Deutschtürken: Hin- und hergerissen Merkel fordert Loyalität. Was Erdoğan-Fans und Erdoğan-Gegner denken ▶ Seite 5, 6 AUSGABE BERLIN | NR. 11104 | 34. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ MITTWOCH, 24. AUGUST 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Kann er Trump stoppen? USA Gary Johnson tritt bei der Präsidentschaftswahl für die Libertarian Party an. Seine Zielgruppe: rechte Wähler, denen Hillary Clinton zu links und Donald Trump zu krass ist. Sein Potenzial: etwa 10 Prozent, die den Republikanern am Ende fehlen könnten ▶ SEITE 4 LOHFINK Verurteilt wegen falscher Verdächtigung: Ist die Solidarisierung mit dem vermeintlichen Vergewaltigungsopfer trotzdem richtig? Ein Pro und Kontra ▶ SEITE 12 BOSBACH Rückzug des Lautsprechers: Schade eigentlich ▶ SEITE 14 BERLIN Endlich wieder Sterne im Zeiss-Großplanetarium ▶ SEITE 21 Fotos: reuters ; ap VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten dankt der Wahrheit. Mit einigen despektierlichen Zeilen auf der letzten Zeitungsseite und einem darauffolgenden taz-Boykott durch Wolfgang Bosbach hat die Wahrheit erheblich zum Abbau des deutschen Wortmüllbergs beigetragen. Hier eine Zusammenstellung sämtlicher Bosbach-Zitate in der taz aus den letzten zehn Jahren: Last Exit Johnson: Der libertäre Kandidat spricht unentschlossene Wähler an. Er ist leise, freundlich, selbstironisch – das Gegenmodell zu Donald Trump Foto: Patrick T. Fallon/reuters „Woche der Entscheidungen“ FREIHANDEL Ceta- und TTIP-Gegner erwarten Hunderttausende bei Demos BERLIN epd/taz | In knapp vier Wochen wollen die Gegner der EU-Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA in sieben deutschen Großstädten auf die Straße gehen. Ein Bündnis aus 30 Organisationen stellte am Dienstag in Berlin den Aufruf „Ceta und TTIP stoppen“ vor. Die Veranstalter, darunter Verdi, Greenpeace, Campact und Brot für die Welt, erwarten Hunderttausende Protestierende. Demonstriert werden soll am 17. September in Berlin, Frank- furt am Main, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Stuttgart. Die Proteste läuteten eine „Woche der Entscheidungen“ ein, sagte Christoph Bautz, Mitorganisator und Geschäftsführer von Campact. Die SPD will zwei Tage später über ihre Haltung zu Ceta, dem Abkommen mit Kanada, entscheiden. Diese ist entscheidend für die Zukunft von Parteichef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Er wirbt für die Zustimmung zu Ceta, die Parteilinke und Teile der Basis lehnen das Freihandelsabkommen ab. Wenige Tage später wird Gabriel am Handelsministerrat in Bratislava teilnehmen, wo auf EUEbene über Ceta entschieden werden soll. Die Veranstalter müssen unerwünschten Beifall befürchten: Auch die rechtspopulistische AfD ist gegen die Freihandelsabkommen – und wollte sogar bei der Demonstration in Berlin mitmarschieren. ▶ Schwerpunkt SEITE 3 Einigung bei VW VOLKSWAGEN Zwei Zulieferer beenden Lieferboykott WOLFSBURG dpa | VW und zwei wichtige Zulieferer haben ihre beispiellose Machtprobe beendet und arbeiten wieder zusammen. Europas größter Autokonzern und die beiden Unternehmen der Prevent-Gruppe einigten sich auf ein Ende der Hängepartie, die bei VW zu einem teilweisen Produktionsstopp und Kurzarbeit für Tausende Mitarbeiter geführt hatte. Darüber, wie die Einigung im Detail aussieht, schweigen beide Seiten. Die gemeinsame Mittei- lung nach den 20-stündigen Gesprächen umfasst nur vier Sätze. „Die Lieferungen werden wieder aufgenommen, und deshalb steht für uns außer Frage, dass die Unternehmen vertragsgemäß weiter zusammenarbeiten“, sagte ein VW-Sprecher. Wie lange die Verträge noch laufen, wollten weder VW noch die Unternehmen sagen, auch nicht, ob die bestehende Lieferverträge verlängert oder gar neu verhandelt wurden. