Artikel "Diskriminierungsrisiken von muslimischen Frauen mit

Inhalt
Diskriminierungsrisiken von
muslimischen Frauen mit
Kopftuch auf dem deutschen
Arbeitsmarkt
Dokumentation des Fachgesprächs am 30.05.2016
Inhalt
Einleitung ______________________________________________________________ 2
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Status Quo und Auswirkungen in der Praxis _____________________________3
Gabriele Boos-Niazy, Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland e.V. ______ 3
Diskussion zum Vortrag _________________________________________________9
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im
Arbeitsleben – Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe __ 14
Privatdozentin Dr. Sabine Berghahn, Rechtsanwältin und
Politikwissenschaftlerin, Freie Universität Berlin ____________________________________ 14
Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Projekt
„Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ ________________________________ 16
Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan
e.V.) __________________________________________________________________________________ 17
Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG) ____________ 18
Diskussion zur Arbeitsgruppe 1 _______________________________________ 20
Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des
Kopftuches am Arbeitsplatz ___________________________________________ 23
Nesreen Hajjaj, Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA) ______________________________________ 23
Dunya Adigüzel, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) ___________________ 23
Romin Khan, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) _________________________ 24
Dr. Petra Rostock, Arbeiterwohlfahrt (AWO), Bundesverband ________________________ 24
Andreas Merx, IQ Fachstelle Interkulturelle Kompetenzentwicklung und
Antidiskriminierung ________________________________________________________________ 24
Diskussion zur Arbeitsgruppe 2 _______________________________________ 26
Diskriminierungsrisiken und Schlussfolgerungen _____________________ 28
Anhang _______________________________________________________________ 30
Redetext Gabriele Boos-Niazy, gekürzt: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im
Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der Praxis __________________________ 30
Dr. Sabine Berghahn, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1, dort komplett
abgedruckt __________________________________________________________________________ 38
Dr. Sebastian Müller, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1 ___________________ 38
Zeynep Cetin, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 1 __________________________ 38
Vera Egenberger, Arbeitsgruppe 1: Die Rolle konfessioneller Arbeitgeber____________ 38
Nesreen Hajjaj, siehe Zusammenfassung zu Arbeitsgruppe 2 _________________________ 40
Dunya Adigüzel, Arbeitsgruppe 2: Maßnahmen und Gute Praxis gegen
Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch __________________________________________ 40
Romin Khan, Arbeitsgruppe 2: Die Perspektive von ver.di auf die Rolle von
Gewerkschaften und Betriebsräten __________________________________________________ 41
Dr. Petra Rostock, Arbeitsgruppe 2: Eine wohlfahrtsverbandliche Perspektive aus
Sicht der AWO _______________________________________________________________________ 42
Andreas Merx, Arbeitsgruppe 2: Betriebliche Maßnahmen der interkulturellen
Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung zum Abbau von
Diskriminierung von Kopftuch tragenden Frauen ___________________________________ 44
Stellungnahmen zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH vom
31.05.2016 ____________________________________________________________________________ 47
Stellungnahme des Aktionsbündnis‘ muslimischer Frauen in Deutschland e.V.
zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH, Juliane Kokott, vom
31.05.2016 – Kurzfassung _______________________________________________________ 47
Stellungnahme zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am EuGH vom
31.05.2016, Dr. Sabine Berghahn – Rechtsanwältin und
Politikwissenschaftlerin ________________________________________________________ 49
Programm ___________________________________________________________________________ 57
Liste der Teilnehmenden ____________________________________________________________ 59
Einleitung
2
Einleitung
Muslimische Frauen mit Kopftuch treffen auf verschiedene Diskriminierungsrisiken beim
gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Auch die Beratungsanfragen der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) bestätigen dies. Private Arbeitgeber sind häufig im
Unklaren über die Rechtslage: Trotz des im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankerten
Diskriminierungsverbots aufgrund der Religion gehen sie manchmal davon aus, ein Kopftuchverbot in
ihrer Einstellungs- und Beschäftigungspraxis aussprechen zu dürfen. Dies kann auch auf bestehende
Kopftuchverbote im öffentlichen Dienst der Bundesländer und aufgrund der Sonderregelungen für
konfessionelle Arbeitgeber zurückzuführen sein.
Kopftuchverbote am Arbeitsplatz haben mehrfach die deutsche Rechtsprechung beschäftigt. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Jahr 2015 ein pauschales Kopftuchverbot für muslimische
Lehrkräfte an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen für verfassungswidrig erklärt. Andererseits
hat das Arbeitsgericht Berlin im April 2016 die Klage einer Kopftuch tragenden Lehrerin abgewiesen.
Ihre Bewerbung hatte die Senatsbildungsverwaltung mit Verweis auf das Berliner Neutralitätsgesetz
abgelehnt. Die Frau klagte daraufhin nach dem AGG wegen Diskriminierung auf eine Entschädigung. Das
Gericht wies die Klage ab, weil das Berliner Neutralitätsgesetz das Tragen religiöser Kleidung
gleichermaßen allen Religionen untersage.
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) befasst sich aufgrund zweier sogenannter
Vorabentscheidungsersuchen seit 2015 mit dem Kopftuchverbot. Ein französisches Gericht will klären
lassen, ob Kundenwünsche eine Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigen können. In
einem Fall aus Belgien geht es um die Frage, ob das Kopftuchverbot am Arbeitsplatz keine unmittelbare
Diskriminierung darstellt, wenn allen Beschäftigten untersagt ist, äußere Zeichen politischer,
philosophischer oder religiöser Überzeugung zu tragen.
Das Fachgespräch fand einen Tag vor dem Bekanntwerden der Schlussanträge der Generalanwältin am
EuGH im Vorabentscheidungsersuchen aus Belgien statt. Im Ergebnis schlägt die Generalanwältin dem
EuGH vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen dahingehend zu antworten, dass eine unmittelbare
Diskriminierung zu verneinen ist, jedoch ein Verstoß gegen das Verbot der mittelbaren Diskriminierung
vorliegen könne. Dieses kann jedoch gerechtfertigt sein, um eine vom Arbeitgeber im jeweiligen Betrieb
verfolgte Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen, sofern dabei der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Da die Schlussanträge unmittelbar auf
Fragestellungen aus dem Fachgespräch Bezug nehmen, sind von zwei Teilnehmerinnen Stellungnahmen
dazu in dieser Dokumentation mit aufgenommen. Mit einer Entscheidung des EuGH, der an die
Schlussanträge der Generalanwältin nicht gebunden ist, dürfte noch im Laufe dieses Jahres zu rechnen
sein.
Das Fachgespräch im Rahmen des Themenjahres „Freier Glaube. Freies Denken. Gleiches Recht.“ hat
einen Überblick über die Rechtswirklichkeit und die Praxis mit der Kopftuchfrage ergeben und daraus
Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen abgeleitet.
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
in der Praxis
3
Vortrag: Gesetzliche
Regelungen zum Kopftuch im
Arbeitsleben – Status Quo und
Auswirkungen in der Praxis
Gabriele Boos-Niazy, Aktionsbündnis muslimischer
Frauen in Deutschland e.V.
Gabriele Boos-Niazy bezog sich in ihrem Vortrag überwiegend auf das Grundgesetz (GG) und das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Als Grundrechte, die bei der Diskussion um das Kopftuch
regelmäßig eine Rolle spielten, nannte sie das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3 GG), die Glaubens- und
Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG Abs. 1) und den Zugang
zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis (Art. 33 GG).
Neben den grundgesetzlichen Regelungen sei das Mitte August 2006 in Kraft getretene AGG relevant,
das mehrere EU-Richtlinien mit dem Ziel umsetzt, Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen
des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder wegen der
sexuellen Identität nicht entstehen zu lassen oder sie zu beseitigen. Das AGG verbiete in erster Linie die
Benachteiligung durch Arbeitgebende. Es untersage darüber hinaus aber auch Diskriminierungen, die
von Arbeitskolleg_innen, Kund_innen oder Lieferant_innen begangen würden. Allerdings ließen sich
dadurch keine unmittelbaren Ansprüche gegen diese Personen ableiten. Das AGG offenbare durch die
begrenzte Reichweite große Schutzlücken. In der Arbeit des Aktionsbündnisses sei das insbesondere im
Bereich der Bildung zu bemerken, wenn es um die Diskriminierung von Schüler_innen oder
Student_innen gehe. Diesen Gruppen sei der Schutz durch das AGG verwehrt, weil die europarechtlichen
Vorgaben noch nicht umgesetzt oder noch nicht in die Schul- und Hochschulgesetze der einzelnen
Bundesländer aufgenommen worden seien.
Im Hinblick auf das Kopftuch beim Zugang zum Arbeitsmarkt ging Boos-Niazy auf zwei Paragrafen des
AGG besonders ein: Paragraf 8 Abs. 1, der eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher
Anforderungen unter bestimmten Umständen für zulässig erkläre und Paragraf 9, der den
Religionsgemeinschaften eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung
erlaube.
In der Privatwirtschaft sei ein Verbot des Kopftuches nach Paragraf 8 AGG nur dann möglich, wenn der
Verzicht auf ein Kopftuch eine wesentliche berufliche Anforderung darstelle, die als angemessen
anzusehen und deren Zweck rechtmäßig sei. Das könne der Fall sein, wenn bestimmte Arbeitsabläufe
das Tragen eines Kopftuches unmöglich machten, zum Beispiel aufgrund von Sicherheits- oder
Hygieneanforderungen und keine Alternative möglich sei. „In der Praxis machen wir häufig die
Erfahrung, dass solche Anforderungen vorgeschoben sind und Alternativvorschläge daher nicht
angenommen werden“, so Boos-Niazy. Kein Rechtfertigungsgrund für eine Nichteinstellung oder
Kündigung sei die Befürchtung finanzieller Verluste aufgrund islamfeindlicher Haltungen von
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
in der Praxis
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Kund_innen, die möglicherweise einem Geschäft oder einer Praxis mit einer Kopftuch tragenden
Mitarbeiterin fernblieben.
Immer wieder kontrovers diskutiert werde die zulässige unterschiedliche Behandlung von Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaften (Paragraf 9 AGG). Diese Sondersituation, das so genannte
Kirchenprivileg, gründe sich auf die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Kirchen. Diese garantiere
ihnen, dass sie ihre Angelegenheiten ohne staatliche Einmischung selbst regeln könnten. Eine
unterschiedliche Behandlung nach dem AGG sei demnach zulässig, wenn die Religions- oder
Weltanschauungsgemeinschaft aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihres Selbstbestimmungsrechts
die Zugehörigkeit eines Bewerbers zur eigenen Gruppe für eine berufliche Anforderung halte. „Im
Bereich der Verkündigung ist die Einschätzung als gerechtfertigte berufliche Anforderung sicherlich
nachvollziehbar, in den verkündigungsfernen Bereichen jedoch mittlerweile kaum zu vermitteln“, sagte
Boos-Niazy. Da dies einen sehr großen Teil des Arbeitsmarktes umfasse, sei eine klarere Definition
dessen, wo das AGG greifen solle, dringend notwendig. Außerdem werde durch eine sehr
unterschiedliche Handhabung deutlich: Das Prinzip werde oft nur dann eingehalten, wenn ausreichend
Arbeitskräfte mit der „richtigen“ Zugehörigkeit zur Verfügung stehen würden.
Als ein Beispiel für den schwierigen Umgang mit dem AGG nannte Boos-Niazy eine Entscheidung des
Bundesarbeitsgerichts vom 24. September 2014, in dem eine Kopftuch tragende Krankenschwester
gegen ihren Arbeitgebenden, ein Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft, verlor. Das Gericht habe
die Grundrechte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und das der Religionsfreiheit der Klägerin
gegeneinander abgewogen. Es habe zwar einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nach
Paragraf 7 AGG festgestellt, ihn aber nach Paragraf 9 AGG wiederum als gerechtfertigt angesehen.
Als Lücken im AGG beziehungsweise durchgängig genannte Änderungswünsche würden daher immer
wieder die Ausdehnung des Geltungsbereichs, die Einführung eines Verbandsklagerechts, die
Beschränkung des Paragrafen 9 AGG auf verkündigungsnahe Bereiche und die Erweiterung der
Handlungskompetenzen der ADS genannt.
Kopftuchtragen im Schuldienst
Als Sonderfall erläuterte Boos-Niazy den Diskriminierungsschutz im Schuldienst. Dort lasse Paragraf 8
Abs. 1 AGG eine unterschiedliche Behandlung zu, wenn sie auf einer wesentlichen und entscheidenden
beruflichen Anforderung basiere. Bei den beiden Klägerinnen, die den BVerfG-Beschluss von 2015 (das
so genannte Kopftuchurteil) erwirkten, habe das Bundesarbeitsgericht sechs Jahre zuvor noch keinen
Verstoß gegen das AGG gesehen. Das BVerfG hielt dagegen ein pauschales Kopftuchverbot als nicht mit
der Verfassung vereinbar. Die Beschränkung religiöser Bekundungen durch das Schulgesetz von
Nordrhein-Westfalen in der damaligen Fassung habe laut Gericht eine unmittelbare, normativ
vorgegebene Benachteiligung aus Gründen der Religion dargestellt. Trotzdem sehe auch der BVerfGBeschluss die Möglichkeit vor, in einer bestimmten Konstellation eine Lehrerin vor die Wahl einer
Versetzung oder eines Kopftuchverzichts zu stellen. Dies sei dann möglich, wenn es eine konkrete
Störung des Schulfriedens gebe, nicht jedoch, wenn eine solche Störung lediglich befürchtet werde. Es
müssten also besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen. In
solchen Fällen sei laut Gericht der Verzicht auf die religiöse Bekundung eine wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderung wegen der Art der Tätigkeit, so Boos-Niazy.
Im Hinblick auf die Grundrechte der anderen am Schulbetrieb Beteiligten mache das BVerfG folgende
Aussagen: Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder werde nicht beeinträchtigt. Allein aus
dem Elterngrundrecht lasse sich nicht herleiten, Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte
fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgten. Die negative Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit der Schüler_innen dürfe hierbei aber nicht beeinträchtigt werden. Dies geschehe
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
in der Praxis
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nicht, solange die Lehrkräfte nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben oder die
Schüler_innen zu beeinflussen versuchen würden. Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit
garantiere keine Verschonung vor der Konfrontation mit religiöser Kleidung.
Die religiöse und weltanschauliche
Neutralitätspflicht des Staates werde
gewahrt, indem er Bezüge zu allen mit
dem Grundgesetz zu vereinbarenden
Religionen und Weltanschauungen der
öffentlichen Schule zulasse. Die
Zulassung des Kopftuches bedeute
keine Identifizierung des Staates mit
einem bestimmten Glauben. Die Sorge
von Eltern vor einer ungewollten
Beeinflussung ihrer Kinder durch den
Anblick einer Kopftuch tragenden
Lehrerin stelle keine konkrete Gefahr
dar, denn die Konfrontation der
Schüler_innen mit einer glaubensgemäßen Bekleidung werde durch das Auftreten anderer Lehrkräfte
mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen. In der
bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule spiegele sich die religiös-pluralistische Gesellschaft wider,
referierte Boos-Niazy die Begründung des BVerfG weiter.
