Als PDF öffnen - Konrad-Adenauer

LÄNDERBERICHT
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
ESTLAND
ALEXANDER WELSCHER
ELISABETH BAUER
31. August 2016
www.kas.de/estland
Bundeskanzlerin Merkel in
Estland
Eine der ersten Auslandsreisen von Bun-
völkerung. Die Entscheidung sei „ein
deskanzlerin Angela Merkel nach ihrem
Schock" gewesen, so Rõivas.
Sommerurlaub führte sie am 24. August
nach Tallinn. In Estland drehten sich die
„Die politische Situation ist ja klar: Großbri-
Gespräche um die Zukunft Europas – ohne
tannien wird die Europäische Union verlas-
Großbritannien. Neben außen- und si-
sen“, sagte Merkel. Das weitere Verfahren
cherheitspolitischen Themen standen die
liege nun ganz in den Händen der Briten.
deutsch-estnischen Beziehungen im Mit-
London müsse selbst den Antrag stellen –
telpunkt. Merkel informierte sich zudem
dies sei rechtlich im EU-Vertrag so geregelt.
über die Digitalisierung in „E-Estonia“.
Auch Rõivas sprach sich dagegen aus,
Großbritannien unter Zeitdruck zu setzen.
Rund zwei Monate nach dem Brexit-Votum
der Briten für einen Ausstieg aus der EU ist
Unabhängig vom letztlichen Zeitpunkt des
Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Estland
Austritts sprachen sich Rõivas und Merkel
gereist. Bei ihrem zweitägigen Besuch in
für ein gutes und freundschaftliches Ver-
Tallinn standen Gespräche mit Regierungs-
hältnis mit Großbritannien aus. „Wir in Est-
chef Taavi Rõivas und Staatspräsident
land sind der Meinung, dass es in unserem
Toomas Hendrik Ilves über die Zukunft Eu-
Interesse ist, die Beziehungen weiter zu
ropas auf dem Programm. Die Treffen soll-
pflegen“, sagte Rõivas. „Großbritannien ist
ten der Vorbereitung auf den informellen
für uns ein wichtiger Partner, unter ande-
Gipfel der 27 EU-Staaten ohne Großbritan-
rem auch in der Nato.“ In einer Rede zum
nien im September in Bratislava dienen.
Abschluss ihres Besuchs betonte Merkel: „Es
kann uns gelingen, den Beschluss Großbri-
Wie geht es weiter mit Europa nach dem
tanniens zu verkraften, aber dafür müssen
Brexit?
wir hart arbeiten.“
Nach Ansicht von Merkel muss sich die EU
Als Folge des Brexits habe in den verbliebe-
nach dem angekündigten Austritts Großbri-
nen 27 EU-Staaten ein „Reflexionsprozess“
tanniens grundlegend neu aufstellen. Im-
begonnen. Die Mitgliedsländer müssen aus-
merhin scheide ein Land aus, dessen Wirt-
loten, in welchen Bereichen man sich ge-
schaftskraft 15 Prozent des Bruttoinlands-
meinschaftlich weiterentwickeln und voran
produktes der EU ausmacht. Die verblei-
bewegen sollte. „Ich hoffe, dass Europe die-
benden 27 Mitgliedsstaaten haben nun die
sen Mut, diese Tatkraft und auch den
Aufgabe, eine gute Agenda zu beschließen,
Teamgeist aufbringt, um hier erfolgreich zu
um das Projekt Europa fortzuführen, sagte
sein.“
die Kanzlerin nach ihrem Treffen mit Rõivas.
Die EU müsse sich auf die Zeit ohne Groß-
Estnische EU-Ratspräsidentschaft im
britannien sorgfältig vorbereiten, ohne in
zweiten Halbjahr 2017
„Aktionismus“ zu verfallen.
Für Estland wirkt sich das Brexit-Votum
Großbritannien bei Brexit nicht drängen
auch auf seine EU-Ratspräsidentschaft auf.
Nach dem Verzicht Großbritanniens wird
Beide Regierungschefs bedauerten das Er-
Estland bereits in der zweiten Jahreshälfte
gebnis des Referendums der britischen Be-
2017 den halbjährig wechselnden Vorsitz
2
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
übernehmen. Erstmals wird Tallinn dann die
ESTLAND
Geschäfte für die Mitgliedsstaaten der Union
ALEXANDER WELSCHER
führen.
www.kas.de/estland
Die Bundeskanzlerin und ihre Gastgeber
zeigten sich besorgt über die weiter anhal-
ELISABETH BAUER
31. August 2016
Dialog mit Russland
In den sechs Monaten an der EU-Spitze
tenden Spannungen zwischen Russland und
werde sich Estland darum bemühen, dass
der Ukraine. Rõivas sagte: „Die Eskalation
Europa geschlossen und erfolgreich bleibt,
in der Ostukraine und die Provokation auf
versprach Rõivas. Merkel würdigte die Flexi-
der Krim zeigen, dass Russland leider noch
bilität Estlands und bot deutsche Unterstüt-
nicht bereit ist, diesen Konflikt friedfertig zu
zung bei der Vorbereitung der EU-
lösen.“ Auch Merkel sieht bislang nur weni-
Ratspräsidentschaft an.
ge Fortschritte bei der Umsetzung des Friedensplans für die Ostukraine.
