Nicola J. West Ist denn Liebe nur ein Spiel? Leseprobe IM PRESSU M Nur für Leserunden bestimmt Copyright © 2016 Blitzeis Verlag, Liebesallee 1A, Eddelak Umschlagsgestaltung - Blitzeis Verlag, s.o. Coverfotos: © Dean Drobot/colourbox.com Kapitel 1 Ich war noch jung und dumm. Natürlich war das keine charmante Aussage, aber vielleicht wenigstens der erste Schritt zur Besserung. Das Wissen, dass ich noch viel zu lernen hatte und noch manchen Fehler würde ausbügeln müssen, musste doch - so hoffte ich zumindest - der Schlüssel zu meinem persönlichen Glück sein. »HALT! NEIN!«, hörte ich in unmittelbarer Nähe jemanden rufen, bezog es aber nicht auf mich. Wieso auch? Ich tat in diesem Moment nicht im Mindesten etwas Verbotenes. Und auch sonst eigentlich nie. Mit einer starken Betonung auf nie - nicht auf eigentlich! Natürlich war mir wenigstens unterbewusst klar, dass jeder andere sich umgesehen hätte, um herauszufinden, wer was nicht tun sollte. Ich aber war schlicht nicht neugierig und ... bezahlte dafür, es nicht zu sein. War das fair? War das im Mindesten fair? Nein, aber wie ich schon sagte: Ich war noch jung und dumm. Und eben weil ich es war, klebte ich nun am Boden fest. Nun, nicht wirklich fest, aber ich hatte ganz sicher zwei Dinge ruiniert: Meine neuen schwarzen Sandalen und den Schriftzug, der mit roter und silberner Farbe kunstvoll auf eine Plane aufgebracht war. Ich versuchte, nicht laut zu fluchen, da es sich für eine Dame nicht gehörte und probierte zwei Schritte rückwärts zu gehen, um möglichst nicht noch mehr»STOPP! HALT! Du machst es nur noch schlimmer! Himmel, Arsch und Zwirn!« Ich realisierte erst in diesem Augenblick, dass wohl auch die erste Warnung schon mir gegolten hatte, und hätte gerne umgehend zwei Dinge getan: 1. In Tränen ausbrechen. 2. Davonlaufen und nie wieder zurückkehren. Beides könnte ich vielleicht im Nachhinein auf jung und dumm schieben, die erwachsenere Variante aber wäre mit Sicherheit, für meinen Fehlern geradezustehen. Ich rang einen Moment mit mir selbst, entschied mich dann doch dafür, dass es an der Zeit war Verantwortung zu übernehmen. »Es tut mir leid!«, murmelte ich und blieb stocksteif stehen. »Es tut mir wirklich sehr leid. Ich war in Gedanken ganz woanders und dachte nicht, dass ich gemeint bin, als Sie gerufen haben.« »Und da soll noch mal jemanden sagen, ICH wäre unaufmerksam. Dagegen bin ich ein Waisenknabe, schätze ich. Im Ernst, wenn irgendwer Halt und Stopp brüllt, schau ich mich doch wenigstens mal um!« Er schnaubte verächtlich. »Oder gehörst du zu jenen, denen das Glück in den Schoß fällt und die nie aus Versehen Schaden anrichten?« Offensichtlich nicht. »Für gewöhnlich bemühe ich mich, nicht zu sehr aufzufallen«, sagte ich stattdessen und endlich kam der Mann, der auch mein Schutzengel hätte sein können, in meinem Blickfeld an. Er musste irgendwo in meinem Rücken gestanden und mich beobachtet haben. Ob er wohl hier arbeitete? Es war schon möglich, denn auch wenn er nicht besonders kräftig aussah, konnte ich mir vorstellen, dass er zur Roadcrew gehörte. Vielleicht war er Elektriker oder als Instrumententechniker angestellt. Mit seinen pechschwarzen kinnlangen welligen Haaren sah er selbst ein bisschen aus wie ein Rockstar, fand ich. Allerdings ein ziemlich kleiner, denn er überragte mich kaum ein paar Zentimeter. Seine Haut hatte einen sanften OliveTon und seine Arme und Unterschenkel waren ebenso wie sein Gesicht gut gebräunt. Er sah aus wie das blühende Leben, wenn man davon absah, dass er recht verschwitzt war. »Schönes Schlamassel hast du angerichtet!« Er seufzte und kniete sich herunter. »Ich halte die Plane fest und du gehst ganz vorsichtig rückwärts, damit nicht noch mehr kaputtgeht. Stütz dich an meinem Rücken ab, denn wenn du jetzt noch drauf fällst, können wir sie auch gleich wegwerfen.« »Es tut mir-« »Davon kann ich mir auch nichts kaufen«, unterbrach er mich unwirsch und ich schwieg. »Bereit?« Ich nickte, schüttelte dann aber den Kopf. Genervt blickte er zu mir auf. Aus sommerhimmelblauen Augen - du liebe Güte! »Ich-«, stammelte ich verlegen. »Vielleicht zieh ich die besser einfach aus und dann entfernen wir meine Schuhe ganz langsam?« »Okay«, sagte er nur und als ich mich herab kniete, um die Schnallen zu öffnen, hielt er mich am Arm fest, ohne einmal danach zu fragen oder es anzukündigen. Zwei Minuten später konnten wir das Ergebnis dieser Aktion bewundern. »10 Jahre Lonee Davy on tour«, las der Dunkelhaarige, der es bisher nicht für nötig gehalten hatte, sich mir vorzustellen. Allerdings hatte ich ihm meinen Namen auch nicht genannt, und er hatte wohl keinen Grund gesehen mir seinen zu verraten. Welchen hätte es auch geben sollen? »Bravo, du hast ganze Arbeit geleistet. Das kann ich dann wohl neu schreiben und mir den Anschiss abholen, weil ich mal wieder herumtrödel. Vielen Dank auch.« »Sei nicht so böse mit mir. Ich mach es wieder gut, okay?« Prüfend blickte er mich an. Diese Augen! »Und wie gedenkst du das zu tun?