badischen Gulden. Außerdem soll er gezielt um seine Obduktion gebeten haben.591
Rothschild acta, causa finita? Hat eine entscheidende Aktion das leidige Problem Feuerbach ein für
alle Mal erledigt?
Der Verdacht ist alles andere als aus der Luft gegriffen!
•
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•
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Hatte Feuerbach vor seinem Tod Versprechungen gegeben, die er dann nicht einhielt?
War er dafür mit dem Tod bestraft worden?
War er etwa nach Frankfurt zitiert worden, um vielleicht Rechenschaft abzugeben?
Oder war die Reise nach Frankfurt eine Flucht?
Der bayerische Innenminister Ludwig von Oettingen-Wallerstein hatte Feuerbachs Tod unmittelbar mit einem Besuch bei Klüber assoziiert. Hatte beides miteinander zu tun?
War Feuerbach für die Rothschild-Seite wegen seines vorherigen Schlingerkurses zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden, dessen man sich entledigen musste?
Fragen über Fragen – und leider alle berechtigt! Am Ende muss man sie – so nahe am eigentlichen
Geschehen – unbeantwortet lassen!
589 Feuerbach, Hinwegschaffung, S. 317.
590 Mayer-Tradowsky, S. 499.
591 Feuerbach, Hinwegschaffung, S. 315, 317.
279
Wie brandgefährlich die Situation damals gewesen sein muss, belegen auch Äußerungen der
Feuerbach-Söhne nach dem Tod ihres Vaters:
•
Am 16. Oktober 1834 berichtete der Archäologie-Professor Joseph A. Feuerbach seinem Bruder
Eduard von einem Klüber'schen Artikel im Frankfurter Journal, der als „besonders in Frankfurt
als entscheidend angesehen wird“, und dass deswegen „doch große Vorsicht geboten“ sei.
•
Der Philosoph und Anthropologe Ludwig A. Feuerbach schrieb im März 1835 an seinem Freund
Professor Christian Kapp folgende Zeilen, erhalten in einem 1988 veröffentlichten Brieffragment:
„Sie möchten wenigstens die von ihm (d. h. Eduard Feuerbach) mit Bleistift eingeklammerten Stellen weglassen, da diese Voraussetzung als eine ganz grundlose von dem Lord
selbst und allen andern in jener Zeit, wo er noch nicht diese Rolle wie jetzt spielte, aufge geben worden sei …“592
Übrigens setzte sich die Reihe ungeklärter Todesfälle bei den Söhnen Feuerbachs fort, und zwar genau
bei denen, die gerade den Nachlass ihres Vaters verwalteten:
•
Der Rechtsprofessor Eduard Feuerbach, der als erster den Nachlass seines Vaters übernommen
hatte, starb am 25. April 1843 unerwartet nach Genuss eines Glases Bier. Wegen vorangehenden
rezidivierenden Erbrechens und aufsteigender Lähmungen wurde mit Recht eine Vergiftung mit
Arsenik vermutet.593
•
Der bereits genannte Joseph Anselm Feuerbach übernahm von seinem verstorbenen Bruder
Eduard den Feuerbach'schen Nachlass. Er starb unvermutet am 8. September 1851 an einer
Hirnblutung, allerdings wurde auch hier früh eine Arsenik-Vergiftung in den Raum gestellt. 594
•
Nur Ludwig Feuerbach, der als Dritter den väterlichen Nachlass in Händen hielt, überlebte. Er
konnte nun 1853 wenigstens das bislang geheime Mémoire an Königin Karoline von Bayern veröffentlichen – zu einem Zeitpunkt, als Johann Ludwig Klüber längst verstorben war, gerade das
Verbrechen an seinem Vater verjährte und auch ein Mayer Amschel Rothschild seinem Ende zuging. Zuvor wäre es wohl brandgefährlich gewesen!
•
Dessen Neffe und Eduards Sohn, der Arzt Anselm von Feuerbach, machte schließlich 1908 den
ganzen Skandal publik. Dies geschah zu einer Zeit, als der Erste Weltkrieg begann und den Dynastien in Bayern und Baden endgültig ein Ende bereitet war. Nachhall fand aber auch diese Veröf fentlichung nicht, geschweige denn, dass sie Ermittlungen angestoßen hätte. 595
Dass der gewaltsame Tod Paul Anselms von Feuerbach trotz klarer Indizien bis heute so beharrlich ne giert wird, haben wir nicht zuletzt seinem Biographen Gustav Radbruch zu verdanken. Radbruch zielte,
wenngleich er zuvor – ganz klar sich selbst widersprechend – von der relativen Gesundheit Feuerbachs
vor seinem Tode berichtet hatte, hinterher ganz auf die vermeintlichen Schlaganfälle Feuerbachs als natürliche Todesursache ab und verheimlichte alle Informationen, die dieselben in Frage und einem Giftan schlag in den Raum stellten.
Dass Radbruch dies nicht von ungefähr tat, sondern aus Kalkül heraus und vermutlich auf höheren
Wink hin, ergibt der simple Blick auf den Herausgeber seines Werkes: Julius Springer in Wien arbeitete
eng mit Walther Rothschild in Berlin zusammen. Beide Radbruch bestens bekannten Verleger standen
der Bankiersfamilie Rothschild sehr nahe. Spuren, die das Haus Rothschild belasten, sind in einer so
verlegten Biographie nicht zu erwarten!
Auf Verleger-Wink hin wird Radbruch in Hinblick auf Kaspar Hauser auch folgendes Vorweg-Resümee
gezogen haben:
592 Ludwig Feuerbach - Werke, ed. W. Schuffenhauer, Bd. 18, Berlin 1988, S. 544.
593 Feuerbach, Hinwegschaffung, S. 320ff.
594 Feuerbach, Hinwegschaffung, S. 331ff.
595 Feuerbach, Hinwegschaffung, S. 311ff.
280
„Es kann die Aufgabe einer Feuerbach-Biographie nicht sein …, zu der unendlich schwierigen
Frage Stellung zu nehmen, ob Kaspar Hauser ein Prinz, ein Schwindler, ein Hysteriker war oder
was sonst. Die Frage ist nach keiner Richtung hin bisher eindeutig beantwortet worden und wird
vielleicht für immer unbeantwortet bleiben. Gerade die Unmöglichkeit einer eindeutigen Erklärung verleiht dem Kaspar-Hauser-Geschick die Natur eines Mythos, eines Symbols, einer Legende, die den wechselnden Geschlechtern in immer neuer Beleuchtung erscheint, die sich von ihnen
mit immer neuem Sinn und Tiefsinn erfüllen lässt …“596
Eines ist sicher:
Paul Anselm Feuerbach, der ebenso Kriminalist wie Strafrechtler war, hätte sich bei freier
Willensentscheidung mit einer derartigen Augenauswischerei zu Kaspar Hauser und seinem Tod nicht
zufrieden gegeben!
Soweit unsere Überlegungen zu Anselm von Feuerbach. Wir können am Ende zusammenfassen:
Der Ansbacher Gerichtspräsident Paul Anselm von Feuerbach verzettelte sich in seinem Einsatz für
Kaspar Hauser zunehmend zwischen mächtigen Interessensgruppen im Hintergrund, sodass er unter
immer höheren Druck geriet. Schließlich bezahlte seine Parteinahme mit dem Leben!
Damit zurück ins letzte Lebensjahr Kaspar Hausers und zu den weiteren Umständen seines Todes.
596 Radbruch, S. 196. Gustav Radbruch spricht hier im Originalton des jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann,
der 1908 die Hauser-Geschichte in einem viel gelesenen Roman veröffentlichte. Dieses Nebelkerzen-Stück besprechen wir bezüglich seiner wenig lauteren Intentionen in einem längeren Nachtrag am Ende dieser Arbeit.
281
Lord Stanhope und der Tod Kaspar Hausers
Staatsrat Klüber hatte Lord Stanhope im Rothschild-Auftrag die Baden-Theorie ausgeredet. Einige Monate später zwang er ihm das Versprechen ab, nichtsdestoweniger weiter für Kaspar Hauser zu sorgen.
Notgedrungen stellte Stanhope eine Leibrente für Kaspar in Aussicht, die er wohl zuvor mit der Bank
Bethmann abgesprochen hatte. Diese Rente kam nie zur Auszahlung.
Kurz zuvor war in Ansbach, wie man einem Brief Eugen Hofmanns an Johann Ludwig Klüber vom 1.
Juni 1833 entnimmt, der Entschluss gefallen, Kaspar aus humanitären Gründen nicht nach England gehen
zu lassen, selbst für den Fall, dass es sich Stanhope anders überlegt hätte. In England würde sich wirklich
niemand nach Kaspar sehnen, schrieb der Hofrat. Es war derselbe Brief, in dem er konkret auf die Roth schilds als potentielle Rentenzahler verwiesen hatte! Dass dies inhaltlich keine Substanz hatte, sondern
eher als sarkastischer Seitenhieb auf Stanhope gedacht war, haben wir bereits erwähnt.
Inzwischen legte Klüber nach einer eingegangenen Anzeige eine neue Spur nach Bayern, zu einem ge wissen Oberst Tischleder in Kronach, saß dabei aber einem Irrtum auf, der bald aufgeklärt wurde. 597
Zu dieser Zeit fiel insgeheim ein zweites Todesurteil – nunmehr gegen Kaspar Hauser.
Kaspar Hauser hatte inzwischen in Ansbach angefangen, intensiver nach seiner Abstammung zu forschen, und das konnte weniger für Stanhope als für Maria-Leopoldine und ihre Familie brandgefährlich
werden! Und mit einem Verbringen nach England war nun nicht mehr zu rechnen.
In Baden lagen ebenfalls Motive, Kaspar als lästige Drohfigur Bayerns zu beseitigen. Ob sie zum Tragen
kamen, wissen wir nicht. Speziell dem großherzoglichen Paar von Baden, Sophie von Schweden und
Leopold von Hochberg, mag der Erbprinz Kaspar ab 1830 ein zunehmend schmerzender Dorn im Auge
gewesen sein.
Dass man es von Seiten des Herzogshauses Baden bei den vagen, indirekt über von Wessenberg
kommunizierten Andeutungen Klübers beließ und keinen eigenen Gegenstoß in Richtung Bayern
unternahm – dorthin, wo das erste Verbrechen an Kaspar Hauser eigentlich angesiedelt war und wo man
wirklich hätte fündig werden können -, bleibt allerdings ein Rätsel! Aber wahrscheinlich hatte sich die
Erbprinz-von-Baden-Theorie in dieser Zeit bereits so in den Köpfen des Hauses Baden festgesetzt, dass
sie zur akzeptierten Realität wurde – allerdings eine Realität, über die man nur hinter vorgehaltener
Hand munkelte oder sich schriftlich allenfalls in diskreten Andeutungen erging.
Neben Bayern und Baden gab es auch im Haus Bethmann, ja sogar im Haus Rothschild Motive, Kaspar zu beseitigen, und wir können beim Stand der Dinge nicht einmal ausschließen, dass einige von ihnen zusammenwirkten, zumal Stanhope durch seine wechselseitigen Kontakte ein treffliches Bindeglied abgegeben hätte.
Dass Stanhope persönlich das Mordkomplott gegen Kaspar Hauser schmiedete, nehmen wir jedoch
nicht an, sondern nur, dass er ab einen gewissen Zeitpunkt über den anstehenden Tod Kaspars informiert
war.
Nach dem definitiven Abschied von Kaspar Hauser Anfang 1832 richtete Lord Stanhope insgesamt 13
Schreiben an seinen Zögling. Was es mit den beiden letzten für eine Bewandtnis hat, wollen wir kurz
schildern:
Im Herbst 1833 hatte sich Lord Stanhope, von Venedig kommend, zunächst zu einem „längeren Aufenthalt“ nach Laibach begeben, also gerade in jene Gegend, die wir mit Kaspars frühem Schicksal eng
597 Linde 1, S. 296f.
282
verknüpft sehen. Leider wissen wir nicht, was Stanhope dort zu schaffen hatte.
Kurze Zeit später, am 9. Oktober 1833, richtete er von Klagenfurt aus seinen vorletzten Brief an Kaspar
und bat darin seinen Pflegesohn, ausgerechnet an Klüber in Frankfurt und an Freiherrn von Wessenberg
Portraits von ihm zu schicken, wobei es sich nach dem erhaltenen Posteinlieferungsschein um Zeichnun gen aus Kaspars Hand gehandelt haben dürfte. 598
Was sollte diese Geste der Eitelkeit?
Und warum sollte Kaspar gerade jetzt mit Personen Kontakt aufnehmen, zu denen er selbst gar keine
persönliche Beziehung hatte?
Umso eigenartiger ist dieses Ansinnen Stanhopes, da es sich bei den beiden, wie soeben zu erfahren
war, um Rothschild-Leute handelte.
Der treuherzige Kaspar tat
wie befohlen, und schon an
22. Oktober hatte Klüber
Kaspars Anschreiben mit der
Kopie einer Zeichnung in
Händen, die Kaspar eigens
hatte anfertigen lassen.
Nun sollte man erwarten,
dass Klüber sich umgehend
Abb. 153: Schluss-Satz des Klüber-Briefes vom 1. Dezember 1833: „Ihnen, teuerbei Kaspar bedankt hätte.
ster Herr Hauser, meine herzlichsten Wünsche widmend, beharre ich mit aufrich-
Doch weit gefehlt! Klüber tiger Teilnahme und Wertschätzung, Ihr ganz ergebenster Klüber.“
ließ sich mehr als einen Monat Zeit, ehe er an Kaspar eine briefliche Antwort schickte, wobei er sich mit Höflichkeitsfloskeln und
inhaltsleeren Lobhudeleien förmlich überschlug. Z. T. waren das Formulierungen, die er von Stanhope
übernommen haben dürfte, da sich dieser schon zuvor entsprechend geäußert hatte (z. B. der Verweis
auf die schöne Handschrift).599
Das Klüber'sche Schreiben wurde am Sonntag, den 1. Dezember 1833, in Frankfurt verfasst. Sollte es
am darauffolgenden Montag dort aufgegeben worden sein, dann dürfte es Kaspar etwa 3 Tage später,
frühestens am Donnerstag, den 5. Dezember 1833, in Ansbach erreicht haben. Es war übrigens unseres
Wissens der einzige Brief, den der Staatsrat und Rothschild-Mann je an Kaspar gerichtet hat.
Etwas mehr als 1 Woche später erhielt Kaspar Hauser seinen tödlichen Stich!
Was sollte dieser von Stanhope kurz vor Kaspars Tod induzierte, auffallend spät eintreffende Brief
Klübers, der vielleicht in ähnlicher Form auch von Wessenberg abgeschickt wurde?
Wir finden aktuell für diese höchst überflüssige Briefaktion keine andere Erklärung, als dass ein sol cher Brief, so er im Nachlass des ermordeten Kaspar aufgefunden worden wäre, den Absender perfekt
entlastet hätte! Gerade darauf sollte es einem Klüber angekommen sein!
Mit menschlicher Zuwendung hatte das Klüber'sche Schreiben, dessen sind wir uns sicher, jedenfalls
nichts zu tun. Klüber hatte sich zu keinem Zeitpunkt zuvor bemüßigt gefühlt, Kaspar persönlich kennenzulernen, obwohl er ständig über ihn urteilte. Womit nun im Raum steht, dass nicht nur Stanhope, sondern auch Klüber und u. U. auch von Wessenberg über das anstehende Attentat auf Kaspar Hauser und
den avisierten Tod desselben bereits vorinformiert waren! Was wiederum einen Attentäter aus dem
Rothschild-Orbit in den Raum stellt, da u. E. nur das Frankfurter Haus Rothschild für die drei Männer das
bindende Glied darstellt!
598 Mayer-Tradowsky, S. 618 und 521.
599 Mayer-Tradowsky, S. 620f.
283
Speziell Stanhope belastet aber noch ein weiterer Umstand, und hier kommt nun der Ort Haag in
Oberbayern nochmals ins Spiel:
Bei Wintereinbruch hatte sich Stanhope von Laibach und Klagenfurt aus nach Wien begeben, wo er
laut Fremdenliste der Wiener Zeitung am 8. November eintraf und sich als „aus Venedig kommend“ ins
Gästebuch einschrieb, was nur bedingt stimmte. In Wien blieb Stanhope ganze 40 Tage, ohne dass wie
zuvor in Laibach ersichtlich geworden wäre, was ihn dort hielt. Währenddessen wartete Kaspar Hauser
ungeduldig auf sein Eintreffen in Ansbach.
Am Abend des 16. Dezember – drei Tage, nachdem Kaspar Hauser die tödliche Wunde empfangen hatte und zum Zeitpunkt seines Todeskampfes – schrieb Stanhope seinen letzten, scheinbar liebevollen Brief
an Kaspar Hauser, in dem er sein baldiges Kommen in Ansbach ankündigte. Den Nachtrag hierzu, in dem
sein Bankier von Eichthal erwähnt wird, haben wir bereits weiter oben vorgestellt.
Zur Post gegeben wurde dieser Brief allerdings erst in München und erst acht Tage nach Kaspars Tod,
am 25. Dezember 1833. Dies war lange, nachdem sich dort nach erster öffentlicher Bekanntmachung die
Kunde vom gewaltsamen Ende des Findlings wie ein Lauffeuer verbreitet hatte (seit dem 20. Dezember).
Dass Stanhope spätestens am Weihnachtsabend Bescheid wusste, wissen wir von seiner Tochter, der Du chess of Cleveland – aus ihrer Vater-Apologie „The true story about Kaspar Hauser“ (1893):
„My father, who was then travelling,
received the news on Christmas Eve, at a
post-station on the road between Vienna
and Munich.“600
Wenn Stanhope den Brief erst am 1.
Weihnachtstag bei der Post aufgab, obwohl das Schreiben gänzlich sinnlos geworden war und der Feiertag den Posttransport zusätzlich verzögerte, dann war
Abb. 154: Einen solchen „Einspänner“ dürfte Lord Stanhope ge- dies ein höchst merkwürdiges, um nicht zu
fahren sein. Auf dem Bock sein deutscher Kutscher und Leibdiener sagen verdächtiges und zynisches Vorgehen des Lords. Dabei hätte Stanhope
Anton Heinrich.
nach seiner dokumentierten Abreise aus
Wien am 18. Dezember an sich schon am 21. Dezember in München eintreffen können, hätte er den
planmäßigen Eilwagen genommen! Doch Stanhope reiste mit eigenem Gespann und Klepper – im
Schneckentempo.
Der Stanhope-Apologet Ivo Striedinger meinte, der Lord habe eben in Wien den Brief der Eilpost nach
München mitgegeben, im Übrigen hätte man als Datum des Poststempels auch den 22. Dezember 1833
lesen können.601 Man könnte dieser Ansicht diametral entgegensetzen, Stanhope habe den Brief überhaupt erst in München verfasst und einfach rückdatiert, um sich mit diesem Trick in Ansbach ins rechte
Licht zu setzen. Richtig weiter kommt man mit solchen Spekulationen nicht; insofern bleiben wir bei der
ersten Version als der wahrscheinlichsten.
Bei dieser Gelegenheit verweisen wir auf von diesem Brief unabhängige Phänomene, welche die von
Striedinger unterstellte Humanität und Pietät Stanhopes sehr in Frage stellen: Hätte Stanhope wirklich
Herzensbildung und auch nur den geringsten Funken Anstand und Achtung gehabt, so hätte er seinem
Schützling durch Teilnahme an seiner Beerdigung die letzte Ehre erwiesen und posthum nach der Maxime „de mortuis nil nisi ben – über Tote nur in einem guten Ton“ über denselben wenigstens geschwiegen,
wenn ihm schon kein guter Ton über die Lippen ging. Das Gegenteil war leider der Fall, wie die Ge schichte lehrt. Das sind die Dinge, die u. E. einen Lord Stanhope am meisten belasten!