Sie führte weiter aus, dass der Beschluss des BVerfG die Möglichkeit vorsehe, das Kopftuch im
Schuldienst zu verbieten. Allerdings sei das für eine einzelne Kopftuch tragende Lehrerin nur dann
zulässig, wenn diese ein missionarisches oder verbal werbendes Verhalten an den Tag lege und versuche,
Schüler_innen zu beeinflussen. Ein allgemeines Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine
begrenzte Zeit sei möglich, wenn dort nachweislich besondere substanzielle Konfliktlagen in einer
beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen würden. Das Gericht nenne als Beispiel eine Situation, in der
Fragen des richtigen religiösen Verhaltens und sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und
so in die Schule hineingetragen würden.
Eine Versetzung einer Lehrerin sei dann zumutbar, wenn die Schulleitung alle pädagogischen oder
disziplinarischen Maßnahmen erfolglos ergriffen habe, die üblicherweise bei der Lösung von
Schulkonflikten zum Einsatz kämen. Allerdings könne die Lehrerin sich auch dafür entscheiden, ihr
Kopftuch abzulegen.
Umsetzung des BVerfG-Beschlusses in den einzelnen Bundesländern
Boos-Niazy erläuterte, dass der Beschluss des BVerfG nach dem Bundesverfassungsgerichts-Gesetz auch
andere Landesgesetzgeber binde, obwohl die Klägerinnen aus Nordrhein-Westfalen stammten. In
anderen Ländern müssten demnach die jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des BVerfG ausgelegt
werden. Der Beschluss wirke damit auf Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gebe.
Er binde gleichermaßen auch die Gerichte, die im Streitfall das Landesgesetz nach den Maßgaben des
BVerfG auslegen müssten.
Mit einer Gesetzesänderung sei der Beschluss in Nordrhein-Westfalen umgesetzt worden. In Bremen,
Niedersachsen und Hessen sei dies ohne Änderung des Schulgesetzes erfolgt. Bisher keine offizielle
Umsetzung des BVerfG-Beschlusses gebe es in Bayern und Baden-Württemberg. Das saarländische
Schulgesetz sehe weiterhin neben dem Kopftuchverbot auch die Privilegierung christlicher Bildungs-
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
in der Praxis
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und Kulturwerte vor. Auch die Berliner Innenverwaltung habe nach Veröffentlichung des BVerfGBeschlusses keinen Änderungsbedarf am sogenannten Neutralitätsgesetz gesehen.
Boos-Niazy schilderte daraufhin einige aktuelle Beratungsfälle. Im Schuldienst in Hessen habe eine
Lehramtsstudentin von ihrer Ausbildungsschule eine Rundmail mit folgendem Wortlaut erhalten:
„Von der Universität Gießen sind Sie unserer Schule als zukünftige Praktikantinnen und Praktikanten für
die Schulpraktischen Studien [...] zugewiesen worden. [...] Ein wichtiger Hinweis vorab: Sollte sich unter
Ihnen eine Kopftuchträgerin befinden, so müsste sie für das gesamte geplante Praktikum entweder auf
ihre Kopfbedeckung verzichten, oder sich bereits heute nach einer anderen Praktikumsschule
umschauen. Wir vermitteln unseren Schülerinnen und Schülern ein demokratisches, an den Werten des
Grundgesetzes orientiertes Weltbild, bei dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau ganz oben
ansteht, und das Tragen eines Kopftuches durch Lehrkräfte oder Praktikanten würde hier in der
Vorbildfunktion, die wir innehaben, falsche Signale aussenden.“
In den Leitsätzen des Schulprogramms dieser Schule werde dagegen auf die Entwicklung „zur Teilhabe
und Teilnahme an der Kultur der offenen Gesellschaft“ sowie die Pflege eines respektvollen,
wertschätzenden Miteinanders aller Kulturen verwiesen.
In Frankfurt müssten Medizinstudentinnen für ein zweitägiges Praktikum in einem Krankenwagen einen
Vertrag unterzeichnen, dessen Bestandteil das „Informationsblatt Studentenpraktika im
Rettungsdienst“ sei. Darin heiße es: „Wir erwarten, dass Sie sich neutral verhalten und bei Ihrem
Praktikum auf alle Äußerungen zu Ihrer Weltanschauung, Religion etc. verzichten. Auch das Tragen
entsprechender Symbole (z.B. Kopftuch) ist zu unterlassen.“ Als Alternative könne eine Mütze getragen
werden. Mittlerweile sei das Kopftuchverbot auch auf zwei vorgelagerte Trainingstage ausgedehnt
worden, die in der Klinik absolviert würden.
In einem weiteren Fall sei einer seit vier Jahren in einer Praxis angestellten Physiotherapeutin gekündigt
worden, nachdem sie sich entschlossen habe, ein Kopftuch zu tragen. Ihr Arbeitgeber, der einen syrischkurdischen Migrationshintergrund habe, habe als Hauptargument die Befürchtung angeführt, dass das
Image der Praxis leide: Es könne womöglich vermutet werden, dass er als Betreiber sich religiös
radikalisiert habe, weil er eine Frau mit Kopftuch beschäftige.
Erosion des Rechtsempfindens
„Wir haben nach den politischen Diskussionen um die Kopftuchverbote erfahren müssen, dass sich die
Schlagworte, insbesondere vom ‚negativen Symbolgehalt des Kopftuches‘ in den Argumentationen
maßgeblicher gesellschaftlicher Akteure wiederfinden und deren Handeln bestimmen. Das verfestigt die
Barrieren für Kopftuch tragende Frauen in jeglicher Hinsicht“, sagte Boos-Niazy. Sie illustrierte das mit
weiteren Beispielen.
So würden immer wieder Frauen mit Kopftuch berichten, dass ihnen von Sachbearbeiter_innen der
Bundesagentur für Arbeit mehr oder weniger deutlich geraten werde, das Kopftuch abzulegen, um bei
der Stellensuche erfolgreich zu sein. Es werde von den Sachbearbeiter_innen argumentiert, dass damit
lediglich der Wirklichkeit Rechnung getragen werde. Es werde gleichzeitig deutlich, dass potenzielle
Arbeitgebende nicht damit rechnen müssten, „auch nur darauf hingewiesen zu werden, dass sie gegen
das AGG verstoßen, wenn sie eine Bewerberin nur wegen ihres Kopftuches ablehnen“, so Boos-Niazy.
In einem von der „Deutschlandstiftung Integration“ 2012 herausgegebenen Bewerbungsratgeber sei
muslimischen Frauen – unter anderem unter Berufung auf den Migrationsbeauftragten der
Bundesagentur für Arbeit, Hasan Altun, – ebenfalls geraten worden, das Kopftuch abzunehmen, wenn
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
in der Praxis
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sie auf Arbeits- oder Praktikumsplatzsuche seien: Für viele Arbeitgebende sei das Kopftuch demnach ein
Zeichen der Unterdrückung, sie trauten den Frauen keine eigenen Entscheidungen zu, sähen sie unter
der Fuchtel der Familie und fürchteten, dass Mädchen zwangsverheiratet würden und ihre Ausbildung
nicht beendeten.
Es sei weiterhin zu beobachten, dass Wohlfahrtsverbände muslimische Frauen mit Kopftuch meist
lediglich befristet oder auf Minijob-Basis innerhalb von Projekten einstellen würden, deren Zielgruppe
Migrant_innen seien. Die Musliminnen dienten als „Türöffner“ zu diesen Gruppen, eine Festanstellung
resultiere daraus in der Regel nicht. Besonders aufgefallen sei ihrem Verband ein Berufsfindungsprojekt
der Arbeiterwohlfahrt-Südhessen für junge Migrantinnen, so Boos-Niazy. In einem Zeitungsbericht über
das Projekt hätten die beiden zuständigen Sozialarbeiterinnen gesagt, es werde den Teilnehmerinnen
nahegelegt, zu überlegen, ob sie zur Erleichterung des Berufseinstieges das Kopftuch ablegen könnten.
Potenzielle Arbeitgebende seien darum gebeten worden, Kopftuchträgerinnen nicht gleich pauschal
abzulehnen. Zudem sollten die Teilnehmerinnen überlegen, das Symbol Kopftuch selbst auf den
Prüfstand zu stellen. „Das stellt die geltende Rechtslage völlig auf den Kopf“, sagte Boos-Niazy. „Denn
die Nichteinstellung allein aufgrund des Kopftuches ist ein Verstoß gegen das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz, das Tragen des Kopftuches dagegen von der grundgesetzlichen
Religionsfreiheit gedeckt. Das heißt, in diesem Seminar erscheinen die jungen Frauen als Bittstellerinnen,
die dankbar sein müssen, wenn ein Arbeitgeber bereit ist, ihre ‚Andersartigkeit‘ großmütig
hinzunehmen.“ Es sei schlicht nicht die Notwendigkeit gesehen worden, die jungen Frauen durch
Vermittlung der Rechtslage dazu zu befähigen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren.
Am 13. Februar 2015 habe sich der
Vorstand der
Landesarbeitsgemeinschaft
kommunaler Frauenbüros
Niedersachsen (lag) in einer
Pressemitteilung für die Beibehaltung
des Kopftuchverbots für Lehrerinnen
ausgesprochen. Anlass sei der
anstehende Staatsvertrag mit den
Muslimen gewesen. Die
Arbeitsgemeinschaft habe
argumentiert, das Auftreten von
Kopftuch tragenden Lehrerinnen an
der Schule verletze die staatliche
Neutralität. Boos-Niazy zitierte aus der Mitteilung: „In unserer modernen Gesellschaft ist das Kopftuch
besonders ein patriarchales Symbol, denn nur Mädchen und Frauen sollen sich verhüllen, nicht Jungen
und Männer. Dies widerspricht dem Erziehungs- und Bildungsideal unserer Gesellschaft, alle Mädchen
und Jungen gleich zu behandeln und ihnen gleiche Startchancen zu ermöglichen.“
Anlässlich des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot habe die Arbeitsgemeinschaft kommunaler
Gleichstellungsstellen im Kreis Herford am 1. Juni 2015 eine Stellungnahme herausgegeben, die an alle
Schulleitungen des Kreises gegangen sei. Diese habe darauf gezielt, diese hinsichtlich der Umsetzung
des BVerfG-Beschlusses zu verunsichern und sie indirekt aufgefordert, Kopftuch tragende
Bewerberinnen entgegen der geltenden Rechtslage bei einer Bewerbung nicht einzustellen. In der
Stellungnahme habe es unter anderem geheißen: „Die Mehrheit der hier lebenden muslimischen Frauen
möchte kein Kopftuch tragen und sich auch nicht in irgendeiner Art und Weise verhüllen. Dazu gibt es
auch keinen Anlass.“ Weiter habe es geheißen, dass das Kopftuch bedeute, dass Frauen sich dem Willen
des Mannes und seinen Bedürfnissen unterzuordnen hätten und das sei mit dem Verständnis von
Gleichberechtigung nicht vereinbar. Boos-Niazy zitierte weiter aus der Stellungnahme: „Eine Lehrerin
Vortrag: Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen
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mit Kopftuch ist ein stummes aber sehr beredtes Zeichen dafür, dass die konservativen islamischen
Normen Geltung haben. Eine Kopftuch tragende Lehrerin kann deshalb kein Vorbild und keine Hilfe für
junge Mädchen und Frauen sein, die Gleichberechtigung leben wollen.“
Boos-Niazy beklagte ein Messen mit zweierlei Maß: „Die betroffenen Frauen bemerken sehr wohl, dass
die Öffentlichkeit nicht müde wird, von den Menschen mit Migrationshintergrund die Einhaltung der
deutschen Rechtsordnung zu fordern, während für sie selbst diese Regeln offensichtlich keine bindende
Wirkung haben.“ Dies verhindere ein Heimisch-Werden. „Doch gerade das ist notwendig, wenn auch
kommende Generationen sich für die hiesige Rechtsordnung stark machen sollen“, so Boos-Niazy. Es sei
völlig aus dem Blick geraten, was eine freie Gesellschaft ausmache. „Die Information darüber und das
Bewusstsein, dass wir alle Schaden nehmen werden, wenn wir diese freie Gesellschaft nicht verteidigen,
müssen wir stärker in den Fokus rücken. Das geht nur durch permanentes Erinnern, vor allem im Bereich
der Bildung und der Medien.“
Diskussion zum Vortrag
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Diskussion zum Vortrag
Teilnehmende
Nesreen Hajjaj
Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA)
Eva Maria Andrades
Projektleiterin des Antidiskriminierungsnetzwerkes
Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg
Dr. Nahed Samour
Humboldt-Universität Berlin, Juristische Fakultät
Prof. Dr. Riem Spielhaus
Universität Göttingen, Institut für
Schulbuchforschung
Vera Egenberger
Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V.
(BUG)
Mohamad Hajjaj
Landesvorsitzender des Zentralrates der Muslime in
Berlin e.V.
Dunya Adigüzel
Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland,
Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG)
Zeynep Cetin
Netzwerk gegen Diskriminierung und
Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.)
Michaela Ghazi
Personalrätin Allgemeinbildende Schulen
Reinickendorf, Berlin, Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft (GEW)
Taner Aksoy
fair – Federation against Injustice and Racism e.V.
Najla Al-Amin
Universität Osnabrück, Institut für Islamische
Theologie
Dr. Sebastian Müller
Deutsches Institut für Menschenrechte e.V. (DIMR)
Maryam Haschemi Yekani
Moderation, Rechtsanwältin
Diskussion zum Vortrag
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Maryam Haschemi Yekani wies in ihrer Diskussionseinleitung auf ihre Erfahrung als Rechtsanwältin mit
dem Thema hin: Arbeitgebende würden beispielsweise anführen, dass muslimische Frauen, die sich für
das Tragen des Kopftuchs entschieden hätten, dies „sehr offensiv“ tragen würden. Ihr stelle sich dabei
die Frage, wie man es „weniger offensiv“ tragen könne. Das Kopftuch werde von vielen Arbeitgebenden
als nicht angemessen erachtet, außerdem werde von Frauen bei der Einstellung „eine gewisse
Diskussionsfreudigkeit“ über das Kopftuchtragen erwartet.
Nesreen Hajjaj von Jung, Muslimisch,
Aktiv (JUMA), berichtete von
Diskriminierungserfahrungen bei
Bewerbungen besonders auf solche
Arbeitsstellen, in denen sie „das
Gesicht“ einer Institution darstellen
würde. Dabei sei sie auf teilweise
erhebliche und verbal scharfe
Ablehnung gestoßen, die schwer zu
verdauen gewesen sei. Im 21.
