Fall 1

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,
Handels- und Wirtschaftsrecht
Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M.
Wiss. Ang. Stefanie Hart
Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14
Fall 25
K besucht die Mitgliederversammlung eines Photoclubs, dem er seit ein paar Jahren angehört.
Der Vorsitzende des Vereins M weist u.a. darauf hin, dass das Photoartikel-Versandhaus V
gerade sehr preiswerte Stative anbiete. Deshalb werde er ein Formular für eine Sammelbestellung herumgeben, in das man seine Bestellung verbindlich eintragen könne. Als die Liste, die
deutlich gekennzeichnet ist und eine genaue Beschreibung des Artikels samt Preis enthält, zu
K kommt, trägt er sich in der Meinung ein, es handle sich um die Anwesenheitsliste. Einige
Tage später erhält K das Stativ samt Rechnung zugeschickt. Unter Hinweis auf seinen Irrtum
weigert er sich zu zahlen.
Kann V Bezahlung verlangen?
Lösungshinweise Fall 25
Anspruch des V gegen den K auf Zahlung des Kaufpreises gem. § 433 II
A. V könnte gegen den K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gem. § 433 Abs. 2
haben. Dann müsste zwischen V und K ein Kaufvertrag zustande gekommen sein.
Ein Vertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willenserklärung, nämlich Angebot und
Annahme, zustande.
I. Das Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam
wird und alle wesentlichen Bestandteile des Vertrages enthalten muss.
1. Die Bestellliste stellt noch kein Angebot dar, sondern ist lediglich eine invitatio ad offerendum, da V sich allenfalls solange vertraglich binden will, wie sein Liefervorrat
reicht.
2. Allerdings könnte in der Eintragung des K in die Liste eine Angebotserklärung zu sehen sein. Fraglich ist jedoch, ob K mit der Eintragung eine Willenserklärung abgegeben hat, nämlich eine Äußerung eines auf das Herbeiführen einer Rechtswirkung gerichteten Willens. Es müssten also die Elemente einer Willenserklärung vorliegen.
Erforderlich ist dafür der innere Wille zum Abschluss eines Vertrages sowie eine
entsprechende Erklärung (Äußerung dieses Willens), die den Schluss auf den inneren
Willen zulässt.
a) Eine Erklärung (objektiver Tatbestand der WE) des K könnte in dessen Eintragung
in der Liste zu sehen sein.
Dazu müsste sein Verhalten aus der Sicht eines objektiven Empfängers (§§ 133,
157) den Schluss auf das Vorliegen eines Geschäftswillens zulassen. Nach außen
hat K den Eindruck erweckt, er wolle ein Stativ zu dem angegebenen Preis von V
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kaufen, da die Bedeutung der Liste nach der vorangegangenen Erläuterung des
Vereinsvorsitzenden für jeden objektiven Betrachter klar war.
Eine Erklärung liegt damit objektiv vor.
b) Fraglich ist jedoch, wie sich die Tatsache auswirkt, dass K eigentlich kein Stativ
bestellen wollte, sondern subjektiv davon ausging, er trage sich in die Anwesenheitsliste ein. Insoweit ist zu klären, welche Rolle der subjektive Tatbestand der
Willenserklärung für deren Wirksamkeit spielt.
Merke: Der subjektive Tatbestand der Willenserklärung, also der innere Wille, wird traditionell in drei Bestandteile gegliedert: Den
Handlungswillen, das Erklärungsbewusstsein, den Geschäftswillen
(Hinweis: Es empfiehlt sich, die Prüfung, ob eine wirksame Willenserklärung vorliegt, anhand dieser Kriterien vorzunehmen. Auf diese
Art und Weise können bei der Einordnung eines Sachverhaltes unter
einen Tatbestand [Subsumtion] Fehler vermieden werden).
aa) Der auf jeden Fall erforderliche sog. Handlungswille, d.h. der Wille, überhaupt tätig zu werden, ist hier gegeben, da K sich freiwillig in die Liste eintrug.
bb) Fraglich ist, ob K auch mit Erklärungsbewusstsein gehandelt hat.