Merkel sagt Estland sicherheitspolitischen
Beistand zu
Bei den Bemühungen um eine Lösung der
Krise setzen Merkel und ihr estnischer
Sechs Wochen nach dem Nato-Gipfel in
Amtskollege weiter auf Sanktionen gegen
Warschau ging es beim Besuch in Estland
Russland. „Solange sich Moskau nicht an
auch um sicherheitspolitische Fragen. Bei
das Abkommen von Minsk hält, können wir
dem Gipfeltreffen im Juli wurde die Statio-
nicht davon reden, dass die Sanktionen ge-
nierung von jeweils etwa 1000 Soldaten in
lockert werden können“, so Rõivas.
Polen, Litauen, Estland und Lettland beschlossen. Die Bundeskanzlerin bekannte
Merkel verurteilte in ihrer Rede in klaren
sich zum Abschreckungskurs der Nato und
Worten Moskaus Vorgehen auf der Krim und
sicherte die Umsetzung der Nato-Beschlüsse
im Donbass. Dennoch plädierte sie für ein
von Warschau zu.
„konstruktives Verhältnis mit Russland“ und
warb für eine Fortsetzung des Dialogs über
Merkel versicherte Estland, das sich in einer
die bestehenden Gesprächskanale.
„exponierten geografischen Lage“ befinde,
den sicherheitspolitischen Beistand.
25 Jahre unabhängig: Merkel würdigt est-
Deutschland leiste einen „substanziellen
nischen Weg zur Freiheit
Beitrag auch zur Rückversicherung des Baltikums“, sagte sie in ihrer Rede. „Mir per-
Merkels Besuch in Tallinn fiel zusammen mit
sönlich ist dieses Bekenntnis zur Solidarität
einem Doppeljubiläum. Estland feierte am
auch sehr wichtig“, betonte sie. Sie verwies
20. August den 25. Jahrestag der Wiederer-
darauf, dass Deutschland ab September in
langung seiner Unabhängigkeit. Und nur
Estland für vier Monate wieder die Luft-
wenige Tage später wurden auch die diplo-
raumüberwachung über den baltischen
matischen Beziehungen zwischen der Bun-
Staaten übernehmen werde. Die deutsche
desrepublik Deutschland und Estland wie-
Luftwaffe wird den Auftrag bereits zum
derhergestellt. In diesem Vierteljahrhundert
neunten Mal ausführen.
habe sich „eine enge, freundschaftliche Beziehung zwischen beiden Ländern“ heraus-
Rõivas verwies nach dem Treffen auf die
gebildet, betonte die Bundeskanzlerin. Auch
Gemeinsamkeiten beider Länder: „Unser
Rõivas hob hervor, wie wichtig die deutsch-
gemeinsames Verständnis von der Sicher-
estnischen Beziehungen für ihn sind:
heit ist ein Grundstein der engen deutsch-
„Deutschland ist für Estland ein überaus
estnischen Beziehungen“. Mit Merkel habe
wichtiger Verbündeter und Partner.“
er über die Sicherheit gesprochen und werde den Dialog auch weiter fortführen. „Wir
Merkel würdigte in ihrer Rede den „großen
haben hierbei eine gemeinsame Sichtweise
historischen Erfolg“ Estlands vor 25 Jahren.
mit der Bundeskanzlerin.“
Wie sehr sie die Gefühle der Esten verstehen kann lässt sich an ihrer sehr persönlichen Aussage ablesen: „Ich bin ja eine von
denen, die damals völlig neue Lebensmög-
3
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
lichkeiten bekommen hat und das war ja
meiner Meinung nach ein Europa, das mehr
ESTLAND
auch so für die Menschen hier in Estland“.
wie Deutschland aussieht“, so Röivas weiter.