« Wohl eher nicht damit, ihm einen Kaffee zu spendieren. Das wäre wohl das, was er getan hätte, wenn er ich wäre und ich er. Ich aber war eine Frau und einen Mann zur Entschädigung zu einem Heißge- tränk - mitten im Hochsommer noch dazu - einzuladen, wäre wohl kaum angemessen. Das zur Emanzipation. »Ich male ein neues Banner?«, schlug ich vor. »Kannst du das?« »Ja, ich denke schon.« »Okay.« Er wuschelte sich durch die dunklen Haare, sodass sie in alle Richtungen standen. »Von mir aus. Ich würde es eh nicht schaffen alles fürs Einladen vorzubereiten und das neu zu machen, bevor wir abfahren, also ...« Er ging ein paar Schritte, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Du wartest hier!«, befahl er und ich nickte und wartete, bis er wiederkam. Nach einigen Minuten war er zurück und fast schien er überrascht mich zu sehen und zum Glück weniger ärgerlich als zuvor. »Du hast nicht damit gerechnet, dass ich noch hier bin, oder?« Er zuckte die Schultern und doch war ich sicher, er hatte sich eine Menge Gedanken darüber gemacht. Immerhin wäre es um seinen Kopf gegangen, wenn er dafür hätte geradestehen müssen. Das hatte er doch gesagt oder? »Ich kenne dich nicht«, sagte er dann zurückhaltend. »Es hätte also schon gut sein können, dass du einfach türmst und ich hätte dann wieder mal den Rüffel kassiert.« Seine vollen Lippen waren nunmehr schmale Striche. »Das klingt, als würdest du öfter Ärger bekommen.« Erneut zuckte er die Schultern und stellte die Farben auf den Boden, legte eine neue Plane aus und reichte mir zwei Pinsel, deren Borsten noch nass waren. »Das kann schon sein«, gab er dann etwas vage zu. »Nur bekomme ich ihn meistens zu Unrecht, das solltest du auch wissen.« »Dann begegnen dir vermutlich öfter so Trampeltiere wie ich?« »Wenn du dich selbst so bezeichnen willst?« Zum ersten Mal lächelte er wenigstens ein bisschen. »Wie würdest du mich denn nennen?« Er biss sich auf die Unterlippe und überlegte einen Moment wohl genauer. Schließlich aber schnaubte er belustigt. »Ich kann zu einer so hübschen Frau, wie du es bist, nichts Gemeines sagen. Also ... vielleicht nenne ich dich einfach bei deinem richtigen Namen?« »Jodie«, sagte ich und verzichtete nur zu gerne auf meinen Nachnamen. Außerdem waren wir ja ohnehin schon per Du. »Jodie. Das ist ein schöner Name. Ich bin-« »EY HERING, beweg dich«, rief ein sehr muskulöser Typ von einer offenen Laderampe des Gebäudes zu unserer linken herüber. Er sah aus, als wäre sein Beruf Möbelpacker oder Türsteher. »Aaron sucht dich und wenn er dich nicht in fünf Minuten hier drinnen sieht, darfst du nach Tulsa laufen.« Er lachte dreckig und verschwand wieder. »Das würde ihm sicher passen«, murmelte ›Hering‹ und verzog das Gesicht leidend. »Wem? Aaron oder dem da eben?«, hakte ich nach, wohlwissend, um welchen Aaron es hier ging. Den nämlich kannte ich. Als Einzigen hier bei ›Soundcheck Nashville‹. Ihn und»Beiden«, sagte Hering. »Und mein richtiger Name ist Gabriel. Auch wenn das hier kaum einer weiß.« »Ich weiß es jetzt und ich verspreche, dich niemals Hering zu nennen.« »Ist ja wohl auch das Mindeste hier nach«, er nickte herab auf die Plane, grinste und flüsterte ›Trampeltier‹. »Also, du weißt, wie Mr. Davy tatsächlich mit Vornamen heißt?« »Sicher«, rief ich fast zu enthusiastisch und erreichte, dass Gabriel erneut die Augenbrauen lupfte. »Aber ich bin kein Groupie.« »Natürlich nicht.« »Nein.« »Schon gut. Beeil dich bitte damit und danke und ich muss jetzt auch nen Zacken zulegen. Also bye.« Und dann ging er tatsächlich. Allerdings nur ein paar Schritte, bis er sich erneut umwandte, rückwärts weiterlief und die Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte. »Wann würdest du überhaupt Gelegenheit haben, mich Hering zu nennen?« »Oft genug, denke ich.« »Und wie das?« Er hielt inne, stemmte die Hände in die schmalen Hüften und sah nun weniger aus wie ein Rockstar und mehr wie eine griechische Statue. »Ich dachte, du musst dich beeilen?« »Ich will das jetzt wissen!« Nun guckte er eher wie mein Vater, wenn ich ihm als jüngeres Mädchen nicht hatte sagen wollen mit wem oder wohin ich ging. »Überraschung«, sagte ich. »Aber du wirst es noch früh genug erfahren.« Kapitel 2 Vermutlich musste ich es mein großes Glück nennen, dass ich künstlerisch halbwegs begabt war. Trotz der wenigen Zeit, die Gabriel mir gegeben hatte, um das Banner fertigzustellen, war mir gelungen, es einigermaßen aussehen zu lassen wie das, das ich zuvor zerstört hatte. Lance. Lance Davy hieß der Musiker, der in diesem Jahr sein fünftes Studioalbum und seine zehnte Tournee feierte. Und wenn man so wollte, feierte ich mit. Nein, ich hatte Gabriel nicht belogen, denn ich war tatsächlich kein Groupie. Zumindest nicht das von jenem Superstar der Countrymusik, wegen dem mein Onkel Aaron jeden Tag mehr und mehr graue Haare bekam. Oh nein, nein, er war nicht dessen Manager, zum Glück nicht, denn Manager stellte ich mir immer wie eiskalte, abgebrühte Typen in hässlichen Anzügen vor. Nein, mein Onkel war Chef der Roadcrew und somit auch Gabriels Vorgesetzter. Wäre es anders, hätte ich unter keinen Umständen