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.163 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 30634 4 190254 801600 KOMMENTAR VON PASCAL BEUCKER ÜBER RECHTE DEMONSTRANTEN BEI LINKEN CETA-PROTESTEN E s bedarf keiner großen prophetischen Gaben, um vorauszusagen, dass die für den 17. September in sieben Städten geplanten Proteste groß werden. Die Hoffnung der OrganisatorInnen, an die Berliner Demonstration vom vergangenen Oktober anknüpfen zu können und erneut eine Viertelmillion Menschen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta auf die Straße zu bringen, erscheint durchaus realistisch. Dass davon auch die AfD profitieren will, verwundert nicht. Es ist ein ebenso plumper wie dreister Vereinnahmungsversuch. Denn ihre AnhängerInnen haben auf den Demonstrationen nichts zu suchen. Es ist gut und richtig, dass die Kein Platz für Verbrüderung VeranstalterInnen in dieser Frage keinen Zweifel lassen. Das Bündnis, das zu den Großdemonstrationen aufruft, ist erstaunlich breit. Dazu gehören Gewerkschaften, Globalisierungskritiker, Wohlfahrts-, Sozialund Umweltverbände, kultur-, demokratie- und entwicklungspolitische Organisationen, Initiativen aus Kirchen, für Verbraucherschutz und nachhaltige Landwirtschaft. Das Spektrum reicht vom DGB über Greenpeace bis zu Brot für die Welt. Es reicht jedoch nicht bis zu rechten Gruppen oder Parteien – und das aus gutem Grund. Denn Freihandelskritik ist nicht gleich Freihandelskritik. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob TTIP und Ceta aus internationalistischen oder völkisch-nationalistischen Motiven heraus abgelehnt werden. Der AfD geht es um die „deutsche Souveränität“, die sie bedroht sieht. Die OrganisatorInnen der Großdemonstrationen nehmen für sich hingegen in Anspruch, nicht nur für die demokratischen Interessen der deutschen Bevölkerung einzutreten, sondern eben auch für die der Men- Die einen verteidigen das „deutsche Volk“, die anderen globale Solidarität schen in Kanada und den USA. Die einen verteidigen das „deutsche Volk“, die anderen die internationale Solidarität. Da ist keinerlei Platz für eine Verbrüderung. Trotzdem dürften rechte NationalistInnen erneut versuchen, sich in die Demonstrationszüge zu schmuggeln. Aber wie schon im Oktober wird das nicht mehr als eine unerfreuliche Randerscheinung sein. Das macht den Protest gegen Ceta und TTIP jedenfalls noch lange nicht zu einem „Querfrontprojekt“. Entscheidend ist, dass die große Mehrheit unmissverständlich deutlich macht, was sie von solch perfiden Instrumentalisierungsversuchen hält. Und da besteht aller Grund zur Zuversicht. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG M IT TWOCH, 24. AUGUST 2016 Der Tag NACH RICHTEN KRI EGSGEGN ER BI LANZI EREN GROSSBRITAN N I EN „GEISTIGE MÄCHTE“ Sportsoldaten waren zu schlecht Pfund-Schwäche beflügelt Exporte Indischer Polizist schluckt 40 Messer BERLIN | Die Deutsche Friedens LONDON | Die Aufträge für die NEU-DELHI | Ärzte in Indien ha- gesellschaft (DFG-VK) hat nachgerechnet: SportsoldatInnen der Bundeswehr waren bei Olympia zu schlecht. Obwohl knapp 30 Prozent aller 426 deutschen Olympia-TeilnehmerInnen SportsoldatInnen gewesen seien, seien nur 22 von 159 deutschen Medaillen an Bundeswehr-AthletInnen gegangen: Gerade mal 14 Prozent. Die Bundeswehr hatte die Teilnahme an den Spielen zuvor für eine groß angelegte Werbekampagne benutzt, von der auch die taz-Kasse profitierte. (taz) britische Industrie haben sich nach dem Brexit-Votum so gut entwickelt wie seit zwei Jahren nicht mehr. Das