600 Catherine Lucy Wilhelmina Stanhope, the duchess of Cleveland: The true satory of Kaspar Hauser, London, New
York, 1893, S. 58.
601 Striedinger, S. 425f.
284
Doch nun zurück zu den Sachverhalten:
Laut Tochter hatte Lord Stanhope in einer Poststation an der Straße zwischen Wien und München die
Nachricht vom Tod Kaspar Hausers erhalten. Lag in dieser Poststation der Verzögerungsgrund seiner von
ihm zuvor als „unverzüglich durchgeführt“ bezeichneten Reise, zu der er dann aber mehr als doppelt so
lange brauchte wie normal? Wo könnte Stanhope die für ihn wichtige Nachricht abgewartet und entgegengenommen haben?
Übersetzt wurde der oben stehende Satz später fälschlich mit „eine Poststation vor München“, außerdem hatte Hickel von Garching gesprochen, 602 also setzte man diese Station mit Garching gleich. Doch
warum hätte Stanhope gerade dort, in Sichtweite von München, seine Reise nochmals unterbrechen sollen?
Der Hauser-Forscher Johannes Mayer meinte, Stanhope habe nicht den kürzesten Weg nach Mün chen genommen, sondern sei in Bayern einen deutlichen Umweg über das Tal der Rott, via Karpfham,
Pfarrkirchen und Landshut gegangen. Trotz Aufforderung durch Rudolf Biedermann – Biedermann hielt
diese längere Route für ein von Metternich gezielt gestreutes Gerücht – gab Mayer hierzu keine Quelle
an.603
Wir wollen uns nicht dezidiert dazu äußern, ob Mayer mit seiner Annahme Unrecht hatte oder nicht,
aber „the road between Vienna and Munich“ führte in der Tat als Post-Eilweg nicht über das Rott- und Isartal, sondern als Parallele über Braunau und die Flanken des Inntals, und gerade im Winter bot dieser
Weg die weitaus bessere Infrastruktur, was Wegbeschaffenheit, Reparatur- und Übernachtungsmöglichkeiten anbetrifft.
Damit ist letztlich ein Zwischenaufenthalt Stanhopes in der letzten Mittagsstation vor München
nicht minder wahrscheinlich als ein solcher in Landshut! Und diese Poststation lag im Markt Haag in
Oberbayern!
Ein Kurzaufenthalt in Haag hätte sich auch insofern gelohnt, als es dort nicht nur ein Rentamtschloss,
sondern auch eine renommierte Gastronomie gab, die bei den Durchreisenden des Hochadels und der
Politik als Raststation hochbeliebt war (siehe Bild). So hatte der Ort schon lange vor Stanhope viele illust re Gäste gesehen, z. B. die Generäle Wrangel und Turenne, Josepha Antonia von Bayern als Braut des österreichischen Kaisers Joseph II., ihren Bruder, Kurfürst Max Joseph III., den kaiserlichen Obergeneral Ba ron von Kray, Zar Alexander von Russland und Kaiser Franz von Österreich, Charlotta von Bayern als Braut
Kaisers Franz' von Österreich, König Max Joseph I. von Bayern u. v. a. m.
Abb. 155: Links der heute verwaiste Gasthof Zeller an der Kreuzung der Fernstraßen, einst Anlaufstelle der Eilpost
und Pferdewechselstation. Verwittertes Schild an der Rückseite: „Gast- und Weinwirtschaft Kaspar Zeller“. Rechts
das wuchtige Brauhaus der Kurfürstin Maria-Leopoldine, heute Bauruine. Ebenfalls erhalten aus ihrer Zeit sind ein
Lager- und ein Verwaltungsgebäude.
602 Meyer, Mitteilungen, S. 572.
603 Mayer, Stanhope, S. 476. Mayer-Tradowsky, S. 668. Biedermann, S. 87.
285
Es besteht der dringende Verdacht, dass Haag und damit die Seite Maria-Leopoldines für Stanhope
kurz vor dem Tod Kaspar Hausers nochmals ins Spiel kam. Hatte Stanhope seine Kontakte zu seinen vorherigen Auftraggebern nochmals aufleben lassen oder versucht er es gerade jetzt? Wartete er hier auf
die Vollzugsmeldung der Ermordung Kaspar Hausers oder eine zugehörige Order oder Nachricht?
Auch der von Mayer referierte Ort Landshut, so er als Zwischenstation Stanhopes doch stimmen sollte,
ist in diesem Zusammenhang nicht ganz „ohne“. Zur Erinnerung: Hier residierte der Freimaurer und
Schlossbesitzer von Wanghausen, Johann Nepomuk von Prielmayer, hier lief über das Haus des Professors Mannert die Spur bis hin zum Pfarrer Würth nach Leipheim, hier gab es u. U. eine Kontaktstelle zum
Mann, der Kaspar Hauser gefangen gehalten hatte, wie eine Caroline von Albersdorf später vermutete.
Wie dem auch sei: Wir haben Grund zur Vermutung, dass Lord Stanhope sein Treffen mit Kaspar
Hauser in diesem Jahr 1833 solange hinausgezögerte, bis er aus erster Hand vom erfolgreichen Mord
an Kaspar erfuhr. Und dies geschah am wahrscheinlichsten bei einen Zwischenaufenthalt in Haag oder
alternativ in Landshut, und jedes Mal war die Kurfürstin Maria-Leopoldine von Österreich nahe!
Fünf Jahre später, bei einer nochmaligen Reise im Jahr 1838/1839, die ihn über Italien, Innsbruck und
München führte, versuchte Stanhope, wie bereits oben geschildert, die bayerische Regierung und König
Ludwig dazu zu bewegen, durch Aktenfreigabe den Gerüchten um ihn selbst und um Maria-Leopoldine
von Österreich ein Ende zu setzen. Stanhope stieß jedoch am bayerischen Hof auf taube Ohren; selbst
die Königinmutter Caroline ließ ihn abblitzen. Damals soll sich die Episode zugetragen haben, von der uns
Caroline von Albersdorf berichtete: Von ihr selbst zum Gespräch gebeten, entzog sich Stanhope quasi
durch Flucht seiner Verantwortung!
Dem Stanhope-Biograph Mayer zufolge habe Stanhope anlässlich dieser Reise „Gegenden in Österreich, die damals als deutsch galten“, aufgesucht.604 Wir haben schon eingangs über diese Reise berichtet. Es steht zu vermuten, dass es sich dabei um den ehemaligen Salzach-Kreis, um die Gegenden um
Burghausen und Wanghausen und das Hausruck-Viertel bei Vöcklabruck handelte, und dass Stanhope
bemüht war, dort letzte Spuren zu verwischen. Leider erfahren wir von Mayer nicht die Namen der Orte,
die Stanhope aufsuchte, und erst recht nicht die Absichten, die er mit seiner Reise dorthin verband.
In all den genannten Indizien und Begebenheiten scheint die Möglichkeit einer Komplizenschaft zwischen Lord Stanhope und der Kurfürstin-Witwe auf, die sich im Jahr nochmals 1833 reaktivierte und
vielleicht sogar über Kaspars Tod hinaus andauerte. Dies gilt selbst für den Fall, dass sich beide gar
nicht persönlich kannten und nur mittelbare Kontakte, z. B. über die Agenten des Bankhauses von
Eichthal, pflegten. Eine Betrüger-Theorie kam ja nach Hausers Tod auch einer Maria-Leopoldine zu
gute. Vielleicht versuchte Stanhope dies der Kurfürstin-Witwe bzw. ihren Mittelsmännern zu verkaufen! Dass diese Beziehung bei Stanhope inzwischen von Bethmann-Interessen überlagert wurde, tut
dieser Sicht der Dinge keinen Abbruch.
Damit wollen wir jedoch nicht behaupten, dass Stanhope der eigentliche Initiator des Mordes an Kaspar Hauser gewesen sei, zu komplex und unübersichtlich gestaltet sich die Situation. Am Ende wirkt auch
ein Stanhope nur wie ein Befehlsempfänger, und die Drahtzieher im Hintergrund können wir zwar grob
verorten, aber letztlich ad personam nicht genau definieren. Die Informationsstrategie der Großbanken
via Chiffre-Meldungen und Brieftauben-Systeme kannte im Gegensatz zur Politik so gut wie keine verrä terischen Lecks!
Schließen wir mit einer Angelegenheit, die nunmehr nur noch Lord Stanhope allein, die direkten To desumstände Kaspar Hausers und das Ausmaß seiner üblen Nachrede gegen seinem toten „Pflegesohn“
betrifft. Es geht konkret um die Unverfrorenheit, mit welcher der englische Lord versuchte, Kaspar Hauser nach seinem Tod nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar am Königshof in München als Selbstmörder anzuschwärzen und durch den Schmutz zu ziehen.
604 Mayer, Stanhope, S. 554.
286
An das Grab seines vormaligen
Schützlings hatte sich der Lord nicht bequemt. Stattdessen griff er von München aus sofort die Selbstmord-These
auf und verlangte vom Spezialkurator
Joseph Hickel die unverzügliche Zusendung zweier lithographierter Faksimiles
des Spiegelschrift-Zettels.605 Dies geschah offensichtlich in der Absicht, der
Königin Mutter Caroline einzureden,
Kaspar Hauser haben diesen Zettel
selbst geschrieben. Ob dabei auch der
Hintergedanke bestand, dieser das
„M.L.Ö.“ unter die Augen zu reiben?
In seiner dritten Münchner Vernehmung zum Mordfall Kaspar Hauser spielte Stanhope erstmals konkret auf seinen
Verdacht der Vorspiegelung falscher Tatsachen durch den Spiegelbrief-Zettel
an.606 Dass indes die Urheberschaft Kaspar Hausers an diesem Zettel nicht anderes als eine plumpe Unterstellung ist,
darauf haben bereits frühe graphologische Gutachten ausreichend hingewiesen.607 Welche Ähnlichkeit aber vergleichsweise Stanhopes eigene Handschrift mit den Schriftzügen des Zettels
hat – im Gegensatz zu Kaspar Hauser,
wollen wir den Lesern dieses Artikels
mit einem eigenen Schriftvergleich vor
Augen führen. Das erste Bild zeigt oben
die Schrift Kaspar Hausers, in der Mitte
diejenige des Spiegelschriftzettels (mit
Rückspiegelung und Achsenkorrektur
zur besseren Vergleichbarkeit), unten
das Schriftbild Stanhopes:
Abb. 156: Schriftvergleich: Oben Briefpassage von Kaspar Hauser,
mittig der abgepasste Spiegelschriftzettel, unten Briefpassage von
Lord Stanhope.
Das zweite Bild zeigt eine gleich gestaltete Abbildung des Spiegelschriftzettels, nunmehr ergänzt durch
Buchstaben-, Silben- und Wortbeispiele aus den Briefen und Schreiben Stanhopes (in hellgrauer Farbe)
und Kaspar Hausers (in Sepia-Tönung):
605 Pies, Tod, S. 123.
606 Pies, Tod, S. 139.
607 Luise Bartning (Herausgeber): In Memoriam Adolf Bartning, Altes und Neues zur Kaspar-Hauser-Frage aus dem
literarischen Nachlass des Verstorbenen, Ansbach 1930, S. 89f. und 143ff.
287
Abb. 157: Der Spiegelschriftzettel, gesäumt von hellgrauen Kästchen mit Auszügen aus Stanhopes Schrift, und
sepia-getönten Kästchen mit Auszügen aus Kaspar Hausers Schrift.Unten ein Zitat aus einem Brief Stanhopes an
Kaspar: „Es freut mich recht herzlich zu sehen, dass du so große Fortschritte in der Rechenkunst machst und eine
außerordentlich schöne Handschrift hast...“
Man erkennt gut, dass nicht nur Stanhopes Duktus als solcher dem Spiegelschrift-Zettel ähnelt,
sondern auch, dass der Lord einzelne Buchstaben ganz ähnlich schrieb wie der Schreiber des Zettels,
wenn man von der Diskrepanz zwischen seiner Flüchtigkeit in den hingeworfenen Briefen und der
relativen Unbeholfenheit und Primitivität des Zettelschreibers absieht, die vorzutäuschen vielleicht in der
Absicht desselben stand. Insbesondere zeigen bei Stanhope die großen Anfangsbuchstaben oft die
gleiche oder eine ähnliche Kombination aus manierierten Rundungen, Spitzen und Schnörkeln, wie sie
z. B. das „M“ resp. „W“ des Spiegelschrift-Zettels kennzeichnen. In krassem Gegensatz hierzu steht das
gestochene und geradezu idealtypische Schriftbild des talentierten Kaspar Hausers, der so penibel
übrigens nicht nur seine offiziellen Grußkarten, sondern auch jeden beliebigen anderen Brief gestaltete.
Aus seinen Textauszügen in Sepia wird auf einen Schlag klar, dass nicht zutreffen kann, was man ihm
288
posthum unterstellte.
Selbst wenn Kaspar seine Schrift hätte verstellen wollen: Er kommt als Verfasser des SpiegelschriftZettels definitiv nicht in Frage!
Stanhope musste es am besten wissen, hatte er doch Kaspar zuvor geschrieben:
„Es freut mich recht herzlich zu sehen, dass du so große Fortschritte in der Rechenkunst machst
und eine außerordentlich schöne Handschrift hast …“ (Originalsatz oben im Bild)
Es steht nicht in unserer Absicht, im Gegenzug die Urheberschaft des Zettels Lord Stanhope unterzu schieben, wenngleich sie aufgrund vieler Parallelen in keiner Weise ausgeschlossen ist und nahe liegt.
Darüber mögen Graphologen das letzte Wort haben. Vorauf es uns ankommt, ist Folgendes:
Stanhopes Schrift ist der des Spiegelschriftzettels hundertmal ähnlicher als diejenige Kaspar Hausers, und dennoch besaß dieser „fürsorgliche Pflegevater“ die Unverfrorenheit, einer König Caroline
Lügen aufzutischen und aufgrund der Schriftzüge seinen toten Schützling als Urheber des Zettels hinzustellen!
Offensichtlich ist Stanhope diese Aktion nicht geglückt. Es kamen zwar mehrere Audienzen bei der Königin-Mutter zustande, aber im Verlauf der gemeinsamen Gespräche „verwandelten sich die
anfänglichen Sympathien … bald in das Gegenteil.“608
Welch ein Glück, möchte man hinzufügen!
608 Tagebuch der Königin, in Pies, Fälschungen, S. 82.
289
Die Familien von Arco und von Berchem in der Mordsache Kaspar Hauser
Interessanterweise tauchen Freunde und Familie der Kurfürstin Maria-Leopoldine, die Familien von
Berchem und von Arco, ganz konkret in Zusammenhang bei den Ermittlungen zum Mordfall Kaspar Hauser auf!
Es war Dr. Fritz Klee, der erstmalig folgende Geschichte veröffentlichte:
Im Jahr 1853, exakt im Jahr der Verjährung des Mordes an Kaspar Hauser, gab der wegen Majestätsbe leidigung in der Justizvollzugsanstalt Ebrach einsitzende, ehemalige Chevauleger und Gastwirt des
„Drechselsgarten“ in Ansbach, Ferdinand Dorfinger (*1803 in Regensburg, Gastronom in Ansbach 18281832), die Selbstanzeige ab, am Mordkomplott gegen Kaspar Hauser indirekt beteiligt gewesen zu sein.
Er kenne die Mordbeteiligten und habe ihnen persönlich den Hofgarten als Tatort vorgeschlagen, als ihm
ein Lohn von 100 bis 200 Louisdor in Aussicht gestellt wurde.
Die Selbstanzeige Dorfingers wurde nach kurzem polizeilichen Verhör als unglaubwürdig eingestuft
und nicht weiterverfolgt – ein Phänomen, wie es der kundige Leser von einer Caroline von Albersdorf
und einem Johann Samuel Müller her bereits bestens kennt. Wenn später ein Archivdirektor namens Ivo
Striedinger die Sache um Dorfinger ins Lächerliche zog – „risum teneatis amici – verkneift Euch das Lachen, Freunde!“ -, weil ihn die bekanntermaßen überbordende Fantasie Fritz Klees ein Dorn im Auge war,
dann nimmt es kein Wunder, wenn die ganze Angelegenheit über lange Zeit aus dem Blickwinkel der
Hauser-Forschung geriet.609
Klee war, wie wir am Beispiel der Pilsach-Theorie deutlich machen konnten, ein äußerst einfallsreicher
Interpretator, der sich nicht selten die Wahrheiten so hinbog, wie er sie brauchte. Deswegen war er aber
noch lange kein schlechter Rechercheur. Den Informationsschatz dieses unermüdlichen Suchers in Sachen Kaspar Hauser generell zu verwerfen, halten wir deshalb für kontraproduktiv. Was das Mordkom plott an Hauser anbelangt, so war sicher mehr daran, als Striedinger zu erkennen bereit war, und speziell
die Aussagen des Ferdinand Dorfinger sind viel zu gut dokumentiert, um sie von vornherein in Bausch
und Bogen zu verdammen. Insofern stimmen wir Kurt Kramer und Hans Scholz zu, welche Striedinger
zum Trotz die Klee'sche Geschichte wieder aufgenommen haben. 610
Speziell handelt es sich um folgende Informationen:
•
Dorfingers Vater (+ 1829) war Leibkutscher der Königin Caroline gewesen, der Witwe des bayerischen Königs Maximilian I. Joseph. Dorfinger selbst war bis zu einer Verletzung zwischen 1825
und 1826 Chevauleger im 2. Chevauxlegers-Regiment in Ansbach gewesen.
•
Dorfinger nannte zunächst als Mittäter einen gewissen „Baptist“ aus München, einen Mann, der
exakt so aussah wie der unbekannte Fremde, der Kaspar Hauser kurz vor seinem Tod im Foyer
des Ansbacher Appellationsgerichtes die Einladung in den Hofgarten übermittelt haben soll. Er
soll ca. 30 bis 40 Jahre alt gewesen sein, den Vornamen Friedrich getragen und einen altbayerischen Dialekt gesprochen haben. Baptist war dabei sicherlich ein Deckname, denn Dorfinger
meldete, dass im 1852 ein Taxi'scher Angestellter in Regensburg davon berichtet hätte, dass Bap tist nun unter ganz anderem Namen in Niederbayern als Ökonom lebe.
Das Wichtigste an der Geschichte Dorfingers ist aber Folgendes:
Friedrich Baptist war vor dem Attentat auf Kaspar Hauser bei Graf von Arco in München angestellt!
Es handelte sich demnach um eine heiße Spur, die damals nicht weiterverfolgt wurde!
609 Striedinger, S. 447f.
610 Klee, Kap. 12. Kurt Kramer: Kaspar Hauser - Kein Rätsel unserer Zeit, Ansbach 1978, Kap. 8, online-Ausgabe unter http://www.kaspar-hauser-infos.de. Hans Scholz: Kaspar Hauser, Protokoll einer modernen Sage, Hamburg
1964, TB-Ausgabe 1985, S. 425ff.