(1) Das sog. Erklärungsbewusstsein liegt vor, wenn dem Handelnden bewusst
ist, dass er durch sein Verhalten eine rechtsgeschäftliche Erklärung irgendwelchen Inhalts abgibt. Wesentliches Element des Erklärungsbewusstseins
ist der Wille des Erklärenden, sich rechtlich an seine Erklärung binden zu
wollen (sog. Rechtsbindungswille).
Vorliegend wollte K sich lediglich in eine Anwesenheitsliste eintragen, worin keine rechtserhebliche Handlung zu sehen wäre. K war sich dabei nicht
bewusst, dass er objektiv den Anschein erweckt hat, er wolle ein verbindliches Vertragsangebot abgeben. K handelte bei der Eintragung in die Liste
somit ohne Rechtsbindungswillen.
(2) Die Folgen des fehlenden Erklärungsbewusstseins sind umstritten (dazu
MünchKommBGB-Kramer, § 119, Rn. 95 ff.).
(a) Nach früher h.M., der sog. Willenstheorie, ist das Erklärungsbewusstsein
unabdingbarer Bestandteil einer WE. Fehlt es, so ist die Erklärung nicht
bloß nichtig, sondern es liegt überhaupt keine WE vor (vgl. Canaris NJW
1974, S. 521, 528).
(b) Nach anderer Ansicht ist das Vorliegen des Erklärungsbewusstseins
nicht konstitutiv für eine Willenserklärung. Fehlt es, so ist danach die Erklärung analog § 118 nichtig. Denn da nach § 118 Nichtigkeit selbst in
einem Fall angeordnet wird, in dem der Erklärende weiß, dass er den äu-
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ßeren Tatbestand einer WE setzt, müsse eine WE bei fehlendem Erklärungsbewusstsein erst recht nichtig sein. Der Empfänger der Erklärung
wird über § 122 geschützt (vgl. Brehm AT, Rn. 131 ff.).
Demnach hätte K vorliegend keine wirksame Willenserklärung abgegeben.
(c) Nach h.M. in Literatur und Rechtsprechung, sog. Erklärungstheorie,
(dazu BGH NJW 1984, S. 2279 ff. m. w. N.) ist eine differenzierte Betrachtung notwendig, die die Interessen aller Beteiligten angemessen berücksichtigt. Danach gilt:
- Fehlt dem Erklärenden das Erklärungsbewusstsein und ist ihm dieser
Mangel nicht zuzurechnen, so liegt bereits keine (wirksame) Willenserklärung vor. Dagegen ist eine wirksame Willenserklärung zu bejahen,
wenn der Erklärende bereits leicht fahrlässig die Bedeutung seines Verhaltens verkannt hat.
- Fehlt dem Erklärenden das Erklärungsbewusstsein und ist ihm dieser
Mangel zuzurechnen (s.o.), so ist seine Erklärung zwar wirksam. Doch
wäre es unbillig, ihn dauerhaft an diesen Schein zu binden. Daher kann er
analog § 119 I (Inhaltsirrtum) anfechten, muss aber zum Ausgleich gem.
§ 122 seinem Vertragspartner Schadensersatz leisten.
Entsprechend dieser Ansicht hätte K eine wirksame (aber anfechtbare)
Willenserklärung abgegeben, da er aus Unachtsamkeit – und somit fahrlässig - die rechtliche Bedeutung seiner Handlung verkannt hat.