entsprechende Barometer habe sich im August von minus 22 auf minus 6 Zähler verbessert, gab der Industrieverband CBI gestern in London zu seiner Unternehmensumfrage bekannt. Die kräftige Abwertung der Landeswährung Pfund habe die Nachfrage angekurbelt, werden doch Waren dadurch im Ausland günstiger. Importe aller Art verteuern sich allerdings durch das billige Pfund. (rtr) ben einen Polizisten gerettet, der 40 Messer heruntergeschluckt hatte. „Geistige Mächte“ hätten ihn zum Verschlingen der Messer getrieben, sagte der 42-Jährige gestern. Zwei Monate lang hatte der Mann insgesamt 40 Messer geschluckt. Nachdem er mit Bauchschmerzen zum Arzt ging, wurden sie am vergangenen Freitag in einer fünfstündigen Operation aus seinem Magen geholt. Der Mann werde nun psychologisch untersucht, bevor er aus dem Krankenhaus entlassen werde, hieß es. (afp) taz intern Syrer bei uns „Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns“ heißt das neue Buch der taz-Autorin Kristin Helberg. Die Journalistin hat acht Jahre in Syrien gelebt und gearbeitet; heute wohnt sie in Berlin. Mit einem Syrer verheiratet, kennt sie somit beide Welten. Missverständnisse, Ängste, Vorurteile und die Tücken des Alltag in einem veränderten Land schildert sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen verständlich und nicht ohne Humor. Das Buch hat 269 Seiten, ist im Herder Verlag erschienen und kostet 24,99 Euro. Es ist ebenfalls als eBook erhältlich. Türkei greift Kurden und IS an SYRIEN Türkei bombardiert kurdische Stellungen und bereitet Angriff auf „Islamischen FOTO: JONAS MARON Einladung zur Ordentlichen Generalversammlung der taz, die tageszeitung. Verlagsgenossenschaft eG Samstag, den 17. September 2016 9.00 Uhr Einlass zur Generalversammlung, Ausgabe der Stimmzettel, Kaffeeverköstigung tazpresso 10.00 Uhr Beginn der Generalversammlung Georg Löwisch begrüßt die neuen und alten GenossInnen 10.15 Uhr Bericht des Vorstands: Geschäftsbericht für das Jahr 2015, Lagebericht 2016 sowie Perspektiven für 2017 Karl-Heinz Ruch 10.45 Uhr Bericht des Aufsichtsrats Aussprache 11.30 Uhr Kaffeepause 12.00 Uhr Rechnungslegung für das Geschäftsjahr 2015: – Erläuterung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung – Bericht des Aufsichtsrats über die Prüfung des Jahresabschlusses und des Vorschlags zur Ergebnisverwendung – Vortrag des Prüfungsergebnisses und Beschlussfassung zur Kenntnisnahme über den Prüfungsbericht des Genossenschaftsverbands e. V. über die gesetzliche Prüfung 2016, Jahresabschluss zum 31. 12. 2015 – Feststellung des Jahresabschlusses 2015 – Beschlussfassung über den Ergebnisverwendungsvorschlag 2015 12.30 Uhr Beschlussfassung über die Entlastung des Vorstands 12.40 Uhr Beschlussfassung über die Entlastung des Aufsichtsrats 12.50 Uhr Vorstellung und Wahl von zwei Mitgliedern des Aufsichtsrats Aussprache 13.30 Uhr Analyse der LeserInnenbefragung zu taz.zahl ich und taz.am wochenende Prof. Bernd Blöbaum 14.00 Uhr Pause mit Mittagsbuffet 15.00 Uhr Podiumsdiskussion: Engagiert gegen Rechts Sabine am Orde, taz Golschan Ahmad Haschemi, Amadeu Antonio Stiftung Bianca Klose, Mobile Beratungsstelle gegen Rassismus Bilkay Öney, SPD (angefragt) 16.00 Uhr Kaffeepause 16.30 Uhr Projekte der taz in 2016 / 2017 17.00 Uhr Projekte der taz Panter Stiftung 17.20 Uhr 25 Jahre taz Genossenschaft 17.50 Uhr Sonstiges 18.00 Uhr Ende der Generalversammlung 18.30 Uhr Abendbuffet in der Heinrich-Böll-Stiftung 19.45 Uhr Einlass zur taz-Panter-Preis-Verleihung im Deutschen Theater Moderation: Hatice Akyün, Journalistin und Buchautorin Andreas Rüttenauer, taz-Redakteur Musik: Feierabend Poetic Cumbia Alle