Jahrhundert hätte sie solche
Reaktionen eigentlich für unmöglich
gehalten. Schließlich sei es
mittlerweile völlig selbstverständlich,
dass Frauen mit Kopftuch beruflich tätig sein wollten.
Eva Maria Andrades, Projektleiterin des Antidiskriminierungsnetzwerkes Berlin des Türkischen Bundes
in Berlin-Brandenburg, sagte, dass in der Beratung festzustellen sei, dass Arbeitgebende sehr offen
diskriminieren würden, wenn es um das Kopftuch gehe. Sie beriefen sich häufig darauf, dass sie eine
gewisse Neutralität wahren wollten. Auch gebe es die Begründung, das Kopftuch als
Unterdrückungssymbol nicht dulden zu wollen. Erstaunlich sei, wie selbstbewusst das vertreten werde.
Dies erkläre sich einerseits wohl aus mangelnder Rechtskenntnis, zum anderen aber auch, weil sie sich
darüber hinwegsetzen wollten. „Das finde ich ist schon sehr erstaunlich“, so Andrades. Das offene
Ansprechen erleichtere allerdings juristische Auseinandersetzungen, weil die Diskriminierung leichter zu
beweisen sei. So sei es gelungen, vor Gericht den entsprechenden Nachweis zu führen und für Frauen
dadurch eine Entschädigung auf Grundlage des AGG zu erstreiten. Auch an Schulen zeige sich das
Selbstbewusstsein, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen. Das entspreche der derzeitigen
politischen Diskussion und einer Erosion des Rechtsempfindens. Von Jobcentern werde den Frauen
nahegelegt, das Kopftuch abzunehmen, anstatt die Frauen über ihre Rechte aufzuklären. In Berlin sei das
Neutralitätsgesetz das große Problem, das trotz des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts
beibehalten worden sei. Der Berliner Senat verteidige dies weiterhin vehement. Es gebe durch das
Gesetz eine „mittelbare Wirkung“, die ganz klar Lehrerinnen benachteilige. Schulen und Schulleitungen
würden es über den tatsächlichen Gehalt hinaus sehr weit auslegen und beispielsweise Praktikantinnen
und Lehramtsstudentinnen mit Verweis darauf ablehnen. Auch in der Justiz und der Rechtspflege seien
die Aussagen zur Geltung und Anwendung sehr schwammig und würden „zum Nachteil von Frauen, die
ein Kopftuch tragen, genutzt“.
Dr. Nahed Samour, Humboldt-Universität Berlin, Juristische Fakultät, schilderte, dass sich das Problem
vor zu verlagern scheine. Frauen mit Kopftuch würden sich sehr gut überlegen, wo sie sich überhaupt
bewerben wollten: Für eine Studentin der Rechtswissenschaft sei schon sehr früh klar, dass die
Verwaltung oder die Justiz nichts für sie sei, außer sie sei bereit, dort zu kämpfen. Damit verlagere sich
vieles in die Selbstständigkeit, was neben Chancen auch Schwierigkeiten bedeute. Viele Frauen seien
dadurch von vielen Bereichen abgeschnitten und vom „Arbeitsmarkt einfach weggedrängt“. Außerdem
sei es nicht nur eine Diskriminierung aufgrund der Religion, sondern auch aufgrund des Geschlechts. Sie
Diskussion zum Vortrag
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wünsche sich daher einen noch stärkeren Hinweis an die Betroffenen und in Beratungsnetzwerken auf
die Rechtslage und eine Aufklärung, welche Pflichten die Arbeitgeber_innenschaft und welche Rechte
die Bewerberinnen und Arbeitnehmerinnen hätten. Mit Blick auf eine teilweise geforderte stärkere
Öffentlichkeitsarbeit bei dem Thema merkte sie an, dass dies durchaus schwierig sei. Alles, was
öffentlich diskutiert werde, müssten die Betroffenen abwehren. Jede Schlagzeile sei fast schon ein
Angriff auf den Körper. Sie sprach sich daher für eine gezielte und gesteuerte Aufklärung aus.
Prof. Dr. Riem Spielhaus, Universität Göttingen, Institut für Schulbuchforschung, verwies auf große
Unsicherheiten und eine Umkehrung der Argumentation bei Einstellungsverfahren. Es werde gefragt, ob
überhaupt eine Frau mit Kopftuch eingestellt werden könne im öffentlichen Dienst. Dabei müsse die
Frage eigentlich heißen: Können wir sie überhaupt nicht einstellen aufgrund des Kopftuches? Es müsse
erst einmal der Schutz hervorgehoben werden. Auch in der Wissenschaft falle ihr auf, dass oft über das
Kopftuchverbot gesprochen werde, nicht aber über den Schutz des Bekenntnisses. „Das ist eine
vollkommene Verdrehung auch in der Debatte über dieses Thema.“ Sich mit diesen
Diskriminierungsrisiken zu beschäftigen sei daher sehr zu begrüßen. Sie unterstrich, dass es wichtig sei,
über das Thema Vermeidungsstrategien nachzudenken und zu forschen. Sie verwies außerdem darauf,
dass Aussagen aus der Bundesagentur für Arbeit sie ratlos zurückließen. Dort heiße es aus der
Leitungsebene, das Kopftuch sei kein Problem. Die Praxis in den Jobcentern sehe dann jedoch anders
aus. Wenn die Leitung nicht im Blick habe, was in ihren Behörden passiere, werde das Problem letztlich
auf dem Rücken der Frauen ausgetragen.
Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG), berichtete von einer
„besonderen Spielart der Diskriminierung“ von muslimischen Juristinnen. Diese müssten während ihres
Referendariats mehrere Stationen durchlaufen, unter anderem in der Justiz. In einem Fall in Bayern habe
eine Kopftuch tragende Referendarin die Auflage erhalten, das Kopftuch abzunehmen oder nur im
Hinterzimmer zu agieren. Sie habe sich zwar für eine Klage dagegen entschieden. Diese sei aber durch
das Gericht „mit sehr klugen und sehr kreativen Schachzügen“ völlig unmöglich gemacht worden. Dieses
Vorgehen betreffe auch die Gleichbehandlung in der juristischen Ausbildung.
Mohamad Hajjaj, Landesvorsitzender des Zentralrates der Muslime in Berlin e.V., bezeichnete das
Thema Kopftuch als eine Art Symbol. Tatsächlich gehe es nicht um Religion, sondern um Rassismen.
Auch nicht-religiöse Menschen würden aufgrund äußerlicher Zuschreibungen diskriminiert, weil
angenommen werde, dass sie Muslime seien oder einen muslimischen Hintergrund hätten. Es sei fatal,
dass in der Gesellschaft nicht mehr Eignung und Leistung zählten, „sondern Rassismen
ausschlaggebend“ seien. Es werde mittlerweile mit voller Überzeugung und Inbrunst Musliminnen
gesagt, man stelle sie nicht wegen des Kopftuchs ein. Diese Diskriminierung sei teilweise auch medial
getragen, werde hoffähig gemacht und gehöre zum Alltag. Sie sei ein gesellschaftliches Phänomen, das
angegangen werden müsse. Außerdem habe er in Berlin erlebt, dass Gleichstellungsbeauftrage und
Frauenbeauftragte die Kopftuch tragenden Frauen als beratungsbedürftig ansähen.
Dunya Adigüzel, Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V.
(IGMG), hob die Diskriminierung in Jobcentern hervor. Diese Einrichtungen sollten eigentlich zur
Förderung von Menschen auf dem Arbeitsmarkt agieren. Wenn jedoch versucht werde, den Frauen das
Kopftuch auszureden, finde eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Damit werde den Frauen „praktisch klar
gemacht“, sie und das Kopftuch seien das Problem. Sie erwähnte Fälle in Nordrhein-Westfalen, bei
denen das Jobcenter Frauen gedroht habe, Mittel zu kürzen, wenn sie das Kopftuch nicht abnehmen
würden. Es sei falsch, das klischeehafte und diskriminierende Denken als normal darzustellen, dass eine
Frau mit Kopftuch das Problem sei. Ohnehin sei es merkwürdig, dass plötzlich Räume wie Arztpraxen
„staatlich“ würden. Es bestehe offenbar in der Gesellschaft ein Konsens darüber, dass eine Frau mit
Kopftuch bestimmte Arbeiten nicht machen könne, weil es unhygienisch sei und Arbeitgebenden
Kunden verloren gingen.
Diskussion zum Vortrag
12
Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.), verwies auf die
Praxis von Arbeitgebenden, die sich bewusst privater Arbeitsagenturen bedienten. Diese würden vorab
die Auswahl der Bewerberinnen durchführen und es bestünden interne Absprachen, keine muslimischen
Frauen mit Kopftuch einzustellen. Die private Arbeitsvermittlung reiche dann nur Bewerbungen von
Frauen weiter, die kein Kopftuch trügen. Es gebe somit neben der offenen Diskriminierung weiter die
verdeckte. Durch die zwischengeschaltete Agentur könne die Diskriminierung nicht nachgewiesen
werden.
Michaela Ghazi, Personalrätin Allgemeinbildende Schulen Reinickendorf, Berlin, Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW), wies darauf hin, dass nur wenige muslimische Frauen mit Kopftuch
ein Lehramtsstudium begännen. Angesichts der dramatischen Lehrenden-Situation in Berlin und der
Tatsache, dass die Schulen immer bunter und vielfältiger würden, sei das „nahezu schon lächerlich, wenn
es nicht so traurig wäre“. Da dies immer wieder an der Neutralität festgemacht werde, sei es unbedingt
notwendig, diesen Begriff zu definieren. Natürlich sei die Schule als Institution ein Ort, der Neutralität
wahren müsse. Es sei aber ein Irrtum anzunehmen, dass die Kolleginnen und Kollegen neutral seien, weil
sie alle durch Sozialisation und Erziehung geprägt seien. In einer weltoffenen Gesellschaft müsse die
Schule diese Vielfalt auch darbieten. Den Kolleginnen ihre Neutralität abzusprechen sei diskriminierend.
Außerdem höre die Neutralität der Schule immer dann auf, wenn es um das Personal für die Reinigung
gehe. Dort sei es dann „nicht so wichtig, ob die Kolleginnen ein Kopftuch tragen oder nicht“. Sie
beobachte, dass Schulleitungen beim Thema Kopftuch sehr hilflos seien, intensivere Aufklärungsarbeit
sei daher dringend nötig.
Taner Aksoy, fair – Federation against
Injustice and Racism e.V., nahm die
Situation der Frauen nach der
Diskriminierungserfahrung in den
Blick. Es müsse auch die Frage gestellt
werden, was mit ihnen danach
geschehe. Sie wollten teilweise ab
einem gewissen Zeitpunkt den Fall
nicht mehr weiter verfolgen, weil die
psychische Belastung zu groß werde.
Sie wollten dann einen Schnitt machen
und mit der Sache abschließen. Diese
Situation werde zu wenig beachtet.
Najla Al-Amin, Universität Osnabrück, Institut für Islamische Theologie, merkte an, dass es durchaus
auch positive Fälle gebe. So sei eine Freundin kürzlich ohne Probleme in den Schuldienst in Hannover
aufgenommen worden. Gleich beim Bewerbungsgespräch sei ihr ein Vertrag angeboten worden. Sie
selbst habe jahrelang im Goethe-Institut als Deutschlehrerin gearbeitet. Zwar sei sie dort am Anfang
auch gefragt worden, ob sie das Kopftuch abnehmen würde. Nachdem sie gesagt habe, dass das ihre
Entscheidung sei und sie sich wünschen würde, nach ihrer Qualifikation beurteilt zu werden, sei das nie
wieder ein Thema gewesen, was sie als sehr positiv empfunden habe. Allerdings habe sie auch von vielen
negativen Erfahrungen gehört. Sie wünsche sich, dass die Betroffenen ihre Diskriminierung nicht einfach
herunterspielen würden, sondern etwas dagegen täten. Sie sollten das nicht einfach als völlig normale
Situation in Deutschland hinnehmen.
Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für Menschenrechte e.V. (DIMR), verwies auf „einen sehr
schönen Satz“ des Bundesverfassungsgerichts, dass es einen Bildungsauftrag gebe, die religiöse
Pluralität auch an Schulen sichtbar zu machen. Das gehe in der Debatte manchmal unter. Zudem sei es
Diskussion zum Vortrag
13
in Menschenrechtszusammenhängen wichtig zu betonen, dass es zuerst die Freiheit gebe. „Erstmal
haben wir die Freiheit, und der Staat muss begründen, warum er sie einschränken will.“ Bei der
Religionsfreiheit sei der Begründungsaufwand dafür relativ hoch. Es sei gut, sich dessen immer wieder zu
vergewissern, auch wenn die Realität anders aussehe und die gesellschaftliche Debatte anders laufe.
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
14
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche
Regelungen zum Kopftuch im
Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und
Veränderungsbedarfe
Privatdozentin Dr. Sabine Berghahn,
Rechtsanwältin und Politikwissenschaftlerin, Freie
Universität Berlin
(vollständiger Manuskripttext, Dr. Berghahn konnte nicht an der Veranstaltung teilnehmen)
Die sog. Kopftuchdebatte drehte sich rechtlich, politisch und gesellschaftlich bislang hauptsächlich um
das „Kopftuch der Lehrerin“. Dies hängt auch damit zusammen, dass mit dem leidvollen Rechtsweg von
Fereshta Ludin bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und mit dem Urteil des Zweiten Senats vom
24.09.2003 eine grundsätzliche Richtung eingeschlagen und für die dann folgende Zeit vorgegeben
wurde.
Der Zweite Senat des BVerfG befand sich intern in einer Zwickmühle. Die liberale Richter_innengruppe
im Senat hatte allem Anschein nach Mühe, eine interne Mehrheit für ein Urteil zu bilden, das der
Verfassungsbeschwerde von Fereshta Ludin stattgibt und das Kopftuchtragen grundsätzlich erlaubt.
Daher wurde ein in sich widersprüchlicher Kompromiss mit einem Richter des kopftuchkritischen Lagers
gefunden. Man einigte sich auf die Linie, dass zwar Ludins Grundrecht der Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG)
verletzt worden sei, aber die Bundesländer für die Zukunft in ihren Schulgesetzen das Kopftuch
verbieten könnten, indem sie bei Annahme einer „abstrakten Gefährdung“ der staatlichen Neutralität,
des Schulfriedens oder der Grundrechte von Schüler_innen oder Eltern das Tragen religiöser oder
weltanschaulicher Kleidung oder Symbole verbieten.
Solche Gesetze wurden in den Jahren 2004-2006 in acht von 16 Bundesländern erlassen, in fünf davon
mit sog. Ausnahmeklauseln zugunsten der Darbietung christlich-abendländischer Traditionen, womit die
gesetzgebenden Mehrheiten den Nonnenhabit und die jüdische Kippa vom Verbot ausgenommen sehen
wollten.
