Staatsrecht II – Klausurbesprechung (Sommersemester 2016) Prof. Dr. Christoph Enders Statistik Anzahl Klausuren insgesamt: 385 Ø 5,72 Durchfallquote: 28,83 Bewertung/Punkte Anzahl 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 3 7 62 39 47 41 32 42 35 22 26 10 12 2 3 2 - Klausurbesprechung Anzahl Prozent ungenügend 3 0,78 mangelhaft 108 28,05 ausreichend 120 3,12 befriedigend 99 25,71 vollbefriedigend 48 12,47 gut 7 1,82 sehr gut 0 0 Hinweise, betreffend mögliche Remonstrationen Klausurbesprechung Sachverhalt Seit geraumer Zeit ist durch wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen, dass infolge der Bestrahlung der Haut mit nichtionisierenden Strahlen – wie etwa in Sonnenstudios – das Hautkrebsrisiko für die betroffenen Personen deutlich steigt. Um die Bevölkerung vor dieser Gefahr zu schützen, erlässt der Bundesgesetzgeber ein formell verfassungsgemäßes „Gesetz zum Schutz vor nichtionisierenden Strahlen“ (NiSG). Das Gesetz regelt den Umgang mit Anlagen zur Erzeugung nichtionisierender Strahlen in der Medizin sowie im kosmetischen Bereich, wobei insbesondere Grenzwerte zulässiger Strahlung festgesetzt werden. Da das Risiko, im Erwachsenenalter an Hautkrebs zu erkranken, nach weithin geteilter Auffassung in der Wissenschaft steigt, wenn die sich noch entwickelnde Haut Jugendlicher ultravioletter Strahlung ausgesetzt wird, bestimmt § 4 des Gesetzes („Nutzungsverbot für Minderjährige“): „Die Betreiber von Sonnenstudios und ähnlichen Anlagen zur künstlichen Bestrahlung der Haut dürfen Minderjährigen die Benutzung nicht gestatten.“ Betreiber, die gegen diese Norm verstoßen, handeln gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 4 NiSG ordnungswidrig und können mit einem Bußgeld belegt werden. Die 16-jährige K nutzt regelmäßig – mit Einverständnis ihrer Eltern – Solarien und beabsichtigt, dies auch weiterhin zu tun. Sie erhebt daher form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim BVerfG und trägt vor, dass § 4 NiSG ihre Grundrechte verletze. Es sei allein ihre Sache, welchen – ohnehin ungeklärten Gesundheitsrisiken – sie sich aussetze, zumal sie sich nunmehr eben im Garten sonnen oder ihre Eltern zum Kauf einer Sonnenbank überreden werde. Der Staat werde mit seiner besserwisserischen Haltung bei ihr keinen Erfolg haben. Aufgabe: Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde. Dabei ist auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen (ggf. hilfsgutachtlich) einzugehen. Klausurbesprechung Lösungsskizze A. Zulässigkeit Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, wenn alle Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind. I. Zuständigkeit des BVerfG (+) II. Beschwerde-/Parteifähigkeit - K als natürliche Person III. Prozessfähigkeit - Problem: Grundrechtsmündigkeit der K IV. Beschwerdegegenstand - § 4 NiSG als Legislativakt Klausurbesprechung Lösungsskizze V. Beschwerdebefugnis 1. Behauptung einer Grundrechtsverletzung - Dispositionsbefugnis über persönliche Angelegenheiten Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG) gewährleistet wird. (allgemeine 2. Beschwer - Selbst Problem: Verbot des § 4 NiSG richtet sich unmittelbar nur an Betreiber - Gegenwärtig Gesetz bereits in Kraft - Unmittelbar kein weiterer Vollzugsakt notwendig VI. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität - kein Rechtsweg eröffnet, da formelles Gesetz (vgl. § 93 Abs. 3 BVerfGG) - Problem: Provokation Bußgeldbescheid?; Klage auf Zugang zu Sonnenstudio und Vorgehen gegen letztinstanzliches Urteil erforderlich? VII. Form und Frist (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Klausurbesprechung Lösungsskizze B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die gesetzliche Regelung in § 4 NiSG die K in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Das ist der Fall, wenn das Gesetz ohne ausreichende Rechtfertigung in Grundrechte der K eingreift, der Eingriff durch Gesetz sich also nicht im Rahmen der einschlägigen Schrankenregelung hält. In Betracht kommt hier eine Verletzung des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. I. Verletzung des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich - persönlich: Jedermannsgrundrecht - sachlich: „Recht, nach Belieben tun und lassen zu dürfen, was nicht die Grenzen der verfassungsrechtlich vorgesehenen Schrankenregelung überschreitet.“ auch selbstgefährdende Tätigkeiten erfasst 2. Eingriff Adressaten des gesetzlichen Verbots – Eingriff in Grundrecht der K? klassischer/moderner Begriff des Grundrechtseingriffs Klausurbesprechung Lösungsskizze 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a) Schrankenregelung (Einschränkbarkeit) - Schrankentrias „verfassungsmäßige Ordnung“ als einfacher Gesetzesvorbehalt b) Verfassungsmäßigkeit des Schrankengesetzes (Schranken-Schranken) aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit - laut SV gegeben! bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit aaa) Allgemeine verfassungsrechtliche Anforderungen - Bestimmtheitsgebot - kein Einzelfallgesetz - Zitiergebot gilt nach allgemeiner Auffassung nicht für das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) Klausurbesprechung Lösungsskizze bbb) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs (1) Legitimer Zweck - Gesundheitsschutz Problem: Schutz vor sich selbst? (2) Geeignetheit des Eingriffsmittels - Problem: Wirkung nichtionisierender Strahlen in der Wissenschaft nicht unumstritten - Problem: potentielle Ausweichmöglichkeiten der K (eigene Sonnenbank, natürliches Sonnenlicht im Garten) (3) Erforderlichkeit des Eingriffsmittels - Warnhinweise oder Beschränkung der Anzahl der Besuche? (4) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit, Zumutbarkeit) „Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in ein Grundrecht und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt sein“ (BVerfG NJW 2012, 1062, 1064 Rn. 32) - Gesundheitsschutz wichtiges Gemeinwohlanliegen, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG - Kinder- und Jugendschutz, vgl. auch Art. 5 Abs. 2 GG - Schutz der Versichertengemeinschaft (5) Ergebnis § 4 NiSG ist verhältnismäßig. Klausurbesprechung Lösungsskizze ccc) Ergebnis Das Gesetz ist verhältnismäßig. cc) Ergebnis Das Gesetz ist materiell verfassungsmäßig. c) Ergebnis Das Gesetz ist verfassungsmäßig. 4. Ergebnis Der Eingriff ist gerechtfertigt. II. Ergebnis Eine Verletzung in dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG liegt nicht vor. C. Zusammenfassung Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Klausurbesprechung
© Copyright 2025 ExpyDoc