Genossinnen und Genossen sind mit Begleitung herzlich eingeladen. Für den Vorstand: Andreas Bull, Karl-Heinz Ruch Ort der Generalversammlung: Heinrich-Böll-Stiftung e. V. Schumannstraße 8, 10117 Berlin Ort der Panter-Preis-Verleihung: Deutsches Theater Schumannstraße 13A, 10117 Berlin Verkehrsanbindung für beide Veranstaltungsorte: S- und U-Bahnhof Friedrichstraße oder Bus 147 Deutsches Theater, Bus TXL Karlplatz Staat“ vor. Regierung möchte geschlossene kurdische Autonomieregion verhindern AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH Die Türkei greift direkt in den Syrienkrieg ein. Am Montag bombardierten türkische Militärs Einheiten der kurdischen YPK in der Region Manbidsch. Zugleich wird eine Militäroperation befreundeter syrischer Kräfte gegen Einheiten des „Islamischen Staats“ (IS) vorbereitet, die sich unmittelbar an der Grenze zur Türkei festgesetzt haben. Die Türkei feuerte dort Granaten auf IS-Stellungen. Seit Tagen zieht die türkische Armee Kämpfer der Freien Syri schen Armee, die schon seit Längerem von der Türkei unterstützt werden, auf türkischem Gebiet zusammen, um mithilfe dieser Milizen den vom IS besetzten Grenzort Jarabulus zu erobern. „Wir werden den IS von der türkisch-syrischen Grenze vollständig vertreiben“, hatte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach dem Anschlag in Gaziantep angekündigt. Erst am Dienstag landeten wieder drei Raketen des IS auf türkischem Boden. Nach dem Bericht eines Reuters-Korrespondenten haben sich im türkischen Grenzort Karkamış mittlerweile Hunderte syrische Kämpfer eingefunden. Manche Quellen sprechen von bis zu 700 Angehörigen säkularer Milizen wie auch Mitgliedern diverser dschihadistischer Gruppen, die nach türkischer Definition alle unter den Schirm der Freien Syrischen Armee gehören. Unterstützt von türkischer Artillerie und Panzern, die aber vorerst auf der türkischen Seite der Grenze bleiben sollen, sollen diese Milizen in den kommenden Tagen versuchen, den IS aus Jarabulus zu vertreiben. Die Stadt ist der letzte größere Ort an der türkischen Grenze, den die terroristische Miliz noch kontrolliert. Nach ihrer Niederlage gegen syrisch-kurdische Truppen in Manbidsch flohen die überlebenden IS-Kämpfer nach Jarabulus. Offenbar rücken ihnen aber bereits kurdische Kämpfer nach, um den IS auch dort zu stellen. Neben der Vertreibung des IS ist das eigentliche Ziel der türkischen Regierung offenbar, ein Vorrücken der syrisch-kurdischen Truppen zu verhindern. Sollten die kurdischen YPGKämpfer von Manbidsch nach Westen vorstoßen, würden sie die letzte Lücke zwischen den von ihnen kontrollierten Gebieten östlich von Jarabulus und dem kurdischen Kanton Afrin im Westen schließen können. Damit wäre ein Gebiet von etwa 500 Kilometern Länge entlang der syrisch-türkischen Grenze unter kurdischer Kontrolle. Die Entstehung eines solchen kurdischen Autonomiegebietes ist die größte Sorge in Ankara. Die PYD als dominierende Partei im syrischen Kurdengebiet ist ein direkter Ableger der PKK, die in der Türkei als Terrororganisation verfolgt wird. Aus Sicht der türkischen Regierung entstünde in Syrien so ein großes Autonomiegebiet unter PKK-Kontrolle. Um das zu verhindern, wäre der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wohl im Notfall sogar bereit, türkische Truppen einzusetzen, falls die Freie Syrische Armee für die geplante Militäroperation nicht ausreicht. Schon jetzt werden gegenüber Jarabulus Panzerverbände sta- Hoffen auf die Feuerpause für Aleppo ■■UN appelliert. Die Vereinten Nationen dringen auf die rasche Umsetzung einer 48-stündigen Feuerpause für die umkämpfte syrische Millionenstadt Aleppo. Nach