Für Kopftuch tragende Bewerberinnen für das Lehramt und für bereits im Schuldienst tätige Lehrerinnen
mit Hijab bedeuteten die Gesetze den glatten Ausfall des individuellen Rechtsschutzes. Bewerberinnen
wurden abgelehnt, bereits tätige Lehrerinnen wurden gemaßregelt, abgemahnt oder beamtenrechtlich
diszipliniert und zum Teil sogar gekündigt oder aus dem Dienst entfernt. Sofern sie vor Gericht gingen,
scheiterten sie stets, jedenfalls in höherer und höchster Instanz der Verwaltungs- oder Arbeitsgerichte.
Dortige Richter_innen hatten offenbar keinerlei Zweifel an der salomonischen Qualität des Urteils von
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
15
2003: Keine Richtervorlage zum BVerfG und vor allem keine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof
(EuGH) wurde initiiert.
Stattdessen erhoben 2010 zwei sanktionierte Lehrerinnen im Angestelltenverhältnis aus NRW
Verfassungsbeschwerden. Diesmal war der Erste Senat zuständig. Aber auch der ließ sich Zeit. Die
Materie war heikel, denn Abweichung vom Urteil des Zweiten Senats von 2003 hätte eigentlich die
Anrufung des Plenums beider Senate erfordert. Das unterließ der Erste Senat dann aber doch und
entschied am 27.01.2015 eigenständig, indem er feststellte, dass nur eine „hinreichend
konkrete“ Gefährdung von Schulfrieden, Neutralität oder Grundrechten von Schüler_innen oder Eltern
ein Kopftuchverbot im Einzelfall rechtfertigen könne. Damit ist im Grundsatz Kopftuchtragen für
Lehrerinnen erlaubt.
Wäre bereits im ersten Urteil dieser an sich rechtsstaatlich selbstverständliche Grundsatz zum Tragen
gekommen, wäre die Entwicklung vermutlich viel pragmatischer und weniger konfliktreich verlaufen.
Dem Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion gemäß AGG (seit August 2006 in Kraft) wäre allgemein mehr Beachtung geschenkt worden. Die Zeit hätte genutzt werden können zur Gewöhnung an
Kopftuch tragende Frauen auch in akademisch anspruchsvollen Berufstätigkeiten. Auf der Seite der
Schule und Schulaufsicht hätte man Differenzierungsvermögen entwickeln können, problematische
Handlungsweisen oder Aussagen von Kopftuchträgerinnen zu erkennen und Wichtiges von
Unwichtigem für die Integrität des öffentlichen Dienstes zu unterscheiden. Der Abbau von Vorurteilen
und die Inklusion aufstiegsorientierter junger Musliminnen mit oder ohne Kopftuch in den Lehrberuf an
öffentlichen Schulen, in den öffentlichen Dienst und darüber hinaus in qualifizierte Erwerbstätigkeiten
wären vermutlich weiter fortgeschritten, wenn es die pauschalen Verbotsgesetze in einigen
Bundesländern nicht gegeben hätte und wenn diese nicht eine solche Rückendeckung durch die Justiz
erhalten hätten.
Für die Zukunft gilt es diesen Prozess der Pragmatisierung und Veralltäglichung des Umgangs mit
Menschen anderer Religion und Kultur gesellschaftlich nachzuholen, ohne in platten Kulturrelativismus
oder Gleichgültigkeit zu verfallen. Es gibt zweifellos auch von Seiten eingewanderter Muslime
problematisches Verhalten und geschürte Konflikte. Jedoch muss jedes soziale Phänomen nach seiner
konkreten Eigenart betrachtet werden. Dass Mädchen in der Schule schwimmen lernen und Sport
treiben, hat einen anderen Stellenwert als die Frage nach dem Kopftuch.
Politisch ist ein Lernprozess bei Politiker_innen erforderlich, so dass man darauf verzichtet, stets neue
Verbotsgesetze, z.B. für die Gesichts- und Vollverschleierung, zu propagieren, weil der
rechtspopulistischen AfD oder anderen Gruppierungen der Wind aus den Segeln genommen werden soll
und man die eigene Partei als handlungsfähig in Sachen Grenzziehungen darstellen möchte.
Eine Gelingensbedingung ist ferner die Erkenntnis auch unter Feministinnen, dass Frauen aus anderen
Herkunftssphären ihre Emanzipation selbst bestimmen sollten und nicht unbedingt nach westlichem
Muster „selig“ werden müssen. Das eigene Projektionsmuster sollte selbstkritisch erkannt werden: Denn
das Kopftuch ist kein eindeutiges Symbol, nicht für Frauenunterdrückung und auch nicht für andere
fragwürdige Ziele oder Praktiken. Wenn es überhaupt um den Symbolcharakter gehen soll, so muss
differenziert werden, wer dem Kopftuch welche Bedeutung beimisst. In erster Linie zählt die Bedeutung,
die die Trägerin ihrem Kopftuch beimisst. Den meisten anderen Menschen kann zugemutet werden, dass
sie sich mit abwertenden Projektionen zurückhalten, solange sie nicht selbst (oder andere Personen)
zum Kopftuchtragen gezwungen werden sollen.
Eine weitere Gelingensbedingung ist religiöse und weltanschauliche Toleranz. Früher war fast die ganze
deutsche Bevölkerung in den beiden christlichen Großkirchen organisiert, heute sieht die religiöse
Landschaft ganz anders aus, d.h. wesentlich pluralistischer. Vor allem ist der Islam als mitgliederstarke
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
16
Religion dazugekommen. Die deutsche Mehrheitsbevölkerung ist im Zeitverlauf säkularer geworden, d.h.
große Teile der Bevölkerung sind heute nicht-religiös bzw. gehören keiner Kirche oder
Religionsgemeinschaft an. Dennoch hat strikter Laizismus, d.h. die strenge Trennung von Religion und
Öffentlichkeit, die Ausgrenzung des Religiösen ins Private und das Verbot der öffentlichen Bezeugung
des eigenen religiösen Bekenntnisses, in Deutschland keine verfassungsrechtlich mehrheitsfähige
Tradition. Sie einzuführen würde mehr Probleme schaffen als lösen.
Politisch und gesetzgeberisch sollten daher Bundesländer wie Berlin, wo es zumindest starke laizistische
Tendenzen gibt, keinen weiteren rechtspolitischen Durchsetzungs- oder Aufrechterhaltungsehrgeiz
entwickeln, sondern im Gegenteil ablassen von der Verfolgung eines solchen Sonderwegs, wie ihn das
sog. Neutralitätsgesetz derzeit darstellt. Im Hinblick auf das Kopftuch der Lehrerin und sonstiger Berufe
im öffentlichen Dienst missachtet das Gesetz die Vorgaben der zweiten Kopftuchentscheidung und
sendet ein desintegratives Signal für alle Muslim_innen und ggf. Angehörige anderer Religionen aus.
Dr. Sebastian Müller, Deutsches Institut für
Menschenrechte (DIMR), Projekt „Recht auf
Religions- und Weltanschauungsfreiheit“
Müller nannte drei verschiedene menschenrechtlich relevante Ebenen zur Beurteilung eines
Kopftuchverbotes: die internationalen Menschenrechte, die Europäische Menschenrechtskonvention
und das Grundgesetz. Auf internationaler Ebene müsse man speziell zur Frage des Kopftuchs an Schulen
ein wenig suchen. Es gebe jedoch Anknüpfungspunkte in der praktischen Auslegung der UNAntirassismus-Konvention und der UN-Kinderrechts-Konvention. So habe beispielsweise der UNKinderrechts-Ausschuss 2004 darauf hingewiesen, dass der Staat Bildungsmaßnahmen für Kinder und
Eltern durchführen solle, um eine Kultur religiöser Vielfalt einüben zu können. Aus den
Menschenrechten leite sich zudem die Verpflichtung ab, alle Religionen und sichtbaren religiösen
Zeichen gleich zu behandeln.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verfolge ebenfalls den Ansatz, dass alle
Religionen gleich behandelt werden müssten. Er nehme allerdings Rücksicht auf die unterschiedlichen
Verfassungstraditionen zur Trennung von Staat und Kirche. Deswegen habe er eine zurückhaltende
Rechtsprechung entwickelt, die den Staaten einen großen Ermessensspielraum einräume. So dürfe
Frankreich, das beim Verhältnis Staat und Kirche einen strikten Laizismus vertrete, sehr weit gehende
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
17
Neutralitätspflichten verlangen. Nach Ansicht des EGMR sei es gerechtfertigt, das Prinzip des Laizismus
auch auf staatliche Kliniken auszuweiten. Entsprechend habe er keine Verletzung des Rechts einer
Klagenden gesehen, die in einer solchen Klinik ein Kopftuch habe tragen wollen und der es untersagt
worden sei.
In Deutschland habe sich eine andere Verfassungstradition entwickelt, so Müller. Hier stehe das Prinzip
im Mittepunkt, alle Religionen gleichermaßen zu fördern. Das deutsche Neutralitätsverständnis sei
gerade kein Sterilitätsgebot. Gerade wegen des weiten Ermessensspielraums des EGMR sei es möglich,
in Deutschland Regelungen zu finden, die der individuellen Religionsfreiheit mehr Gewicht gäben. Wie
dies möglich sei, verdeutliche der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum
Kopftuchverbot.
Bezogen auf das Berliner Neutralitätsgesetz gebe es zwei relevante rechtliche Aspekte aus dem
Beschluss des BVerfG. Einerseits das Verbot der Privilegierung einer Religion. Eine Privilegierung gebe es
in Berlin nicht, weil alle gleich behandelt würden. Problematisch werde es allerdings, wenn in der
praktischen Auslegung die sichtbaren Bekenntniszeichen einer Religion unterschiedlich behandelt
würden – also beispielsweise das Kopftuch als sichtbares Zeichen zu werten, ein Kreuz als Schmuck
dagegen nicht.
Andererseits ermögliche das Gericht ein pauschales Verbot nur, wenn eine „substanzielle Konfliktlage
über das richtige religiöse Verhalten“ im gesamten Schulbezirk vorliege. Die Konfliktlage müsse erst
einmal bewiesen werden und sie müsse tatsächlich substanziell sein. Die Nachweispflicht dafür liege
beim Berliner Gesetzgeber. Es sei fraglich, ob das einfach so für das gesamte Landesgebiet anzunehmen
sei, wie es das Gesetz unterstelle. Das Berliner Pauschalverbot stehe hier im Gegensatz zum Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts, das sehr detaillierte Anforderungen aufgestellt habe. Das DIMR habe
diese Frage bereits untersucht und sich eindeutig positioniert: „Das Gesetz muss geändert werden. Es ist
nicht verfassungsgemäß.“
Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss das deutsche Neutralitätsverständnis
konsequent auf Schulen angewendet, sagte Müller. Zum einen habe es klargestellt, dass das Kopftuch
als Ausdruck der individuellen Religionsfreiheit der Lehrerin nicht pauschal verboten werden könne.
Zum anderen habe es staatlichen Stellen auch den Bildungsauftrag aus dem Gleichbehandlungsgebot
des Grundgesetzes mit auf den Weg gegeben. Das Bundesverfassungsgericht sage, dass die Schule in
einer offenen Gesellschaft als Lernort für religiöse Diversität verstanden werden müsse. Dies leite das
Gericht aus dem staatlichen Neutralitätsgedanken ab. Anders als in Frankreich sei dies in Deutschland
jedoch ein offenes, förderndes Neutralitätsverständnis für sämtliche Religionsgemeinschaften.
Deswegen seien alle gleich zu behandeln, und zwar so, dass das in der Schule auch eingeübt werden
könne.
Zeynep Cetin, Netzwerk gegen Diskriminierung
und Islamfeindlichkeit (Inssan e.V.)
Cetin kündigte an, dass die am Berliner Arbeitsgericht unterlegene muslimische Frau weiter für ihr Recht
kämpfen und auch weiter klagen werde. Es sei aber traurig, dass sie einen weiten Instanzenweg
durchlaufen müsse, obwohl das BVerfG in seinem Grundsatzurteil eigentlich eine klare Regelung
geschaffen habe. Sie frage sich, wie lange der Berliner Senat sich noch weigern wolle, das anzuerkennen.
Cetin führte einige Fälle aus der Beratung ihres Netzwerkes genauer aus. Es gebe derzeit viele Anfragen
von Frauen, die sich als Quereinsteigerinnen für Willkommensklassen beworben hätten und abgelehnt
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
18
worden seien. Dies sei unverständlich angesichts der Tatsache, dass in Berlin an Schulen händeringend
nach Lehrpersonal gesucht werde. Es würden immer wieder hochqualifizierte Frauen nur mit dem
pauschalen Hinweis auf das Kopftuch abgelehnt, obwohl es gerade für Willkommensklassen nur von
Vorteil sein könne, auch Quereinsteigerinnen aus anderen Berufszweigen einzustellen. „Das kann doch
eigentlich nur ein Mehrwert sein“, so Cetin. Es würden auch Frauen zu Vorstellungsgesprächen
eingeladen und nicht von Anfang an abgelehnt. Auch würden einzelne Schulen sie gerne einstellen,
allerdings mache dies dann die Senatsbildungsverwaltung nicht mit.
Diese Situation führe dazu, dass sich viele muslimische Frauen mit Kopftuch, die Lehrerinnen werden
wollten, studiert hätten oder quer in den Beruf einsteigen wollten, auf eine Bewerbung verzichteten. Sie
hätten durch die ablehnende Gerichtsentscheidung einfach nicht den Mut dazu. Diese Frauen müssten
nicht nur zu Bewerbungen ermutigt werden, sondern auch dazu, gegen eine Ablehnung vorzugehen.
In einem geschilderten Fall ging es um eine muslimische Frau mit Kopftuch, die sich als Studentin für
einen Nebenjob in einem Café beworben hatte. Während eines Probearbeitens sei sie von der Chefin der
Filiale plötzlich darauf hingewiesen worden, dass sie in dem Betrieb nicht mit Kopftuch arbeiten könne.
Die Filialleiterin habe gesagt, dass sie als aufgeklärte Frau das Tragen des Kopftuches nicht legitimieren
könne. Die Kopftuch tragende Frau habe vor Gericht aber Recht bekommen. Der Fall bestätige, dass
diskriminierende Arbeitgebende kein Unrechtsbewusstsein hätten und davon ausgingen, dass ein
Kopftuchverbot in einem Betrieb ganz normal sei.
