PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Pastoralreferentin Martina Patenge, Mainz
Kath. Morgenfeier in hr2-kultur am 28.8.2016
(Musikauswahl: Diözesankirchenmusikdirektor Thomas Drescher, Mainz)
„Von der Größe Gottes und der Menschen“
Beim Aufräumen habe ich plötzlich mein Poesiealbum in der Hand. Außen ist es
geschmackvoll und modern. Aber innendrin unglaublich verstaubt. Glitzerbildchen,
Liebesschwüre längst vergessener Schulkameradinnen und jede Menge
fragwürdiger Sprüche über Demut, Bescheidenheit und Reinheit. Wir 10jährigen
Mädchen haben uns solche Sachen geschrieben wie: Sei nicht wie die stolze Rose,
die immer die schönste will sein. Sei wie das Veilchen im Moose, einfach,
bescheiden und rein. Diesen doch etwas fragwürdigen Spruch haben wir immer von
Neuem gegenseitig abgeschrieben und uns nichts dabei gedacht. Denn so wurden
Mädchen erzogen, generationenlang: Veilchen statt Rose! Nicht aufmucken. Nichts
wünschen. Nichts wollen. Schön still und lieb sein. Sich unterordnen und gehorchen.
Mädchen und Frauen sollten leicht lenkbar bleiben. Zum Glück hat es über
Generationen hinweg immer schon Frauen gegeben, die aus diesem Korsett
ausgebrochen sind. Sie haben – oft unter großen Opfern – uns modernen Frauen
andere, lebendigere Wege vorbereitet: Sie kämpften für mehr Freiheit, mehr
selbstbestimmtes Leben, mehr Einfluss in der Gesellschaft und damit für mehr
wirkliche Persönlichkeit. Oder, wenn man so will: für mehr Rose statt Veilchen.
Männer und Frauen sollen gleichberechtigt leben, beide Geschlechter sind
eingeladen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln statt sie verdorren zu lassen. Aber das
war und ist ein langer Weg.
Auf diesem Hintergrund klingen die Lehrsprüche aus dem biblischen Buch Jesus
Sirach erst einmal zwiespältig in meinen Ohren: Mein Sohn, (meine Tochter), bei all
deinem Tun bleibe bescheiden, und du wirst mehr geliebt werden als einer, der
Gaben verteilt. Je größer du bist, umso mehr bescheide dich, dann wirst du Gnade
finden bei Gott. Denn groß ist die Macht Gottes, und von den Demütigen wird er
verherrlicht. (Sir 3,17-20)
O je. Schon wieder so ein Hinweis auf Demut und Bescheidenheit. Die jüngeren
Generationen würden dazu sagen: „Geht’s noch?“ Bleibe bescheiden, und du wirst
mehr geliebt werden….Ist das nicht poesiealbums-verdächtig? Ja und nein, könnte
man dazu sagen. Es kommt darauf an, wie ich diese Hinweise verstehe. Denn dieser
Spruch aus Jesus Sirach zielt ja auf Gott. Der Mensch soll nicht einfach so demütig
und bescheiden sein. Sondern vor allem im Blick auf Gott, denn…: Groß ist die
Macht Gottes, und von den Demütigen wird er verherrlicht.
Musik 1: aus Felix Mendelssohn, Symphonie Nr. 2 Lobgesang, Nr. 1 (CD: Felix
Mendelssohn, Symphony No. 2 in B flat major, Kurt Masur,
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Gewandhausorchester Leipzig), ca. 2.34 (0.00 bis 2:34).
Man könnte ihn falsch verstehen, den Spruch von Jesus Sirach über die
Bescheidenheit. Ich höre immer wieder von Menschen, deren Eltern, Religionslehrer,
Pfarrer ihnen eingebläut haben: „Vor Gott darf man sich nicht groß machen. Vor Gott
muss man die Knie beugen und seine Schuld bekennen. Gott ist alles – aber der
Mensch ist nichts.“ Es gibt viele, die mir so etwas erzählen. Sie haben Gott auf diese
Weise kennengelernt. Aber vielleicht ist es besser zu sagen: Sie haben nicht Gott so
kennengelernt, sondern ein ziemlich verbogenes Bild von Gott. Ich kann sehr gut
verstehen, wenn Betroffene dann sagen: „Mit so einem Gott, so einem strengen,
lieblosen und unfreundlichen Gott will ich nichts zu tun haben.“ Ja, das sollte auch
niemand. Ein Gott, der den Menschen klein und schuldbeladen will – was für eine
scheußliche Vorstellung! Die hat nichts mit den Gottesbildern zu tun, die uns Jesus
geschenkt hat. Er sprach von einem freundlichen Gott, den man sich wie einen guten
Vater vorstellen darf und wie eine gute Mutter. Jesus hat von Gott erzählt, der
möchte, dass die Mühsamen und Beladenen heil werden. Und der sich freut, wenn
sie schön wie eine Rose erblühen. In der Bibel wurde auch das Magnifikat überliefert:
Die junge Frau Maria lobt Gott mit den Worten: „Meine Seele preist die Größe des
Herrn und jubelt über Gott, meinen Retter. Denn er hat Großes an mir getan!“
Musik 2: aus John Rutter, Magnificat / Magnificat anima mea (CD: John Rutter,
Magnificat, Choir of King's College Cambridge, City of Birmingham Symphony
Orchestra, Track 1), ca. 2.40 (0.00-2.40) oder nur 1.50 (0.00 – 1.50).