den Mund so weit aufgemacht und ihm angedroht, ich könnte ihn doch Hering nennen. Für gewöhnlich war ich weit schüchterner und in den meisten Situationen eher zurückhaltend. Ich war erst 22 Jahre alt, hatte kaum das College hinter mir und noch nicht viel von der Welt gesehen. Der nächste Schritt hieß Studieren. Pädagogik, Spanisch und Englisch auf Lehramt - genau wie meine beste Freundin Carol. Zuvor aber wollte ich ein bisschen mehr vom Leben sehen und da war Aarons Angebot, mir einen Praktikumsplatz in der Tontechnik zu organisieren, gerade recht gekommen. Wie das mit meinem späteren Studium zusammenpassen würde? Nun, gar nicht, aber Musik war meine Leidenschaft und wären Frauen auf Tourneen wie der von Lance akzeptierter, ich hätte vermutlich nie über die Uni nachgedacht. »Jodie?« Ich drehte mich augenblicklich um. Aufmerksamkeit war mein zweiter Vorname, seit ich in den Hallen von ›Soundcheck Nashville‹ herumlief. So ein Fehler, wie der mit dem Banner, würde mir kein zweites Mal unterlaufen. War er bisher auch nicht - allerdings war dieser auch erst mein erster richtiger Arbeitstag. Und einer der letzten, bevor die Tournee beginnen würde. »Hast du Gabriel irgendwo gesehen?« »Ich- Nein.« Leider nicht, das aber behielt ich vielleicht besser für mich, denn wenn ich Gabriel richtig verstanden hatte, war er für meinen Onkel so etwas wie ein rotes Tuch. »Entschuldige, du weißt vermutlich gar nicht, wer das ist.« Aaron lächelte und legte einen Arm um meine Schultern. »Schwarze Haare, blaue Augen, ziemlich klein und nur wenig kräftig gebaut. Wenn ich es mir recht überlege, ist es besser, du lernst ihn auch gar nicht kennen.« »Wieso das?« Ich musste nicht einmal nur so tun, als würde es mich interessieren, schließlich war es immer besser, von beiden Seiten informiert zu sein. »Oh, frag jeden aus der Crew. JEDER wird dir eine Geschichte über ihn erzählen können, bei der er nicht gut wegkommt. Und das völlig zu Recht. Der Bengel wird es irgendwann noch schaffen, dass die Bühne explodiert.« »Jetzt übertreibst du aber!«, rief ich und erhielt einen prüfenden Blick. »So schlimm kann wirklich keiner sein.« »Noch schlimmer.« »Und wieso hast du ihn dann in deiner Crew?« Ich wollte um Himmels willen nicht, dass er ihn feuerte, aber es musste eine gute Erklärung geben, wenn man jemanden, der angeblich so furchtbare Arbeit ablieferte, doch behielt. »Weil ich seine Großmutter gut kenne. Ava - Ich habe dir sicher schon einmal von ihr erzählt.« Hatte er. Ohne aber Gabriel je erwähnt zu haben. Oder? Vielleicht hatte ich auch nicht richtig zugehört oder erinnerte mich nur nicht mehr. »Da! Schau es dir an! Der schwatzt da gemütlich mit dem Tech vom neuen Gitarristen.« Aaron sah mich so entrüstet an, als hätte ICH einen unverzeihlichen Fauxpas begangen. Dabei war ich diesmal nun wirklich unschuldig, und zudem: »Was ist so schlimm daran, wenn er mal kurz mit jemandem redet?« Aaron sah mich an, als wäre das offensichtlich. »Das hier ist doch kein Gefängnis, sondern ein familiärer Arbeitsplatz.« Seine Augenbrauen lagen in Falten. »Sagst DU immer wieder. Du hast mir gesagt, dass hier alle eigentlich ganz fröhlich und friedlich miteinander arbeiten.« »Das ist wahr. Aber du wirst noch sehen, warum für Gabriel andere Regeln gelten. Gibst du ihm den kleinen Finger, nimmt er den ganzen Arm.« »Das kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Du kennst ihn ja auch noch nicht.« Und nur eine Sekunde später erkannte ich meinen Onkel kaum wieder. Privat war er der liebste und ruhigste Mensch, den man sich denken konnte. Eher ein Teddybär als ein ... Brüllaffe? »GABRIEL DEARING - GLAUB ICH ES DENN?« Was mich vielleicht am meisten erstaunte, war, dass Gabriel nicht einmal wirklich reagierte, während Killian - der Gitarrentechniker schuldbewusst zusammenzuckte. Es schien fast, dass Gabriel dran gewöhnt war, gerüffelt zu werden. Musste er mir dann noch leidtun oder hatte mein Onkel doch recht? »Ich komme schon, ich habe nur dem Neuen hier ein bisschen unter die Arme gegriffen. Er kennt sich ja noch nicht so aus, weißt du?« Nun wirkte Gabriel, als hätte er tatsächlich für alles eine Ausrede. Killian aber nickte bekräftigend und wenn er auch nur ein bisschen so war wie sein Bruder, dann würde es ihm mehr als schwer fallen zu lügen. »Ich würde wetten, du hast eher IHN noch von der Arbeit abgehalten, so wie ich dich kenne.« »Nein, nein, das habe ich nicht. Schau-« Er hielt einen riesigen zusammengefalteten Pappkarton hoch. »-Tobys neue Gitarre ist gerade angekommen und er hier wusste nicht, wo er mit dem Müll hin soll. Da habe ich gesagt, ich weiß es und ich kann ihm das abnehmen, weil ich sowieso in die Richtung der Container gehe.« Gabriel grinste so übertrieben breit, dass er vermutlich nicht einmal den Weihnachtsmann davon hätte überzeugen können, dass er das ganze Jahr über brav gewesen war. »Stimmt das?« Killian nickte erneut, räusperte sich dann. »Ja, das war so. Tut mir leid, wenn ich mit meiner Frage irgendwelche Zeitpläne durcheinandergebracht habe. Wird nicht wieder vorkommen.