290
Dass Fritz Klee den Mann mit dem Decknamen Baptist sogleich mit einem gewissen Friedrich Horn
(1799-1861) aus Bechhofen bei Ansbach gleichsetzte, war unnötig und entsprach seiner Neigung zu verschlungenen Deutungspfaden, deren Wahrscheinlichkeit von Glied zu Glied schon aus formalen Gründen
abnehmen muss. Hier bezog sich Klee auf eine Geschichte, die um nicht weniger als sechs Ecken zurück reicht: Über Klee zu einem Studienrat Ries in Triesdorf, von diesem zu einem gewissen Herrn Blank aus
Sommersdorf, dann zu dessen Vater, von diesem zu dessen Großmutter, der eine Magd Verdächtiges berichtet hatte. Der Vater des Herrn Blank erstattete 1880 gerichtliche Anzeige in Ansbach. Es war einmal
mehr der Gerichtsassessor Dr. Julius Meyer, eben der Sohn des bekannten Oberlehrers Meyer, welcher
der neuen Spur damals nicht nachging und sie stattdessen im Hauser'schen Aktenberg vergrub. 611
Auch wenn die Blank'sche Geschichte wenig belastbar erscheint, zumal Baptist später in Niederbay ern, Horn aber in Franken verortet wurde, so wollen wir sie doch der Vollständigkeit halber kurz abhandeln: Der Freund der Magd sei eben jener Baptist gewesen und habe seiner Geliebten von der Affäre
Hauser berichtet. Deshalb setzte Klee Friedrich Baptist und Friedrich Horn kurzerhand gleich. Letzterer
stand nach einem Intermezzo in Baden lange Jahre seines Lebens, bis 1850, in Diensten des bayerischen
Diplomaten Graf Karl von Spaur, allerdings nicht zwischen dem April 1832 und dem Januar 1834. Speziell
zur Mordzeit Kaspar Hausers soll er als Beschäftigungsloser in Ansbach geweilt haben. Damit hätten wir
noch eine Spur, die nach München führt: Die Familien Arco und Spaur, beide Südtiroler Ursprungs, waren
dort unmittelbar benachbart, sicherlich auch gegenseitig bekannt. Zwei Exponenten der Familien waren
allerdings wegen Glaubensfragen in publizistischem Streit gestanden. 612
•
Dorfinger nannte zwei weitere Namen, zunächst einen badischen (wohl eher schwäbischen)
Förster namens Friedrich, der später mit einem gewissen Johann Jakob Friedrich Müller gleichgesetzt wurde. Dieser Lehrersohn aus Hohenstaufen bei Göppingen war eine Spielernatur und kam
früh mit dem Gesetz in Konflikt. Später erklomm er in badischen Hofdiensten die Karriereleiter
und brachte es bis zum Kontrolleur der Generalkriegskasse, aus der er allerdings Gelder veruntreute, weswegen er als 41-jähriger in vorzeitige Pension geschickt wurde. Die Tatsache, dass er
nicht korrekt bestraft wurde, spricht in der Tat für ein gewisses Doppelleben. Müller wird von
den genannten Autoren vor allem wegen seines Republikaner-Aussehens (schwarzer Schnurrund Backenbart) mit dem Mörder Kaspar Hausers assoziiert.
•
Ebenfalls genannt, wenn auch nicht von Dorfinger angezeigt, wurde ein gewisser Sailer (mit -ai-),
welcher nur im Vorfeld des Mordes logistisch tätig gewesen sein soll und mit jenem verkrachten
und später geheimpolizeilich gesuchten Apotheker Ferdinand Sailer gleichgesetzt wird, der in
dem Buch des gleichnamigen Sebastian Seiler (mit -ei-): „Kaspar Hauser, der Thronerbe von Baden, Paris 1840“, breiten Raum einnimmt. Die Hauser-Forscherin Sylvia Kemming hat inzwischen
eine detaillierte Lebensbeschreibung dieses Vormärz-Emigranten vorlegt und ist mit Hilfe seines
Briefwechsels und vieler anderer Archivalien seiner Beziehung zum badischen Flügeladjutanten
Johann Heinrich David von Hennenhofer und der Frage einer Mordbeteiligung nachgegangen.
Belastbare Indizien für eine Beteiligung des einen oder anderen am Mordkomplott gegen Kaspar
Hauser liegen u. E. nicht vor.613
611 Klee, Kap. 12.
612 Siehe hierzu die Streitschriften Karls von Arco und des Freiherrn von Spaur aus dem Jahr 1821. Carl von Arco:
Schreiben an Fr. von Spaun (so!) über dessen neueste Flugschrift betitelt: Über die Thaumaturgen des neunzehnten Jahrhunderts, München 1821.
613 Vgl. Sylvia Kemming: Der Apothekergehilfe Sailer: Komplize im Mordfall Hauser? Ein Vormärz-Emigrant im Verdacht, Book on demand, Norderstedt 2016. Die Tatsache, dass das Würzburger Stadtkommissariat im Januar
1834 aus Mannheim Einsicht in die Akte Sailer beantragte, kann u. E. nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass
Sailer in dieser Zeit in Mittelfranken weilte, sondern begründet sich durch die Tatsache, dass der damalige, wohl
von München aus dazu bestimmte Würzburger Regierungspräsident August von Rechberg wenig zuvor Ermittlungen auch gegenüber Major Hennenhofer in Bezug auf sein Alibi am Mordtag aufgenommen hatte. Die Infor mationen hierzu kamen wohl von einem badischen V-Mann namens Wilhelm Becht im Einraffshof bei Bad
Brückenau. Am 10. Januar 1834 erstattete dieser Mann gegen Hennenhofer offiziell Anzeiger. Der unterfränkische Regierungssitz Würzburg hat als Ermittlungsort sicherlich mit der relativen Nähe zum Einraffshof und zu
291
Bedeutsamer als die Geschichten um Sailer und Hennenhofer erscheint uns die Tatsache, dass in Zusammenhang mit der Ermordung Kaspar Hausers nicht nur der Name des Grafen Arco in München auftaucht, sondern auch ein Mitglied der Familie von Berchem!
•
Es handelt sich nicht um ein Mitglied der gräflichen Linie, deren Exponenten zuvor besprochen
wurden, sondern der freiherrlichen, welche allerdings nahe verwandt war. Wenn man die von
Hermann Pies herausgegebenen amtlichen Akten zum Mord an Kaspar Hauser genauer studiert,
stößt man auf die interessante Information, dass aller Wahrscheinlichkeit nach der Mörder Hausers auf dem Postamt in Nürnberg am 17. und 18. Dezember 1833 von zwei Soldaten des 5. Li nieninfanterie-Regimentes nach dem inzwischen veröffentlichten Steckbrief erkannt wurde. Dieser gab dort zwei Briefe auf, die am 19. mit der Eilpost von Nürnberg nach Ansbach abgingen. 614
Jakob Friedrich Binder leitete damals als Bürgermeister persönlich die Vernehmung der beiden
Zeugen und gab den Ermittlungsbehörden ins Ansbach eindeutige Hinweise zur Nachverfolgung
der Briefe. Der Brieflauf zwischen Ansbach und Nürnberg wurde genau rekonstruiert, doch die
beiden hochverdächtigen Schreiben verschwanden. Binders Hinweise waren so genau, dass ein
zufälliger Verlust unterwegs weitgehend ausscheidet. Mit Recht wies Hans Scholz darauf hin,
dass es nur der Postmeister persönlich (den er allerdings falsch identifizierte) gewesen sein
konnte, der die Briefe verschwinden ließ!
Dieser Leiter der Poststelle Ansbach hieß damals – im Gegensatz zu Scholz’ Angaben – Freiherr Lud wig von Berchem!
Auch in dieser heiklen Angelegenheit unterblieben ernsthafte Ermittlungen. Die Vermerke „Citissime“
und „Conclusum“ (erst Eilsache, dann Aktenschluss), die sich auf dem Beschluss des Untersuchungsgerichtes Ansbach finden, sprechen eine eindeutige Sprache! 615 Das Gericht hatte sich trotz Nachhakens
der Nürnberger Seite aus fadenscheinigen Gründen erst gar nicht dazu entschlossen, irgendwelche Ermittlungen zu starten, geschweige denn, den Postmeister von Berchem ins Gebet zu nehmen. War auch
hier ein entsprechender Wink von oben erfolgt?
Vielleicht sollte man an dieser Stelle erwähnen, dass Freiherr Ludwig von Berchem am Bayerischen
Hof kein Unbekannter war; zusammen mit Graf Kajetan von Berchem hatte er im Jahr 1818 die Kämme rer-Würde erhalten! Vermutlich wohnten nicht nur Ludwig von Berchem, sondern bereits seine Eltern
oder andere nahe Anverwandte in Ansbach. Außerdem müssen beide Zweige der Familie von Berchem
eng verbunden gewesen sein. Ansonsten hätte der Ansbacher August von Platen für den Herbst 1812
nicht über seinen Pagen-Kollegen Graf Kajetan von Berchem vermerken können:
„Die Rückreise machte ich mit Graf Berchem, der in Ansbach Verwandte besuchte …“616
Den Namen und die Funktion des Postmeisters Ludwig von Berchem fanden wir in diversen Publikati onsorganen, besonders wichtig erscheint uns jedoch ein Eintrag in der Nürnberger Ausgabe der „Allge meinen Zeitung von und für Bayern“vom 14. März 1836:
Am 11. und 12. März 1836, d. h. zu einer Zeit, als die Gerüchte um die Kurfürstin Maria-Leopoldine
und die Familie von Arco bereits auf einem ersten Höhepunkt angekommen waren, trafen sich damals als
Gäste im sogenannten „Wittelsbacher Hof“ am Josephsplatz in Nürnberg „Baron von Berchem, Postmeister aus Ansbach“ (tags darauf richtiggestellt als „Freiherr von Berchem“) sowie „Graf von Arco aus München“! Der „Wittelsbacher Hof“, das war die Adresse in Nürnberg, unter der nach Kaspar Hausers Tod
auch ein Lord Stanhope zu logieren pflegte. 617
Bad Brückenau, die ins einem Zuständigkeitsgebiet lagen zu tun. Es handelte sich also um eine von längerer
Hand her vorbereitete, konzertierte Aktion. Mehr hierzu weiter hinten, ab S. 282.
614 Pies, Tod, S. 69ff., 121, 211, 242, 287. Hans Scholz: Kaspar Hauser, Protokoll einer modernen Sage, Hamburg
1964, TB-Ausgabe 1985., S. 470f.
615 Pies, Tod, S. 72.
616 Platen, Tagebücher, S. 56.
617 Pies, Wahrheit, S. 219.
292
Was die Herren von Arco und von Berchem wohl damals zu verhandeln hatten?
Wir erinnern uns: Graf Ludwig von Arco hatte bereits in Nürnberg Quartier bezogen, als dort ein erster Mordanschlag auf Kaspar Hauser stattfand, wahrscheinlich sogar mit seiner Gattin MariaLeopoldine!
Beenden wir diesen Abschnitt mit dem Hinweis, dass der Gendarmerie-Oberleutnant Joseph Hickel,
der für die Hauser-Affäre eigens vom regulären Dienst freigestellt worden war, bei den Vernehmungen
zum Mordfall Hauser angab, eigene Ermittlungen gegen einen Sattlergesellen Guardian Ott aus Freising
angestellt zu haben. Dieser sei noch am Todestag Hausers in seiner Heimat Rohr, in 8 Poststunden Entfernung von Ansbach, angekommen. Als Mörder Kaspar Hausers schied er deshalb nach Meinung Hickels
aus, weshalb er die Sache nicht weiterverfolgte. 618
Uns ist es interessant zu erfahren, dass mit diesem Ott in Ansbach ein Mann unter Mordverdacht
stand, der aus einer Ortschaft stammte, welche dem Freiherrn Johann Nepomuk von Prielmayer, dem
Schlossherrn von Wanghausen, unterstand: Die Hofmark Rohr! Es hätte sich u. E. durchaus gelohnt, auch
diese Fährte weiterzuverfolgen. Ott musste gar nicht die Postkutsche genommen haben; er wäre im
Stande gewesen, aus Alibi-Gründen mit geliehenen Pferden, die er unterwegs wechselte, in weitaus kür zerer Zeit nachhause zu reiten! Dies war alles nur eine Frage der Organisation. Als Sattlergeselle in Freising war dieser Ott vermutlich auch für das Geschirr der Freisinger Brauereirösser zuständig, die der Kurfürstin Maria-Leopoldine gehörten!
Eigenartigerweise werden gerade die Familiennamen von Arco und von Berchem in Zusammenhang
mit der Mordsache Kaspar Hauser genannt – und das zu einer Zeit, in der nach einer Nobilitierungswelle die Adelsfamilien und -namen Bayerns bereits in die Hunderte gingen. Ein weiterer Hinweis ergab sich, wie soeben zu vernehmen war, in Richtung der Familie von Prielmayer. Hatte MariaLeopoldine inzwischen von der Rolle des Johann Nepomuk von Prielmayer in Bezug auf Kaspar Hauser
erfahren? Dies ist gut möglich.
Es fällt schwer, hier noch an irgendwelche Zufälle zu glauben! Und dennoch bleibt eine etwaige Beteili gung dieser Leute am Mordgeschehen unklar.
Was übrigens Backenbart und Schnurrbart anbelangt, einen solchen trug unseres Wissens auch ein
Ludwig von Arco! Aber sollte man ihm zutrauen, einen Zettel mit dem Akronym seiner Frau verfasst zu
haben? Doch wohl nicht!
618 Pies, Tod, S. 122.
293
Arnold von Mieg und das große Arrangement in Bayern
Eines Tages war der jahrelange Grabenkrieg zwischen den Rothschilds und dem Königreich Bayern mit
dem Bankhaus von Eichthal als Financier zu Ende. Man hatte sich arrangiert!
Folgt man den offiziellen Terminen, so wären da vor allem die Jahre 1835 und 1836 zu nennen, die be reits deutlich hinter Kaspar Hausers Tod liegen und zunächst mit seinem Tod kaum in Verbindung ge bracht werden können.
Lediglich der Deutsche Zollverein, der die Binnenzölle zwischen dem Königreich Preußen mit der
Rheinprovinz, dem Großherzogtum Hessen, Kurhessen und den Königreichen Württemberg und Bayern
fallen ließ, wurde noch zu Lebzeiten Kaspar Hausers beschlossen und kurz nach seinem Tod, am 1. Januar
1834, in Kraft gesetzt. Die Fürstentümer Baden und Nassau sowie die freie Stadt Frankfurt folgten im
Jahr 1836. Mit dem Zollverein fielen 1800 historische Zollgrenzen. Es entstand ein homogener, weitge hend zollfreier Binnenmarkt, was nun wiederum weitreichende Konsequenzen für die wirtschaftliche
Entwicklung in den Mitgliederstaaten hatte und ab sofort Projekte zuließ, die zuvor so gar nicht möglich
gewesen wären. Der Zollverein dürfte im höchsten Interesse des Rothschild-Imperiums und auch anderer
Geschäfts-/Bankleute gelegen haben.
Mit einer Reihe von Vorschaltgesetzen, die jeweils von König Ludwig I. ratifiziert wurden, ermöglichte
die bayerische Regierung jetzt erstmals die systematische Gründung von Aktiengesellschaften zur Ver wirklichung von Großprojekten. So entstand z. B. auf Aktienbasis die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, die Ludwigsbahn- und die Ostbahn-AG und nicht zuletzt die Ludwig-Donau-Main-Kanal-Gesellschaft.
In der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank hielt nun plötzlich das Frankfurter Bankhaus Rothschild mit seinen Vasallen-Banken 15 Prozent des Stammkapitals, in der bayerischen Ludwig-DonauMain-Kanal-Aktiengesellschaft, die sich 1836 konstituierte, sogar 75 Prozent des Stammkapitals – versus
Übernahme einer 25-prozentigen Garantiesumme durch die bayerische Krone.
Fokussieren wir zunächst auf die Aktiengesellschaft
für den Donau-Main-Kanal, der man zu Ehren des bayerischen Königs das Präfix „Ludwig“ voranstellte:
Wenn man sich in der Mitgliederliste der Kanal-Gesellschaft etwas genauer umsieht, findet man neben den
Exponenten der beteiligten Staaten und Städte inklusive
des Fürsten Metternich auch einige bayerische Unternehmer. Dies ändert aber nichts daran, dass es sich um
eine von den Gebrüdern Rothschild handverlesene Gesellschaft mit nur geringem bayerischen Privatkapitalanteil handelte, wobei sie selbst die höchsten Stimmen-Anteile hielten und das Heft in der Hand hielten. 619
Interessanterweise bestand unter den einbezogenen
Frankfurter Banken (z. B. Belli-Gontard, Hertz) auch eine
geringe Beteiligung der Gebrüder Bethmann (mit nur 3
Abbildung 158: Gründungsmonument des Ludwig- von 226 Stimmen), was darauf hindeutet, dass man inDonau-Main-Kanals von Klenze und Schwanthaler, nerhalb der Bankenszene von Frankfurt auf einen gewiserrichtet 1846 bei Erlangen.
sen Konkurrenzschutz und auf eine wenigstens formelle
Zusammenarbeit geachtet hatte.
619 Siehe z. B. Geschäftsordnung des Ausschusses der Actien-Gesellschaft für den Ludwig-Donau-Main-Canal 1836.
Und: Auszüge aus dem Protocollen der ersten Generalversammlung der Actiengesellschaft für den Ludwig-Donau-Main-Kanal, 1836.
294
Das Haus Rothschild streckte für den Bau des Kanals die gesamte projektierte Bausumme von 8,530
Millionen Gulden ganz allein vor (verzinst mit 4 % nach Ablauf der Garantiezeit) und besetzte deshalb
selbstredend die entscheidenden Posten:
•
Erster Präsident der Gesellschaft wurde Amschel Mayer von Rothschild aus Frankfurt, erster Direktor derselben sein Bruder Karl Mayer von Rothschild. Beiden Herren wurde im November
1835 – auch wegen ihres Engagements für die neue Bayerische Hypotheken- und Wechselbank –
von König Ludwig I. zu königlich-bayerischen Hofbankiers ernannt, womit sie nun auch formell
mit dem traditionellen Haus von Eichthal gleichzogen.
Wie nicht anders zu erwarten, zeichneten in der Folge weitaus mehr Aktionäre in Frankfurt und
im Großherzogtum Baden die Aktien der Gesellschaft als in Bayern (4 Mio. Gulden Baden, 3 Mio.
Gulden Frankfurt/Rothschild versus 1 Mio. Gulden Bayern und nur 100 0000 Gulden König Ludwig selbst).
•
Wenn laut Protokoll der 5. Gesellschaftssitzung nun neben einem Nathan Mayer von Rothschild
und einem Dr. Hornthal aus Bamberg (mosaischen Glaubens) ein Staatsrat Johann Ludwig Klüber
als drittes Ehrenmitglied in den Lenkungsausschuss der Gesellschaft gewählt wurde, dann ist
wohl der letzte Zweifel daran beseitigt, dass Klüber in der Tat ein ausgesprochener RothschildMann war, wie zuvor aus diversen anderen Begebenheiten abgeleitet!
Die anderen erwähnten Aktiengesellschaften blieben allerdings Domänen des Hauses von Eichthal:
•
Bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank hielt das Augsburger Bankhaus von Eichthal
29 Prozent des Stammkapitals (bei 75 Subskribenten), allerdings räumte man zur beiderseitigen
Befriedung dem Haus Rothschild und seinen assoziierten Banken den oben erwähnten 15-prozentigen Anteil ein. Simon von Eichthal übernahm den Vorsitz der alsbald prosperierenden Bank.