(d) Die unter (a) geschilderte Ansicht vernachlässigt zu sehr den Gedanken
des Vertrauensschutzes. Wie auch bei der Auslegung der WE kann unangemessene Unachtsamkeit des Erklärenden nicht zu Lasten des Empfängers gehen. War für den Erklärenden bei zumutbarer Aufmerksamkeit
erkennbar, dass sein Verhalten als rechtsgeschäftliche Erklärung verstanden werden wird, so ist er nicht im selben Maße schutzwürdig wie derjenige, der dies nicht erkennen konnte. Die unter (b) erläuterte Meinung
bewahrt den Erklärenden ebenso vor den direkten (Rechts-)Folgen seiner
Erklärung. Die Rechtsfolge des Schadensersatzanspruchs gem. § 122 bestimmt sich aber nur aus Sicht des Empfängers. Ob dem Erklärenden das
mangelnde Bewusstsein zuzurechnen ist, spielt danach keine Rolle. Somit erscheint auch diese Lösung als nicht hinreichend differenzierend.
Insofern überzeugt die letztgenannte Ansicht, indem sie wesentlich darauf abstellt, ob der Erklärende erkennen konnte und musste, dass seine
Handlung als rechtsgeschäftliche angesehen werden wird. Damit sind
sowohl die Interessen des Erklärenden als auch des Empfängers angemessen berücksichtigt.
Demnach ist die Erklärung des K zunächst wirksam (aber anfechtbar).
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Anmerkung: Allerdings wird damit im Ergebnis in den Bereich der
§§ 119, 122 ein Verschuldenselement eingeführt, was die Frage aufwirft,
ob dann Fälle dieser Art nicht sinnvoller über das Institut des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (§§ 311 II, 280 I) zu lösen sind.
Merke: Die unterschiedlichen vertretenen Auffassungen können im
Einzelfall durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Nur bei
der Erklärungstheorie hat es der erklärende in der Hand, ob seine WE
wirksam bleibt, oder nicht. Dies folgt aus der Regelung des § 121 I,
wonach der Anfechtungsberechtigte seine Willenserklärung „unverzüglich“ anfechten muß. Eine solche Erklärung ist nur nach der Erklärungstheorie erforderlich, während nach der Willenstheorie von Anfang an kein anfechtbares Rechtsgeschäft vorliegt. Versäumt es der
Anfechtungsberechtigte nun unverzüglich anzufechten, so ist er an
seine „Erklärung“ gebunden.
c) Der Geschäftswille, d.h. also der auf eine bestimmte Rechtsfolge gerichtete Wille,
fehlt dem K ebenfalls. Dies ist aber in jedem Falle unerheblich, da der fehlende
Geschäftswille nach übereinstimmender Meinung für die Annahme des Vorliegens einer Willenserklärung immer unbeachtlich ist (fehlt der Geschäftswille, so
ist die Erklärung zunächst wirksam, kann aber gem. § 119 angefochten werden).
d) Ein wirksames Angebot des K liegt damit vor.
II. Dieses Angebot wurde von V spätestens im Zeitpunkt der Zusendung des Stativ angenommen (§ 151 S. 1).
Zwischenergebnis: Zwischen K und V ist ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen.
Ein Anspruch des V gegen K gem. § 433 II bestand zunächst.
B. Allerdings könnte der Kaufvertrag von K wirksam angefochten und damit gem. § 142 I
nichtig geworden sein.
1. Dazu muss eine wirksame Anfechtungserklärung vorliegen. Die Anfechtung ist eine zugangsbedürftige Willenserklärung, die gem. § 143 I gegenüber dem Anfechtungsgegner
erklärt werden muss.
Ausreichend ist jede Willensäußerung, die unzweideutig zu erkennen gibt, dass das Geschäft wegen eines Willensmangels rückwirkend beseitigt werden soll. K verweigert unter Bezugnahme auf seinen Irrtum die Bezahlung. Er gibt damit hinreichend deutlich zu
erkennen, dass er seine Willenserklärung wegen eines Mangels auf der subjektiven Seite
nicht gelten lassen will.
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2. Die Anfechtung muss gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner erklärt worden sein.