« »Ihr da oben habt Vorrang. Das ist in Ordnung.« Dann wandte Aaron sich Gabriel zu. »Glück gehabt, Junge. Aber jetzt ab mit dir.« Gabriel nickte, salutierte fast und eilte los. Allerdings leider nicht ohne mir im Vorbeigehen auf die Schulter zu patschen und zu sagen: »Hi Jodie, schön dich wiederzusehen!« Aaron, der ebenso im Begriff gewesen war, zu gehen, hielt inne. »Ihr kennt euch?« »Wir sind uns schon zweimal flüchtig begegnet«, sagte ich bedacht. »Von Kennen würde ich aber nicht reden.« »Das bleibt dann auch besser so.« Mahnend sah er mich an, dann folgte er Gabriel endgültig und ließ mich so mit dem Techniker alleine. Als ich mich umwandte, schloss Killian gerade sorgsam einen schwarzen Gitarrenkoffer, den er auf einem der Rollcontainer geparkt hatte. Er war das Ebenbild seines Bruders. Groß, irre schlank, mit hellblonden schulterlangen Haare. Nur sein Kleidungsstil war eindeutig besser. Was allerdings kein Kunststück war, denn ich kannte niemanden, der sich schlechter anzog als Toby McIntosh. »Hi Killian«, begrüßte ich ihn, bevor mein Starren peinlich werden konnte. »Hi?« Er blinzelte irritiert. »Kennen wir uns schon? Wenn ja, entschuldige, mein Namensgedächtnis ist wirklich mies. Du bist?« »Jodie. Und nein, wir kennen uns noch nicht.« Er reichte mir die Hand, und ich ergriff sie. Seine war viel kühler als meine. Killians und Tobys Vater war aus Norwegen und ich fragte mich, ob das wohl eine Rolle spielte. Ob Menschen aus dem Norden tatsächlich cooler waren, unaufgeregter und ob sie in ihrer Ruhe wirklich seltener ins Schwitzen gerieten. Das klang vermutlich albern, aber ich war in meinem ganzen Leben noch kaum über Tennessees Grenzen herausgekommen. Es ließ sich nicht einmal nachvollziehen, woher meine Familie ursprünglich kam oder aus welchen Nationen sie sich zusammensetzte. Ich war Amerikanerin und sonst gar nichts. »Ich kenne allerdings deinen Bruder.« »Welchen?« Killian lachte strahlend und seine grünen Augen blitzten. »Ich habe einige davon, weißt du?« »Ja, ich weiß. Warte, ihr seid sechs Jungs und ein Mädchen, richtig?« Ich selbst war Einzelkind und für mich war nur schwer vorstellbar, was für einen Trubel sieben Kinder bedeuteten. »Korrekt, wenn du meinen Halbbruder mitzählst. Also welchen kennst du?« »Genau den!« Killian stutzte sichtlich. Sein Lächeln verschwand und er tat einen Schritt zurück. »Sei ihm nicht böse, dass er es mir erzählt hat. Ich verrate es keinem, da ich gut verstehen kann, warum du nicht willst, dass es hier bekannt ist.« »Tust du das?« Killian arbeitete als Techniker für seinen Halbbruder Toby, der gerade erst neu in der Band war. Und Killian wollte nicht, dass jemand glaubte, er habe den Job nur bekommen, weil sein Bruder ihn vorgezogen hatte und nicht, weil er wirklich gut war im Reparieren und Pflegen der Instrumente. »Glaub mir, ich verstehe es. Ich sag dir auch warum. Der Chef der Roadcrew, also der, der gerade eben Gabriel angetrieben hat, ist mein Onkel. Und ich habe mein Praktikum bei den Tontechs tatsächlich nur seinetwegen. Das aber muss auch keiner wissen, okay?« Killians Lächeln kam zurück. »Okay«, sagte er. »Dein Geheimnis ist sicher bei mir. Jodie?« »Ja?« »Ich versuche nur, mir deinen Namen zu merken.« Kapitel 3 Am kommenden Tag fuhren wir nach Chattanooga. Wobei wir fuhren, nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn wir begaben uns getrennt voneinander zum Festivalgelände, da ich erst am folgenden Wochenende zu meinem ersten Einsatz kommen würde. Konnte man eigentlich von einem Einsatz sprechen, wenn man nur Praktikantin war? Ich beschloss, ich konnte, denn ich war schon seit mindestens einer Woche nervös und voller Vorfreude. Vermutlich war es gut, dass ich erst noch einmal alles aus der Nähe sehen durfte, bevor es ernst wurde und ich die Gelegenheit bekam, etwas kaputt zu machen. Wenn ich eines nämlich schon wusste, dann, dass es immer furchtbar schnell gehen würde. Sie alle waren eingespielt, und würden von mir erwarten, dass auch ich zügig ihre Aufträge umsetzen würde. Es war früh am Morgen und das Gelände für Festivalbesucher noch einige Stunden gesperrt. Mit meinem All Access Pass aber kam ich samt meines Chevy auf den Parkplatz und stellte ihn ein Stück abseits des Crewbusses. Der Nightliner von Lance und seiner Band schien noch gar nicht dortzusein. Etwas, das mich allerdings nicht verwunderte. Warum sollten sie auch früher aufstehen, als sie es musten? Ihr Tag würde schließlich auch so noch sehr lang werden. Ich klopfte an die Bustür, erhielt aber, wie schon erwartet, keine Antwort. Sie arbeiteten längst alle fleißig. So zog es mich also vorbei an Ständen, die gerade erst aufgebaut wurden und an denen man später Ketten, Ringe, Caps und natürlich allerlei Fressalien kaufen konnte. Ich schenkte auch den kleineren Bühnen auf denen unbekanntere Bands schon im Laufe des Nachmittags spielen würden, keine gesteigerte Aufmerksamkeit, und lief stattdessen zur großen direkt unten am Tennessee River. Wobei unten nicht ganz stimmte, denn die Bühne befand sich auf einer Art Turm und war