•
Die Ludwigsbahn, d. h. die erste
Bahnstrecke Deutschlands zwischen Fürth und Nürnberg mit
dem legendären „Adler“ als Zugmaschine, war in erster Linie ein
Projekt fränkischer Unternehmer
und Kaufleute, allen voran Georg
Zacharias Plattner, jener Freimauerer, welcher in Nürnberg anlässlich einer Veröffentlichung Mo- Abbildung 159: Die moderne Nachbildung des „Adler“ auf der hisritz Saphirs im Auftrag der Roth- torischen Fahrstrecke zwischen Fürth und Nürnberg.
schilds das Baden-Gerücht zu Kaspar Hauser geschürt hatte (siehe oben). Auch der Hauser-Tutor Jakob Friedrich Binder war hier
mit von der Partie, in seiner Funktion als erster Bürgermeister von Nürnberg, des Weiteren das
Nürnberger Bankhaus Loedel und Merkel, welches Stanhope auszahlte, dann Graf Maximilian
von Arco-Valley, der reiche Neffe der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine, der das Tattenbach-Erbe übernommen hatte, und nicht zuletzt auch die Augsburger Seitenlinie des Bankhauses von
Eichthal unter Arnold von Eichthal, dem Bruder Simons, um nur einige der Protagonisten unserer Hauser-Geschichte zu nennen.
Mit diesem Kurzstrecken-Pilotprojekt nach englischem Vorbild setzten sich die bayerischen Unterneh mer und Bankhäuser in gewissen Kontrast zur Donau-Main-Kanal-AG, wobei schon vor Baubeginn darüber gestritten wurde, welchem Projekt wohl die glücklichere Zukunft beschieden sein würde. Wie wir
heute wissen, sollten die Eisenbahn-Verfechter recht behalten – der Kanal war schon nach wenigen Jahr zehnten wieder am Ende, die Eisenbahn wurde erst zu Ende des 20. Jahrhunderts als Massen-Transport mittel übertrumpft.
295
Allerdings dominierten beim Bau des Ludwig-Kanals auch politische Ziele: Das Bankhaus Rothschild
brauchte den Kanal als Einfallspforte nach Bayern (mit guter Rendite!), und König Ludwig I. denselben als
Renommee-Projekt, mit dem er sozusagen als der Vollender eines Werkes in die Geschichte einging, welches 1000 Jahre zuvor kein Geringerer als Karl der Große begonnen hatte, in Form der „fossa carolina“.
Die bayerischen Unternehmer schritten nach erfolgreichem Betrieb des „Adlers“ alsbald zu größeren
Projekten, z. B. zu Etablierung der Ostbahnen und zum Bau der Bahnstrecke zwischen München und
Augsburg, auch dieses mit umfangreichen Mitteln des Bankhauses von Eichthal und gutem wirtschaftli chen Erfolg.
Beide Seiten, sowohl von Rothschild als auch von Eichthal, hatten also von der plötzlichen Öffnung
des Marktes in Bayern profitiert.
Soweit in aller Kürze zur Wirtschaftsgeschichte Bayerns nach dem Tode Kaspar Hausers, wobei diese
nur so weit geschildert wurde, als sie mit dem Auftauchen bereits bekannter Personen für das Verständ nis des Falles Kaspar Hauser wichtig ist.
Es stellen sich entscheidende Fragen:
Wie war dieser gigantische Deal, dieser plötzliche Frieden zwischen den zuvor verfeindeten Blöcken
möglich geworden, der nun auch erwarten ließ, dass alle früheren Feindseligkeiten und publizistischen
Grabenkämpfe um Kaspar Hauser eingestellt wurden? Und wer hatte von bayerischer Seite aus das
Ganze eingefädelt?
Was die Querverbindungen zum Fall Kaspar Hauser anbelangt, so wurden wir gleich doppelt fündig:
Zum einen fällt auf, dass die Bedingungen, zu denen die Rothschilds so scheinbar mir nichts dir nichts
das Kanalprojekt stemmten, bereits exakt im Vorschaltgesetz vom 1. Juli 1834 fixiert waren, was wiederum den Schluss nach sich zieht, dass schon zuvor bilaterale Geheimverhandlungen stattgefunden haben
müssen.
Bei der vorherigen Lesung des Gesetzes in der Abgeordnetenkammer hatte sich ausgerechnet Joseph
von Utzschneider als Vorsitzender des 2. Ausschusses für ein paar kleinere Änderungen stark gemacht.
Utzschneider war jener Mann, welchen wir schon zu diversen Gelegenheiten eng verknüpft mit der Kur fürstin-Witwe Maria-Leopoldine kennengelernt haben.
Zum andern klärt uns ein interessantes Werk von Joseph Held und Heinrich Brüschwien (Rhein-MainDonau, Geschichte einer Wasserstraße, Regensburg 1929) darüber auf, dass schon im Jahr 1833, also vor
dem Tode Kaspar Hausers, die Geheimverhandlungen mit dem Bankhaus Rothschild in Frankfurt be gonnen und wahrscheinlich noch im selben Jahr zum erfolgreichen Abschluss gebracht worden waren.
Diese Verhandlungen hatte auf bayerischer Seite der Gesandte beim Deutschen Bundestag in Frankfurt, Arnold Friedrich Ritter von Mieg, geführt.
Der Name des Verhandlungsführers machte uns hellhörig: Arnold von Mieg war uns in Zusammenhang mit Kaspar Hauser schon mehrfach unangenehm aufgefallen!
Wenn man die von namentlich ungenannten „Freunden“ verfasste Lebensbeschreibung des Staatsmannes aus dem Jahr 1842 als Referenz nähme, käme man allerdings zu einem ganz anderen Schluss.
Von Mieg wird hier mit panegyrischen Tönen als ein Muster an Frömmigkeit, Pflichterfüllung und politischer Begabung, als ein ausgesprochener Ehren- und Biedermann geschildert. 620
Von Miegs wiederholte Aktivitäten zu Kaspar Hauser stehen hierzu in krassem Gegensatz und geben
eine Rechtfertigung dafür ab, den Politiker unverzüglich auf die Liste verdächtiger Personen zu stellen.
620 N. N.: Zum Andenken an Arnold von Mieg, München 1842.
296
Es begann mit der „Öffentlichen Bekanntmachung zu Kaspar Hauser“ aus der Feder des Nürnberger
Bürgermeisters Jakob Friedrich Binder, des ersten Vormunds Kaspar Hausers. Diese Veröffentlichung erfolgte am 7. Juli 1828, nachdem 6 Wochen gänzlicher Untätigkeit seitens der Oberbehörden in Ansbach,
vor allem der Regierung des Rezat-Kreises, der Arnold von Mieg seit 1826 vorstand, vorübergegangen
waren. Bürgermeister Binder muss sich zuvor als Vorsitzender des Nürnberger Polizeisenats und damit
oberster Ermittlungsbeamter in Nürnberg an Mieg mit der Bitte um weitere Unterstützung gewandt und
dabei eine herbe Abfuhr erhalten haben. Als der unerschrockene Mann hierauf ankündigte, den Skandal
zur Not öffentlich zu machen, wurde er von Mieg mit einer scharfen Verwarnung überzogen, ja sogar
konkret bedroht. Dennoch ließ sich der wackere Binder nicht beirren, und es kam zur Publikation der ge nannten Denkschrift, wobei allerdings nur wenige Exemplare die Nürnberger Bürger erreichten, da Regierungspräsident Arnold von Mieg die gesamte Auflage sofort höchstpersönlich beschlagnahmen ließ.
All diese Sachverhalte entnehmen wir einem Schreiben Arnolds von Mieg an den Gerichtspräsidenten
von Feuerbach, der sich leider ebenso wie nachfolgend der Außenminister Joseph von Armansperg nicht
mit Ruhm bekleckerte, sondern voreingenommen ins Horn der Regierungspräsidenten blies und sich an
der Schelte Binders beteiligte. Dabei unterstellten die drei hohen Herren Kaspar Hauser, ohne den Find ling überhaupt kennengelernt zu haben, die Vortäuschung falscher Tatsachen und Jakob Binder ermittle rischen Dilettantismus. Wer die im Brustton der moralischen Entrüstung und mit hoheitlicher Überheblichkeit vorgetragenen Schreiben bei Hermann Pies nachliest, kann kaum zu einem anderen Schluss kom men, als dass man damit nur tunlichst vom eigenen Versagen ablenkte. Darin lag vermutlich auch der
Grund, dass von Armansperg König Ludwig I. darüber schon mit wesentlich zurückhaltenderen Worten
berichtete.621
Anselm von Feuerbach verstieg sich in einem Brief an seine Freundin Elise von der Recke in eitler Ver kennung der Tatsachen in die Behauptung, er habe als erster von Mieg über den „Unfug“ der Nürnberger
„Philister“ um Binder informiert:
„Meine Reise nach Nürnberg gab erst der Sache eine andere Wendung, indem ich den ganzen
Unfug, der mit Kaspar getrieben wurde, meinem würdigen Kollegen, dem Regierungspräsidenten
Herrn von Mieg, anzeigte, diesen auf das Erforderliche aufmerksam machte und denselben veranlasste, sogleich nach Nürnberg zu reisen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen …“622
Feuerbach sagte mit diesem Satz klar die Unwahrheit: Von Mieg war längst vor ihm initiativ geworden
und hatte ihm dies auch schriftlich mitgeteilt. 623 Soviel zur charakterlichen Schwäche Feuerbachs, die uns
ähnlich bereits in der Affäre um Johann Samuel Müller und vor allem gegen Ende seines Lebens aufgefal len war.
Und noch etwas: In oben abgebildeter Meldung aus der Pressburger Zeitung vom 16. September 1828
stand der schöne Satz: „Der Gegenstand wird scharf und geheim untersucht und die Protokolle darüber,
wie es heißt, von Vorstand selbst aufgenommen“. Dieser Vorstand, der die Anzeige von Kaspars vormaliger Amme zur Chefsache erklärt hatte, kann nur der Regierungspräsident von Mieg gewesen sein, da
Feuerbach u. E. als Ermittler ausschied. Doch verlauten ließ von Mieg darüber nichts, und die Protokolle,
so es sie je gegeben hat, verschwanden.
Jakob Friedrich Binder dagegen sollte man, das wollen wir ausdrücklich betonen, ausgesprochen
dankbar sein. Indem er damals administrative Hybris und bürokratische Blockade ohne Rücksicht auf
Verluste beiseite wischte und damit die Konventionen eines in sich erstarrten Obrigkeitsstaates sprengte,
um seinem Findelkind weiterzuhelfen, hat er den Ball der Ermittlungen zu Kaspar Hauser überhaupt erst
ins Rollen gebracht. Ohne Binder gäbe es, dies sollte man sich bewusst machen, selbst heute keine Kaspar-Hauser-Forschung. Selbstredend war Binder damals im moralischen Recht; deshalb blieb seine Eigen 621 Pies, Fälschungen, S. S. 85ff., vor allem 85.
622 Mayer-Tradowsky, S. 54.
623 Pies, Wahrheit, S. 87.
297
mächtigkeit abgesehen von scheinheiligen Rügen auch folgenlos!
Übrigens ist uns Binder, dieser „beherzte“ Lebemann, der es in seinem Leben zu sage und schreibe 12
außerehelichen Kindern brachte, weswegen er am Ende einer langen Amtszeit zurücktreten musste, ein
weiteres Mal positiv aufgefallen, und zwar, als er die heißeste Spur zum Mordfall Hauser anzeigte, jene,
welche zum Ansbacher Postmeister Ludwig von Berchem führte. Wie im vorangehenden Kapitel geschil dert, wurde er, der er den notwendigen „Riecher“, Schnelligkeit, Sorgfalt und Beharrlichkeit aufgewiesen
hatte, auch bei dieser Gelegenheit von den amtlichen Stellen in Ansbach böse ausgebremst.
Und schließlich war es auch Binder, der sich nahezu als einziger öffentlich und in besonders anständi ger Weise von seinem vormaligen Mündel, dem toten Kaspar Hauser, verabschiedete. Er tat dies mittels
eines Inserates im Nürnberger Korrespondenten:
„Kaspar Hauser, mein geliebter Kurand, ist nicht mehr. Er starb zu Ansbach, gestern Nacht um
10 Uhr, an den Folgen der am 14. des. Monats durch einen Meuchelmörder erlittenen Verwundung. Ihm, dem Opfer gräuelvoller elterlicher Unnatur, sind nun die Rätsel gelöst, an welche die
Vorsehung sein trauriges Dasein geknüpft hatte. Im ewigen Frühling jenseits wird der gerechte
Gott ihm die gemordeten Freuden der Kindheit, die untergrabene Kraft der Jugend und die Vernichtung für ein Leben, das ihn erst seit 5 Jahren zum Bewusstsein des Menschen erhoben hatte,
reich vergelten. Friede seiner Asche! Nürnberg, am 18. Dezember 1833. Binder, 1.
Bürgermeister.“624
Hätte es mehr couragierte Leute wie Binder gegeben, dann wäre der Fall Kaspar Hauser sicherlich
anders verlaufen!
Doch kehren wir zurück zu Arnold von Mieg. Was hatte ihn veranlasst, die Bekanntmachung von Kaspar Hausers Existenz schon von Beginn an niederzuschlagen und seine Herkunft zu vertuschen? Der ex
post vorgebrachte Vorwand „besserer Ermittlungschancen“ gilt sicherlich nicht, denn es war von seiner
Seite aus erst gar nicht ermittelt bzw. eigene Ermittlungen unter den Tisch gekehrt worden!
Was störte ihn an Binders Schrift, sodass er sie sogleich beschlagnahmen ließ? War es die Tatsache,
dass Binder schon auf den Raub der „Vorzüge vornehmer Geburt“, auf den „Betrug am Familienstande“
und mit dem Verweis auf eine Impfnarbe am rechten Arm auf eine Abstammung Kaspars aus dem Hoch adel hingewiesen hatte?
Störte es, dass Binder die Spur ganz korrekt nach Altbayern und direkt ehemalige Rentamt Burghausen, nach Wanghausen, gelegt hatte? Galt es Kaspars Amme zu verbergen? Galt es zu verheimlichen,
dass Kaspar bis zu vier Jahren in relativer Freiheit verbracht hatte, ehe er eingekerkert wurde? Wir haben
anfangs genau diese Angaben Binders als äußerst präzise verifizieren können!
Der Verdacht der absichtsvollen Unterdrückung der Ermittlungen zu Hausers Herkunft besteht schon
deshalb zu Recht, weil Arnold von Mieg aufgrund seines Werdegangs geradezu prädestiniert war, in
das frühe Schicksal Kaspar Hausers eingeweiht zu sein!
Beschäftigen wir uns dazu ein wenig mit seiner Biographie:
Arnold Friedrich von Mieg (*21. Januar 1778, +7. Januar 1842) stammte aus einer eher mediokren
Adelsfamilie des Rheinlandes, mit elsässischen Wurzeln. Noch unter der Herrschaft Pfalz-Zweibrücken
war er 1799 als Legations-Sekretär in den diplomatischen Dienst Bayerns eingetreten. Diese Aufgabe
führte ihn ab 1800 mehrfach nach Wien, wobei er 1805 direkt in die Wirren des 3. Koalitionskriegs
verwickelt wurde. Als geheimer Kurier mit perfekten Französisch-Kenntnissen reiste er mehrfach durch
die Linien ins französische Hauptquartier.
624 Pies, Dokumentation, S. 160.
298
Im Jahr 1806 heiratete von Mieg und wechselte in den
Gubernialrat des Innkreises nach Innsbruck. Zwei Jahre später wurde er dort zum Kanzlei-Direktor unter Graf Max von
Lodron ernannt.
An dieser Stelle erhält die anscheinend makellose Vita
des Spitzenbeamten eine erste Schramme:
Abb. 160: Arnold von Mieg.
Wegen seines kompromisslosen Vorgehens gegen den
Klerus und dessen Besitz zog sich der Hardliner von Mieg
den Hass der frommen Tiroler Bevölkerung zu. Mieg soll
speziell die Versteigerung von Messgeräten und Klosterbibliotheken organisiert und so zur Vernichtung von wertvollem alpenländischem Kulturgut beigetragen haben! Nachdem die Tiroler Aufständischen den bayerischen Besatzern
eine empfindliche Niederlage beigebracht und Innsbruck zurückerobert hatten, wurde von Mieg am 21. April 1809 mit
Frau und Töchterchen nach Klagenfurt und anschließend für
5 Monate nach Fünfkirchen in Ungarn deportiert. Erst 1809
konnte er nach München zurückkehren.
In der Folge wurde Arnold von Mieg mit „besonderen Missionen und Aufträgen“ betraut, die ihn am
26. September auch nach Ried und ins Hausruckviertel führten, ehe er in Folge der napoleonischen Ok kupation Österreichs am 20. Oktober 1810 als Kreis-Kanzlei-Direktor in den neuen bayerischen SalzachKreis nach Salzburg berufen wurde, wo er bis 1814 im Amt und bis 1816 in personam blieb.
„Am 21. Mai 1813 wird er an die Grenze abgeordnet, um mit den dortigen Beamten Rückspra che zu nehmen und Vorkehrungen mancherlei Art zu treffen. Immer sind die nützlichsten und
schwierigsten Geschäfte die Seinigen.“ So berichtet sein namentlich unbekannter Biograph. 625
Aus den autobiographischen Aufzeichnungen des Karl Mayer wissen wir, dass er vermutlich einer der
Kontaktpersonen Arnolds von Mieg in dieser Zeit war. 626 In seinen offiziellen und nicht-offiziellen Missionen, die ihn in nahezu alle Gemeinden des Salzach-Kreises führten, war von Mieg offensichtlich so erfolgreich, dass er am 25. Februar 1813 vom bayerischen König in den Ritterstand aufgenommen wurde. Arnold von Mieg blieb bis zur Rückübergabe an Österreich vor Ort. Der Kanzlei-Direktor hatte also nahezu
zur selben Zeit nahezu denselben Karriereweg genommen wie das Hauser’sche Entführer-Quartett
Würth, Leydel, Mayer und Lampert, mit der einzigen Ausnahme, dass er selbst eben Regierungsbeamter
war. In dieser Funktion hatte er sicher auch Kontakt mit dem Schlossbesitzer von Wanghausen, Johann
Nepomuk von Prielmayer in Landshut!
Wenn man all diese Umstände, vor allem seine Grenztätigkeit im Salzach-Kreis bedenkt, so konnte
von Mieg durchaus von der widerrechtlichen Festhaltung Kaspar Hausers in Wanghausen Wind bekommen und den Entführungsfall eventuell sogar der bayerischen Krone verraten haben!
Oder deckte er den Mantel des Stillschweigens darüber, weil er bereits wusste, dass damit ein Mitglied
des Königshauses kompromittiert wurde?
Verschaffte ihm etwa diese Art der Loyalität den bayerischen Ritter-Orden?
Lag darin der Grund, dass von Mieg auch später von Ansbach aus das Schicksal Kaspar Hausers unter
den Tisch kehren wollte?
Wir denken, diese Fragen sind mehr als berechtigt, zumal von Mieg in Ansbach den Grafen Karl Josef
625 Zum Andenken an Arnold von Mieg, München 1842, S. 23.
626 O-Ton Mayer, a. a. O.: „1816 Die Österreicher machen militärisch Demonstration. Es herrscht ein ganz feindseliger Geist in ganz Bayern gegen Österreich. In eben dieser Beziehung werde ich zu einer Sendung an die königliche Regierung nach Salzburg verwendet.“
299
von Drechsel als Regierungspräsident abgelöst hatte, einem weiteren potentiellen Mitwisser der Geschehnisse um Kaspar Hauser (siehe weiter vorn).