Inkrafttreten könnten die UN sofort Hilfsgüter für die rund 275.000 Menschen im belagerten Ostteil der Stadt liefern, sagte UN-Sprecherin Alessandra Vellucci am Dienstag in Genf. Im Westen stünden bereits 50 Lastwagen mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten be- reit. Zuletzt hatte die UN im Juli Güter nach Ostaleppo bringen können. ■■Russland verspricht. Russland stimmte vergangene Woche einer wöchentlichen 48-stündigen Feuerpause zu. Moskau ließ erklären, man werde die Waffenruhe in Aleppo umsetzen, sobald die Hilfslieferungen der UN bereit sind. Dies sei mit der syrischen Führung abgestimmt, sagte Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow. (epd, dpa) tioniert, die jederzeit auf syrisches Gebiet vorstoßen können. Nach türkischen Angaben sind sowohl Russland als auch die USA von ihrer Aktion unterrichtet. Die Bombardierungen der kurdischen Stellungen bei Manbidsch dürften allerdings für die USA ein Problem darstellen, sind doch die dortigen YPG-Truppen ihre engsten Verbündeten. Gerade noch hatten die USA dem Assad-Regime damit gedroht, syrische Kampfflugzeuge abzuschießen, wenn diese weiterhin kurdische Truppen in der Stadt Hassaka angreifen sollten. Wie werden sich die USA nun gegenüber ihrem NatoPartner Türkei verhalten? Am Mittwoch trifft US-Vizepräsident Joe Biden in Ankara ein. Neben dem Konflikt in Syrien soll es dabei auch um die Auslieferung von Fethullah Gülen gehen, der in den USA lebt und den die Türkei als Drahtzieher für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich macht. Kurden rücken der Türkei zu weit vor: Kämpfer in Hassaka an einem Assad-Reiterstandbild Foto: Rodi Said/reuters Schwerpunkt Freihandel M IT TWOCH, 24. AUGUST 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Ein Bündnis ruft zu Protesten gegen die Abkommen mit Kanada und den USA auf. Das birgt Stress für die SPD – und die Protestler Stresstest für den Chef Auf dem Parteikonvent droht Sigmar Gabriel eine herbe Niederlage SOZIALDEMOKRATEN BERLIN taz | Natürlich richten sich die Demonstrationen gegen Ceta und TTIP – und nicht gegen Sigmar Gabriel. So betonte es am Dienstag auch Frank Bsirske bei der Präsentation der Pläne für die Proteste gegen die Freihandelsabkommen in sieben Städten. Aber der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist ja auch Mitglied der Grünen. In der SPD-Führung sehen viele in den Demonstrationen ein weiteres, unschönes Stolpersteinchen in dem Mosaik, das den BeinaheKanzlerkandidaten der SPD zur Aufgabe zwingen könnte. Gabriel ist ja nicht nur der Wirtschaftsminister, der das EU-Kanada-Abkommen Ceta für gut, das EU-US-Abkommen TTIP aber für derzeit nicht durchsetzbar hält. Er ist auch SPDChef und hat als solcher nach den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern (4. September) und in Berlin (18. September) am 19. September ei- Aktivisten verschiedener Organisationen demonstrieren im August in Berlin gegen Freihandelsabkommen Foto: Maurizio Gambarini/dpa Gegen Ceta und TTIP in den Wahlkampf GEGNER Soziale und ökologische Organisationen haben ein gemeinsames mobilisierendes Thema gefunden: die Ablehnung der Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA. Demonstrationen am 17. September VON HANNES KOCH BERLIN taz | Während die Par- teien nach einem mobilisierenden Thema für die kommenden Wahlkämpfe suchen, hat die außerparlamentarische Opposition ihres bereits gefunden: Der Protest gegen die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA vereinigt inzwischen Dutzende Organisationen – von Greenpeace über den Mieter- bis zum Gewerkschaftsbund. Unter anderem rief Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, am