nur über etliche Stufen zu erreichen. Oder über einen Fahrstuhl, der allerdings ›nur für schwere Lasten‹ in Betrieb genommen wurde. Ich war ganz offensichtlich keine mit meinen 52 Kilo. Ich blinzelte gegen die grelle Julisonne und nach dem mühseligen Weg dorthin genoss ich den Schatten der Aufbauten für einen Moment stillstehend. Ich wollte nicht, dass einer der Techniker oder Bühnenbauer sah, dass ich über die Kondition einer alten Oma verfügte. Schlimm genug, dass meine eigene mich regelmäßig in den Schatten stellte. Selbst schuld - ich könnte ja mehr Sport machen. Überhaupt Sport machen. Wann immer ich aber Zeit dafür hatte, brannte die helle Mittagssonne vom Himmel. Ich teilte nämlich das Schicksal all jener, die nachts in einer Bar Getränke und Speisen servierten. Mein Puls beruhigte sich langsam und ich ging umsichtig am Bühnenrand entlang, hoffte auf Gabriel oder Killian zu treffen. »JODIE!« Ein Lächeln sprang umgehend auf mein Gesicht und ich blinzelte erneut gegen die Sonne, schirmte eine Hand über meine Augen, um Killian zu finden. »Ich bin hier!« Er lachte und winkte vom vordersten Rand der Bühne zu mir. »Ach da!«, rief ich. »Hast du keine Angst, dass du dir dort einen furchtbaren Sonnenbrand holst bei deiner hellen Haut?« »Lichtschutzfaktor 50. Aber lieb, dass du dir Sorgen um mich machst.« Ich ließ mich mit etwas Abstand an seine Seite sinken. »Und was ist mit dir? So dunkel ist deine Haut nun auch nicht?« »Im Gegensatz zu dir bin ich quasi maximalpigmentiert. Und ich bekomme so gut wie nie Sonnenbrand.« Ich nickte auf den Stapel dünner Kabel zu seiner Rechten. »Soll ich dir was helfen?« »Sollen, sollst du gar nicht, aber du darfst gerne. Mir sind die vor- hin runtergefallen und ich weiß jetzt, wozu andere Leute Clips benutzen.« »Der Tag war also nicht umsonst.« Ich streckte die Hand aus, da Killian seine gerade von einem Kabel befreit hatte und er reichte mir eines, nahm sich ebenfalls ein neues. »Hast du Gabriel heute schon gesehen?« »Zwangsläufig, ja. Wir fahren ja im gleichen Bus. Heute so oder so alle. Es ist ja ein Festival und da wird vieles, was auf der Tour zum Einsatz kommt, nicht gebraucht.« Killian zuckte die Schultern. »Das hat man mir jedenfalls erzählt. Ich habe ja meine richtige Feuertaufe auch erst nächste Woche. Genau wie du.« »Ist doch gut, oder? So kannst du dich langsam reinfinden. Es ist wie eine Generalprobe.« »Dann hoffe ich aber, dass ich die nicht verhaue und so gleich negativ auffalle. Die anderen Techniker sind alle schon Jahre dabei. Toby ist neu in der Band. Er hat noch nie einen Tech gehabt und ich habe noch nie in dem Job gearbeitet. Eigentlich ist das keine gute Kombination, oder?« »Toby hat so viel von dir und deiner Ahnung von Instrumenten geschwärmt, dass er vermutlich fast mehr Angst hat zu versagen, als dass du sie haben müsstest.« »Toby schwärmt von mir?« Killian lachte und strich sich die blonden Strähnen wieder hinter die Ohren. »Das ist schon witzig. Hat er dir auch erzählt, dass wir einander gehasst haben, als wir klein waren?« »Nein, hat er nicht. Wieso?« »Halbbrüder. Ich habe ihm quasi seinen Papa weggenommen und er hat mich mal fast im Pool ertränkt.« Schockiert sah ich ihn an. »Es war keine Absicht, aber ich war noch zu jung, um das auch zu verstehen. Das allerdings war dann so ziemlich das Ende unseres Kriegs. Oh hey-« Er deutete nach rechts. »Da ist Gabriel. GABRIEL!« Gabriel schrak zusammen, ließ um ein Haar sein Handy fallen, sah sich um und entdeckte uns schließlich. »VIELEN DANK«, rief er zurück und kam näher. »Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.« »Ach, haben wir dich bei etwas Verbotenem erwischt?« Gabriel hob das Handy an, ließ es dann aber in seine Hosentasche gleiten. »Aarons Einstellung zu diesem Teufelszeug ist sicherlich auch bei euch schon angekommen, oder?« »Oh ja!«, rief ich. »Nein, bei mir nicht.« Killian zuckte auf Gabriels Blick die Schultern. »Ich bin ihm nicht unterstellt. Ich hab bisher allerdings auch noch nie eines bei mir gehabt während der Arbeit.« »Du bist so ein Streber, weißt du das?« Gabriel blickte uns beide an. »Was macht ihr hier eigentlich? Sonnenbaden und gemütliche Schwätzchen halten?« »Na, dass du Arbeit nicht erkennst, wenn sie vor deiner Nase ist, ist ja nun auch nichts Neues.« Beleidigt schob Gabriel die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Immer alle auf mich, ist ja klar. Wie hatte ich auch von euch was anderes erwarten können? Ist ja auch leichter, sich der Masse anzupassen, als für Einzelne einzustehen.« »Spielst du das gerade oder meinst du das ernst?« Killian verengte die Augen zu Schlitzen, musterte Gabriel genauer. Gabriel holte tief Luft, ließ die Lider sinken. »Sorry. Ich glaube, ich hab nen Sonnenstich oder so was in der Art. Nehmt mich vielleicht nicht ganz so ernst.« »Wirklich?«, hakte ich nach. Auf seiner Stirn stand Schweiß und er war für seine Verhältnisse recht blass. Mit einem Sonnenstich jedoch würde er flachliegen. Wenn er allerdings weiter in der Hitze arbeiten würde, könnte es schon dazu kommen. »Nein. Aber eine Pause und was zu Trinken wären fantastisch.