ALEXANDER WELSCHER
ELISABETH BAUER
31. August 2016
www.kas.de/estland
Die „Singende Revolution“, mit der Estland
und die anderen beiden Baltenstaaten Lett-
Auch Staatschef Toomas Hendrik Ilves be-
land und Litauen ihre Freiheit wiedererlangt
fürwortete eine stärkere Führungsrolle
haben, stehe für den „unbändigen Frei-
Deutschlands. „Europa braucht eine Loko-
heitswillen und auch den großen Mut der
motive, die unseren etwas schwergängig
Menschen im Baltikum“. Diese Freiheit blei-
gewordenen Zug nach vorne bewegen
be für immer mit den eindrücklichen Bildern
kann“, erklärte er nach seinem Treffen mit
der etwa 600 Kilometer langen Menschen-
Merkel. Deutschland könne diese Lokomoti-
kette von Tallinn über Riga nach Vilnius
ve sein, hieß es in einer Mitteilung der Prä-
verbunden. Der „Baltische Weg“ am 23.
sidialkanzlei.
Augst 1989, auf den Tag 50 Jahre nach dem
sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, sei „ein
Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik
Band der Hoffnung und der Sehnsucht nach
Freiheit" gewesen, das „unübersehbare Sig-
Neben vielen positiven Übereinstimmungen
nal für das Streben nach Unabhängigkeit“.
zeigte sich zum Thema Flüchtlinge jedoch
Dies werde auch in den Geschichtsbüchern
auch eine Differenz – zumindest in Teilen
erhalten bleiben, unterstrich Merkel.
der politischen Elite und der Öffentlichkeit.
In Tallinn erwartete Merkel vor dem Dom
Estland für größere Führungsrolle
eine Demonstration von Anhängern der Est-
Deutschlands in Europa
nischen Konservativen Volkspartei (EKRE),
die 7 der insgesamt 101 Abgeordneten im
Auch Rõivas erinnerte in der Pressekonfe-
Parlament (Riigikogu) stellt. Zuvor hatten
renz nach seinem Treffen mit Merkel an die
Zuwanderungsgegner bereits die vorbeifah-
historische Zeitenwende vor 25 Jahren. „Wir
rende Wagenkolonne der Kanzlerin ausge-
beide wissen, was es bedeutet, hinter Mau-
pfiffen.
ern zu leben, und wie lebenswichtig es ist,
ein Teil der freien Welt zu werden. Der Fall
Die Partei drängt auf eine Volksabstimmung
dieser Mauern war für unsere Bürger einer
über die Einwanderungspolitik und hat dafür
der größten geopolitischen Erfolge“, sagte
im Sommer dem Parlamentspräsidenten ei-
der estnische Ministerpräsident. „Ein freies
ne Petition überreicht, die von mehr als
Europa ohne Grenzen muss bestehen blei-
36.000 Personen unterzeichnet wurde.
ben.“
Die estnische Regierung unterstützt prinziDie Auffassungen von Estland und Deutsch-
piell die Europäischen Entscheidungen und
land von der Zukunft Europas seien sich
hat sich bereit erklärt in zwei Jahren sein
nach Angaben von Rõivas sehr ähnlich. Ei-
Kontingent von 550 Flüchtlingen aufzuneh-
nig seien sich auch beide Regierungschefs,
men. Allerdings gibt es wenige Asylbewer-
dass die innere und äußere Sicherheit, der
ber, die in das Land kommen wollen und
Kampf gegen terroristische Bedrohungen
eine zwangsweise Zuteilung lehnt das Land
eine gemeinsame Aufgabe der EU seien.
ab. Merkel anerkannte ausdrücklich die est-
Beim Gipfel in Bratislava wolle man sich
nische Politik in dieser Frage: „Wenn es da-
gemeinsam mit der Lösung brennender
rum geht, Flüchtlinge aufzunehmen, bin ich
Probleme befassen.
auch sehr dankbar, dass Estland trotz
durchaus sehr kontroverser Diskussionen
Rõivas dankte der Bundeskanzlerin persön-
zu seiner Verantwortung im Rahmen der
lich für ihre „Schlüsselrolle bei der Führung
Beschlüsse der Europäischen Union steht“,
Europas durch die Krise“. Er plädierte da-
sagte Merkel nach ihrem Treffen mit Rõivas.
für, dass Berlin noch mehr politische Ver-
„Wir sind der Überzeugung, dass wir unse-
antwortung übernehmen sollte. „In der Zeit,
rer humanitären Verantwortung auf unter-
wo Europa unter Krisen leidet und vor wich-
schiedliche Weise gerecht werden müssen.“
tigen Entscheidungen steht, brauchen wir
4
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
Zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sprach
vor. In Tallinn konnte sich die Bundeskanz-
ESTLAND
sich Rõivas für eine stärkere Unterstützung
lerin nun selbst vor Ort ein Bild machen.