Nach dem Verlust des Salzach-Kreises durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses wurde von Mieg
1816 zunächst als Direktor der Regierungskammer nach Würzburg beordert, was ihm später die dortige
Ehrenbürgerwürde einbrachte. Am 18. Oktober 1823 wurde er vorübergehend ins bayerische Innenmi nisterium versetzt, ehe er am 31. Dezember 1826 schließlich Generalkommissär und Präsident der Regierung des Rezat-Kreises nach Ansbach wurde.
Wenn man von Mieg als hochrangigen Mitwisser des Verbrechens an Kaspar Hauser ins Kalkül zieht,
dann fallen einige weitere Aktivitäten auf:
•
Es war von Mieg, der in einem Brief vom 5. Oktober 1829 Anselm von Feuerbach dazu drängte,
Kaspar Hauser aus Nürnberg zu entfernen. Ansonsten sei ihm keine Rettung, meinte er. 627 Woher
wusste er das mit der fehlenden Rettung so genau? Ging es hier nur darum, Hauser den scharfen
Augen Binders zu entziehen? Warum sollte Hauser in Ansbach vor einem Anschlag mehr gefeit
sein als in Nürnberg?
•
Knapp 3 Wochen später, am 24. Oktober 1829, schrieb Arnold von Mieg an König Ludwig I. über
den Fall Hauser und spekulierte dabei zwar von einer „planmäßigen Verfolgung des unglücklichen Jünglings“, legte aber sogleich die Spur zu einer Einzelperson, zu „irgend einem Auswürflinge der Menschheit“.628 Wollte von Mieg so von einer größeren Interessensgruppe im Hintergrund
ablenken?
•
Es war Arnold von Mieg, der Unterleutnant Joseph Hickel vom Gendarmerie-Kommando Nürnberg auf Einflüsterung Feuerbachs hin als „Spezialkurator“ Kaspar Hausers eingesetzt wissen
wollte. Hickel, der in der Kadettenschule München seine Ausbildung genommen hatte, war Mieg
positiv aufgefallen; er hatte sich über die Nürnberger Polizei und den Nürnberger Magistrat beschwert.629 Hickel war 1795 in Bamberg geboren worden, er starb im Jahr 1862 im Rang eines
Gendarmerie-Majors. Als Hauser in Nürnberg 1828 auftauchte, war Hickel beim dortigen Gendarmerie-Kommando tätig. Was prädestinierte Hickel in den Augen Miegs für die Bewachungsaufgabe? War er ein besonders guter Informant?
Es fällt nun auf, dass Hickel seine zweite Ungarn-Reise zunächst über Salzburg führte. Was hatte
er dort zu suchen? Lord Stanhope beauftragte am 5. Dezember 1831 sein Bankhaus damit, dem
Gendarmerie-Offizier monatlich 60 Gulden für seine polizeilichen Bemühungen um Kaspar
Hauser zu überweisen. Was berechtigte Hickel als Staatsdiener dazu, die privaten Interessen
Stanhopes gegen Bezahlung zu vertreten? Nach Hausers Tod 1833 trafen sich Joseph Hickel, Lord
Stanhope und der Ansbacher Lehrer Johann Georg Meyer sogar in Gunzenhausen bei Ansbach
unter konspirativen Umständen.
Der Hauser-Forscherin Sylvia Kemming zufolge soll in einem Münchner Archiv eine 3 cm dicke
Akte zu Hickel existieren, die noch der Auswertung harrt!
•
Laut H.-D. Beyerstedt ließ sich in den „Beständen privater Herkunft“ des Stadtarchivs Nürnberg
ein Brief Kaspar Hausers identifizieren, den er dem Adressaten Tucher zuordnete, aber womöglich an Arnold von Mieg gerichtet war. Der Inhalt des Briefes ist uns nicht bekannt. 630
•
Als im Sommer 1831 der Baron von Tucher mit Joseph Hickel und Kaspar Hauser nach Ungarn
reiste, war es gerade Arnold von Mieg, der die falschen Pässe für die Reisenden besorgte, was an
sich nicht unbedingt Aufgabe eines Regierungspräsidenten war. 631 Mieg muss also selbst in seiner
627 Mayer-Tradowsky, S. 363.
628 Pies, Dokumentation, S. 167.
629 Pies, Fälschungen, S. 277.
630 Horst-Dieter Beyerstedt: Kaspar Hauser im Stadtarchiv, in: Norica Heft 8, Nürnberg 2012, S. 33.
631 Mayer-Tradowsky, S. 126.
300
Ansbacher Zeit einen direkten Draht zur Geheimpolizei gehabt haben!
•
Im Dezember 1831 versuchte von Mieg, Lord Stanhope, der soeben erfolgreich die weitere Pfleg schaft für Kaspar Hauser an sich gezogen hatte, einer Anerkennungs-Note König Ludwigs zu
übermitteln. Da er den Grafen nicht bei sich zuhause antraf, übermittelte er ihm das Ganze brief lich. Das Handschreiben des Königs hatte von Mieg eingefädelt; es enthielt eine Fingerzeig auf
die Erbprinz-von-Baden-Theorie.632
Im Jahr 1832 wurde Arnold von Mieg als Regierungspräsident von Ansbach durch Joseph von Sticha ner ersetzt, um selbst noch höheren Aufgaben zugeführt zu werden. Offensichtlich hatte er sich inzwi schen eine gewisse finanzpolitische Expertise erworben, so dass er am 6. Januar 1832 als leitender Minister das Finanzministerium in München übernahm und im Februar darauf die Verhandlungen um den
oben erwähnten Zollverein für Bayern führte und erfolgreich zum Abschluss brachte. 633
Dies war der vorläufige Höhepunkt seiner offiziellen Karriere. Und spätestens von diesem Zeitpunkt
an hatte von Mieg intime Kenntnisse über das Bankhaus Rothschild in Frankfurt.
Im April 1833 trat von Mieg plötzlich von seinem Ministerposten in München zurück, angeblich wegen
Dissenses mit dem Monarchen, in Wirklichkeit aber, um als „Staatsrat im außerordentlichen Dienste“ an
den Bundestag in Frankfurt zu gehen. Damit hatte von Mieg einen noch weitaus bedeutsameren Posten
als den des bayerischen Finanzministers übernommen, denn er fungierte ab sofort sozusagen als „geheimer Minister für Rothschild-Anlegenheiten“. Im Bundestag selbst fand er als bayerischer Gesandter den
Zutritt „in die wichtigsten Commissionen der Bundesversammlung“.
Spätestens seit 1833 pflegte Arnold von Mieg in Frankfurt
ständige Kontakte zu den Gebrüdern Rothschild und führte die
geheimen Verhandlungen zu jenem Millionen-Geschäft, das
mit der Finanzierung des von Freiherr Heinrich von Pechmann
entworfenen Donau-Main-Kanals eine Beilegung aller früheren
Konflikte ermöglichte. Die hier leer ausgehenden Hofbankiers
von Eichthal wurden, wie bereits geschildert, von der bayerischen Krone mit kompensatorischen Lizenzen zu anderen attraktiven Großprojekten und mit dem Vorsitz der Bayerischen
Hypotheken- und Wechselbank abgefunden.
Vielleicht sollte man an dieser Stelle ergänzen, dass Arnold
von Mieg im Lauf der Zeit wie ein Johann Ludwig Klüber nicht
nur Kontakt zu Amschel Mayer Rothschild, sondern auch zu allen anderen Rothschild-Brüdern gefunden haben dürfte, da
deren Mutter Gutle Schnapper noch immer im Stammhaus des
Imperiums in der Frankfurter Judengasse wohnte und zu allen
Familienfesten und Geburtstagen von ihren Kindern gemeinsam besucht wurde, bis ins Jahr 1849, in dem sie im Alter von
96 Jahren schließlich starb.
In diesen Jahren traf man sich nicht nur zu formellen und in- Abbildung 161: Das Stammhaus Rothschild
formellen Gesprächen, z. T. auch in München (z. B. anlässlich im Frankfurter Ghetto.
der Erkrankung des Finanzministers von Lerchenfeld), man besuchte zusammen auch Diners und Empfänge, ja unternahm sogar gemeinsame Reisen, wie einige Zeitungsartikel belegen. 634
632 Mayer, Stanhope, S. 395.
633 Betrachtungen über den Beitritt Badens zu dem deutschen Zollverein, Karlsruhe 1834, Vertrag im Anhang, S.
53.
634 Z. B. in der Frankfurter Oberpostamtszeitung Nr. 182, der Münchner Politischen Zeitung Nr. 38, im Bayerischen
Landboten Nr. 163, in der Allgemeinen Zeitung Nr. 161.
301
Die Tatsache, dass Arnold von Mieg schon im Jahr 1833 – und nicht erst später! – mit den Gebrüdern
Rothschild um große Gemeinschaftsprojekte in Bayern verhandelte, enthält für den Fall Kaspar Hauser
eine Information von höchster Brisanz:
Die Geheimverhandlungen der bayerischen Krone mit dem Bankhaus Rothschild fanden bereits zu
einer Zeit statt, als Kaspar Hauser noch lebte!
Wir wissen nach wie vor nicht, wer Kaspar Hauser konkret getötet hat. Wir ahnen aber nun, wer für
die Organisation und Finanzierung seiner Ermordung am ehesten in Frage kommt!
Denn die Versöhnung zwischen den vormaligen Kontrahenten konnte nicht zustande kommen, wenn
nicht zuvor die Affäre Kaspar Hauser endgültig aus der Welt geschafft war!
Beide Verhandlungsseiten, sowohl die bayerische Krone also auch das Haus Rothschild, müssen in die sem denkwürdigen Jahr 1833 höchstes Interesse daran gehabt haben, den Problemfall Kaspar Hauser befriedigend und endgültig zu lösen. Es galt, die alten Gräben, die sich an seiner Person zwischen 1830 und
1833 aufgetan und so viele Ressentiments auf beiden Seiten erzeugt hatten, ein für alle Mal zuzuschüt ten.
Dazu musste Kaspar Hauser am besten sterben.
Hätte er weitergelebt, hätte es keinen Frieden von Dauer gegeben – schon allein deshalb, weil sein Fall
wegen der Wellen, die er inzwischen in ganz Europa geschlagen hatte, und der vielen publizistischen Ak tivitäten zu seiner Person unkontrollierbar zu werden drohte.
Selbst der kleinste Fingerzeig, von welcher Seite auch immer kommend, jede undichte Stelle hätte
sämtliche geplanten Millionen-Geschäfte zum Platzen und die Aktienkurse zum Absturz bringen
können!
Das war ein Risiko, das man nicht hinnehmen konnte! Sowohl das Haus Rothschild als auch die bayerische Seite wären damit in unerträglicher Weise belastet geblieben. Natürlich waren Gefahren auch durch
Hausers Ableben nicht ganz ausgeschlossen, aber wenn nur die Anfangsermittlungen ins Leere liefen,
dann war mit jedem weiteren Tag die Gefahr immer mehr gebannt und in 20 Jahren sowieso Verjährung
erreicht.
Es ist traurig, aber wahr: Nur ein toter Kaspar Hauser garantierte den geschäftlichen Erfolg in großen
Geschäften, zumal dieser inzwischen selbst Nachforschungen bezüglich seiner Herkunft angestellt
hatte und dadurch brandgefährlich geworden war.
Also machte man Nägel mit Köpfen! Es war am besten, ihn ein für allemal verschwinden und hinterher
möglichst schnell Gras über die Affäre wachsen zu lassen!
So spricht am Ende vieles dafür, das Kaspar Hauser letztlich das Opfer einer rasanten wirtschaftlichen
und politischen Entwicklung wurde, die selbst im Vorjahr noch nicht unbedingt vorauszusehen gewesen
war, der aber nun der absolute Primat über alle persönlichen Interessen inklusive Kaspars Weiterleben
und Wohlergehen eingeräumt wurde.
Und dabei bitte nicht vergessen:
Eine spurlose Beseitigung kostete sehr viel Geld. Dieses kann nur aus der Hochfinanz gekommen
sein!
Vor diesem Hintergrund, so meinen wir, erklärt sich Kaspar Hausers Tod am ehesten!
Doch auch nach der Tat war ein Arnold von Mieg mit Kaspar Hauser nicht am Ende. Im Januar 1834,
wenige Tage nach seinem Tod, wurde von Mieg als bayerischer Bevollmächtigter zu den Wiener Minister konferenzen „für deutsche Angelegenheiten“ entsandt, als Vertreter jenes Freiherrn und Außenministers
302
August von Gise, der im Folgenden in Zusammenhang mit Maria-Leopoldine noch eine besondere Rolle
spielen wird.
Wenn man den Historikern glaubt, sollte von Mieg bei diesen Verhandlungen, die sich Monate hinzogen, Metternichs Plänen zur Einrichtung eines Bundesgerichts und zur Abgabe von Länderkompetenzen
an den Deutschen Bund entgegentreten. Ein von Johannes Mayer in Ausschnitten zitierter Brief des
„Stanhope-Zuträgers“ Johann Philipp von Wessenberg (O-Ton Mayer) enthielt als Beilage für Lord
Stanhope eine Annonce folgenden Inhalts, datiert vom 13. September 1834:
„Ansbach, 13. Sept. Zur Zeit der jüngsten Wiener Ministerial-Konferenzen war der einzige königlich-bayerische Bundestags-Gesandte von Mieg, der früher hier einer oberen Verwaltungsstelle vorstand, nach Wien berufen worden, wohin er sämtliche Caspar Hauser betreffenden Akten
mitnahm. Diese Akten sind, wie man hört, nicht wieder hierher zurückgekommen. Zugleich erfolgte bald darauf die Auflösung der hier in der Sache Hausers angeordneten Untersuchungskom mission, wodurch diese ganz außer Tätigkeit gesetzt wurde.“ 635
Es handelte sich bei dieser interessanten Meldung offensichtlich eine Indiskretion aus dem Ansbacher
Appellationsgericht.
Demnach hatte von Mieg noch im Januar 1834 einen Teil der Untersuchungsakten zu Kaspar Hauser
mitgehen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen, vermutlich den Teil, der am meisten zur
Aufklärung des Falles hätte beigetragen können!
Ob es sich dabei um die allerersten Nürnberger Akten handelte, die später Julius Meyer als „verlustig
gegangen“ erklärte,636 bleibt ungewiss. Hier war übrigens von einer Zeugin namens Anna Magdalena N.N.
die Rede gewesen, die sich Binder gegenüber in irgendeiner Weise ge-outet haben soll. Von ihr war spä ter nie mehr die Rede.637
Dass die von Mieg stibitzten Akten an Österreich bzw. Metternich fielen, wie mitunter behauptet, halten wir für unwahrscheinlich, selbst wenn sich in den Wiener Akten ein keines Dossier von Dokumenten
aus Bayern erhalten hat. Der Großteil der Akten werden vielmehr im goldenen Reißwolf Salomon von
Rothschilds gelandet sein, dem sehr daran gelegen sein musste, alles zu vernichten, was vielleicht zur
Enttarnung seines Bankhauses geführt hätte. Für einen solchen Akten-Transfer bekam von Mieg vermutlich gutes Geld!
Arnold von Miegs Karriere setzte sich noch eine Zeit lang fort. So begleitete er u. a. König Otto I. nach
Griechenland. Doch im Jahr 1838 ereilte ihn eine Herzmuskelentzündung, die ihn gesundheitlich aus
dem Rennen warf. Von Mieg sollte sich nie mehr richtig erholen. Er verstarb nach etlichen Kuren am 7.
Januar 1842 in Frankfurt an schwerer Herzinsuffizienz. Seine Asche ruht auf bayerischem Boden, in
Aschaffenburg.
Da in Bayern wie anderswo durchaus auch antisemitische Strömungen bestanden, die sich zum großen
Teil aus den anzüglichen Veröffentlichungen eines Itzig Feitel Stern 638 nährten, war es in der Folge
notwendig, seitens des Staates und der Rothschilds am positiven Image des Frankfurter Bankhauses zu
arbeiten. So erschienen einige lobende Schriften und Artikel, um die öffentliche Meinung umzustimmen,
z. B. in den „Münchener Lesefrüchten“ von 1837, Bd. 2, Nr. 23, oder auch als Artikel in der „Allgemeinen
Deutschen Enzyklopädie“ des Cotta'schen Verlages, aus der Feder von Friedrich Gentz.
635 Mayer, Stanhope, S. 538.
636 Meyer, Mitteilungen, S. 3.
637 Pies, Wahrheit, S. 92f.
638 Am ehesten ein jüdisches Pseudonym für den fränkischen Freiherrn und Landrichter Johann Friedrich Sigmund
von Holzschuher (1796-1861) oder den Sozialarbeiter und Kirchenlied-Dichter Johann Heinrich Christoph Holz schuher. Dem „Itzig Feitel Stern“ soll der Hauser-Verteidiger Rudolf Giehrl nahe gestanden haben.
303
Ferdinand Sailer und der tiefe Fall des Fürsten von Oettingen-Wallerstein
Kaspar Hauser lag noch keine drei Jahre unter der Erde, als die Aufklärung seines Falls für das bayeri sche Königshaus nochmals sehr brenzlig wurde. Und hier scheinen nun erstmals nicht mehr BankInteressen zu dominieren – Häuser wie Rothschild, Eichthal, Bethmann hatten sich inzwischen, wie
soeben geschildert, in größeren Konsortien arrangiert -, sondern erstmals rein politische Motive. Die
entsprechenden Informationen erhalten wir vornehmlich von Antonius van der Linde. 639
Es begann damit, dass noch im Dezember 1835 im Münchner Innenministerium erste Gerüchte dar über eintrafen, dass jener Apothekergehilfe Ferdinand Sailer aus Waldsee, nunmehr im Exil in Zürich le bend, konkret in den Mordfall Kaspar Hauser verwickelt sei. 640 Man habe den Sachverhalt einem von Sailer zufällig verlorenen Brief des badischen Flügeladjutanten von Hennenhofer entnommen, der den bemerkenswerten Satz enthielt:
„Vorzüglich aber beobachten Sie ein tiefes Stillschweigen über Kaspar Hauser.“
Am 27. Februar 1836 ging beim Bürgermeister Jakob Friedrich Binder in Nürnberg eine entsprechende
schriftliche Anzeige ein. Sie kam aus Zürich, war allerdings in Stuttgart bei der Post aufgegeben worden.
Binder gab die anonyme Anzeige sofort an die Ermittlungsorgane weiter.
Zur Erinnerung: Sowohl der inkriminierte Major Johann Heinrich David von Hennenhofer als auch der
genannte Ferdinand Sailer sollen zu der badischen Rotte gehört haben, die anlässlich Kaspars Ermordung
in Ansbach gesichtet worden war. Wir haben in Zusammenhang mit der Anzeige des Ferdinand Dorfinger
darüber berichtet.
Naturgemäß musste der Sachverhalt den bayerischen Hof interessieren, ergab sich doch hieraus die
erneute Chance, dadurch der für Bayern nach wie vor günstigen Erbprinz-von Baden-Theorie Gewicht zu
verleihen und den Mord an Kaspar Hauser politischen Kreisen im Großherzogtum Baden in die Schuhe zu
schieben. Damit war nicht nur vom bayerischen Königshaus weiter abgelenkt, sondern den bayerischen
Territorialansprüchen auf gewisse badische Gebiete (Grafschaft Sponheim etc.) Nachdruck verliehen. 641
Mit den Rothschilds hatte man sich von Bayern aus inzwischen arrangiert, mit den Haus Baden war
noch immer eine Rechnung offen!