« Sprach es und hievte sich äußerst mühsam zu uns hoch auf die Bühne. Killian grinste, stellte es aber sofort wieder ein, als Gabriel aufsah. »Was?« »Nichts, Gabriel. Getränke haben wir allerdings auch keine da.« Gabriel zuckte mit den Schultern. »Im Gegensatz zu euch weiß ich aber, wo welche stehen.« Er ließ sich auf den Rücken fallen und langte nach hinten in eine kleine Nische. Als er sich streckte, rutschte sein weinrotes T-Shirt bis hoch auf die Brust und gab den Blick auf seinen flachen, gebräunten Bauch frei. Mein lieber Herr Gesangsverein, wie konnte ein so schmächtiger Kerl ein solches Sixpack haben? Als er sich wieder aufsetzte, bemerkte ich Killians Gesichtsausdruck und spürte Hitze auf meinen Wangen. Gott im Himmel, ja, ich hatte einen hübschen Mann angestarrt. Nein, ich würde mich nicht dafür entschuldigen, und wenn es ihn noch so amüsierte. Gabriel öffnete mit leicht zitternden Fingern die Wasserflasche, setzte sie an und trank, nicht ohne sich einen beträchtlichen Teil davon in den Kragen zu kippen. »Sabber nicht«, raunte Killian mir zu und ich stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Gabriel, wenn sie rausbekommen, dass du die geklaut hast, wirst du ganz sicher Probleme bekommen. Machst du das mit Absicht?« »Also erstens, habe ich sie nur geborgt. Ich hole gleich eine Neue und keiner wird es merken. Und zweitens, falls das nicht schon drittens ist: Ich versuche, dem Ärger für gewöhnlich aus dem Weg zu gehen, aber wem wäre geholfen, wenn ich umkippe und ... du meinen Job übernehmen müsstest?« Gabriel grinste breit und trank weiter. Seine Flasche war beinahe leer, als er urplötzlich aufsprang und sich hektisch umsah. »Was ist?«, fragten Killian und ich wie aus einem Munde. »Aaron«, flüsterte Gabriel gehetzt und visierte einen der bereits geleerten Kabelcontainer an. Schon war er mit einem Fuß auf dessen Rand. »Das hast du nicht wirklich vor!« Killian aber sprang auch auf und hielt seine Hände auf die Kante, damit der Container nicht kippen konnte. Ich blieb sitzen und sortierte weiter Kabel und als Killian den Deckel schloss, warf ich ihm ein Ende zu, sodass es aussah, als würden wir zusammen arbeiten. Gabriel hatte nach der Sache mit dem Banner noch was gut bei mir. Im selben Augenblick kam Aaron um die Ecke und hielt inne. »Wo steckt der Bengel?« Er stemmte die Hände in die Hüften und sah uns an, als hätten wir ihn versteckt. Nun, das war nah an der Wahrheit, oder? »Er war gerade eben noch hier«, versicherte Killian und log damit nicht einmal. »Und wo ist er dann hin? Er sollte auf direktem Wege zurück zum Truck kommen, wenn er hier fertig ist. Ich bin den direkten Weg gegangen und er ist mir nicht begegnet.« Auffordernd sah er zu mir. Er wusste, ich konnte nicht lügen. »Er ist nur kurz-« Was? »-verschwunden.« »Kurz verschwunden? Was soll das heißen?« Krampfhaft bemühte ich mich, nicht zu der Kiste zu sehen. Ob Gabriel darin überhaupt genug Sauerstoff hatte? »Er war ganz blass, Aaron«, übernahm Killian, als hätten wir es abgesprochen. »Ihm ging es wirklich nicht gut und da-« Aarons Blick fand die am Rasen liegende Flasche und auch Killian wurde ihrer gewahr, nutzte es geschickt aus. »Da habe ich ihm eine Wasserflasche gegeben - für den Kreislauf. Und das ist ihm nicht so bekommen. Kaltes Wasser - unruhiger Magen. Du verstehst?« Aaron verstand, denn er verzog das Gesicht. »Ich sehe es ihm nach. Das Wetter macht unsere Arbeit heute wirklich anstrengend. Denkt ihr, es geht bei ihm gleich wieder, oder soll ich für ihn weiterarbeiten?« »Es geht bestimmt.« Erneut sprachen wir wie aus einem Munde. Aaron musterte uns, nickte dann aber. »Wenn nicht, dann komme ich zum Truck und geb dir Bescheid«, schlug ich vor. »In Ordnung. Danke«, sagte er und ging dann endlich wieder. Kaum war er um die Ecke verschwunden, öffnete Killian den Container. Gabriel schwitzte sichtlich mehr als zuvor und war tatsächlich unheimlich blass. Mühsam kam er auf die Füße und kletterte aus seinem Versteck. Als er auf dem Boden aufkam, strauchelte er. Beherzt griff Killian ihn am Arm. »Verdammt, du zitterst ja! Das war ne wirklich dumme Idee da hineinzusteigen. Du hättest ohnmächtig werden können vom Sauerstoffmangel!« Killian schollt Gabriel, wie es sonst wohl nur Erziehungsberechtigte mit ihren Kindern taten. Fast war es niedlich. Etwas, das ich ganz sicher für mich behielt. »Daran lag das nicht.« Gabriel stand noch immer wacklig auf seinen Füßen und mit einem Blick zurück lehnte er sich an der Bühne an. »Gott«, schnaufte er und ließ den Kopf einen Moment hängen, atmete tief durch. Killians Hand lag noch immer an seinem Unterarm, als er meinem Blick aber gewahr wurde, ließ er langsam los, lehnte sich links neben Gabriel an, während ich ihn rechts flankierte. Im Zweifelsfall würde einer von uns ihn schon auffangen. »Da war genug Sauerstoff, glaube ich«, brachte Gabriel schließlich hervor und kämmte sich die nassen Haare aus der Stirn. »Das Problem war Platzangst.« »PLATZANGST?