ALEXANDER WELSCHER
der Nachbarstaaten der Herkunftsländer der
Dazu besuchte sie den sogenannten e-
ELISABETH BAUER
Flüchtlinge aus. Dies sei bisher die wirk-
Estonia-Showroom, in dem die Regierung
samste Maßnahme gewesen. „Wir müssen
die Digitalisierung Estlands erklärt.
31. August 2016
www.kas.de/estland
diesen Staaten wirtschaftlich helfen und sie
beraten“, forderte er. „Diese Krise ist noch
Merkel sagte danach in ihrer Rede, die Prä-
lange nicht gelöst. Aber es zeigt sich, dass
sentation habe sie darin bestärkt, welche
Vereinbarungen mit den Nachbarstaaten
Innovationskraft in der Digitalisierung liege.
funktionieren können.“
„Die konsequente Anwendung digitaler
Technologien spart viel Zeit, viel Geld und
Estland digital ganz vorne mit dabei
ist wachstumsfördernd“. Sie forderte die
deutsche Wirtschaft dazu auf, sich stärker
Ein weiterer Schwerpunkt des Besuchs in
mit den digitalen Lösungen Estlands zu be-
Estland lag auf dem Thema Digitalisierung.
schäftigen.
Die Bundeskanzlerin informierte sich während ihres Aufenthalts über die estnischen
Gemeinsam mit ihrem estnischen Amtskol-
Lösungen im Bereich der digitalen Verwal-
legen Taavi Rõivas sprach sich bei einer
tung. Estland gehört in internationalen Ran-
Diskussion für eine stärkere Kooperation
kings zu den führenden Ländern und gilt in
zwischen Deutschland und Estland aus. Po-
Europa als Vorreiter im E-Government.
tenzial dafür sehen beide Regierungschefs
insbesondere bei der Industrie 4.0. Gemeint
Merkel würdigte dies in ihrer Rede: Estland
ist damit die Digitalisierung und Vernetzung
habe „sehr frühzeitig die Chancen der Digi-
der industriellen Produktion.
talisierung für sich erkannt“ und man könne
„mit Fug und Recht sagen, dass Estland ei-
Hoffnungen auf rasche Fortschritte bei der
nes der innovativsten Länder der Welt ist.“
Digitalisierung der Verwaltung in Deutsch-
So seien digitale Bürgerdienste bereits
land bremste Merkel. „Natürlich ist es
breitflächig im Alltag verankert. Bezug
manchmal in einem größeren Land, in ei-
nahm sie u.a. auf die Möglichkeit, dass die
nem föderalen Land, in einem Land, das ei-
Bürger inzwischen nahezu alle Behörden-
nen langen Entwicklungsprozess schon ohne
gänge online erledigen und Rechtsgeschäfte
das digitale Zeitalter hinter sich hat, nicht
sicher über das Internet abwickeln können.
ganz so einfach, die Dinge zu verändern“,
Ein Klick öffnet das zentrale Internetportal
meinte sie.
eesti.ee mit geschütztem Zugang zu Hunderten digitaler Bürgerdiensten und Online-
Durch die breite Anwendung habe Estland
Impressum
Dienstleistungen.
auch sehr früh die Gefahren erkannt, denen
Konrad Adenauer Stiftung e.V.
„Hier ist Estland Vorbild“, lobte Merkel ihre
Deshalb käme es nicht von ungefähr, dass
Hauptabteilung
Gastgeber. „In Estland sieht man, wie die
das auch von ihr besuchte Nato-Zentrum
Internationale Zusammenarbeit
Veränderung hier umgesetzt wird – zum
zur Abwehr von Cyber-Angriffen in Tallinn
Wohle der Menschen.“ Da könne man „fast
angesiedelt sei, so Merkel.
eine IT-basierte Gesellschaft ausgesetzt sei.
Länderbüro Estland
ein bisschen neidisch werden“, so Merkel
weiter.
Rotermanni 8
10111 Tallinn
deskanzlerin noch die digitale StaatsbürgerKooperation bei Digitalisierung und In-
schaft Estlands verliehen. „Werden Sie zu
dustrie 4.0
einer virtuellen Estin“, sagte Rõivas bei der
Übergabe der computerlesbare ID-Karte
Estland
Tel. +372 6 27670-0 | +372
5281351 (Handy)
Fax +372 6 27670-3
[email protected]
Zum Abschluss ihrer Reise bekam die Bun-
Ihren Amtskollegen Rõivas hatte Merkel im
überreicht. Mit dieser sogenannten „E-
Mai als Gast zur Klausur des Bundeskabi-
Residency“ können auch Ausländer die An-
netts nach Meseberg eingeladen - als ersten
gebote des digitalen Estlands nutzen.
ausländischen Regierungschef überhaupt.
Rõivas stellte damals die Lösungen seines
Landes im Bereich der digitalen Verwaltung