Gem. § 143 II ist Anfechtungsgegner bei einem Vertrag der andere Teil, hier also V.
Diesem gegenüber wurde auch die Anfechtung erklärt.
3. Auch müsste ein Anfechtungsgrund vorgelegen haben. Ein Anfechtungsgrund könnte
sich hier aus § 119 I, 1.Alt. analog ergeben (Inhaltsirrtum).
a) Bei einem Irrtum über den Erklärungsinhalt will der Erklärende zwar die Erklärung
in ihrer tatsächlichen Form, er wollte ihr aber einen anderen Inhalt geben. Er irrte also über rechtliche Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung. § 119 I regelt allerdings unmittelbar nur den Fall, dass dem Erklärenden bei vorliegendem Erklärungsbewusstsein ein Irrtum bezüglich des Geschäftswillens unterlaufen ist.
Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor, da dem K bereits das Erklärungsbewusstsein fehlte.
b) Die h.M. wendet auf das fehlende Erklärungsbewusstsein jedoch § 119 I, 1.Alt. analog an (siehe oben), da der Irrende eine Willenserklärung mit dem ihr zugewiesenen
Inhalt nicht abgeben wollte. Vorliegend wollte K sich zwar - in der irrigen Meinung,
damit nur seine Anwesenheit zu dokumentieren - in die Liste eintragen, jedoch wollte er damit keine Angebotserklärung angeben. Individualvorstellung und Verkehrsdeutung der Erklärung fallen somit auseinander. Deshalb liegt ein Anfechtungsgrund
gem. § 119 I, 1.Alt. analog vor.
4. Schließlich müsste die Anfechtung rechtzeitig erfolgt sein. Gem. § 121 I 1 muss die Anfechtung in den Fällen der §§ 119, 120 ohne schuldhaftes Zögern, d.h. unverzüglich, erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrunde Kenntnis erlangt hat. Dies ist hier der Fall.
Damit sind alle Anfechtungsvoraussetzungen erfüllt. K hat den Kaufvertrag deshalb wirksam angefochten. Gem. § 142 I ist der Kaufvertrag deshalb als von Anfang an nichtig anzusehen.
Ergebnis: V hat keinen Anspruch gegen K auf Bezahlung des Stativs gem. § 433 II.
Anspruch des V gegen den K auf Schadensersatz gem. § 122
V könnte gegen K Anspruch auf Ersatz des ihm durch die Anfechtung entstandenen Schadens
haben.
I. Dann müsste eine Willenserklärung aufgrund der §§ 119, 120 angefochten worden sein.
Dies ist der Fall (s.o.).
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II. V müsste Schadensersatzberechtigter sein. Schadensersatzberechtigt ist bei Anfechtung
einer empfangsbedürftigen Willenserklärung deren Adressat, hier also der V.
III. Zu ersetzen ist gem. § 122 der Vertrauensschaden (negatives Interesse). Er umfasst die
aufgewendeten Kosten, aber auch die Nachteile durch das Nichtzustandekommen eines
möglichen anderen Geschäfts. Zu fragen ist bei der Schadensberechnung daher, welche
Nachteile der Anfechtungsgegner dadurch erlitten hat, dass er auf die Gültigkeit des Geschäfts vertraute. Der Ersatzanspruch aus § 122 I wird nach oben allerdings durch das Erfüllungsinteresse begrenzt. Daher besteht z.B. dann keine Ersatzpflicht, wenn das Geschäft
dem Anfechtungsgegner keinen Vermögensvorteil gebracht hätte. Im Sachverhalt fehlen
jegliche Angaben über mögliche Nachteile des V, so dass eine Schadensberechnung hier
nicht möglich ist.
Literaturhinweise:
 Musielak Grundkurs BGB, 13 Auflage 2013, Rn. 76 ff.; 328 ff.
 Brox/Walker AT, 37. Auflage 2013, Rn. 82 ff., 428 ff.