Dies geschah zu einer Zeit, als die Kunde, dass Kaspar Hauser der leibliche Sohn der Stephanie de Be auharnais sei, bereits die Spatzen von allen Dächern pfiffen. Der neue Schauplatz Zürich war auch insofern ziemlich interessant, als im November 1835 im dortigen „Sihlhölzchen“ der Student E. L. Lessing,
wohl ein preußischer Spion, ermordet worden war. Diesem schob man nun die Bekanntschaft mit Sailer
und anderen Revolutionären, die in der Schweiz lebten, unter. Am bayerischen Königshof fiel hierauf der
Entschluss, auf eigene Faust in der Eidgenossenschaft zu ermitteln, und zwar nicht über die üblichen po lizeilichen Kontakte bzw. die Gesandtschaften in Bern und München, sondern über eine geheime Mission
des 51-jährigen Anton Edler von Braunmühl (*1785), seines Zeichens Regierungsrat im bayerischen Innenministerium. Von Braunmühl war Ministerial-Kommissär für die (politische, geheime) Studenten-Polizei (1832-1837) und Referent in der Sache Kaspar Hauser gewesen; er war ein für den Staatsschutz
tätiger Geheimdienstler mit internationalen Kontakten, mithin ein Mann, der mit der Materie, um die es
ging, bestens vertraut war.642
639 Linde 2, S. 128ff.
640 Die Vermutung der Beteiligung Sailers am Mord an Kaspar Hauser wurde 1853 durch eine in Wien aufgefundene Mitteilung des österreichischen Gesandten Philippsburg an seinen Außenminister Karl Ferdinand Graf von
Buol weiter gestützt und präzisiert. Kemming, Ferdinand Sailer, S. 15.
641 Reinhard Heydenreuter: König Ludwig I. und der Fall Kaspar Hauser, in: Staat und Verwaltung in Bayern, 2003,
S. 475ff.
642 N.N.: Abel und Wallerstein, Beiträge zur neuesten Geschichte bayerischer Zustände, München 1840, S. 31. Im
Weiteren abgekürzt mit Abel-Wallerstein und Seitenzahl.
304
Tatsächlich reiste von Braunmühl Mitte März 1836 in Richtung Schweiz ab, via Memmingen, Wurzach,
Wolfegg, Lindau, Bregenz und retour, dann von Lindau nach Konstanz und zurück über Rorschach. Der
Regierungsrat betrat allerdings im Weiteren nicht das Schweizer Binnenland, sondern schickte den k. Sal zoberbeamten und Landwehr-Major Pleybner vor, um dort weitere Ermittlungen anzustellen. Dessen
Route führte über Steckborn nach Andelfingen, wo der in der Schweiz geborene, nunmehr in königlichbayerischen Diensten stehende Salzhandlungskommissär Freiherr Jakob Heinrich von Sulzer-Wart und
dessen Sohn Hans Heinrich, königlich-bayerischer Kammerjunker, wohnten. Diesen Herren traute man
offensichtlich zu, mehr über die Angelegenheit Ferdinand Sailer herauszubekommen, pflegten sie doch
freundschaftliche Kontakte zum Vizepräsidenten Wiss im Züricher Kriminalgericht. In Winterthur zog
Pleybner außerdem beim Apotheker Künzli Erkundigungen wegen Sailer ein, da Hennenhofer in einem
seiner Briefe diesem Sailer anempfohlen hatte. Ob diese Stippvisiten von Erfolg gekrönt waren, wissen
wir nicht. In Zürich wurde neben Wiss auch der Verhörrichter Mais zu Sailer befragt, wohlgemerkt inoffiziell und in aller Diskretion. Schon nach 5 Tagen, am 25. März 1836, war der Salzoberbeamte Pleybner
wieder zurück in Konstanz, um von Braunmühl Rapport zu erstatten, danach kehrte er nach Lindau, sei nem Ausgangsort, zurück.
Von Braunmühl unternahm in Sachen Sailer am 13. April 1836 eine weitere Reise, nunmehr von Mün chen nach Nürnberg, wozu er geschlagene 6 Tage brauchte, da er in Augsburg, Donauwörth, Nördlingen
und Ansbach Zwischenstopps machte. Was er zuvor über Sailer und seinen Bezug zum Mordfall Kaspar
Hauser in Erfahrung gebracht hatte, entzieht sich unserer Kenntnis. Allzu viel Konkretes scheint es nicht
gewesen zu sein, wie der nachfolgende Brief des Innenministers Ludwig von Oettingen-Wallerstein an
König Ludwig I. von Bayern, vom 14. April 1836, wiedergibt:
„Während der Mord des unglücklichen Hauser verklungen schien und über seinem Grabe nur
Stanhopes tadelnde Stimme wehte, ist es dem treugehorsamst Unterfertigten gelungen, neue
und leider allzu glaubhafte Spuren jener That zu entdecken, welche zur Ehre der Menschheit un denkbar bleiben sollte. Anonyme Schreiben beschuldigen einen, bereits wegen revolutionärer
Umtriebe aus seinem Vaterorte entflohenen jungen Mann namens Seiler des Doppelmordes an
Hauser und Lessing …“643
Des Weiteren berichtete der Innenminister dem
König von Sailers Kontakten zu Hennenhofer, vom
Verdacht der Ermordung Feuerbachs, vom badischen
Gesandten Dusch, den man für einen Detektiv des
Hauses Baden hielt etc. etc.
„Es zu benutzen für die Sponheimer Erbfolge, sagte
ich bestimmt Gisen …“
Der Innenminister versuchte also, dem König
weitere Ermittlungen mit politischen Argumenten
schmackhaft zu machen.
Ludwig Kraft Ernst Fürst von OettingenWallerstein war ein Mann mit einer langen und
angesehenen Ahnenreihe, eine beim bayerischen
Volk beliebte Autorität, die sich schon um die
Jahreswende 1833/1834 aufrichtig und intensiv um
Aufklärung des Mordes an Kaspar Hauser bemüht
hatte.
Sein Gutachten vom 23. Januar 1834, gerichtet an
den Regierungspräsidenten des Rezatkreises, Joseph
Abb. 162: Fürst Ludwig von Oettingen-Wallerstein auf
von Stichaner, zählen wir zum Besten und Scharfsineinem zeitgenössischen Gemälde.
643 Linde 2, S. 131.
305
nigsten, was je über Kaspar Hauser schriftlich niedergelegt wurde. Dies hinderte jedoch später einen
Antonius van der Linde nicht, über dieses Schreiben herzuziehen, wobei er sich vor allem darüber
mokierte, dass der Minister auf den Brief eines fiktiven Hauser-Freundes namens Dr. Hartmann
hereingefallen war. Dass dem keineswegs so war, dass vielmehr dieses Hartmann'sche Schreiben von
großer Bedeutung für den Fall Kaspar Hauser ist, ging einem Antonius van der Linde seinerzeit nicht auf.
Da sich auch sonst niemand bisher darum bemüht hat, werden wir gegen Ende dieser Arbeit
ausführlicher darauf eingehen.
Uns ist das Gutachten des bayerischen Innenministers wegen seiner weitgehenden Kongruenz mit un serer Recherche von so großer Bedeutung, dass wir es via Internet dem Interessenten zur direkten Einsicht zur Verfügung stellen.644 In jenem denkwürdigen Jahr 1836 glaubte der Fürst aus derselben Gesinnung wie 1833/1834 heraus, mit seinen Ermittlungen in der Sache „Ferdinand Sailer“ dem bayeri schen König Ludwig I. einen großen politischen Gefallen zu tun.
Doch weit gefehlt!
König Ludwig I. von Bayern entzog abrupt dem bayerischen Innenminister, diesem „treugehorsamst
Unterzeichneten“, der „alles aufgeboten hatte, um die Entdeckung und Habhaftwerdung des Täters zu
fördern“,645 das Ermittlungsmandat und gab am 28. April 1836 die Order,
„…alle auf diesen Gegenstand sich beziehenden Akten dem Minister des Äußeren (freilich Gise)
zuzustellen, und das heute …“
Schon kurz nach Kaspars Tod war Ludwig ähnlich verfahren und hatte stante pede Gises Meinung verlangt – ein Sachverhalt, der sich jedenfalls durch das Amt des Außenministers allein nicht erklärt. 646 Und
nun erneut diese Bevorzugung Gises! Auf der anderen Seite: Welch ein Misstrauensvotum gegenüber
Ludwig von Oettingen-Wallerstein! Dieser zum liberalen Flügel zählende, aber langjährig bewährte Minister war Zeit seines Lebens ein unbestechlicher, loyaler Mann gewesen, von dem wir so markante Sätze
wie den folgenden kennen:
„Die Verwaltung Bayerns wird nie eine geheime Denuntianten-Polizei einführen, oder das Institut der polizeilichen Inquisition in unserem schönen Vaterlande dulden!“ 647
Unter solchen Prämissen muss das brüskierende Verhalten des Königs im Ermittlungsfall Sailer wie ein
Schlag vor den Kopf gewesen sein!
Wir sehen im Folgenden also nicht mehr schwerpunktmäßig den Innenminister mit dem Fall Hauser
befasst, wenngleich er im Jahr 1837 vermutlich noch persönlich die Gräfin Caroline von Albersdorf emp fing und von dieser über Maria-Leopoldine und ihre potentielle Bedeutung für den Fall Kaspar Hauser in formiert wurde.
Dass der Fürst von Oettingen-Wallerstein Kaspar Hauser gegenüber alle Zeit wohlwollend aufgeschlos sen war, selbst wenn er ihn nicht persönlich kannte, erkennt man auch an seinen Randnotizen in den
offiziellen Ermittlungsakten und an der Tatsache, dass er nach Kaspars Tod einen Lord Stanhope mit
seinen Verleumdungen zielsicher abblitzen ließ. 648 Der in Ansbach tätige und mit Anselm von Feuerbach
gut bekannte Fürst-Wallerstein'sche Hofrat und Anwalt Andreas Hofmann, der von Kaspar Hauser selbst
sehr geschätzt worden war, dürfte den Innenminister nicht selten über den Fall persönlich informiert haben.649
Doch wie gesagt, der Fall Kaspar Hauser war nach Bekanntwerden der Aktivitäten Sailers dem
bayerischen Innenminister abrupt entzogen worden und lag im Weiteren ausschließlich in den Händen
644 Pies, Tod, S. 228ff. Online unten: http://www.robl.de/hauser/hauser4.html
645 Pies, Tod, S. 191.
646 Pies, Tod, S. 191.
647 Abel-Wallerstein, S. 27f.
648 Pies, Tod, S. 300.
649 Pies, Tod, S. 227.
306
des Außenministers und Freiherrn August von Gise. Dieser resümierte zunächst nach van der Linde
(Quelle ungenannt) über die Reise zu Sulzer-Wart folgendermaßen:
•
Nicht nur Bayern, sondern auch Preußen sei auf den Briefwechsel Sailers mit Hennenhofer aus.
•
Die Schweiz halte den Briefwechsel eisern unter Verschluss.
•
Man hoffe dennoch über eine Indiskretion des Vizepräsidenten Wiss, „einen vertrauen Freund
des Freiherrn von Sulzer“, an eine Abschrift oder Auszüge des Briefwechsels zu kommen.
•
Man wolle den relativ mittellosen Sailer in der Schweiz weiter beschatten, nunmehr über die Gesandtschaft.
•
Man wisse von belastenden Dokumenten aus dem Hause Baden, die in Händen Sailers seien.
• Ein weiterer Teil dieser Dokumente liege in England!
König Ludwig I. hätte an sich über den von Oettingen-Wallerstein und seinem Adlatus von Braunmühl
erarbeiteten Sachstand mehr als erfreut sein müssen. Doch warum musste er dann die Ermittlungen
dem Innenminister entziehen?
Man könnte diesen Wechsel vordergründig Gises Funktion als Außenminister zuschreiben. Doch des sen Amt sprach eher gegen als für eine Übernahme der Verantwortung, musste doch ein Außenminister
mehr als ein anderer wegen seiner diplomatischen Beziehungen darauf bedacht sein, aus heiklen Angelegenheiten herausgehalten zu werden. Doch obwohl August von Gise selbst vor entsprechenden „Fallen“ (O-Ton!) zurückscheute, geschah damals das Unfassbare!
Gise hatte sich genau wie Arnold von Mieg schon auffallend früh in den Mordfall Hauser eingemischt,
selbst wenn die Sache sein Ressort allenfalls mittelbar betraf, und er scheute sich dabei auch nicht, den
König selbst zu instrumentalisieren, „um … den Schein zu beseitigen, als könne unter den Augen der in
Bezug auf Fremdenpolizei wachsamsten Regierung Deutschlands ähnliches ungestraft und unvermerkt
geschehen …“650
In Wirklichkeit wünschte Gise eine Aufklärung der ganz besonderen Art, und diese sollte vornehmlich
das Haus Baden belasten. Den schlagenden Beweis hierfür liefert König Ludwig I. selbst, in seinem Tagebuch. Gise wollte angeblich noch vor 1824 von Eugène de Beauharnais, des Königs Schwager und Herzog
von Leuchtenberg, erfahren haben, dass Stephanie de Beauharnais an eine Entführung ihres erstgebore nen Sohnes glaubte. Davon abgesehen, dass dies durchaus denkbar war – wir glauben nur nicht an die
Unterschiebung des kleinen Blochmann durch die Gräfin von Hochberg –, war bei Stephanie von Kaspar
Hauser nie die Rede. Genau dieses soufflierte jedoch Gise dem König:
„Dass Kaspar Hauser derselbe gewesen … sagte mir Gise desgleichen.“651
Mit dem plötzlichen Gunstentzug Ludwigs I. bahnte sich zum ersten Mal eine Entwicklung an, die für
Ludwig von Oettingen-Wallerstein im November 1837 mit der völligen Entmachtung und der Demission
aus allen politischen Ämtern endete. Zwar wurden zuletzt administrative Gründe – eine umstrittene
Verwaltungsreform und die Ausweitung des Budgetrechts! – vorgeschoben, allein man war sich in ganz
Bayern darüber im Klaren, dass in Wirklichkeit ganz andere Gründe eine Rolle gespielt haben müssen:
„Man ahnte, dass der Fürst nicht allein wegen dieses Finanzprinzipes in Ungnade gefallen, sondern dass noch ein anderer, ein g e h e i m e r Grund obwalte …“652
„Zudem dürfte der König je länger, desto mehr gespürt haben, dass sich hinter des Fürsten ver bindlichem Wesen ein starkes Selbstbewusstsein und eine intellektuelle Selbständigkeit verbargen
– Eigenschaften, die er bei seinen Ministern gar nicht schätzte …“653
650 Pies, Tod, S. 176, 191.
651 Zitat in Mayer, Stanhope, S. 188.
652 Abel-Wallerstein, S. 44.
653 D. Grötschmann: Das Bayerische Innenministerium 1825 - 1864, Göttingen 1993, S. 222.
307
Die Presse-Zensur, die wiederum in Bayern dem oben genannten Anton von Braunmühl unterstand,
vereitelte anschließend jegliche Aufdeckung!
„Die Urtheile der Journalistik sind der Halbheit oder der Lüge verfallen!“
So schrieb jener Anonymus, der sich 1840 wenigstens durch eine Veröffentlichung in Buchform noch mals um Aufklärung bemühte.654
Seien wir sicher:
Wenn der unbestechliche Innenminister damals die Ermittlungen weitergeführt hätte, dann wäre es
für das bayerische Königshaus brandgefährlich geworden!
Noch im Winter 1937 wurde von Oettingen-Wallerstein durch seinen bisherigen Untergebenen, Karl von
Abel, ersetzt, und dies, nachdem er sich kurz zuvor
durch die Ausrottung der Cholera in München noch
hohe Verdienste erworben hatte.
Der Norddeutsche Karl von Abel hatte sich aus einfachen, bürgerlichen Verhältnissen am bayerischen
Hof in mühseliger Kleinarbeit emporgearbeitet und gerade von Oettingen-Wallerstein viel zu verdanken. Begabt mit der Fähigkeit, jede sich ihm bietende Gelegenheit zum Vorwärtskommen zu ergreifen, hatte er
sich noch kurz vor seiner Ernennung zum Minister als
Ministerialbeamter bei seinem Chef von OettingenWallerstein mit einem Brief eingeschmeichelt:
„Sie werden mich unter allen Verhältnissen
redlich ergeben, treu und wahr erfinden, aber
auch fest entschlossen, von dem Augenblicke
an, wo Sie Ihr Vertrauen und Ihr Wohlwollen
mir entziehen zu sollen glauben, meine politi- Abb. 163: Karl von Abel. Zeitgenössische Lithosche Mission als geendet anzusehen …“655
graphie.
Das Gegenteil war der Fall:
Während von Oettingen-Wallerstein alle politische Ämter, mit Ausnahme der Stelle des Kronobersthofmeisters und des Sitzes in der Ersten Kammer, aufgab, griff der Parvenu Karl von Abel schamlos nach
dem freigewordenen Ministersessel und leitete nach seiner offiziellen Ernennung am 1. April 1838 in
gesteigerter Machtfülle eine konservative, ultramontan-katholische Wende der bayerischen Innenpolitik
ein, der wir uns an dieser Stelle nicht weiter zuwenden wollen, da dies vom Thema wegführen würde.
Erst viel später, im Jahr 1847, kam es kurz vor der bürgerlichen Revolution in Deutschland zum Sturz
von Abels und zu einer vorübergehenden Rehabilitation des Fürsten von Oettingen-Wallerstein,
notgedrungen, denn selbst die Tage des Königs waren damals bereits gezählt. Auch diese Phase der
Politik, die in Bayern durch des Königs Affäre mit Lola Montez überschattet wurde, ist nicht Gegenstand
unserer Betrachtungen.
Es ist allerdings eine unbestreitbare Tatsache, dass von Oettingen-Wallerstein und von Abel von 1837
an erklärte Intimfeinde waren. Diese Haltung manifestierte sich sogar in einem für die bayerische Politik
einmaligen Ereignis: Am 11. April 1840 duellierten sich beide in denkwürdiger, allerdings für beide Seiten
654 Abel-Wallerstein, Vorwort.
655 Abel-Wallerstein, S. 70f.
308
folgenloser Weise, beim Aumeister im Englischen Garten! 656 Es waren heftige Debatten im Münchner
Parlament über eine angebliche Spionagetätigkeit von Oettingen-Wallersteins vorangegangen, in die sich
auch ein Graf von Arco eingemischt hatte, und die den Fürsten zur Satisfaktion von Abels drängen ließ.
Nun gilt es Folgendes zu beachten:
•
Ludwig von Oettingen-Wallerstein hatte von Jugend an freundschaftliche Bande mit dem Haus
Baden verbunden, ja es war sogar einst geplant gewesen, dass er Amalie Gräfin von Hochberg,
die Schwester des Großherzogs von Baden, ehelichen sollte. Die Befreiungskriege gegen Napoleon, in die der spätere Innenminister involviert war, machten hier einen Strich durch die Rech nung. Da von Oettingen-Wallerstein damals bereits für eine ständische Verfassung und die Auf stellung eines Bürgerheeres eintrat, zog er sich früh die Aversionen des oberkommandierenden
Feldmarschalls, Fürst von Wrede, zu, was bei seiner Entmachtung ebenfalls eine Rolle spielte.