Genau das legt auch Jesus Sirach den Menschen ans Herz, wenn er empfiehlt: Je
größer du bist, umso mehr bescheide dich. Denn groß ist die Macht Gottes, und von
den Demütigen wird er verherrlicht.
Je größer du bist…ganz selbstverständlich wird hier dem Menschen, Männern wie
Frauen, Größe zugestanden. Groß sein dürfen ist selbstverständlich. Auch vor Gott.
Der Mensch darf sich groß fühlen und groß sein. Wozu hätten wir denn sonst unsere
Gaben? Wozu sonst wären uns Menschen von unserem Schöpfer Talente in die
Wiege gelegt? Wir dürfen das Beste aus dem machen, was wir gut können. Jeder
und jede kann etwas, und kann im Leben ganz viel bewirken. Eine alte Dame sagte
nachdenklich: „Manchmal denke ich, ich kann gar nichts. Ich habe ja nicht so lernen
dürfen wie die jungen Frauen heute. Aber Kuchen backen kann ich. Und ich tu es
gerne.“ Und dann erzählt sie, dass ihr längst erwachsener Enkel immer noch jedes
Jahr extra zu ihr kommt, um mit ihr „sein“ Lebkuchenhaus zu bauen. Ohne es zu
merken, spricht sie von dem, was sie wirklich gut kann und konnte. Und vor allem
spricht sie davon, wer sie ist als Mensch. Sie ist ja sehr viel mehr als eine Frau, die
Kuchen backen kann. Sie hat ihrer Familie so viel Liebe zeigen können, die noch in
den Enkeln weiterwächst. Sonst käme ein erwachsener, berufstätiger junger Mann
wohl nicht im Traum auf die Idee, immer noch mit seiner Oma backen zu wollen.
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Diese Oma hat ihre Gaben nach den damaligen Möglichkeiten einsetzen können.
Und darüber freut sich sie sehr. Und sie lernt jetzt gerade, dass sie sich nicht klein
fühlen muss. Sie ist nicht weniger wert als andere. Dieses alte Gefühl darf sie jetzt
endlich ablegen. Und ihr Selbstwertgefühl darf weiter wachsen.
Lernen, wachsen und großwerden ist in uns angelegt. Jedes Kind brennt darauf, zu
lernen. Es will unbedingt Dinge tun können, die es zuvor noch nicht konnte: Laufen
lernen, sprechen können, trocken werden. Wie stolz ist es, die ersten alleine
ausgeschnittenen krummen Papierstücke zu zeigen, die selbstgemalten Bilder. Alle
sollen sehen, dass es schon alleine auf dem Klettergerüst herumturnen kann. Später
kommt dann Lesen, Schreiben, Rechnen dazu und so geht’s immer weiter. Lernen,
weiterkommen, Fähigkeiten erwerben, sich verbessern – das ist in unseren
menschlichen Wachstumsprozessen angelegt. Gott hat es so in seiner Schöpfung
grundgelegt. Das gilt nicht nur für Kinder. Unser Gehirn bleibt plastisch, sagen die
Hirnforscher. Wir können noch im Alter lernen und uns weiterentwickeln. Selbst
Menschen, die alt und hilfsbedürftig geworden sind, können noch wachsen. Sie
können z.B. wachsen in Weisheit, Geduld und Liebe. Wenn ein kranker oder alter
Mensch jeden Tag ein bisschen mehr zulassen kann, wie die jetzige Lebenssituation
nun mal ist, wird es für den Betroffenen selbst – aber auch für die pflegende
Umgebung – so viel leichter. Wer geduldiger wird und dankbarer - der ist groß! Und
das ist es, was Gott will: Ob alt oder jung, Mann oder Frau - Gott will, dass wir „groß
werden“.
Musik 3: aus John Rutter, Magnificat / Quia fecit mihi magna (CD: John Rutter,
Magnificat, Choir of King's College Cambridge, City of Birmingham Symphony
Orchestra, Track 3), ca. 2.15 (0.00 – 2.15).
Wir Menschen dürfen uns groß fühlen, durchaus auch manchmal stolz sein – und
ganz sicher darauf vertrauen, dass unser Schöpfer uns recht groß haben will.
Gleichzeitig ist das keine Einladung zum Übermut und keine Einladung zum
Egoistischsein. Es ist die Einladung, groß zu werden und gleichzeitig auf dem Boden
zu bleiben. Da geht es um Demut statt Übermut. Um eine reale Einschätzung der
eigenen Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen – nicht um Größenwahn.
Der Gelehrte Jesus Sirach aus dem Alten Testament sagt das so: Je größer du bist,
umso mehr bescheide dich, dann wirst du Gnade finden bei Gott.