« Killian keuchte. »Und dann steigst du freiwillig da hinein?« »Wusste ich vorher nicht.« »Du bist total bekloppt, Gabriel! Ich hoffe, du weißt wenigstens das.« Killian schüttelte den Kopf, während Gabriel erschöpft nickte. Ich sah mich um, sprang zurück auf die Bühne und holte eine wei- tere Wasserflasche aus der Nische. Allerdings ohne mich dabei halb auszuziehen. Um uns herum wurde gearbeitet, aber so recht schien keiner Notiz von uns zu nehmen. Ich setzte mich wieder, ließ die Beine herabbaumeln und öffnete die Flasche, um sie Gabriel zu reichen. Zögerlich fasste er danach, hob sie an den Mund und nahm einen vorsichtigen Schluck. Dann noch einen. Abrupt ließ er kurz darauf die Hand sinken und schloss die Augen. Er schwankte wieder mehr und diesmal griffen Killian und ich zugleich zu. »Ich weiß nicht, wie es mit Jodie steht, aber ich bin nicht gut in Mund-zu-Mund-Beatmung.« Ich schüttelte auf Killians Blick den Kopf. »Also, Jodie sagt nein, Gabriel, daher klappst du vielleicht besser nicht zusammen, ja?« Gabriel keuchte, öffnete die Augen wieder und stieß den Atem lang aus. »Ich bemüh mich.« Er nickte vorsichtig zu Killian. »Immerhin hast du nicht gelogen, als du gesagt hast, mir wäre es nicht gut.« »Hm?« »Du willst das nicht genauer wissen, glaub mir. Und Jodie will das noch weniger.« Er nahm noch einen Schluck Wasser und streckte sich dann. »Danke euch beiden. Ich geh mal zum Truck und schau, was Aaron für mich zu tun hat.« »Sicher, dass es dir dafür gut genug geht?« Gabriel nickte mir zu. »Es muss«, sagte er und setzte sich langsam in Bewegung. Auffordernd sah Killian mich an und ich verstand wortlos, holte zu Gabriel auf und blieb für die nächste Stunde an seiner Seite. Kapitel 4 Bis zum Abend ging es in jedem Fall wieder und ob oder ob nicht Gabriel sich in der Zwischenzeit übergeben hatte oder beinahe noch ohnmächtig geworden wäre, würde wohl sein Geheimnis bleiben. Aaron glaubte in jedem Fall, dass beides der Wahrheit entsprach, und hatte Gabriel eine Weile freigegebenen. Zum Spazierengehen. »Ich bin nicht sicher, ob er damit gemeint hat, du sollst dir den Bauch mit Süßzeug vollschlagen, Gabriel.« »Allef waff hilft-« Gabriel hustete Zucker. »-hat er gesagt. Sorry. Hab meine Manieren im Bus liegenlassen.« Kurz tätschelte er meine Schulter, dann aber war es auch wieder vergessen und er sprach mit vollem Mund weiter. »Denkst du, das hier kann schlecht sein?« »Ich denke vielleicht lieber einfach nichts und tu so, als hätte ich das alles nicht mitbekommen.« Killian pustete das Puder von seinem dunkelgrünen T-Shirtärmel. »Möglicherweise könntest du deinen Teil dazu beitragen, dass es nicht auffällt?« »Was kann ich dazu, dass du nicht essen kannst«, grinste er, wischte über Killians Rücken und strich mehr Zucker rauf als runter. »Sag mal, hast du eigentlich jemals probiert nicht aufzufallen?« »Es ist fast witzig, so klein wie er ist, oder?«, sagte Killian, statt dass er Gabriel Gelegenheit gab, mir zu antworten. Gabriel verdrehte die Augen. »Danke, Graf Bohnenstange.« »Gerne. Also?« »Ich hab es probiert. Natürlich. Ich hab mich mal unsichtbar gemacht und zurückgehalten und mir so was wie das hier-« Er hielt die Papiertüte mit dem Gebäck hoch. »-verkniffen, aber-« Gabriel holte tief Luft, zögerte dann doch. »Und dann?«, hakte ich nach und auch Killian sah ihn auffordernd an. »Das war einfach nicht ich. Ich habe mich so fremd gefühlt und-« Er sah erst mich und dann Killian an. »Okay, ehrlich, was denkt ihr? Bin ich wirklich so schlimm? Muss ich mich ändern?« Als Aarons Nichte sollte ich vermutlich dafür sein. »Du könntest es leichter haben«, kam Killian mir zuvor. Wobei ich wohl ohnehin nicht in Aarons Sinne gesprochen hätte. Gabriel nickte. Das ›Aber‹ stand ihm allerdings mitten ins Gesicht geschrieben. »Lass es sein. Gabriel, tu mir einen Gefallen, bleib bitte genau, wie du bist.« »Hast du nicht gerade gesagt, ich könnte es anders leichter haben?« »Habe ich. Aber das wärest nicht mehr du. Du bist eben so und es würde dir nur wehtun und dich unglücklich machen, wenn du dich für andere verbiegen würdest. Du machst nichts Illegales und du schadest keinem mit deiner Art.« Zweifelnd sah Gabriel ihn an. Seine blauen Augen waren wissbegierig aufwärtsgerichtet. »Ich hab mal probiert so zu sein, wie andere MICH haben wollten und es war grausam. Ich spreche also aus Erfahrung. Bleib so!« »Erleichterung! Ich bin eine totale Niete im brav und angepasst sein.« Theatralisch wischte Gabriel sich über die Stirn. Dann blickte er mich an. »Oder denkst du anders?« »Nein, ich bin ganz Killians Meinung. Du bist schon gut so. Man kann Spaß mit dir haben und das zählt. Ich kann bisher auch nicht erkennen, dass du die Arbeit verweigerst. Nur, dass man dir manchmal zu viel davon gibt.« Killian nickte und ich kam zu dem zurück, was er zuvor über sich selbst gesagt hatte: »Was hast du denn an dir, das-« »Worin bist du richtig gut, Gabriel?«, fiel Killian mir ins Wort und sah mich entschuldigend an. Er hatte mich ganz bewusst nicht weiterkommen lassen, wollte offensichtlich nicht darüber sprechen, was anderen an ihm nicht gefiel. Und ich ließ ihn. »Also was-« »Im Singen!