•
Minister August von Gise war ursprünglich ein Bürgerlicher namens Koch gewesen, ein Neffe des
Lehrers von Montgelas. Als Adoptivsohn der Gises in den Adelsstand aufgestiegen, wurde er zu
einem intimen Freund des Hauses von Arco. Verheiratet mit einer Nichte Ludwigs von Arco, Fran ziska Bertrand de St. Rémy Gräfin de la Perouse, gehörte er quasi zur Familie. Selbst die wenigen
Informationen, die wir der Leopoldine-Biographie Sylvia Krauss-Meyls entnehmen, belegen, wie
eng die Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine mit Gise verquickt war. Sie organisierte z. B. zu Lebzeiten gemeinsam mit den Gises Picknicks und besuchte Mitglieder der Familie Gise in Brüssel,
sie setzte für die Zeit nach ihrem Tod den ehemaligen Außenminister als ihren Testamentszeugen
ein.657
•
Und der Emporkömmling Karl von Abel? Mit dem „guten Abel“ diskutierte Maria-Leopoldine des
Öfteren in politischen Angelegenheiten, ja er schüttete ihr sogar sein Herz aus, als er sich als Sekretär der griechischen Regierung mit Joseph Graf von Armansperg überworfen hatte. Als es ihm
1837 gelang, in München das Innenministerium handstreichmäßig zu erobern, sprach ihn MariaLeopoldine in ihrem Glückwunschbrief ganz ungewöhnlich mit „mein lieber Karl“ an, wobei sie zu
ihrer schmeichlerischen Freundlichkeit allerdings reichlich Grund hatte. Denn Karl von Abel
wusste genau über die illegalen Spekulationsgeschäfte der Kurfürstin mit griechischen Staatsanleihen Bescheid, und er deckte sie!658
„Auf die Kurfürstin Witwe konnte sich Abel in Zukunft immer verlassen, sie stand, auch
bei Hofe, stets auf seiner Seite und setzte sich für ihn ein …“659
Halten wir Folgendes fest:
•
War bisher von der Seite der Familie oder der Entourage der Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine
die Rede, so wissen wir nun, dass ihr nach Hausers Tod eine konkrete Gruppe Politiker im bayerischen Regierungslager zur Seite stand. Dieses ultramontane Lager der bayerischen Staatsregierung entsprach exakt dem engsten Bekannten- und Verwandtenkreis der Kurfürstin-Witwe, der
sie deckte.
•
Speziell unter Karl von Abel und August von Gise fanden, wie nicht anders zu erwarten, die von
Oettingen-Wallerstein angestrengten Schweizer Ermittlungen in der Mordsache Hauser nicht
mehr statt, zumindest nicht im ernstzunehmenden Umfang!
•
Der Sturz von Oettingen-Wallersteins wurde zwar von König Ludwig I. vollzogen, er trägt jedoch
insofern die Handschrift Maria-Leopoldines, als diese allen Grund hatte, die Schweizer Ermittlun gen abzuwürgen! Wahrscheinlich hatte sie damals zu befürchten, durch die Aussagen Sailers als
Mitbeteiligte am Mord an Kaspar Hauser enttarnt zu werden!
656 Abel-Wallerstein, S. 201ff.
657 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 318, 342, 383.
658 Krauss-Meyl, Maria-Leopoldine, S. 219, 224.
659 Krauss-Meyll, Maria-Leopoldine, S. 241.
309
•
Ein Ludwig von Oettingen-Wallerstein war zwar auch mit dem Erbprinz-von-Baden-Virus infiziert
worden, doch den Sailer'schen Verweis auf eine bayerische Urheberschaft des Verbrechens an
Kaspar Hauser hätte der Innenminister sicherlich nicht so bereitwillig unter den Tisch gekehrt
wie seine Kollegen aus dem ultramontanen Lager, die der Kurfürstin-Witwe nahe standen. Also
musste er weg!
•
Deshalb musste der König persönlich eingreifen und sämtliche Akten stante pede auf den viel zuverlässigeren August von Gise übertragen lassen.
•
Deshalb musste auch von Oettingen-Wallerstein durch „den lieben Karl“ von Abel langfristig ersetzt werden.
•
Zusätzliche politische Gründe für die Minister-Rochade wollen wir nicht ausschließen, sie er scheinen allerdings zweitrangig.
Zwei weitere Phänomene finden eine plausible Erklärung, wenn man Maria-Leopoldine als entscheidende Triebfeder in die damaligen Ränkespiele einbezieht:
•
Warum waren es ausgerechnet Salzkommissäre und Salzbeamte, die die damaligen Ermittlungen
in der Schweiz führten? Wir vermuten, dass dies von Gises Idee war! Maria-Leopoldine blieb dadurch von Anfang an eingeweiht, waren doch sie und ihr Freund Joseph von Utzschneider im
Salzgeschäft von erheblichem Einfluss!
•
Warum führte die sogenannte Ermittlungsreise des Herrn von Braunmühl ausgerechnet über
Augsburg und Donauwörth? Ersterer Ort ist uns bereits direkt begegnet, als Dienstort des
Schwagers Philipp von Arco, des Major von Wessenig und als Herkunftsortort des Marquard Winterich. Der zweite Ort ebenfalls, allerdings indirekt und insofern, als er nur einen Katzensprung
von Stepperg, der Residenz der Kurfürstin-Witwe an der Donau, entfernt lag. Möglicherweise
hatte von Braunmühl den Wink bekommen, unauffällig Maria-Leopoldine gewisse Informationen
zukommen zu lassen, Informationen, von denen sein Dienstherr, der Innenminister, nichts wissen
musste! Oder aber diese Route hatte etwas mit der Familie von Berchem zu tun. Wir erinnern
uns: Im Jahr 1812 hatte August von Platen mit Graf Kajetan von Berchem dieselbe atypische
Reiseroute gewählt!660 Dass sich von Braunmühl und von Oettingen-Wallerstein letztlich in ihren
politischen Intentionen nicht sehr nahe standen, liegt auf der Hand, selbst wenn der Fürst den
Herrn von Braunmühl erst jüngst in sein Ministerium geholt hatte: Von Braunmühl hatte sich
beim Vorgehen gegen die „Augsburger Zeitung“ bewährt. Er stand fürderhin einer geheimdienstlichen, zunehmend reaktionär-suppressiv tätigen Unterbehörde vor, also genau einer jener
Strukturen, die zu vermeiden der Fürst von Oettingen-Wallerstein einst angetreten war! Augsburg war der vorherige Dienstort von Braunmühls gewesen; er war bis 1836 dort als Regierungsrat tätig. Dazu passt auch, dass von Oettingen-Wallerstein König Ludwig über Sailer offiziell informiert hatte, noch ehe von Braunmühl von seiner zweiten Reise nach Nürnberg zurück war.
Entweder wusste er gar nicht von dessen Absichten (z. B. von einem Trip nach Stepperg), oder er
erwartete sich von ihm keine neuen Aufschlüsse!
Jedenfalls erklärt sich so der anderweitig nicht zu begründende Umweg von Braunmühls auf seiner
Reise von München nach Ansbach und Nürnberg einigermaßen schlüssig!
König Ludwig I. spielte wohlweislich das Intrigenspiel mit, nicht zuletzt deshalb, weil er eine durch
von Oettingen-Wallerstein ausgelöste Wendung im Fall Kaspar Hauser auf jeden Fall verhindern wollte.
Etwaige Enthüllungen wären viel eher auf sein eigenes Haus als auf das Haus Baden zurückgefallen!
Reinhard Heydenreuter, der ehemalige Leiter des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, täuschte sich also
gründlich, wenn er 2003 schrieb:
„Entscheidend war … freilich auch, dass trotz des Optimismus des Innenministers handfeste
660 Platen, Tagebücher, S. 56.
310
Beweise für einen Mord an Hauser im badischen Auftrag nicht gefunden wurden. Oettingen-Wallerstein wurde nicht zuletzt auch wegen dieses Misserfolgs 1837 unter fast entehrenden Umstän den entlassen. Damit waren Ludwigs Versuche, Heidelberg und Mannheim für sein Haus wiederzugewinnen, endgültig gescheitert. Die Instrumentalisierung des Falles Kaspar Hauser war ein
letzter Versuch in dieser Richtung.“661
Das pure Gegenteil war der Fall:
Ludwig von Oettingen-Wallerstein musste gehen, weil er drauf und dran war, den Fall Kaspar Hauser
zu lösen, allerdings nicht im Sinn des bayerischen Königshauses und der neuen ultramontanen Kräfte
in der Regierung!
Nachdem wir den in der Schweiz konfiszierten kompletten Briefschatz des Major von Hennenhofer in zwischen studieren konnten, hegen wir nicht mehr im vorherigen Maß die Überzeugung, dass Major von
Hennenhofer und Ferdinand Sailer wirklich in den Mordfall Kaspar Hauser verwickelt waren. Dies gilt
auch für den Fall, dass sich Sailer zur Mordzeit wirklich in Nordbayern aufhielt. 662
Es ist aber gut möglich, dass die Schreiber des Vormärz, die solches behaupteten, allen voran Johann
Heinrich Garnier und Friedrich Seybold, von der erwähnten Clique in der bayerischen Regierung, die
Maria-Leopoldine nahe stand, gezielt bezahlt wurden, um mit entsprechenden Behauptungen das
Trommelfeuer auf das Haus Baden zu erhöhen und von Bayern und der Kurfürstin-Witwe abzulenken.
Nicht ausgeschlossen ist es, dass sich dabei erneut das Bankhaus von Eichthal mit Rat, Tat und vor allem Geld beteiligte. Jedenfalls ist sicher, dass der Publizist Garnier ein zweites Buch zu Kaspar Hauser
plante, das neben weiteren Personen des Herzogshauses Baden auch die Bankhäuser Rothschild und von
Haber (alsbald von Rothschild abhängig, auch über Oppenheim) aufs Korn nahm. Diese Publikation kam
allerdings nicht zustande, und es steht zu vermuten, dass sich der Wendehals Garnier, der sich zuvor
schon von Hennenhofer für sein Schweigen hatte bezahlen lassen, in London von Nathan Rothschild kurzerhand kaufen ließ.663
In den genannten Schriften zur Vernichtung des Hauses Baden scheint vorübergehend eine unheilige
Allianz der radikal-liberalen Exilgemeinde des Vormärz mit konservativ-ultramontanen Kräften Bayerns
auf, die man angesichts diametraler politische Positionen an sich für unmöglich halten würde, wenn
sie sich nicht durch eine gemeinsame Interessenlage, den Rufmord am Haus Baden, erklärte.
Nach Erkenntnis dieser Zusammenhänge fiel uns auf, dass im Prinzip alle Gerüchte zur ErbprinzenTheorie ausnahmslos in Bayern geschürt wurden. Dies wollen wir zum Ende unserer Betrachtungen
nochmals festhalten:
•
Schon kurz nach Auftauchen Kaspars soll sich in Nürnberg nach G. von Tucher bei Bürgermeister
Binder ein anonymer Zettel eingestellt haben: „Ist nicht Kaspar Hauser ein Sohn der Großherzogin Stephanie?“664
•
Im Münchner „Inland“ Nr. 331 stand bereits am 27. November 1829 mehr oder weniger unverblümt das Gerücht, Stephanie von Beauharnais, die Großherzogin von Baden, sei die Mutter Kaspar Hausers. Denn wie anders sollte man folgenden Satz interpretieren?
„Vielmehr dürfte die Maßregel dem Vorteil einer ganz anderen Linie (gemeint ist die Li-
661 Reinhard Heydenreuter: König Ludwig I. und der Fall Kaspar Hauser, in: Staat und Verwaltung in Bayern, 2003,
S. 476.
662 Wir gehen, wenn überhaupt, in diesem Fall von Rheinbayern, also der heutigen Pfalz aus.
663 Howitt's Journal of Literature and Popular Progress, Bd. 1, 1847, 257ff.
664 Nach Trumpp, S. 30, bezweifelt von Otto Mittelstädt: Kaspar Hauser und sein badisches Prinzentum, Heidelberg
1876, S. 5f.
311
nie einer ansehnlich begüterten Familie, die den einzigen männlichen Sprössling einer
ganz anderen Linie durch geheime Einsperrung von der Erb- und Nachfolge habe verdrängen wollen) gegolten habe …“665
•
Dass sich im Frühjahr 1832 Gerichtspräsident Anselm von Feuerbach gezwungenermaßen in seinem Mémoire an Königin Caroline von Bayern im selbem Sinne äußerte und nunmehr bereits die
ersten Buchstaben der Namen preisgab, haben wir bereits ausführlich kommentiert!
•
Ein weiterer, sozusagen „hauptamtlicher“ Denunziator war Freiherr von Hormayer, bayerischer
Gesandter in Hannover, der am 10. November 1834 von der Leine nach München schrieb:
„Caspar Hauser gilt ebenso den höheren und gebildeten Circeln als dem großen und
gemischten Publikum als der aus dem Weg geräumte und für todt ausgegegebene Sohn
des vorletzten Großherzogs …“
Von Hormayer belastete erstmals den nach Bayern umgesiedelten badischen Minister von Hacke.
Einige hannoveraner Familien fungieren hier als vermeintliche Zwischeninformanten, und dies
allein deshalb, um trefflich von München abzulenken. Das Gerücht sollte sozusagen von außen
nach Bayern hineingetragen werden! Hacke dementierte alles! 666
•
Als (bestellter ?) Denunziant fungierte auch der „Gastwirth“ und „Spielwirth“ Wilhelm Becht aus
dem Einraufshof (heute Einraffshof) bei Bad Brückenau im Untermainkreis, erwähnt bei van der
Linde. Becht erstattete am 10. Januar 1834 gegenüber einem namentlich nicht bekannten
Staatsrat in München eine schriftliche Anzeige.
Der Einraufshof war ein großer Gutshof, der seit
1820 zum Fuldischem Stiftungsgut (sog. Schildeck-Stiftung) gehörte und im 18. Jahrhundert
Steuerfreiheit genossen hatte. Er ging im Jahr
1834 vom Konrad Michael von Wankel
(*16.01.1749 +28.04.1834), erst fürstlich Fuldischer Titularhofkammerrath, dann bayerischer
Hofkammerrath und ab 1819 Abgeordneter im
Bayerischen Landtag, für 20000 Gulden auf
einen gewissen Heinrich Sturz667, Schiffseigner
und Kammerratssohn aus Mannheim, über, zusammen mit einem weiteren Hof,668 der nun zugunsten des Einraufshofes aufgelöst wurde, in
dem nun ein größerer Betrieb inklusive eigener
Brauerei aufgezogen wurde.669 Ob Wilhelm Abb. 164: Der Einraufshof bei Bad Brückenau auf
Becht schon vor 1834 unter Wankel, der sich dem Katasterplan von 1820.
1796 wegen seines heldenhaften Einsatzes für
den französischen General Bernadotte einigen Ruhm erworben hatte, als Pächter des Gasthofes
mit Spiel- und Kasino-Betrieb tätig war, ist uns nicht bekannt. Wahrscheinlich ist es aber nicht,
den er war ja ein Badener wie der neue Besitzer des Einraufshofes. Dem Lokalforscher Gert
Nöhrbass zufolge suchte im Jahr 1837 sogar die verwitwete Großherzogin von Baden, Stephanie
de Beauharnais, diesem Hof auf und hinterließ dort einen Brief unbekannten Inhalts, der im Besitz des Chronisten ist.
Es steht zu vermuten, dass der Einraufshof ab 1834 für Baden eine politische Funktion besaß und
665 Linde 1, S. 164.
666 Linde 2, S. 93.
667 Lesart van der Linde; wohl eher Stutz.
668 Der sog. Klingelhof aus der Grafenrheinfelder Kirchenstiftung.
669 Der erste Braumeister hieß Christoph Kottenhäuser und stammte aus Neuburg bei Herzogenaurach.
312
möglicherweise als Diplomatie- und Spionage-Stützpunkt gegenüber dem unmittelbar benachbarten Bad Brückenau diente. 670 Diesen kleinen Kurort hatte der bayerische König Ludwig I.
zu seiner bevorzugten Sommerfrische erklärt; er suchte ihn zwischen 1818 und 1862 insgesamt
26 Mal auf! In manchem Sommer wurde das Königreich Bayern mehr von Bad Brückenau als von
München aus regiert! Wir stellen uns vor, dass man im Einraufshof u. U. Brückenauer Kurgäste
mit politischer Funktion am bayerischen Hof beim Glücksspiel ausspionierte. Es handelte sich
also nicht um einen x-beliebigen Hof in der Nordostecke Bayerns, von dem aus sich dieser Wilhelm Becht am 10. Januar 1834 mit einer brieflichen Anzeige einem namentlich nicht genannten
Münchner Staatsrat gegenüber meldete, drei Monate bevor der bayerische Vorbesitzer des Einraufshofes starb.671 Dass sich Becht an Wankel persönlich gewandt hatte, ist nicht ausgeschlossen, allerdings trug der geadelte Wankel, der einst einfacher Landwirt und Gerbermeister in
Hammelburg gewesen war, in Bayern nicht den Titel des Staats-, sondern des Hofkammerrates.
Was den bayerischen Hof anbelangt, so erschien Wilhelm Becht nun einigermaßen termingerecht auf dem Plan, um das badische Herzogshaus und Major Hennenhofer erneut zu belasten
und die Sache Bayerns voranzutreiben:
„Hochwohlgeborener, insonders hochzuverehrender Herr Staatsrath! Wenn ich im Vertrauen auf Ihre mir anerkannte Biederkeit die Feder ergreife, so ist es mir von einer Seite
im jetzigen Augenblick nicht ohne Interesse, Sie allverehrter Herr Staatsrath, von so manchem zu behelligen. Die Caspar Hausersche Geschichte könnte vielleicht durch den Weg,
den ich Euer Hochwohlgeboren angeben will und kann, ans Licht befördert werden, nämlich - Es würde von großem Belang sein, wenn man genau ermittelte, ob der unter Carl
Ludwig und Leopold von Baden befindliche Director des Ministeriums des Auswärtigen
und des Großherzoglichen Hauses, Major von Hennenhofer, zur Zeit als der Unglückliche
ermordet wurde, in Malberg war, dann ließe sich sicher der Weg zur ganzen Sache fin den. - Ich selbst würde, wenn man es wünschte, gerne den Weg zur Ermittlung bieten,
und zwar mit Verzichtleistung alles und jedes Interesses. Die Verfolgungen gegen mich
von badischer Seite haben bis auf diese Stunde noch nicht aufgehört … Auch wäre ich
vielleicht im Stande, ich sage vielleicht, eine Abschrift, auch wo möglich Originalien herbeizuschaffen und zwar ein Aktenstück, wie es in den letzten Lebensjahren Carl Friedrichs
mit dessen Unterschrift und Siegel zuging. Nun verehrter Herr Staatsrath hege ich zu Sr.
Maj. dem weisesten König die allerunterthänigste Bitte, es möge Sr. Maj. gefallen, mir
das bayerische Indigenat huldreichtst ertheilen zu lassen. Mit dero … W. Becht.“672
Das war also ein übergelaufener V-Mann aus Baden, der belastendes Material anbot, um auf
Dauer eine Aufenthaltsgenehmigung im Königreich Bayern zu bekommen, und man griff von
bayerischer Seite liebend gern seine Thematik auf. Bechts Material wäre aber wohl nicht
geeignet gewesen, den Fall Kaspar Hauser komplett aufzulösen, denn dazu hätte der bloße
Nachweis der Siegel- und Unterschriftenfälschung durch den Major von Hennenhofer kaum
genügt.