Anhand eines weiteren Falls schilderte Cetin die Praxis, dass sich Arbeitgeber „hinter privaten
Arbeitsvermittlungen verstecken“ würden, die eine Vorauswahl träfen. Dabei gebe es anscheinend
interne Absprachen, mit denen muslimische Frauen mit Kopftuch ausgeschlossen werden sollten. In
dem beschriebenen Fall habe die Agentur nach einer Bewerbung angegeben, dass die Kunden
niemanden mit Kopftuch einstellen wollten. Außerdem gebe es auch immer wieder den Hinweis, dass
eine Arbeitsvermittlung nur möglich sei, wenn die Frau das Kopftuch während der Arbeit abnehmen
würde. Es sei schwierig, gegen solche Arbeitsvermittlungsagenturen rechtlich vorzugehen.
Cetin nannte solche Vorgehensweisen geradezu belustigend, wenn Arbeitgebende sich andererseits in
der Selbstdarstellung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz beriefen oder die „Charta der Vielfalt“
unterschreiben würden, es aber bei der Umsetzung in der Praxis hapere.
Als letztes Beispiel schilderte Cetin Hindernisse in der Flugzeugabfertigung. Dort gebe es für sogenannte
Ramp-Agent_innen eine Uniformpflicht. Einer hochqualifizierten Bewerberin sei versucht worden, das
Tragen des Kopftuches auszureden, weil die verschiedenen Fluggesellschaften, für die sie tätig werden
würde, keine passende Uniform mit Kopftuch hätten. Es habe sich dabei deutlich der Wille gezeigt, auch
keine Einzelfalllösung für die Situation suchen zu wollen.
Vera Egenberger, Büro zur Umsetzung von
Gleichbehandlung e.V. (BUG)
Egenberger sprach in ihrem Vortrag über konfessionelle Arbeitgeber. Die kirchlich gebundenen,
katholischen oder evangelischen Wohlfahrtsverbände seien zusammen die zweitgrößten Arbeitgeber der
Bundesrepublik. Die Krankenhäuser, Kindergärten, Seniorenheime und anderen Sozialdienste würden zu
80 bis 100 Prozent aus staatlichen Mitteln gefördert, weil sie staatliche, an Verbände gegebene
Aufgaben übernähmen. Sie bekämen in der Regel auch steuerliche Erleichterungen, die anderen
kommerziellen Anbietern nicht notwendigerweise zuteilwürden. Noch aus der Tradition der Weimarer
Arbeitsgruppe 1: Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben –
Entwicklungsperspektiven und Veränderungsbedarfe
19
Reichsverfassung abgeleitet, könnten die Kirchen nach innen eine Autonomie in Anspruch nehmen, mit
der sie Internes ausschließlich selbst, ohne staatlichen Einfluss regeln könnten.
Nach europäischen Beschäftigungsrichtlinien könnten konfessionell gebundene Arbeitgeber
Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen, wenn die Ausführung einer Tätigkeit einer kirchlichen
Anbindung benötige. Beispiele dafür seien Seelsorger im Krankenhaus oder Priester, die der jeweiligen
Konfession angehören müssten. Bei so genannten verkündungsfernen Stellen könnten solche
Ausnahmen aber eigentlich nicht mehr greifen. In der nationalen Umsetzung werde es in Paragraf 9 des
AGG den konfessionellen Arbeitgebern weitgehend erlaubt, die Kirchenzugehörigkeit der
Mitarbeiter_innen zur Bedingung zu machen. Es seien in Einzelfällen Ausnahmen möglich, die auch
durch interne Richtlinien geregelt seien, sie würden dann bei einem Mangel an qualifiziertem Personal
angewendet.
Obwohl Personal durchaus benötigt werde, würden die konfessionellen Verbände muslimische Frauen,
die ein Kopftuch tragen, oft einfach nicht einstellen. Bislang habe es nach ihrem Wissen nur eine Klage
einer Person dagegen gegeben, die diese vor Gericht verloren habe, so Egenberger. Sie verwies auch auf
ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts an den EuGH, das die europarechtliche
Konformität dieser Ausnahmeregelung für kirchliche Arbeitgeber zum Gegenstand hat.
Diskussion zur Arbeitsgruppe 1
20
Diskussion zur Arbeitsgruppe 1
Moderatorin Maryam Haschemi Yekani nannte in der Diskussion weitere Beispiele aus ihrer Erfahrung
als Rechtsanwältin mit dem Thema. Sie wies zudem auf weit verbreitete Missverständnisse bei der
Neutralität hin. Private Arbeitgeber dürften diese gar nicht einfordern, anders als der Staat. Die
Entscheidung für eine „religiös neutrale Zahnarztpraxis“ sei beispielsweise mit dem Berliner
Neutralitätsgesetz nicht vereinbar. Grundsätzlich gebe es bei der Neutralitätsfrage das Problem, dass
Frauen mit Kopftuch sich erklären müssten, aber etwa bei einer Lehrerin, die eine Kette mit einem Kreuz
trage, dieses religiöse Symbol in einem Vorstellungsgespräch überhaupt nicht angesprochen werde.
Ihrem Eindruck nach habe die Diskussion um das Kopftuch angefangen, als gut ausgebildete,
qualifizierte Frauen in bestimmte öffentlich sichtbare Bereiche vorgedrungen seien. Vorher habe sich
beispielsweise niemand an Kopftuch tragenden türkischen Putzhilfen in bestimmten nicht-sichtbaren
Bereichen gestört. Das bestätige sich durch Erfahrungen mit Jobcentern, in denen Frauen mit Kopftuch
gesagt werde, sie bekämen nur Angebote für Callcenter, weil man sie dort nicht sehen und man sich auf
die Qualifikation konzentrieren könne, im Einzelhandel seien sie nicht unterzubringen.
Zeynep Cetin nannte es „paradox und kurios“, dass nach ihrer Beratungserfahrung das Verbot religiöser
Symbole faktisch immer nur muslimische Frauen mit Kopftuch treffe. Ein christliches Symbol wie ein
Kreuz an einer Kette werde dagegen als erlaubter Modeschmuck eingeschätzt. Des Weiteren führte sie
das Berliner Kammergericht als Ausbildungsstelle an, das den Umgang mit Kopftuch tragenden Frauen
gut handhabe. Diese Referendarinnen seien von bestimmten hoheitlichen Aufgaben freigestellt, ohne
dass dies Auswirkung auf die Gesamtnote oder auf die Beurteilung habe.
Ulrike Bargon, Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (agah), Landesausländerbeirat,
erinnerte daraufhin an einen Fall in Hessen, in dem sich ein Anwaltsverein über eine Referendarin mit
Kopftuch beschwert habe, die auf der Richterbank saß. Der damalige Justizminister habe gesagt, sie
könne so an der Ausbildungsstation nicht mehr teilnehmen und müsse dann mit ungenügend beurteilt
werden. Tatsächlich sehe sie das Problem der Beurteilung, weil Referendarinnen keine hoheitlichen
Tätigkeiten ausübten.
Auf einen Einwand in der Diskussion, dass Neutralitätsgebote doch auch äußere Religionszeichen von
Christen einschränken würden, etwa Ordenstracht tragende Nonnen, erläuterte Nahed Samour anhand
eines Urteils des Arbeitsgerichtes Berlin die Frage von Bekleidungsvorschriften. Die Richter hätten
festgestellt, dass es in der christlichen Religion keine vergleichbaren Bekleidungsvorschriften für
Diskussion zur Arbeitsgruppe 1
21
gläubige Menschen wie im Islam gebe. Diese würden nur für bestimmte Positionen innerhalb der
Glaubensgemeinschaft gelten. Eine Zugehörigkeit zu einem Orden als Mönch oder Nonne stelle
demnach, anders als die Glaubensüberzeugung eines Einzelnen, eine herausgehobene Stellung dar.
Stefan Sträßer, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA), nannte den
Gedanken der Neutralität für Unternehmen vom Ansatz her richtig. Zur Erläuterung verließ er den seiner
Ansicht nach von der ADS mit dem Kopftuch „sehr fokussiert“ gewählten Fachgesprächsgegenstand
etwas. In der Praxis gebe es viele Fälle von Arbeitgebenden, die nicht diskriminieren wollten, sondern
sich einfach die Frage stellen würden, wie man mit unterschiedlichen religiösen Anforderungen
umgehen solle. In einer Belegschaft, in der alle großen Weltreligionen vertreten seien, sei es nicht falsch
von den Arbeitgebenden sich so neutral zu verhalten, wie es das Neutralitätsgesetz sage. „Das finde ich
in einer pluralen Gesellschaft gar keinen verkehrten Ansatzpunkt“, so Sträßer. Er nannte Beispiele wie
einen Mitarbeiter in einem Chemieunternehmen, der sich aus religiösen Gründen einen Bart wachsen
lasse, wodurch er aber den gesetzlich vorgeschrieben Mundschutz nicht mehr darüber tragen könne.
Oder es gebe den Fall im Ramadan, wenn ein Gabelstaplerfahrer zu kollabieren drohe, weil er nicht
trinke. Auch wenn Männer aus religiösen Gründen sagen würden, sie könnten nicht nackt gemeinsam
mit anderen Männern duschen, stelle sich für Arbeitgebende die Frage nach dem Umgang damit. Das
seien handfeste Probleme. Es würden dann in manchen Fällen islamwissenschaftliche Gutachten
eingeholt, um die Sachverhalte zu klären, natürlich auch Schichtpläne geändert oder Mitarbeiter_innen
umgesetzt. Für den Arbeitgebenden bedeute dies dann aber auch, andere Beschäftige mit gleicher
Qualifikation finden zu müssen. Wenn man einer Religionsgemeinschaft entgegen komme, könne sich
das Problem stellen, dass dann die nächste mit einer anderen Forderung komme. Außerdem seien
Unternehmen, etwa im ländlichen Raum, damit konfrontiert, dass Kund_innen beispielsweise keine
Kopftuch tragende Versicherungsvertreterin akzeptieren würden. Es stelle sich dann die Frage, wie
damit umzugehen sei. Er könne deswegen die Idee, sich neutral zu verhalten, gut verstehen, so Sträßer.
Es sei daher wünschenswert, das Themenjahr der ADS etwas breiter anzulegen.
Nahed Samour entgegnete, dass der Neutralitätsbegriff, wie ihn zumindest das Berliner
Neutralitätsgesetz formuliere, hochproblematisch sei, weil man schnell bei Vorgaben von Sichtbarkeit
lande. Man solle Neutralität besser durch Inklusion ersetzen. Denn dann werde schnell deutlich, wer
exkludiert werde, wer außen vor bleibe. Damit würde auch „die Dramatik eindeutig, mit der wir es hier
zu tun haben“.
Vera Egenberger betonte, dass es nicht helfe, die verschiedenen Dinge zu vermischen. Die staatliche
Neutralität habe nur mit Schule und mit Gerichtsbarkeit zu tun, nichts mit privaten Firmen. Der Umgang
mit anderen Anforderungen an Unternehmen sei „mit der AGG-Brille“ betrachtet eine Frage des
Diversity-Managements, nicht der Neutralität.
Diskussion zur Arbeitsgruppe 1
22
Sebastian Müller führte zum Umgang mit religiösen Gruppen Kanada als Beispiel an. Dort habe man
schon in den 1960er-Jahren den Begriff der „reasonable accommodation“ eingeführt, also der
angemessenen Vorkehrung. Demnach hätten die Arbeitgebenden eine Verpflichtung nachzuweisen,
warum sie bestimmte Bedürfnisse nicht erfüllen wollten. Am Ende müsse man sich jedoch immer
überlegen, wie man das Zusammenleben organisieren wolle. Er räumte ein, dass die Menschenrechte
dabei einiges an Kreativität abverlangten.
Barbara Schmidt, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, wies darauf hin, dass das Ministerium in
den viel gescholtenen Jobcentern viele Schulungen zur Interkulturellen Öffnung und Diversität anbiete.
Diese benötigten jedoch viel Zeit, Personal und Ressourcen. Ihrer Erfahrung nach wäre ein besseres,
zentrales Wissensmanagement sehr hilfreich, beispielsweise mit geeigneten Informationsmaterialien
über den Rechtsstand.
Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des Kopftuches am Arbeitsplatz
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Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis
gegen Diskriminierung wegen
des Kopftuches am Arbeitsplatz
Nesreen Hajjaj, Jung, Muslimisch, Aktiv (JUMA)
Hajjaj beschrieb zunächst das Ziel von JUMA: „Mit uns und nicht nur über uns sprechen.“ Das Thema sei
wichtig, um Partizipationsmöglichkeiten für Frauen auch als Chance anzuerkennen. Es gehe außerdem
um eine gesellschaftliche Mitgestaltung und darum, Vielfalt in verschiedenen Berufen abzubilden. Die
Beispiele und Zitate aus dem Vortrag von Boos-Niazy zeigten, wie stark „unter der Gürtellinie“ und
niveaulos Kommentare von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern manchmal seien. Der Entschluss,
ein Kopftuch zu tragen, komme bei jungen Musliminnen aus freien Stücken und sei keine Entscheidung
der Eltern. Ein Kopftuch zu tragen bedeute faktisch allerdings, sich in bestimmten Bereichen einem
Berufsverbot unterwerfen zu müssen. Das Tragen eines Kopftuches werde aber erst zum Problem, wenn
Frauen anfangen würden, sich zu entwickeln, aufzusteigen und in gesellschaftlich und beruflich wichtige
Positionen zu streben. In Berufen mit Geringverdienenden stelle das Kopftuch dagegen kein Problem
dar. Mit Blick auf die akademische Ausbildung sagte Hajjaj, dass die Entscheidung junger Musliminnen
nach Ansicht mancher Menschen offenbar nicht zum sonst gängigen „Unterdrückungsnarrativ“ passe.
Dunya Adigüzel, Islamische Gemeinschaft Millî
Görüş e.V. (IGMG)
Adigüzel beklagte eine klischeehafte Darstellung von Frauen, deshalb sei ein gesamtgesellschaftlicher
Ansatz notwendig. Dabei gehe es darum, das Bild einer Frau mit Kopftuch nachhaltig zu ändern. Dies
könne mit Kampagnen, Publikationen und Plakaten zur „Normalisierung“ geschehen, die auch Vielfalt
sichtbar machten. Sie verwies als Beispiel auf die Universität Gummersbach, die mit Kopftuch tragenden
Studentinnen werbe oder die Zeitschrift „Familie“, die Kopftuch tragende Frauen als Mütter zeige.
Adigüzel nannte die gesetzlichen Regelungen des AGG nicht ausreichend, weil die Nachweisbarkeit vor
Gericht problematisch sei, meist Aussage gegen Aussage stehe und es beim Weglassen der
diskriminierenden Äußerung umgangen werden könne. Außerdem ändere es nicht die Haltung der
Arbeitgebenden. Es würden zwar diskriminierende Äußerungen durch Arbeitgebende unterbleiben, in
der Praxis ändere sich dadurch aber nichts. Adigüzel führte weiter aus, dass Diskriminierungen von
Seiten muslimischer Frauen selten angezeigt würden. Viele vertrauten dem Rechtssystem nicht. In der
Gesellschaft fehle ein Schuldbewusstsein für die Diskriminierung, die Ablehnung muslimischer Frauen
durch Arbeitgebende sei salonfähig geworden. Es gebe daher Handlungsbedarf bei der Aufklärung über
die eigenen Rechte und Handlungsmöglichkeiten. Mit Empowerment-Maßnahmen müsse verhindert
werden, dass Frauen mit Kopftuch bestimmte Berufsfelder schon im Vorhinein ausschlügen.
Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des Kopftuches am Arbeitsplatz
24
Romin Khan, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
(Ver.di)
Khan räumte ein, dass das AGG für Gewerkschaften noch kein großes Thema sei. Hier sei noch eine
weitere Auseinandersetzung nötig. Höheres Gewicht habe bei der Gewerkschaft das Thema
Geschlechterdiskriminierung, beispielsweise in Fragen der Entgeltgleichheit oder Karrierechancen. Als
mögliche Handlungsmöglichkeiten bezeichnete Khan außerbetrieblich anonymisierte
Bewerbungsverfahren und eine Interkulturelle Öffnung. Innerbetrieblich ergäben sich
Handlungsmöglichkeiten durch das Betriebsverfassungsgesetz, etwa dadurch, Personalräte zu
informieren und Regelungen zu schaffen, die Antidiskriminierungspraxen fördern und stärken würden.
Kahn sagte, dass auch Verdi sich noch stärker mit spezifischen Diskriminierungsstrukturen
auseinandersetzen und das Thema unter dem Stichwort Empowerment in Bildungsseminare einfließen
lassen sollte. Khan wies auf das „große Thema“ hin, dass das AGG nicht in kirchlichen Betrieben gelte.
Bei den Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene nannte Khan den gewerkschaftlichen
Rechtsschutz. Allerdings bedeute diese Inanspruchnahme häufig, dass die Lösung auf Vergleiche
ausgerichtet sei, statt Grundsatzurteile zu erwirken.
Dr. Petra Rostock, Arbeiterwohlfahrt (AWO),
Bundesverband
Rostock beschrieb den seit dem Jahr 2000 laufenden Prozess der
interkulturellen Öffnung der AWO. Dieser orientiere sich am
Leitbild der Offenheit für alle, die sich mit den Werten der AWO
identifizierten, etwa der Achtung weltanschaulicher Bekenntnisse.
Ziel sei es, Vielfalt auch in den Reihen der Beschäftigten abzubilden.
Spezifische Maßnahmen des Bundesverbandes für Frauen mit
Kopftuch seien ihr nicht bekannt. Es ist ein Leitfaden entwickelt, der
sich auf das AGG bezieht und mit Bildungsmaßnahmen für
Multiplikator_innen begleitet werden soll. Rostock sagte, dass sich
das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum
Kopftuchtragen mit den AWO-Werten decke. Als Best PracticeBeispiel nannte sie die Aktionswoche „Echtes Engagement. Echte
Vielfalt. Echt AWO.“, zu der 60 Bewerbungen mit Plakaten
eingegangen seien, die diese unterschiedlichen
Vielfaltsdimensionen abgebildet hätten, etwa durch ein Motiv mit
einer Kopftuch tragenden Mitarbeiterin.
Andreas Merx, IQ Fachstelle Interkulturelle
Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung
Merx betonte in seinem Kurzvortrag, dass es wichtig sei, positive Anreize zu setzen. Arbeitgebende seien
nicht immer rassistisch, Vorbehalte und Unkenntnis seien jedoch weit verbreitet. Diese Gruppe könne
durch Informationen erreicht werden. Merx berichtete, dass nach einer Studie der ADS mit
anonymisierten Bewerbungsverfahren gute Erfolge zu erzielen seien, besonders, wenn standardisierte
Verfahren angewendet würden. Es sprach sich für breite Ansätze statt Einzelmaßnahmen aus, um
Arbeitsgruppe 2: Gute Praxis gegen Diskriminierung wegen des Kopftuches am Arbeitsplatz
25
langfristig einen Organisationswandel zu bewirken. Es müsse immer die Qualifikation entscheidend sein.
Außerdem könne Diversity Vorteile bieten, wie besondere Sprachkenntnisse oder die Kenntnis einer
Community. Es sei bereits empirisch belegt, dass vielschichtige Teams Vorteile brächten, beispielsweise
neue Kundenschichten ansprechen könnten. Merx stellte eine Liste konkreter Maßnahmen vor, wie
Betriebsvereinbarungen, Diversity-Kalender mit Thementagen, Vielfaltskantine (ohne SchweinefleischAngebot), Einrichtung von Räumen der Gebete oder der Stille, Mitarbeiter_innennetzwerke bestimmter
Gruppen im Betrieb, Diversity-Monitoring und -Management, Beschwerdestellen nach Paragraf 13 des
AGG, Cultural-Divers-Checks, Ausschreibungen mit Vielfaltskriterien nach Paragraf 5 des AGG,
Zusammenarbeit mit Moscheen und Migrationsverbänden. All dies erreiche allerdings nur dem Thema
gegenüber offene Arbeitgebende. Bei kleinen und mittleren Unternehmen sei noch „viel Luft nach
oben“. Er rief die Verwaltungen auf, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Diskussion zur Arbeitsgruppe 2
26
Diskussion zur Arbeitsgruppe 2
Moderation: Heike Fritzsche, Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS)
Zum Thema Beschwerdestellen auf Grundlage des AGG, die an Schulen noch freiwillig, in Unternehmen
bereits verpflichtend sind, berichteten die Teilnehmer_innen nur von einer geringen Nutzung. Kopftuch
tragende Frauen würden das betriebliche Beschwerderecht nach Paragraf 13 kaum in Anspruch nehmen,
sagte Mohamad Hajjaj. Auch Pinar Cetin, Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB),
sagte, Muslima würden sich zuerst eher an Moscheen wenden. Sie bemängelte, dass die Polizei
islamfeindliche Vorfälle nicht gesondert erfasse, ein klares Benennen sei aber notwendig und nicht das
Aufführen unter Rassismus. Dunya Adigüzel sagte, dass Frauen lieber das Gespräch mit anderen Frauen
in Moscheen suchten, weil ihr Vertrauen in die Gesellschaft sehr gering sei. Gabriele Boos-Niazy
betonte, dass die Schwelle sehr hoch sei, sich an eine staatliche Institution zu wenden. Dies liege an
einem gewissen Fatalismus und der Furcht, die Diskriminierung noch einmal durchleben zu müssen.
Deshalb gingen Betroffene lieber zu Beratungsstellen und in Moscheevereine, dort müsse man nicht
nochmal erklären, worum es gehe, so Boos-Niazy.
Nathalie Schlenzka, ADS, wies zur Klarstellung darauf hin, dass es entscheidende Unterschiede
zwischen Beschwerdestellen und Beratungsstellen gebe: Beschwerdestellen seien für Arbeitgeber nach
Paragraf 13 AGG verpflichtend zu benennen. Beschwerdestellen im Bildungsbereich verbindlich
einzurichten, werde derzeit diskutiert, beispielsweise in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Die
Verankerung von Beratungsstellen sei dagegen rechtlich weniger verbindlich, deren Aufgabenspektrum
sei breiter gefasst.
Mehrere Teilnehmer_innen wiesen auf die Schwierigkeit von betrieblichen Diversity-Maßnahmen hin,
wenn gleichzeitig Vielfalt nicht als Ressource in der Gesellschaft anerkannt und wertgeschätzt werde.
Die Reduzierung der Debatte auf das Kopftuch sei dabei zusätzlich problematisch, weil das die Frauen
auf ein Stück Stoff reduziere.
Dr. Alexander Böhne, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA), ging auf die
anonymisierten Bewerbungsverfahren ein. Diese seien kritisch in ihrer Wirkung gegen Diskriminierung
und auch in ihrer Akzeptanz durch Arbeitgebende zu sehen. Sie seien ein „reines Placebo, das nichts
bringt“. Zudem sei es in Regionen, in denen es kaum Menschen mit Migrationshintergrund gebe,
schwierig diese Gruppe zu fördern. Diversity-Maßnahmen liefen dort ins Leere oder es gebe gar keinen
Bedarf an ihnen. „Bitte keine verpflichtenden Maßnahmen“, sagte er dazu.
Juliane Zacher, GEW, sagte, dass der Bildungsinhalt Vielfalt sich in Berlin in der Diskussion um den
Rahmenlehrplan widerspiegele. Mitunter seien jedoch auch die Erwartungen an die Schule zu hoch,
wenn man davon ausgehe, dass dort alle gesellschaftspolitischen Probleme gelöst werden sollten. In der
Lehre lasse das Berliner Neutralitätsgebot wenig Spielraum für Kopftuch tragende Lehrerinnen. Die
GEW habe zum Thema Kopftuch noch keine einheitliche Meinung, man befinde sich dort in der
Findungsphase.
Diskussion zur Arbeitsgruppe 2
27
Michaela Ghazi, GEW, wies darauf hin, dass sich die Schwierigkeiten für Frauen mit Kopftuch
potenzieren würden. Die zuvor von Andreas Merx vorgestellten Maßnahmen griffen nur bedingt. Als
möglichen Ansatzpunkt nannte Ghazi das Abbilden von Diversität in Schulbüchern. Es gehe darum,
Denkweisen aufzubrechen. „Wir sind seit 50, 60 Jahren eine Einwanderungsgesellschaft und treten auf
der Stelle“, so Ghazi. Sie stellte die Frage, wann denn ein Migrationshintergrund aufhöre.
Druckmaßnahmen könnten dazu führen, dass sich etwas ändere. Sie verwies außerdem auf das GEWRechtsgutachten „Rechtlicher Rahmen für eine unabhängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen
Diskriminierung in Berliner Schulen“.
Prof. Dr. Riem Spielhaus nannte es ein Teil des Problems, dass „Migrationshintergrund“ und
„Muslimsein“ synonym verwendet würden. Es bestehe eine Überlappung, aber die Besonderheit der
religiösen Dimension müsse in den Mittelpunkt gestellt werden. Das Kopftuch sei ein besonderes
Merkmal und es gebe keine anderen Merkmale, für die es derartig explizite Verbote in bestimmten
Bereichen gebe. Die gesellschaftliche Debatten- und Gesetzeslage sei anders als bei anderen
Vielfaltsmerkmalen und habe eine besondere Brisanz. Die Vorurteile gegenüber dem Kopftuch wirkten
auch auf Musliminnen ohne Kopftuch. Auch sie würden diskriminiert, nach dem Motto, man könne ja nie
wissen, ob Musliminnen ohne Kopftuch auch irgendwann das Kopftuch anlegen wollten.
Taner Aksoy forderte eine „allgemeine Sensibilisierung in der muslimischen Community“. Viele Muslime
würden Diskriminierung und Ausgrenzung passiv hinnehmen und hätten sich damit abgefunden. Die
Sensibilisierung müsse jedoch in Verbindung mit Moscheen und Beratungsstellen angestoßen werden.
Helga Hentschel, Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, berichtete, dass es
immer mehr Auszubildende mit Kopftuch in Berlin gebe. Das sei eine ganz neue Dimension. Es sei
notwendig und müsse selbstverständlich werden, dass Frauen beim Übergang von Schule zu Beruf ein
Recht auf Bildung und Ausbildung hätten. Sie seien darin zu bestärken. Außerdem müsse sich das Bild
der Gesellschaft ändern, wobei alle gefordert seien und zusammenarbeiten müssten. Junge Mädchen mit
Kopftuch sollten ermuntert werden, der Weg werde mit der Zeit einfacher werden.
Diskriminierungsrisiken und Schlussfolgerungen
28
Diskriminierungsrisiken und
Schlussfolgerungen
In den Beiträgen und Diskussionen der Veranstaltung haben sich mehrere Erklärungen für die
Diskriminierung muslimischer Frauen mit Kopftuch gezeigt. Nach Ansicht vieler Teilnehmer_innen ist
das Kopftuch in der Gesellschaft und in Unternehmen nicht erwünscht. Hier sei generell eine weit
weniger wertschätzende Bewertung der Kategorie Religion im Vergleich zu anderen Diversitykategorien
wie Alter, Behinderung oder Geschlecht zu beobachten. Die Ablehnung des Kopftuches durch
Arbeitgebende sei vielfach bereits salonfähig geworden. Dies widerspricht allerdings den gesetzlichen
Grundlagen: Staatliche Neutralität gilt nicht in Privatunternehmen. Dennoch gingen viele Arbeitgebende
davon aus, dass es statt des zuvorderst stehenden Diskriminierungsverbotes wegen der Religion eine
weitreichende Neutralität bzw. ein Kopftuchverbot außerhalb des öffentlichen Dienstes gebe. Dies sei
eine Art „Kern-Missverständnis“ von Arbeitgebenden. Vielfach wurde auch beklagt, dass in Jobcentern
betroffene Frauen nicht im Sinne des Rechts unterstützt werden, sondern ihnen ein Verzicht auf das
Kopftuch nahegelegt wird.
Die Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen der Teilnehmer_innen bezogen sich auf mehrere
Bereiche:
Das Berliner Neutralitätsgesetz muss geändert werden, es ist nach dem BVerfG-Urteil von 2015
nicht mehr verfassungsgemäß. Entsprechende Ländergesetze müssen überprüft werden.
Paragraf 9 des AGG: Es muss geklärt werden, bei welchen Tätigkeiten in einem
Beschäftigungsverhältnis bei konfessionellen Arbeitgebenden die Religionszugehörigkeit eine
wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellen darf.
Gesellschaftlich, in Unternehmen und Institutionen sollte mehr Wert auf gegenseitige Akzeptanz,
auf mehr Vielfalt und die Inklusion verschiedener Lebensweisen gelegt werden. Insbesondere die
Diskriminierungsdimension Religion muss hier mehr Berücksichtigung finden. Die bereits gelebte
Vielfalt muss sichtbarer werden und sollte auch sich durch die Repräsentation Kopftuch tragender
Musliminnen in Publikationen, Plakaten, Schulbüchern etc. widerspiegeln. In Unternehmen
können dazu pro-aktive Vielfaltsmaßnahmen (z.B. anonymisierte Bewerbungsverfahren, DiversityKalender, Gebetsräume/Räume der Stille) und Betriebsvereinbarungen hilfreich sein.
Mit verschiedenen Arten des Wissensmanagements können die rechtlichen Grundlagen bekannter
gemacht werden, etwa mit Informationsmaterialien, Trainingshandbüchern sowie Schulungsund Sensibilisierungsmaßnahmen für Arbeitgebende. Die rechtliche Argumentation muss dabei
gestärkt werden: Das individuelle Grundrecht auf Religionsfreiheit sowie das
Diskriminierungsverbot sollten bei Information, Aufklärung und Sensibilisierung im Mittelpunkt
stehen. Auch muslimische Mädchen und Frauen müssen in der Entwicklung und Durchsetzung von
Berufswünschen und -wegen mehr Aufklärung, Unterstützung und Empowerment erfahren.