Dienstag zu Demonstrationen in sieben deutschen Städten für den 17. September auf. Damit will das Bündnis die erstaunliche Teilnehmerzahl toppen, die vor einem Jahr in Berlin gegen den Freihandel auf die Straße ging: zwischen 150.000 und 250.000 Bürger. „Wir sind hier nicht in Nordkorea“ – auf diesen Punkt brachte Bsirske den Unmut gegen Ceta und TTIP, die geplanten Abkommen zwischen der EU und Kanada beziehungsweise den USA. Bsirskes Botschaft: Die Rechtssysteme in Deutschland und Europa schützen Bürger und Unternehmen. Zusätzliche Schiedsstellen brauche es daher nicht. Im Ceta-Abkommen haben EU-Kommission und Kanada festgelegt, ein neues Schiedsgerichtsverfahren für Konflikte zwischen international tätigen Unternehmen und Regierungen einzurichten. Kanadische Firmen könnten bei öffentlich bestellten Richtern Klage einreichen, wenn sie sich von der Bundesregierung schlecht be- handelt fühlen – genauso wie deutsche Firmen in Kanada. Bsirske lehnte diese Konstruktion ab, weil sie ausländische Firmen gegenüber einheimischen Betrieben und Bürgern begünstige. Die „Sondergerichtsbarkeit“ ermögliche es Unternehmen, auf entgangene Gewinne zu klagen, was vor deutschen Gerichten nicht möglich sei. Werde der neue Rechtsweg etabliert, beschränke das auch die Kompetenzen der gewählten Parlamente, Gesetze zu beschließen, mit denen Firmen nicht einverstanden seien. Als Beispiel nannte der Verdi-Chef das Mietpreisbremsengesetz, das den Anstieg der Wohnkosten in Deutschland begrenzen soll. Dank Ceta könnten kanadische Immobilieninvestoren dagegen klagen. Der Text für das Abkommen mit Kanada steht. Jetzt geht es darum, ob er beschlossen wird. Wann und wie die Ratifizierung durch Bundestag und Bundesrat sowie auf EU-Ebene stattfindet, ist unklar. Das geplante TTIP-Abkommen mit den USA ist dagegen noch nicht fertig. In vielen Punkten gibt es Differenzen. Unter anderem will die US-Regierung eine verbesserte Version des Schiedsgerichtsverfahrens auf Basis von Ceta nicht akzeptieren. Ob die wegen der US-Präsidentenwahl unterbrochenen Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden oder scheitern, steht in den Sternen. Insgesamt geht es bei Ceta und TTIP darum, Zölle und andere Hindernisse für den freien Handel zu beseitigen. Auch daran entzündet sich Kritik. Cor- nelia Füllkrug-Weitzel, die Präsidentin der evangelischen Entwicklungsorganisation Brot für die Welt, sieht in den beiden geplanten Verträgen ein „Armutsförderungsprogramm“. Leichterer Handel zwischen reichen Ländern könne auf Kosten der armen Staaten und ihrer Bevölkerung gehen. Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Gesamtverbandes, wandte sich gegen die „weitere Ökonomisierung des Sozialen“. So könnten Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Altenheime unter Druck geraten, wenn ausländische Investoren einen Fuß auf die entsprechenden europäischen Märkte bekämen. Soziale Einrichtungen sollten nicht der marktwirtschaftlichen Gewinnlogik unterworfen werden, so Schneider. Die anderen Feinde des Freihandels RECHTE Auch Nationalisten, Identitäre und AfDler lehnen Ceta und TTIP ab. Welche Rolle spielen sie bei den Protesten? BERLIN taz | Am 17. September sollen in Deutschland Hunderttausende Menschen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta demonstrieren. Sind das alles nur Ökos? Nee. Hinter den Protesten stehen Umwelt- und Sozialverbände, Verbraucherschutzinitiativen, aber auch der Deutsche Kulturrat und der Deutsche Gewerkschaftsbund. Protestieren soll laut Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz „ein breites Bürgerbündnis“, jenseits von Parteien, und auch die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) würde gerne mitmachen. Warum denn das? Die AfD als Partei einerseits, aber auch viele innerhalb der patriotischen, völkischen und rechtsextremen Szene lehnen insbesondere das geplante TTIPAbkommen mit den USA („Achtung, Amis!