Was aus Wilhelm Becht später wurde, wissen wir nicht genau, außer, das er zuletzt hoch
verschuldet gewesen sein muss. Becht wurde schließlich von mehreren badischen Gläubigern
der Zwangsvollstreckung unterzogen. Anfang 1841 muss Wilhelm Becht noch am Leben gewesen
sein, Ende 1841 lebten er und seine Gattin Katharina nicht mehr. Es gibt deshalb Grund zur
Annahme, dass beide den Freitod gesucht haben. Das Becht'sche Anwesen in Römershag bei Bad
Brückenau, zu dem neben einer Gastwirtschaft auch eine Bierbrauerei und Schnapsbrennerei
gehörte, wurde hierauf versteigert, möglicherweise zugunsten erbberechtigter Kinder, die Becht
670 Nicht umsonst wurde Becht ja auch von Baden aus verfolgt, wie er selbst angab.
671 Am 15. Januar 1834 traf wohl in Folge dieser Anzeige eine entsprechende anonyme Meldung auch am Gericht
in Ansbach ein, mit Poststempel Würzburg, in der der vormals badische Minister von Hacke in Bamberg und der
badische Gesandte Tettenborn in Wien als Mitwisser bezeichnet wurden. Vgl. Mittelstädt, S. 7.
672 Linde 2, S. 95f.
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in Baden zurückgelassen hatte.673
Vermutlich besteht Personenidentität mit einem Weinhändler Wilhelm Becht aus Karlsruhe, über
den sich im Generallandesarchiv Karlsruhe eine Urkunde erhalten hat. 674 Dieser Becht wurde
1831 aktenkundig, weil bei der Badischen Ständekammer „um Schutz gegen Verfolgungen“ (!)
eingegeben hatte.675 Die Angelegenheit wurde am 21. Oktober 1831 verhandelt. Leider wissen
wir nicht, worum es damals konkret ging.
Der Würzburger Regierungspräsident August von Rechberg hatte 1834 im Auftrag des bayerischen Innenministeriums die Ermittlungen geführt und wohl auch Becht verhört, als er soeben
die Gastwirtschaft in Römershag gekauft und den Einraufshof verlassen hatte. Von Rechberg
stellte Becht in seinem Bericht vom 8. Februar 1834 mit dem Vorwurf der Wichtigtuerei ein
denkbar schlechtes Zeugnis aus.676
Schon einige Tage zuvor war von Rechberg, vermutlich aus derselben Ecke, die in seinem Regie rungsbezirk Unterfranken lag, nach ersten Informationen ermittelnd tätig geworden und hatte
u. a. versucht, über den relativ unverfänglichen Umweg des königlich bayerischen Universitätsamtes und des Stadtkommissariats Würzburg, verdeckt Informationen und Akten aus Mannheim zu besorgen, die vornehmlich Hennenhofers Schützling Ferdinand Sailer betrafen. 677
Greifbare Ergebnisse zeitigten all diese Ermittlungen nicht, ab es kann dabei u. E. durchaus eine
heiße Spur übersehen worden sein, nicht zuletzt deshalb, weil der Neubesitzer des Einraufshofes, Heinrich Sturz, ein Badener wie sein Angestellter Becht war, und über seinen Vater, den
besagten Kammerrat, über brauchbare Verbindungen hinein in die fürstliche Hofkammer verfügt
haben könnte. Für uns ist Becht aber auch deshalb interessant, weil er erstmalig von einem Erb prinzen Alexander gesprochen hatte. Das war nun nicht der angeblich beseitigte Erbprinz von
1812, wahrscheinlich auch nicht der nachgeborene Sohn der Stephanie von Beauharnais von
1816, der den Namen Alexander bekam, sondern möglicherweise jener bislang unerkannte Sohn
der Fürstin, der schon 1809 gezeugt worden sein kann, und den wir bereits eingangs entsprechend der Trumpp'schen Hypothese als Napoleoniden in den Raum gestellt haben. Alexander
war ein Name der Familie Beauharnais; so hieß z. B. der erste Mann der Josephine de Beauharnais, die möglicherweise Anteil an der heimlichen Entbindung Stephanies in dieser Zeit hatte.
Gesetzt den Fall, Wilhelm Becht hätte seinerzeit recht gehabt, d. h. dieser erste Sohn hätte wirklich existiert, so wäre er seinen Aussagen zufolge in Heidelberg verstorben.
Einmal mehr müssen wir die Validität einer Zeugenaussage offen lassen, sehen aber im Falle Bechts
auch keine eindeutigen Ausschlussgründe. Wie dem auch sei, spätestens von diesem Jahr 1834 an war
die Erbprinz-von Baden-Hypothese offizielle Hof-Doktrin im Königreich Bayern geworden.
Im Jahr 1837 wurde August von Rechberg im Rahmen der Neuausrichtung der Bayerischen Innenpolitik Präsident des Oberappellationsgerichtes München. Er beerbte damit den Nachfolger Karls von
Arco. Im Jahr 1840 sekundierte er Karl von Abel bei seinem Duell mit Fürst Ludwig von Oettingen-Waller stein, er muss deshalb zu dessen Freundeskreis gezählt werden. Vermutlich gehörte August von Rech berg damit jenem Kreis der ultramontanen Kräfte in Bayern an, die das Baden-Gerücht liebend gerne
weiterverbreiteten. Vielleicht war er auch jener „Graf Rechberg“, dem man nach August von Platen in
jungen Jahren ein Verhältnis mit Maria-Leopoldine von Bayern nachgesagt hatte.
673 Vgl. Neue Würzburger Zeitung Nr. 317 vom 15. November 1841 und den Allgemeinen Anzeiger für das König reich Bayern Nr. 5 vom 16. Januar 1841 und Nr. 93 vom 20. November 1841.
674 Im Jahr 1822 Konzession für den Verkauf von fremden Weinen in Flaschen, GLA Karlsruhe, 206 Nr. 2049.
675 Vgl. Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden im Jahre 1831 …, Heft 27, Karlsruhe
1831, S. 81.
676 Vgl. Linde 2, S. 98f.
677 Kemming, Ferdinand Sailer, S. 84f.
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Diese neuen, ultrakonservativen Kräfte in der politischen Szene Bayerns, von Gise, von Abel, von
Rechberg, soufflierten dem König, was er zu tun hatte, sie brachten aber im Gegensatz zum Fürsten
von Oettingen-Wallerstein, je mehr sie gegen das Haus Baden intrigierten, Maria-Leopoldine und ihre
Familie aus der Schusslinie, am Ende so sehr, dass selbst ein letzter Vorstoß der Gräfin Caroline von
Albersdorf in dieser Richtung ins Leere lief. Damit war für die Kurfürstin-Witwe und das Haus Arco
sowie das Königshaus ein für alle mal die Gefahr gebannt.
Fassen wir diesen Abschnitt zusammen:
•
Es haben sich die Hinweise darauf verdichtet, dass in Wirklichkeit die Ermordung Kaspar Hausers
wie zuvor die Entführung von Bayern aus bewerkstelligt und hinterher dem Haus Baden nur in
die Schuhe geschoben wurde, um daraus politischen Gewinn zu schlagen und gleichzeitig MariaLeopoldine aus der Schusslinie zu bringen. Dies bestätigt voll unsere früheren Beobachtungen
zum ambivalenten Verhalten König Ludwigs I., der erst für und dann vehement gegen eine Aufklärung der Mordtat war.
•
Im Fall des Innenministers von Oettingen-Wallerstein musste der König besonders schnell und ef fektiv die Notbremse ziehen, denn dieser stand für eine gewissenhafte und vollständige Aufklärung. Ein nachhaltiger Stopp seiner Recherche gelang letztendlich nur dadurch, dass man seinen
Kopf, den namhaftesten im bayerischen Ministerrat, rollen ließ.
•
Der Mörder Kaspar Hausers und sein Helfer Friedrich Baptist wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit von Bayern aus angeworben. Wer den konkret Mordauftrag gab, bleibt nach wie vor unklar,
es steht aber nun auch die genannte Kamarilla um Karl von Abel unter Verdacht und ein entsprechender geheimdienstlicher Auftrag von bayerischer Seite aus im Raum.
•
Dass ein badischer Major Hennenhofer oder ein Ferdinand Sailer direkt in den Mordfall Hauser
verwickelt war, ist unter Berücksichtigung ihres Briefwechsels und anderer Quellen nicht sehr
wahrscheinlich. Der zufällig in Zürich gefundene Brief mit den Angaben zu Kaspar Hauser kann
auch fingiert gewesen sein. Schwer zu beurteilen sind in diesem Zusammenhang auch die Aussagen eines Wilhelm Becht aus dem Einraufshof bei Bad Brückenau.
•
Eine konkrete Chance, mit dem Fall Kaspar Hauser seiner Ansprüche auf die vormals bayerischen
Gebiete am Rhein geltend zu machen, erhielt der bayerische Hof dennoch nicht! Hier waren ganz
andere Einflussfaktoren, z. B. das Veto Russlands und die Ereignisse der bürgerlichen Revolution
von 1848 maßgeblich, die eine Verfolgung der Ansprüche nicht mehr zuließen.
•
Doch auch danach ließ man von Bayern aus die Erbprinz-von-Baden-Geschichte nicht einschlafen. Der liberale bayerische Abgeordnete Georg Friedrich Kolb propagierte sie erneut in einem
Buch von 1859, wobei er die inzwischen verstorbene Kurfürstin Maria-Leopoldine ohne Namensnennung und nur in einem Nebensatz streifte. Soweit war sie also bereits in Vergessenheit geraten.
•
Dagegen hatte sich die Annahme, Kaspar Hauser sei der wahre Erbprinz von Baden, so in den
Köpfen verfestigt, dass sie zu gelebten Realität wurde, nicht nur in Bayern und Baden, sondern in
ganz Europa. Dies gilt im Grunde genommen bis zum heutigen Tag! Auch die Maßnahmen der
Rothschilds und Klübers haben da nichts gerade biegen oder aufhalten können! Da Kolb auch
dem Fürsten von Oettingen-Wallerstein nahe stand und mit diesem in derselben Koalition tätig
war, scheint auch der an sich Kaspar-treue Fürst am Ende den Glauben an Kaspar Hauser verlo ren zu haben.
•
Mit der Stephanie-de-Beauharnais-Napoleoniden-Theorie beschäftigte sich damals niemand
mehr. Sie wäre u. U. die heißere Spur nach Baden gewesen!
Summa summarum war eine Chance mehr in der Aufklärung des Verbrechens an Kaspar Hauser ver tan!
315
In dubio pro reo
Nach all diesen Informationen stellt sich der Fall Kaspar Hauser als ein vielgliedriges, von vielen direkten und indirekten Einflussfaktoren abhängiges Phänomen dar, als ein Geschehen, das am Ende viel komplexer ist, als man es anfangs vermuten konnte. Sehr viele Spuren verlaufen in Richtung der Kurfürs tinWitwe Maria-Leopoldine:
Der Generalverdacht, der vom „M. L. Ö.“ des Spiegelschriftzettels seinen Ausgang genommen hatte, ist
also gegen Ende unserer Recherche ist nicht aufgehoben, ganz im Gegenteil. Eine Fülle von Indizien für
eine Beteiligung am Fall Kaspar Hauser lastet auf Maria-Leopoldine und ihrer Familie. Wir sollten in die sem Zusammenhang nochmals daran erinnern, dass schon Leopoldines erstes Kind das Schicksal eines
Kaspar Hausers erlitten hatte.
Zu Ihren Lebzeiten wurden alle Ermittlungen, die zum Nachweis ihrer Verbrechensbeteiligung im Fall
Kaspar Hauser geführt hätten, auf höchsten politischen Befehl hin niedergeschlagen. Daran änderte sich
auch nicht, als Maria-Leopoldine nach ihrem Tod zur rein historischen Figur geworden war. Bis zum Ende
der Wittelsbacher-Herrschaft in Bayern, ja bis in die heutigen Tage, ging und geht es von gewisser Seite
ausschließlich darum, allen Verdachtsmomenten aus dem Weg zu gehen, und alles, was zur Aufklärung
führen könnte, zu vertuschen. Deshalb ist Maria-Leopoldine – gerade im Falle etwaiger Unschuld! – nicht
korrekt exkulpiert, und der Verdacht der kriminellen Täter- oder zumindest Mittäterschaft bei der Ermor dung Kaspar Hausers haftet ihr weiterhin fest an.
Ganz unverständlich, ja geradezu suspekt ist in diesem Zusammenhang, dass die jüngste Biographin
der Kurfürstin, Sylvia Krauss-Meyl, die sich ihr bietende Chance einer Rehabilitation nicht nutzt, obwohl
sie doch im Wittelsbacher-Archiv an der wohl reichhaltigsten Quelle saß. Im Gegenteil: Indem sich Frau
Krauss-Meyl trotz gravierender Verdachtsmomente und des unmöglichen Verhaltens der Ermittlungsorg ane nur zu einem kurzen Dementi in einem einzigen Nebensatz verlort, 678 ohne den über Jahre laufenden
Fall aus ihrer Sicht neu aufzurollen oder gar Beweismittel zur Entlastung der Kurfürstin vorzulegen, be lässt sie diese genau in dem Dilemma, in das sie vor fast 200 Jahren geriet. Als Leser der Biographie fragt
man sich unwillkürlich, ob hier nicht zum zweiten Mal ein Verdikt des Hauses Wittelsbach im Hintergrund
gegriffen hat. Bei unabhängiger Historiographie ginge es jedenfalls u. E. nicht an, über die wohl schwierigsten Jahre der Kurfürstin einfach hinwegzusehen!
Interessanterweise soll Prof. Reinhard Heydenreuter, der frühere Leiter des bayerischen Hauptstaatsarchivs und ehemalige Vorgesetzte Sylvia Krauss-Meyls, den Angaben Rudolf Biedermanns zufolge eine
Zeit lang in öffentlichen Vorträgen vehement die These vertreten haben, Maria-Leopoldine sei in der Tat
die Mutter Kaspar Hausers gewesen. Heydenreuter sollte es an sich besonders gut gewusst haben! Heu te, nachdem er das Hauptstaatsarchiv verlassen hat und als Honorarprofessor arbeitet, hört man nichts
mehr davon, ganz im Gegenteil: Alle uns bekannten, diesbezüglichen Veröffentlichungen Heydenreuters
schweigen sich über diese essentielle Frage aus! 679 Ob auch hier das Haus Wittelsbach „moderierend“
eingegriffen hat? Die Frage ist wohl statthaft! Heydenreuter hat eine dazugehörige Anfrage unsererseits
nicht beantwortet.
Wie leicht ist es dagegen, alles als unhaltbare Kolportage und billigen Klatsch abzutun, gerade so, wie
es im 19. und 20. Jahrhundert oft der Fall war! Was die Gerüchteküche zu Schwerverbrechen im Allge meinen betrifft, urteilte Anselm von Feuerbach, dieser erfahrene Jurist und Kriminalist, seinerzeit folgendermaßen:
„Gerüchte sind freilich Gerüchte, sind aber darum nicht zu verachten; sie fließen oft aus sehr
echten Quellen; sie haben, wo es geheimer Verbrechen gilt, häufig darin ihre Entstehung, dass
der eine oder andere Mitwissende geplaudert hat, mit seinem Vertrauen zu freigebig gewesen ist
678 Krauss-Meyl, S. 83.
679 Biedermann, S. 223f. Zum Vergleich: Reinhard Heydenreuter: Kriminalgeschichte Bayerns, Regensburg 2008, S.
273ff.
316
oder sonst eine verräterische Unvorsichtigkeit begangen hat, oder weil ein Mitschuldiger, um sein
Gewissen zu erleichtern oder um sich wegen getäuschter Hoffnungen zu rächen und dergleichen
im Stillen die Entdeckung der Wahrheit herbeizuführen sucht, ohne an sich selbst zum Verräter
werden zu müssen usw. Aus diesen Gründen zählen die Rechtsgelehrten auch Gerüchte (die famam publicam) zu den Anzeigungen (Indizien) von Verbrechen und deren Urhebern und Teilnehmern …“680
Aber auch ein Anselm von Feuerbach musste in seinem
Mémoire an Königin Caroline in Bezug auf die Erbprinz-vonBaden-Theorie zugeben, nur von moralischer Gewissheit,
nicht von juristisch hieb- und stichfesten Beweisen sprechen
zu können.
Nicht anders ergeht es uns gegen Ende dieser Recherche.
So dicht das Netz an Indizien und Hinweisen aus dem 19.
Jahrhundert auch ist, es gelang bei der raffinierten Hinhaltetaktik des Königshauses und der massiven Blockade der Ermittlungsorgane weder einer Caroline von Albersdorf noch
einem Johann Samuel Müller, einem Ludwig von OettingenWallerstein oder sonst irgend jemandem, einen bestimmten
Auftragsmörder Kaspar Hausers dingfest zu machen bzw. die
Kurfürstin Maria-Leopoldine konkret des Ehebruchs und der
Zeugung eines außerehelichen Kindes zu überführen. Uns
ergeht es nicht anders.
Maria-Leopoldine kann deshalb im juristischen Sinn nicht
Abb. 165: Maria-Leopoldine als reife Frau.
als des Verbrechens überführt bezeichnet werden. Die konGemälde von Schloss Moos.
kreten Beweismittel, so sie überhaupt in schriftlicher Form
existierten, wurden alle vernichtet, etwaige Mitwisser hielten dicht, und ein Mörder oder Mordgeselle
stellte sich nicht! Damit gilt weiterhin:
„In dubio pro reo, im Zweifelsfall für den Angeklagten!“
Dies wollen wir am Ende unverblümt einzuräumen; es tut dem Wert unserer Recherche keinen Abbruch!
680 Pies, Fälschungen, S. 345.
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Die Verbrechen an Kaspar Hauser – eine summarische Darstellung
Die folgende Aufstellung integriert alle Informationen und Rückschlüsse, die wir in den vorangegange nen Kapiteln erarbeitet haben. Sie trägt den Charakter einer Arbeitshypothese und dient ausschließlich
dazu, den künftigen Forschungsrahmen abzustecken. Unumstößliche Wahrheiten werden hier nicht verkündet. Es ist gut möglich, dass zusätzliche Informationen zu Kaspar Hauser in der Zukunft erforderlich
machen, das Schema zu variieren oder zu korrigieren.
Zur nomenklatorischen Abstufung des Wahrscheinlichkeitsgrades sprechen wir im Folgenden von einer „sehr hohen, hohen, geringen, sehr geringen, gegen Null gehenden Wahrscheinlichkeit“. Daneben finden folgende Adjektive mit demselben Ziel Verwendung: „ausgeschlossen, unwahrscheinlich, wenig oder
gering wahrscheinlich, möglich, gut möglich, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, nahezu sicher, sicher“.
Wir bitten den Leser/die Leserin, diese Abstufung zu beachten.
•
Kaspar Hauser wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit im bayerischen Kriegsjahr 1809 während des
sogenannten 5. Koalitionskriegs (Frankreich und Bayern gegen Österreich und England) gezeugt
und anschließend zeitgerecht entbunden. Eine Geburt im Jahr 1810 ist möglich, eine spätere
sehr unwahrscheinlich.
•
Seine Mutter war wahrscheinlich die Kurfürstin-Witwe Maria-Leopoldine von Österreich-Este.
Demnach zeugte sie den Jungen zwischen den beiden legitimen Kindschaften aus der Ehe mit
Graf Ludwig von Arco unbeabsichtigt anlässlich einer ihrer zahlreichen Liebschaften im
Frühjahr/Sommer 1809, am ehesten mit einem französischen Offizier in hohem Rang. Die Ent bindung sollte zwischen Herbst 1809 und Frühjahr 1810 in Franken stattgefunden haben. Eine
offizielle Anerkennung des Kindes wäre nicht möglich gewesen, da damit die Ehe der MariaLeopoldine zerstört, sie selbst, die Familie Arco und der bayerische Hof in unerträglicher Weise
kompromittiert worden wären.
•
Es ist sic