Insbesondere Mitarbeiter_innen in Jobcentern, Arbeitsvermittlungen und Berufsberatungen
müssen verstärkt informiert und für das Thema sensibilisiert werden.
Diskriminierungen wegen des Kopftuches zielen nicht nur auf die Religionsfreiheit: Sie greifen
ausschließlich Frauen und Mädchen an. Deshalb sollte sie nicht nur als religionsbezogene, sondern
auch als Geschlechterdiskriminierung in den Blick genommen werden. Frauen- und
Gleichstellungsbeauftragte sollten verstärkt dafür sensibilisiert werden, welche Benachteiligungen
Diskriminierungsrisiken und Schlussfolgerungen
muslimische Mädchen und Frauen wegen des Kopftuches erleben. Das vielfach noch
vorherrschende Bild vom Kopftuch als „Symbol der Unterdrückung“ verhindert bei Akteurinnen
gegen Geschlechterdiskriminierung eine Solidarisierung und Unterstützung betroffener Frauen.
Die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Unterstützung von Auszubildenden, Bewerberinnen
und Arbeitnehmerinnen mit Kopftuch sollte gezielt ausgelotet werden, z.B. durch den
gewerkschaftlichen Rechtsschutzes. Auch die Potenziale des Betriebsverfassungsgesetzes sollten
Betriebsräte und Beschäftigungsvertretungen stärker nutzen.
Bundesweit müssen spezifische Beratungs- und Hilfsangebote ausgebaut werden: Diese können
Beschwerdestellen an Schulen umfassen sowie unabhängige Beratungsstellen für
Diskriminierungsfälle. Sie sollten vor allem niedrigschwellig, merkmalsübergreifend und mit der
muslimischen Community vernetzt arbeiten. Kooperationen von Antidiskriminierungsstellen mit
muslimischen Einrichtungen sind ebenso sinnvoll wie die Zusammenarbeit von christlichen und
muslimischen Einrichtungen.
29
Anhang
30
Anhang
Redetext Gabriele Boos-Niazy, gekürzt:
Gesetzliche Regelungen zum Kopftuch im
Arbeitsleben – Status Quo und Auswirkungen in der
Praxis
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung und die Möglichkeit aus der Praxis der Arbeit des
Aktionsbündnisses muslimischer Frauen zu berichten. Die angeführten Beispiele stammen aus unserer
Arbeit der Beratung und Unterstützung von Frauen, die von Diskriminierung betroffen sind. Im
Folgenden möchte ich drei Aspekte beleuchten:
Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben
Ein Blick in die Praxis
Was uns Sorgen macht – die Erosion des Rechtsempfindens
Ich nehme in meinem Vortrag in erster Linie Bezug auf das Grundgesetz und das AGG, nicht auf die
Rechtspositionen der Vereinten Nationen.
Rechtliche Regelungen zum Kopftuch im Arbeitsleben
Grundrechte in der Kopftuchdiskussion
Die Grundrechte, die bei der Diskussion um das Kopftuch regelmäßig eine Rolle spielen sind:
das Gleichbehandlungsgebot (Art. 3), nach dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, die
Geschlechter gleichberechtigt sind, der Staat diese Gleichberechtigung fördern und Hindernisse
abbauen muss, sowie niemand wegen diverser Merkmale, u.a. seiner religiösen Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden darf,
die Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, üblicherweise etwas verkürzt als
„Religionsfreiheit“ bezeichnet (Art. 4 Abs. 1 und 2), die nach gültiger Rechtsprechung sehr weit ist
und eine sichtbar religiöse Praxis mit einschließt,
die Berufsfreiheit (Art. 12 GG Abs. 1), nach der jeder seinen Beruf frei wählen kann,
nach Art. 33 GG, die Garantie, dass jeder Deutsche nach Eignung, Befähigung und fachlicher
Leistung gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern haben muss, und zwar unabhängig von seinem
religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis oder eben auch der Ablehnung eines solchen
Bekenntnisses oder einer Weltanschauung.
Das hier genannte Kriterium der „Eignung“ wird uns später noch einmal begegnen.
Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
Neben den grundgesetzlichen Regelungen ist das Mitte August 2006 in Kraft getretene Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz bei Kopftuchfragen relevant. Das AGG ist die Umsetzung mehrerer EU-
Anhang
31
Richtlinien, die zum Ziel haben, Benachteiligungen aus rassistischen Gründen, wegen des Geschlechts,
der Religion oder Weltanschauung, des Alters, einer Behinderung oder wegen der sexuellen Identität gar
nicht erst entstehen zu lassen oder – falls sie schon existieren – sie zu beseitigen.
Das AGG gilt in seinem arbeitsrechtlichen Teil für den Bereich der Beschäftigung – einschließlich der
betrieblichen Ausbildung – und in seinem zivilrechtlichen Teil für Verträge mit privaten
Bildungseinrichtungen. In diesem Bereich fehlt allerdings der im arbeitsrechtlichen Teil existierende Teil
des Schutzes gegen sexuelle Belästigung.
Das AGG verbietet in erster Linie die Benachteiligung durch den Arbeitgeber. Es untersagt darüber
hinaus aber auch Diskriminierungen, die von Arbeitskollegen, Kunden oder Lieferanten begangen
werden. Allerdings leiten sich gegen diese Personen keine unmittelbaren Ansprüche aus dem AGG ab.
Die begrenzte Reichweite des AGG offenbart also große Schutzlücken. Bei unserer Arbeit bemerken wir
das insbesondere im Bereich der Bildung, wenn es um die Diskriminierung von Schüler*innen oder von
Student*innen geht.
Diesen Gruppen ist der Schutz durch das AGG verwehrt, da diesbezüglich bestehende europarechtliche
Vorgaben bisher nicht umgesetzt bzw. nicht in die Schul- und Hochschulgesetze der einzelnen
Bundesländer aufgenommen wurden.
Vier Paragrafen des AGG spielen im Hinblick auf das Kopftuch beim Zugang zum Arbeitsmarkt eine
besondere Rolle:
§ 1 Ziel des Gesetzes und Benachteiligungsgründe
§ 7 Benachteiligungsverbot. Dies gilt für den Bereich der Stellenausschreibung über die Einstellung
und die Arbeitsbedingungen bis hin zur Kündigung. Es umfasst Arbeitnehmer, Auszubildende und
Beamtinnen sowie verschiedene Arten von Benachteiligungen (unmittelbare und mittelbare)
§ 8 Abs. 1, der eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen unter
bestimmten Umständen für zulässig erklärt und
§ 9, der den Religionsgemeinschaften eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder
Weltanschauung erlaubt.
Auf die beiden letzteren Paragrafen gehe ich im Hinblick auf das Kopftuch kurz ein:
Verbotsmöglichkeiten Privatwirtschaft
Im Bereich der Privatwirtschaft ist ein Verbot des Kopftuches nur dann möglich, wenn der Verzicht eine
wesentliche und berufliche Anforderung darstellt, die als angemessen anzusehen und deren Zweck
rechtmäßig ist.
Das kann dann der Fall sein, wenn bestimmte Arbeitsabläufe das Tragen eines Kopftuches unmöglich
machen, z.B. aufgrund von Sicherheits- oder Hygieneanforderungen und keine Alternative möglich ist.
In der Praxis machen wir häufig die Erfahrung, dass solche Anforderungen vorgeschoben sind und
Alternativvorschläge daher nicht angenommen werden. Insbesondere im Bereich der
Personalvertretungen müsste mehr Aufklärungsarbeit diesbezüglich geleistet werden.
Kein Rechtfertigungsgrund für eine Nichteinstellung oder Kündigung ist die Befürchtung finanzieller
Verluste aufgrund islamfeindlicher Haltungen von Kunden, die möglicherweise einem Geschäft oder
Anhang
32
einer Praxis mit einer Kopftuch tragenden Mitarbeiterin (Verkäuferin/Arzthelferin/Physiotherapeutin)
fernbleiben.
Verbotsmöglichkeiten § 9 AGG
Immer wieder kontrovers diskutiert wird die zulässige unterschiedliche Behandlung von Religions- oder
Weltanschauungsgemeinschaften oder Vereinigungen, die sich die Pflege einer Religion oder
Weltanschauung zur Aufgabe machen.
Diese Sondersituation – auch Kirchenprivileg genannt – gründet sich auf die verfassungsrechtliche
Sonderstellung der Kirchen, die ihnen garantiert, dass sie ihre Angelegenheiten ohne staatliche
Einmischung selbst regeln können.
Eine unterschiedliche Behandlung nach dem AGG ist demnach zulässig, wenn die Religions- oder
Weltanschauungsgemeinschaft aufgrund ihres Selbstverständnisses im Hinblick auf ihr
Selbstbestimmungsrecht oder der Art der Tätigkeit der Meinung ist, die Zugehörigkeit eines Bewerbers
zur eigenen Gruppe sei eine gerechtfertigte berufliche Anforderung. Im Bereich der Verkündigung ist die
Einschätzung als gerechtfertigte berufliche Anforderung sicherlich nachvollziehbar, in den
verkündigungsfernen Bereichen jedoch mittlerweile kaum zu vermitteln. Da dieser Bereich einen sehr
großen Teil des Arbeitsmarktes umfasst, ist eine klarere Definition dessen, wo das AGG greifen soll,
dringend notwendig. Zudem wird durch eine sehr unterschiedliche Handhabung deutlich, dass dieses
Prinzip oft nur dann eingehalten wird, wenn ausreichend Arbeitskräfte mit der „richtigen“ Zugehörigkeit
zur Verfügung stehen. Nicht nur Kritiker sehen den § 9 als Regelung, die einem effektiven
Diskriminierungsschutz für Nicht-Mitglieder von Kirchen oder Menschen, die offensichtlich nicht nach
deren Prinzipien leben, entgegensteht.
Ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 24.
September 2014. Eine Kopftuch tragende Krankenschwester verlor ein Verfahren gegen ihren
Arbeitgeber, ein Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft. Das BAG wog die beteiligten Grundrechte
gegeneinander ab (kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Art. 140 GG, Art. 137 WRV, und Religionsfreiheit
der Klägerin, Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und stellte zwar einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nach
§ 7 AGG fest, sah ihn aber nach § 9 AGG als gerechtfertigt an.
Die Lücken im AGG bzw. die Änderungswünsche, die durchgängig genannt werden, sind
die Ausdehnung des Geltungsbereichs
die Einführung eines Verbandsklagerechts
die Beschränkung des § 9 auf verkündigungsnahe Bereiche und
die Erweiterung der Handlungskompetenzen der ADS.
Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf: Sonderfall Schuldienst
§ 8 Abs. 1 lässt eine unterschiedliche Behandlung zu, wenn sie auf einer wesentlichen und
entscheidenden beruflichen Anforderung basiert, der Zweck rechtmäßig und die Anforderung
angemessen ist.
Bei den beiden Klägerinnen, die den BVerfG-Beschluss von 2015 erwirkten, sah das Bundesarbeitsgericht
2009 noch keinen Verstoß gegen das AGG: In beiden Urteilen hieß es textgleich, dass das
Anhang
33
Kopftuchverbot das Diskriminierungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG nicht verletzt, auch wenn es zu einer
unmittelbaren Benachteiligung aus Gründen der Religion führen kann.
Begründung: „Eine unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen zur Erfüllung einer
wesentlichen beruflichen Anforderung ist gem. § 8 Abs. 1 AGG aber zulässig, wenn der Zweck
rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Dies ist hier gegeben. [...] Der Klägerin gereicht eine
bestimmte Form ihrer Religionsausübung zum Nachteil. Deren Unterlassung wiederum ist wegen der
Bedingungen der Ausübung ihrer Tätigkeit eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung.
Der damit verfolgte Zweck ist rechtmäßig und die Anforderung angemessen.“
Der Dreh- und Angelpunkt war also die Frage, ob der Verzicht auf eine religiöse Bekundung eine
wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung ist, die eine Kopftuchträgerin eben nicht erfüllen
kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen in seinem Beschluss von 2015 die Praxis eines pauschalen
Kopftuchverbotes als nicht mit der Verfassung vereinbar befunden und sich auch im Hinblick auf das
AGG geäußert. Demnach stellte die Beschränkung religiöser Bekundungen durch das SchulG NRW in der
damaligen Fassung eine „[...] unmittelbare, normativ vorgegebene Benachteiligung aus Gründen der
Religion dar, die die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen betrifft (§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1
AGG).“
Trotz dieses Grundsatzes sieht auch der BVerfG-Beschluss die Möglichkeit vor, in einer bestimmten
Konstellation eine Lehrerin – unabhängig von ihrem eigenen Verhalten – vor die Wahl einer Versetzung
oder eines Kopftuchverzichts zu stellen. Nämlich dann, wenn es eine konkrete Störung des Schulfriedens
gibt – nicht jedoch, wenn eine solche Störung lediglich befürchtet wird. Es müssen also besondere
substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen.
Eine Benachteiligung aus Gründen der Religion ist gerechtfertigt, wenn „[...] das äußere Erscheinungsbild
zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen
Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt, [...].“ Der Verzicht auf die religiöse Bekundung stellt in
dieser Konstellation „[...] eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung wegen der Art der
auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung [...]“ dar.
Potenziell kollidierende Grundrechte in der Schule
Im Bereich der Schule gibt es unterschiedliche Grundrechtsträger, deren Rechte kollidieren können. Im
Hinblick auf das Kopftuch im Schuldienst sind das:
das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder
die negative Glaubensfreiheit der Schüler*innen
die negative Glaubensfreiheit der Eltern
die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates.
Der Beschluss des BVerfG von 2015 macht im Hinblick auf die Anwesenheit einer Kopftuch tragenden
Lehrerin in Verbindung mit den Grundrechten der anderen Beteiligten folgende Aussagen:
Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder wird nicht beeinträchtigt. Allein aus dem
Elterngrundrecht lässt sich kein Anspruch herleiten, Schulkinder vom Einfluss solcher Lehrkräfte
fernzuhalten, die einer verbreiteten religiösen Bedeckungsregel folgen. Die negative Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler darf hierbei aber nicht beeinträchtigt werden.
Anhang
34
Die negative Glaubensfreiheit der Schüler*innen wird nicht beeinträchtigt, „solange die Lehrkräfte [...]
nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr
Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen [...]“.
Das Recht der Eltern auf negative Glaubensfreiheit „[...] garantiert keine Verschonung von der
Konfrontation mit religiös konnotierter Bekleidung von Lehrkräften, die nur den Schluss auf die
Zugehörigkeit zu einer anderen Religion oder Weltanschauung zulässt, von der aber sonst kein gezielter
beeinflussender Effekt ausgeht.“
Die religiöse und weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates wird bewahrt, indem er Bezüge zu
allen mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden Religionen und Weltanschauungen bei der Gestaltung der
öffentlichen Schule zulässt. Die Zulassung des Kopftuches bedeutet keine Identifizierung des Staates
mit einem bestimmten Glauben.