“) ab. Mit welchen Argumenten? Auch die Rechten halten Freihandelsabkommen für eine Gefahr für Sozialstandards und Verbraucherschutz. Auch sie kritisieren die mangelnde Transparenz bei den Verhandlungen. Ihre Kritik ist dabei vor allem hervorragend geeignet für antiamerikanische, antisemitische und nationalistische Narrative: Wie wahlweise böse Amerikaner oder die globalen Finanzeliten das deutsche Volk ausnehmen wollen. In rechten Internetforen sind TTIP und Ceta daher beliebte Aufregerthemen. Die Berliner AfD-Politikerin Beatrix von Storch schrieb Anfang August einen Brief an das Anti-CetaBündnis mit der Frage, an welcher Stelle der Demonstration in Berlin sich die AfD am 17. September – einen Tag vor der Ber- liner Abgeordnetenhauswahl – einreihen dürfe. Und, wo darf sie? Gar nicht. Denn die Veranstalter beziehen in nahezu sämtlichen Demonstrationsaufrufen klar Stellung für „eine solidarische Welt, in der Vielfalt eine Stärke ist“. Rechtspopulismus, Rassismus und Antiamerikanismus würden nicht geduldet, schrieben sie auch an die Adresse der AfD. Aber trotzdem können sich doch Rechtspopulisten und -extreme in die Demos mischen … Können sie. Das ist angesichts der Größe der Demonstrationen auch zu erwarten – allerdings als Rand anek doten. Als etwa 2015 in Berlin 150.000 bis 250.000 Menschen zur bislang größten Anti-TTIP-Demonstration strömten, nutzten Aktivisten der „Identitären Bewegung“ die Kulisse: Eine Gruppe stürmte in die Menge, schon waren die Fotos im Kasten. Dann dauerte es nur Minuten, bis Polizei und Demonstranten die Rechten abdrängten. Damals rief auch die AfD zur Demo-Teilnahme auf – MARTIN KAUL ohne Effekt. „Ich könnte das Denken einstellen, wenn ich niemals widersprechen darf“ MATTHIAS MIERSCH, SPD-ABGEORDNETER nen weiteren heiklen Termin in Wolfsburg zu überstehen. An diesem Montag entscheidet ein SPD-Konvent, ein „kleiner“ Parteitag, über Ceta. Geht die Abstimmung verloren, sehen einige Auguren keine Zukunft mehr für Gabriel an der Spitze der Sozialdemokraten. Ob Ceta in Wolfsburg durchkommt, ist höchst fraglich. Die Landesverbände in Bayern und Bremen lehnen das Abkommen ab und auch die Berliner SPD wird sich wohl dagegen aussprechen. Der mächtige SPD-Unterbezirk Hannover sagt auch Nein, die Jusos sowieso. Ceta sei „nicht zustimmungsfähig“, sagte am Dienstag auch Klaus Barthel, Chef der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, der Passauer Neuen Presse. In Bevölkerung und Partei gebe es „klare Mehrheiten“ dagegen. Das Problem, dass ein Nein zu Ceta auch ein Nein zum Parteichef ist, sieht auch Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken. Aber: „Ich könnte als Parlamentarier mein Denken einstellen, wenn ich niemals meinem Vorsitzenden widersprechen darf“, sagt der Jurist, der als einer der wenigen in der SPD die 500 Seiten Abkommenstext wirklich gelesen hat. Mierschs Fazit: nicht zustimmungsfähig. Immerhin: Der große Landesverband Nordrhein-Westfalen ist für Ceta. Johannes Kahrs, Sprecher der SPD-Rechten, findet zwar nicht, dass bei Ceta „Weihnachten und Ostern zusammenfallen“. Er setze aber auf den Antrag, der in Wolfsburg debattiert wird. Chef der Antragskommission ist der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz. In ihn, sagt der Hamburger Kahrs, habe „ich vollstes Vertrauen“. KSC
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