Eltern haften für ihre erwachsenen Kinder

Spurensuche
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Besonders Ärzte hingen der Naziideologie von der Verbesserungsfähigkeit des »deutschen Volks« durch
»Rassenhygiene« an und setzten
sie in die Tat um. Bis 1945 wurde
»unwertes Leben« systematisch
vernichtet. Von Ulrike Henning
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Giftverbindung
Warnstreik
Parteirebellen
Geschäftsbericht
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Pharmastiftung lässt an Mainzer Uni
forschen – aber nicht selbstlos.
Von Ralf Wurzbacher
Berlin: Beschäftigte der Servicegesellschaft Charité Facility Management kämpfen um Tarifvertrag
ANC-Anhänger protestieren vor eigenem Hauptquartier gegen ihren
Präsidenten. Von Christian Selz
Ukraine: Seit Kriegsbeginn wächst der
Reichtum des Präsidenten.
Von Reinhard Lauterbach
Tür zu für CETA
Syrische Opposition legt
Friedensplan vor
London. Die syrische Opposition hat
anlässlich von Friedensgesprächen
in London ihre Pläne für eine Übergangsphase zur Demokratie ohne
Präsident Baschar Al-Assad präsentiert. Das Hohe Verhandlungskomitee (HNC) schlug am Mittwoch
eine sechsmonatige Phase der
Verhandlungen zwischen Vertretern
von Regierung und Opposition vor.
Anschließend solle es 18 Monate
lang eine Einheitsregierung geben,
gebildet aus Mitgliedern der Regierung, Oppositionellen und Vertretern der Zivilgesellschaft, aber ohne
Assad, hieß es. In London stand
am Mittwoch ein Treffen von Außenminister Boris Johnson mit den
syrischen Oppositionsvertretern an.
Sein US-Kollege John Kerry sollte
per Video zugeschaltet werden.
Erwartet wurden auch die Minister
unter anderem aus der Türkei,
Jordanien, Frankreich und Italien
sowie Vertreter aus Deutschland
und der EU.
(AFP/jW)
Ver.di-Chef Frank Bsirske fordert, Handelsabkommen mit Kanada abzulehnen.
Wirtschaftsbosse für SPD-Reformpapier. Von Simon Zeise
FABRIZIO BENSCH / REUTERS
N
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) will die Handelsverträge endlich unterzeichnen
stimmung der SPD zum Abkommen.
Für ihn seien Änderungen jedoch »Voraussetzung«, betonte Bsirske. Auf die
Frage, ob Deutschland das Abkommen
auf EU-Ebene ablehnen solle, sagte er:
»Wenn sich nichts ändert, ja.«
Der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI) begrüßte den Beschluss
des SPD-Vorstandes hingegen. CETA
sei eines der modernsten »Freihandelsabkommen«, das die EU je verhandelt
habe, sagte die BDI-Leiterin für Außenwirtschaftspolitik, Stormy-Annika
Mildner, am Mittwoch in Berlin. Die
Möglichkeit von Nachverhandlungen
beurteilte sie skeptisch. Dies dürfte so
kurz vor der geplanten Unterzeichnung
des Abkommens beim EU-KanadaGipfel im Oktober schwierig werden.
Die Bundesregierung rief sie auf, für
den Vertrag zu werben.
Eine große Beteiligung an den Demonstrationen am 17. September wird
auch deshalb wichtig sein, um den
DGB auf Kurs zu halten. Der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis, hatte bereits seine Zustimmung zu
CETA damit begründet, dass Deutschland Exportweltmeister sei. DGB-Chef
Reiner Hoffmann hatte am Dienstag
gegenüber der Frankfurter Rundschau
erklärt: »Das SPD-Papier enthält wesentliche Forderungen der Gewerkschaften, die einen ersten Schritt hin zu
dem von uns geforderten fairen Handel
bedeuten. Insofern begrüßen wir den
Beschluss der SPD, diese Forderungen
anzuerkennen.« Dies heiße allerdings
nicht, dass die Gewerkschaften CETA
in der jetzigen Form zustimmen. Im
Bündnis »TTIP und CETA stoppen«
gebe es »durchaus Nuancen«. Hoffmann hatte als Gast an der SPD-Gremiensitzung im Willy-Brandt-Haus teilgenommen, auf der das Papier verabschiedet wurde. Noch in dieser Woche
wolle Hoffmann nach Kanada fliegen,
um sich mit seinem Kollegen Hassan
Yussuff vom Canadian Labour Congress über CETA auszutauschen, berichtete der Tagesspiegel am Mittwoch
unter Berufung auf Gewerkschaftskreise. Dem Vernehmen nach finde
die Reise in Abstimmung mit Sigmar
Gabriel statt.
ttip-demo.de
Siehe auch Seite 2
Eltern haften für ihre erwachsenen Kinder
Urteil: Hartz-IV-Bezieher und sein Vater in einem Haushalt sind eine »Bedarfsgemeinschaft«
L
eben erwachsene Hartz-IVBezieher bis zum Alter von 25
Jahren in einem Haushalt mit
ihren Eltern, werden sie als sogenannte Bedarfsgemeinschaft vom Jobcenter
definiert. Die Kinder müssen sich das
Einkommen ihrer Eltern mindernd auf
die Höhe ihrer staatlichen Leistungen
anrechnen lassen. Dies entschied das
Bundesverfassungsgericht in einem am
Mittwoch veröffentlichten Beschluss.