Je größer du bist, umso mehr bescheide dich…..Dieser Hinweis könnte in jeder
modernen „Anleitung zum Glücklichsein“ stehen. Denn es braucht natürlich auch eine
gesunde Balance zwischen meinem Selbstbewusstsein und dem Wissen um meine
Grenzen. Für Gläubige führen diese Gedanken allerdings noch weiter. Weil auch
Gott ins Spiel kommt. Oder längst da ist. Gott ist immer größer als ich selbst es bin.
Das glaube ich fest. Das menschliche Leben kann großartig sein, es ist aber nicht
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alles. “Denn groß ist die Macht Gottes, und von den Demütigen wird er verherrlicht,“
sagt Jesus Sirach weiter.
Mein Beruf ist es, Menschen zuzuhören und Begleiterin auf ihrem Glaubens- und
Lebensweg zu sein. Das ist eine wunderbare, manchmal fast eine heilige Aufgabe,
denn ich darf miterleben, wie Menschen sich vor dem großen Gott einfinden….und
welche Auswirkungen das für sie hat. Die einen werden dankbar und demütig und
froh gestimmt. Andere werden ganz andächtig und still. Oder alles gleichzeitig. Denn
es ist wundervoll, Gott und seine Größe erleben oder wenigstens ahnen zu dürfen.
Dafür muss man gar kein Heiliger, keine Heilige sein. So etwas kann schon
passieren, wenn man sich in eine Kirche setzt, einen Gottesdienst mitfeiert, für sich
alleine betet. Oder einen Spaziergang macht und Gottes schöne Natur in vollen
Zügen genießt. Da kann es passieren, dass das Herz aufgeht und die Seele einfach
froh wird. Eine Frau erzählte mir: „In solchen Momenten denke ich gar nicht mehr so
viel. Ich fühle mich dann einfach rundherum umgeben von Gottes Liebe.“ Sie möchte
dann nur „Danke“ sagen. „Danke, dass ich das jetzt erleben darf. Danke, dass ich
hier sein darf. Danke für alles.“ Und sie sagte dazu: „Ich weiß wohl, dass vieles auf
der Welt nicht gut läuft. Ich weiß um das Schreckliche, um Krankheiten, Kriege und
die flüchtenden Menschen. Das ist nicht gut. Und dennoch ist jeder Sonnenaufgang
wunderschön, und dennoch geht mir das Herz auf beim Spazierengehen. Gottes
Welt ist noch lange nicht heil – aber sie ist trotzdem schön.“
Musik 4: aus Max Reger, Melodia (CD: Laetabitur cor nostrum, Thomas
Drescher an der Paul-Berschdorf-Orgel), ca. 2.06 (2.07 - Ende 4.13).
Jesus hat in vielen Geschichten und Gleichnissen von Gottes Größe gesprochen.
Manchmal hat er Gott mit einem Hausherrn verglichen, der auf seine Familie
achtgibt, oder mit einem König, der zu einem Fest einlädt. Oder er hat vom Schöpfer
gesprochen, der jedes Haar auf unseren Köpfen gezählt hat. Manchmal hat Jesus
von der „Macht“ Gottes geredet. Aber damit hat er keine militärische Macht gemeint,
sondern Gottes Kraft, die wirken kann und wirken will. In seinen innigsten Momenten
hat Jesus „Väterchen, Vater“ gesagt. Hat ganz zärtlich und vertraut zu Gott
gesprochen. Ob König, Schöpfer, Hausherr, Väterchen…..Mit diesen Namen hat
Jesus versucht, wenigstens ein kleines Zipfelchen von dem zu beschreiben, was er
von Gott wusste. Jeder dieser Vergleiche bezeichnet nur eine der vielen Namen
Gottes und trifft doch nie das Ganze. Das hat Jesus immer dazu gesagt: Gott ist so,
aber er ist noch viel mehr und viel größer, unendlich groß, und in seiner Größe
unendlich liebevoll. Immer hat Jesus betont: Dieser Gott will das Gute - er will, dass
die Menschen heil werden. Dieser Gott ist nicht rachsüchtig und nicht kleinkariert,
nicht böse und auch keiner, den man bestechen muss. Seine Macht ist die Liebe.
Und zuallererst ist er barmherzig. Denn das ist sein Name.
Der barmherzige große Gott lässt uns groß sein. Er freut sich über die Größe der
Menschen. Ganz besonders freut er sich über alle, die so groß sind, dass sie sich
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auch mal klein machen können. Die selbst barmherzig sind zu andern. Die verzichten
können. Die Geduld haben. Die von Herzen lieben. Wer ein Herz für Notleidende und
Schwache hat, ist wirklich groß.
Musik 5: aus Felix Mendelssohn, Symphonie Nr. 2 Lobgesang, Nr. 14 (CD:
Felix Mendelssohn, Symphony No. 2 in B flat major, Kurt Masur,
Gewandhausorchester Leipzig), ca. 3.20 (1:57 – 5.17).
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