« Gabriel hatte nicht einmal eine halbe Sekunde überlegen müssen. Killian lachte, hob auf Gabriels durchbohrenden Blick aber abwehrend die Hände. »Ich lach dich nicht aus. Bist du wirklich. Ich wäre sonst sicher nicht die ganze Nacht in der Bar geblieben, und hätte dir zugehört.« »Will ich gehofft haben, dass das nicht nur Anstand war.« Gabriel wiegte den Kopf. »Wobei, auch das wäre nett gewesen. Also kommst du nächste Woche wieder?« »Klar. Sag mir nur wann und wo.« Killian wandte sich mir zu. »Du solltest auch kommen, Jodie.« »Warte mal!«, rief ich, und musterte dann Gabriel genauer. »Ich wusste noch gar nicht, dass du auch singst.« »Das hat er dir NICHT erzählt.« »Ich bin nicht so voll von mir selbst, wie man sagt.« Erneut hob Killian die Hände in Defensive. »Er schreibt auch fantastische Songs.« Er nickte Gabriel wieder zu. »Was kannst du noch gut?« Gabriel griff ungeniert in Killians Pappschale und stibitzte sich zwei Fritten. »Dir das Essen klauen.« Er gluckste und Killian hielt ihm die Pommes nun freiwillig hin. »Vielen Dank.« Er nahm noch ein paar, schluckte und antwortete dann doch noch: »Gitarre spielen, denke ich.« »Ja, kannst du.« Gabriels Mundwinkel zogen aufwärts. Seine blauen Augen strahlten ganz klar. Ich konnte nun ganz sicher nicht länger leugnen, dass ich ihn attraktiv fand, und wenngleich Gabriel selbst so gar keine Notiz davon nahm, wie oft und lange ich ihn ansah, so bemerkte Killian es in jedem Fall. Warnend blickte ich ihn an und er schüttelte leicht den Kopf. Er würde mich nicht verraten. So war er einfach nicht. »Jodie-« Ich hielt die Luft an. Lag ich falsch? »-kommt sicher gerne mit zu deinem nächsten Auftritt. Oder?« Ich nickte und war froh, um die angehende Dunkelheit, so konnte wenigstens niemand die Röte auf meinen Wangen sehen. »Klar. Sofern ich da frei habe auf jeden Fall.« »Wo arbeitest du?« Es war wohl offensichtlich, dass ich bisher mehr Zeit mit Killian verbracht hatte, denn der konnte sogar Gabriels Frage für mich beantworten. »In einer Bar. Hey, Jodie, habt ihr da auch Livemusik? Du könntest Gabriel ja vielleicht noch einen weiteren Gig beschaffen?« Killian lächelte so breit, dass ich das Gefühl hatte, er könnte auch wortlos verraten, dass Gabriel mir gefiel. »Ich könnte in jedem Fall fragen, ja«, sagte ich zögerlich. »Also wir haben Livemusik. Allerdings für gewöhnlich kein Country.« Beide Männer sahen mich vollkommen entsetzt an. »KEIN Country?« Ziemlich ungleiche Brüder. »Aber das hier ist Nashville, da gibt es doch gar nichts anderes!« Gabriel patschte Killian eine erstaunlich breite Hand auf die Schulter. »Mein lieber auswärtiger Freund-« Killian und Toby kamen aus Syracuse in New York. »-du musst noch viel über deine neue Heimat lernen. Wir lieben Country, aber wir können auch anders.« »Du auch?« Gabriel wiegte den Kopf. »Können ja. Es passt aber nicht zu mir.« »Gabriel, denkst du, du kannst so gut werden wie Lance Davy?«, mischte ich wieder mit. »Gute Frage. Soweit ich weiß, hat er bereits mit sieben Jahren Unterricht bekommen. Seine Familie hat so viel Kohle, dass er nur die besten Lehrer hatte und damals schon nur die teuersten Instrumente. Ich denke also eher nicht, aber es braucht mehr als nur das, um dort-« Er nickte zur noch immer leer stehenden und im Dunkeln liegenden großen Bühne. »-hinzukommen.« »Und das denke ich, kannst du schaffen.« Auf Gabriels Blick hin nickte Killian vehement. »Ich habe vielleicht nicht die umfassendste Ahnung von Country Musik, aber ich hab gehört und gesehen, was ich eben gehört und gesehen habe. Denkst du, du reichst schon an Toby heran?« »Gemein«, bedeutete ich Killian tonlos. Der aber zuckte die Schultern. Er wollte wissen, ob Gabriel arrogant war, so viel stand fest, denn Gabriel wusste nicht, dass Killian und Toby Brüder waren. Wie genau konnte man DAS eigentlich nicht auf den ersten Blick erkennen? »Lass mich ein, zwei Jahre lang seine Gitarren spielen, dann könnte ich sein Niveau erreichen, denke ich.« Sehr diplomatisch. Gabriel warf die leere Pommesschale und die Papiertüte weg, rupfte mir auch den Stiel von meinem Liebesapfel aus der Hand und sah dann auf seine Uhr. »Killian, wir müssen in zehn Minuten backstage sein. Jodie?« »Ich bin dabei.« Etwas zügiger bahnten wir uns nun unseren Weg durch die Menge. Kurz bevor wir aber am unteren Fuß des Bühnenturms waren, hielt Killian uns beide am Arm zurück. Er drehte sich um und kam ganz nahe, sodass er leise zu uns sprechen konnte. »Ich habe eine Idee für heute Nacht nach dem Konzert. Aber dafür musst du, Gabriel, so tun, als wäre es dir noch immer nicht so gut, sobald die Band die Bühne verlassen hat, ja?« Gabriel nickte. »Kann ich. Aber was hast du vor?« »Wirst du sehen. Jodie, du bleibst einfach in seiner Nähe, okay?« Eindringlich sah Killian mich an, wohl wissend ja, dass Aaron mein Onkel war und eben dem würden wir was vorspielen müssen. »Du hast nicht vor mich einzuweihen?« »Nein. Bist du trotzdem dabei?«
© Copyright 2025 ExpyDoc