Damit wurde die Klage eines HartzIV-Beziehers zurückgewiesen, der mit
seinem verrenteten Vater gemeinsam in
einem Haushalt lebt. Der 21jährige be-
Weltweit 28 Millionen
Kinder auf der Flucht
kam weniger Hartz IV, weil das Amt die
Erwerbsunfähigkeitsrente seines Vaters
zum Teil mitberücksichtigte – obwohl
dieser ihm gegenüber gar nicht unterhaltspflichtig ist.
Obwohl vor Gericht vor allem Gesetze gelten sollen, ging es aus Sicht
der Karlsruher Richter aber nicht um
rechtliche Ansprüche, sondern um »die
faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse«. Damit bestätigten sie eine Änderung des Zweiten Sozialgesetzbuchs,
das unter anderem regelt, wer zu einer
»Bedarfsgemeinschaft« gehört. Kinder zählten ursprünglich nur bis zum
18. Geburtstag dazu. 2006 wurde diese
Grenze aber auf 25 Jahre angehoben.
Die Bundesregierung gab an, damit keine falschen Anreize für den Auszug zu
setzen.
Karlsruhe bestätigte damit, dass
Menschen, die zusammenleben, sich
auch gegenseitig unterstützen müssen,
um den gemeinsamen Lebensunterhalt
zu sichern. Die Minderung der Regelleistungen auf dann 80 Prozent begründet
das Sozialgesetzbuch mit Einsparungen
der Betroffenen etwa bei Kosten für
Unterkunft und Heizung. In dem Fall
habe der Vater, der im Monat rund 615
Euro Rente bekam, über »hinreichende
Mittel« verfügt, »um zur Existenzsicherung seines Sohnes beizutragen«.
Zudem könne der Gesetzgeber davon
ausgehen, dass Eltern, die mit ihren
erwachsenen Kindern zusammenleben,
»regelmäßig den überwiegenden Teil
der Kosten tragen und auf Abrechnungen verzichten«. Dafür wurde allerdings kein Beleg angeführt. Verwehren
Eltern ihren Kindern diese finanzielle Unterstützung, müsse es aber ohne
Nachteile bei den Hartz-IV-Leistungen
möglich sein auszuziehen.
(AFP/dpa/jW)
MARKO DJURICA / REUTERS
ur noch wenige Tage bis zur
Entscheidung. Der 17. September läutet die Proteste gegen
das geplante Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada (CETA) sowie den USA (TTIP)
ein. Hunderttausende werden in elf
Großstädten in Deutschland und Österreich erwartet. Zwei Tage später beraten etwa 200 Funktionäre der SPD auf
einem kleinen Parteitag in Wolfsburg
über ihre Haltung zu den Wirtschaftsverträgen. Am 22. und 23. September
wollen die EU-Handelsminister in Bratislava CETA endgültig beschließen.
Nach dem Willen von EU-Kommission und Bundesregierung soll CETA
bereits im Oktober vorläufig in Kraft
treten.
Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske
bekräftigte am Mittwoch in Brüssel die
Ablehnung der Gewerkschaften. Der
DGB habe »eine klare Beschlusslage,
die einstimmig zustande gekommen
ist und nach wie vor Gültigkeit hat«,
sagte Bsirske gegenüber dpa. »Wir sind
für Nachverhandlungen, halten das
Abkommen in der jetzt vorliegenden
Textfassung für nicht zustimmungsfähig.« Auf Werben von Parteichef und
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel
hatte die SPD-Spitze zu Wochenbeginn
eine Kompromisslinie formuliert: Der
Weg zur parlamentarischen Beratung
des Vertrags soll freigemacht, Klarstellungen und Verbesserungen sollen
dann im parlamentarischen Verfahren erreicht werden. Dieser Vorschlag
wird dem SPD-Parteikonvent am 19.
September vorgelegt. Bsirske ließ erkennen, dass ihm das nicht ausreicht.
»Das am meisten vorkommende Wort
ist prüfen«, sagte er zu dem Vorschlag.
Dabei heiße es, die Klärung offener
Punkte sei »Grundlage« für die Zu-
Frankfurt am Main. Einem Bericht
des UN-Kinderhilfswerks UNICEF
zufolge sind weltweit rund 28 Millionen Kinder auf der Flucht vor
Krieg und Gewalt. Wie die Organisation am Mittwoch in Frankfurt
am Main mitteilte, sind Kinder
besonders oft von gewalttätigen
Konflikten betroffen: »Unter 18jährige stellen nur rund ein Drittel der
Weltbevölkerung, aber die Hälfte
der Flüchtlinge.«
Rund 45 Prozent aller Flüchtlingskinder kamen 2015 laut
UNICEF aus Syrien und Afghanistan. Immer mehr verlassen dem
Bericht zufolge ihre Heimat allein,
ohne den Schutz der Eltern. Rund
20 Millionen Kinder haben aus
unterschiedlichen Gründen ihr Heimatland verlassen, beispielsweise
um extremer Armut zu entkommen.
(Reuters/jW)
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