Die Sorge von Eltern vor einer ungewollten Beeinflussung ihrer Kinder durch den Anblick einer
Kopftuch tragenden Lehrerin stellt keine konkrete Gefahr dar, denn die Konfrontation der
Schüler*innen mit einer glaubensgemäßen Bekleidung wird [...] durch das Auftreten anderer Lehrkräfte
mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen [...]
Insofern spiegelt sich in der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die religiös-pluralistische
Gesellschaft wider.“
Verbotsmöglichkeiten
Dennoch sieht der Beschluss des BVerfG die Möglichkeit vor, das Kopftuch im Schuldienst zu verbieten.
Ein Verbot, das auf eine einzelne Kopftuch tragende Lehrerin zielt, ist nur dann zulässig, wenn diese ein
missionarisches oder verbal werbendes Verhalten an den Tag legt und versucht, Schüler*innen konkret
zu beeinflussen. Ein allgemeineres Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte
Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere substanzielle Konfliktlagen in einer beachtlichen
Zahl von Fällen vorliegen. Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[...] in der – insbesondere von
älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse
Positionen mit Nachdruck vertreten und [...] in die Schule hineingetragen [...]“ werden.
Verbote sind also dort möglich, wo es zu einer Überschreitung der Schwelle zu einer hinreichend
konkreten Gefährdung oder zu einer Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität kommt.
Grundrecht der Lehrerin in substanziellen Konfliktlagen
Wenn die Schulleitung alle pädagogischen oder disziplinarischen Maßnahmen, die üblicherweise bei
Schulkonflikten zur Lösung zum Einsatz kommen, erfolglos ergriffen hat und zu dem Schluss kommt,
dass nur die Versetzung der Lehrerin mit Kopftuch den Konflikt – zu dem sie nicht selbst etwas
beigetragen hat – lösen wird, ist der Lehrerin eine Versetzung zumutbar. Allerdings kann sie sich auch
dafür entscheiden, ihr Kopftuch abzulegen, statt sich versetzen zu lassen.
Auch wenn der Beschluss des BVerfG von zwei Klägerinnen aus NRW erwirkt wurde, sind doch die
anderen Landesgesetzgeber über § 31 Abs. 1 BVerfGG daran gebunden, ihre jeweiligen Gesetze nach den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen.
Anhang
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Der Blick in die Praxis - Umsetzung des BVerfG-Beschlusses in den einzelnen Bundesländern
Die erfolgreichen Klägerinnen stammten zwar aus NRW, aber der Beschluss des BVerfG wirkt auch auf
andere Bundesländer, in denen es ein gesetzliches Kopftuchverbot gibt. Gemäß § 31 Abs. 1
Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sind die Landesgesetzgeber daran gebunden, ihre
jeweiligen Gesetze nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auszulegen. Der BVerfGBeschluss bindet gleichermaßen auch die Gerichte. D.h. im Streitfall müssen sie das Landesgesetz nach
den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts auslegen.
Die Umsetzung des BVerfG-Beschlusses erfolgte in Nordrhein-Westfalen durch eine Gesetzesänderung.
In Bremen, Niedersachsen und Hessen wurde der BVerfG-Beschluss ohne eine Änderung des
Schulgesetzes umgesetzt. Bisher keine offizielle Umsetzung des BVerfG-Beschlusses gibt es in Bayern
und Baden-Württemberg. Das saarländische Schulgesetz sieht weiterhin neben dem Kopftuchverbot
auch die Privilegierung christlicher Bildungs- und Kulturwerte vor. Auch die Berliner Innenverwaltung
sah nach Veröffentlichung des BVerfG-Beschlusses keinen Änderungsbedarf am sogenannten
Neutralitätsgesetz.
Aktuelle Beratungsfälle
Schuldienst Hessen
Eine Lehramtsstudentin, erhielt von ihrer Ausbildungsschule eine Rundmail mit folgendem Wortlaut:
„Von der Universität XY sind Sie unserer Schule als zukünftige Praktikantinnen und Praktikanten für die
Schulpraktischen Studien [...] zugewiesen worden. [...] Ein wichtiger Hinweis vorab: Sollte sich unter
Ihnen eine Kopftuchträgerin befinden, so müsste sie für das gesamte geplante Praktikum entweder auf
ihre Kopfbedeckung verzichten, oder sich bereits heute nach einer anderen Praktikumsschule
umschauen. Wir vermitteln unseren Schülerinnen und Schülern ein demokratisches, an den Werten des
Grundgesetzes orientiertes Weltbild, bei dem die Gleichberechtigung von Mann und Frau ganz oben
ansteht, und das Tragen eines Kopftuches durch Lehrkräfte oder Praktikanten würde hier in der
Vorbildfunktion, die wir innehaben, falsche Signale aussenden.“
In den Leitsätzen des Schulprogramms dieser Schule heißt es übrigens: „Wir entwickeln die Fähigkeit zur
Teilhabe und Teilnahme an der Kultur der offenen Gesellschaft – Die Schülerinnen und Schüler werden
an Kultur herangeführt – dies betrifft ihr ästhetisches, ethisches und demokratisch-politisches
Verständnis. Interkulturelle Praxis: Leitsatz: Wir pflegen ein respektvolles, wertschätzendes Miteinander
aller Kulturen.“
Medizinstudentinnen
Im Rahmen der Ausbildung muss ein zweitägiges Praktikum in einem Krankenwagen absolviert werden;
dem sind zwei Tage mit theoretischer Ausbildung vorangeschaltet. Für die Mitfahrt im Krankenwagen ist
ein Vertrag mit der Stadt Frankfurt zu unterzeichnen, dessen Bestandteil das „Informationsblatt
Studentenpraktika im Rettungsdienst“ ist.
Darin heißt es: „Wir erwarten, dass Sie sich neutral verhalten und bei Ihrem Praktikum auf alle
Äußerungen zu Ihrer Weltanschauung, Religion etc. verzichten. Auch das Tragen entsprechender
Symbole (z.B. Kopftuch) ist zu unterlassen.“ Als Alternative könne eine Mütze getragen werden.
Mittlerweile wurde das Kopftuchverbot auch auf die zwei vorgeschalteten Trainingstage, die in der Klinik
absolviert werden, ausgedehnt.
Anhang
36
Physiotherapeutin
Eine seit vier Jahren in einer Praxis angestellte Physiotherapeutin hat sich entschlossen ein Kopftuch zu
tragen. Ihr Arbeitgeber, der einen syrisch-kurdischen Migrationshintergrund hat, kündigt sie einen Tag,
nachdem sie zum ersten Mal mit Kopftuch erschien, fristgerecht. Er möchte, dass sie den noch
ausstehenden Urlaub nimmt, damit sie bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses nicht mehr in der Praxis
erscheint. Sein Hauptargument ist die Befürchtung, dass das Image der Praxis leidet, weil vermutet
werden könne, dass er als Betreiber sich religiös radikalisiert habe, weil er eine Frau mit Kopftuch
beschäftigt.
Die Erosion des Rechtsempfindens
Wir haben nach den politischen Diskussionen um die Kopftuchverbote erfahren müssen, dass sich die
Schlagworte, insbesondere vom „negativen Symbolgehalt des Kopftuches“ in den Argumentationen
maßgeblicher gesellschaftlicher Akteure wiederfinden und deren Handeln bestimmen. Das verfestigt die
Barrieren für Kopftuch tragende Frauen in jeglicher Hinsicht.
Die folgenden Beispiele sollen das illustrieren.
Bundesagentur für Arbeit
Immer wieder berichten Frauen mit Kopftuch darüber, dass ihnen von Sachbearbeitern der
Bundesagentur für Arbeit mehr oder weniger deutlich geraten wurde, das Kopftuch abzulegen, um bei
der Stellensuche erfolgreich zu sein. Die Sachbearbeiter/innen argumentieren, lediglich der Wirklichkeit
Rechnung zu tragen; gleichzeitig wird deutlich, dass potenzielle Arbeitgeber nicht damit rechnen
müssen, auch nur darauf hingewiesen zu werden, dass sie gegen das AGG verstoßen, wenn sie eine
Bewerberin nur wegen ihres Kopftuches ablehnen.
In einem von der Deutschlandstiftung Integration 2012 herausgegebenen Bewerbungsratgeber wurde
muslimischen Frauen – u.a. unter Berufung auf den Migrationsbeauftragten der Bundesagentur für
Arbeit, Hasan Altun, – ebenfalls geraten, das Kopftuch abzunehmen, wenn sie auf Arbeits- oder
Praktikumsplatzsuche sind. Für viele Arbeitgeber sei das Kopftuch ein Zeichen der Unterdrückung, sie
trauten den Frauen keine eigenen Entscheidungen zu, sähen sie unter der Fuchtel der Familie und
fürchteten, dass Mädchen zwangsverheiratet würden und ihre Ausbildung nicht beendeten.
Wohlfahrtsverbände
Seit Jahren beobachten wir, dass Wohlfahrtsverbände muslimische Frauen mit Kopftuch meist lediglich
befristet und/oder auf Minijob-Basis innerhalb von Projekten, deren Zielgruppe Migrant/inn/en sind,
einstellen. Die Musliminnen dienen als „Türöffner“ zu diesen Gruppen, eine Festanstellung resultiert
daraus in der Regel nicht.
Besonders aufgefallen war uns ein mehrteiliges Berufsfindungsprojekt der AWO-Südhessen für junge
Migrantinnen – „Mit Kopftuch und Köpfchen in den Arbeitsmarkt“. In einem Zeitungsbericht über das
Projekt hieß es seitens der beiden zuständigen Sozialarbeiterinnen, es werde den Teilnehmerinnen
nahegelegt, zu überlegen, ob sie zur Erleichterung des Berufseinstieges das Kopftuch ablegen könnten,
während potenzielle Arbeitgeber darum gebeten wurden, Kopftuchträgerinnen doch nicht gleich
pauschal abzulehnen. Zudem solle das Symbol Kopftuch selbst auf den Prüfstand gestellt werden und
die „[...] Teilnehmerinnen [sollten] überlegen, ob sie bereit sind, für den Beruf das Kopftuch zeitweise
abzulegen.“
Das stellt die geltende Rechtslage völlig auf den Kopf. Denn die Nichteinstellung allein aufgrund des
Kopftuches ist ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das Tragen des Kopftuches
Anhang
37
dagegen von der grundgesetzlichen Religionsfreiheit gedeckt. D.h. in diesem Seminar erscheinen die
jungen Frauen als Bittstellerinnen, die dankbar sein müssen, wenn ein Arbeitgeber bereit ist, ihre
"Andersartigkeit" großmütig hinzunehmen.
Die Notwendigkeit, die jungen Frauen durch Vermittlung der Rechtslage dazu zu befähigen, sich gegen
Benachteiligungen zu wehren, oder sich und die eigenen Leistungen realistischer einzuschätzen, wurde
schlicht nicht gesehen.
Landesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros Niedersachsen (lag)
Am 13. Februar 2015 sprach sich der Vorstand der lag-Niedersachsen unter Bezug auf das Urteil von
2003 per Pressemitteilung für die Beibehaltung des Kopftuchverbots für Lehrerinnen aus. Anlass war der
anstehende Staatsvertrag mit den Muslimen. Die lag argumentierte, das Auftreten von Kopftuch
tragenden Lehrerinnen an der Schule verletze die staatliche Neutralität. Weiter hieß es:
„In unserer modernen Gesellschaft ist das Kopftuch besonders ein patriarchales Symbol, denn nur
Mädchen und Frauen sollen sich verhüllen, nicht Jungen und Männer. Dies widerspricht dem
Erziehungs- und Bildungsideal unserer Gesellschaft, alle Mädchen und Jungen gleich zu behandeln und
ihnen gleiche Startchancen zu ermöglichen.“
Gleichstellungsbeauftragte Kreis Herford
Anlässlich des BVerfG-Beschlusses zum Kopftuchverbot gab die AG kommunaler Gleichstellungsstellen
im Kreis Herford am 1. Juni 2015 eine Stellungnahme heraus, die an alle Schulleitungen des Kreises ging.
Sie zielte darauf, diese hinsichtlich der Umsetzung des BVerfG-Beschlusses zu verunsichern und forderte
sie indirekt auf, Kopftuch tragende Bewerberinnen entgegen der geltenden Rechtslage bei einer
Bewerbung nicht einzustellen. Darin hieß es u.a.: „Die Mehrheit der hier lebenden muslimischen Frauen
möchte kein Kopftuch tragen und sich auch nicht in irgendeiner Art und Weise verhüllen. Dazu gibt es
auch keinen Anlass.“ Das Kopftuch bedeute, dass Frauen sich dem Willen des Mannes und seinen
Bedürfnissen unterzuordnen haben und das sei mit unserem Verständnis von Gleichberechtigung nicht
vereinbar. „Eine Lehrerin mit Kopftuch ist ein stummes aber sehr beredtes Zeichen dafür, dass die
konservativen islamischen Normen Geltung haben. Eine Kopftuch tragende Lehrerin kann deshalb kein
Vorbild und keine Hilfe für junge Mädchen und Frauen sein, die Gleichberechtigung leben wollen.“
Was ist zu tun?
Die betroffenen Frauen bemerken sehr wohl, dass die Öffentlichkeit nicht müde wird, von den
Menschen mit Migrationshintergrund die Einhaltung der deutschen Rechtsordnung zu fordern, während
für sie selbst diese Regeln offensichtlich keine bindende Wirkung haben. Dieses Messen mit zweierlei
Maß verhindert ein heimisch werden, doch gerade das ist notwendig, wenn auch kommende
Generationen sich für die hiesige Rechtsordnung stark machen sollen.
Es ist offensichtlich völlig aus dem Blick geraten, was eine freie Gesellschaft ausmacht. Die Information
darüber und das Bewusstsein, dass wir alle Schaden nehmen werden, wenn wir diese freie Gesellschaft
nicht verteidigen, müssen wir stärker in den Fokus rücken. Das geht nur durch permanentes Erinnern,
vor allem im Bereich der Bildung und der Medien.
Bildung in Schule und Moscheegemeinden, Mediale Sensibilität – Erinnerung daran, was eine freie
Gesellschaft ausmacht.
Das Grundgesetz unterscheidet zwischen religiöser Gesinnung und verfassungsfeindlicher
Bestrebung, daher: Entscheidend sind gesetzeskonforme Handlungen – die Gedanken sind frei.
Anhang
38
Förderung des Bewusstseins, dass freie Gesellschaften sich in Diktaturen verwandeln können und
solche Prozesse mit der Vorenthaltung von Rechten bei Mitgliedern kleiner Gruppen anfangen.
Im Folgenden dokumentieren wir die vollständigen verschriftlichten Manuskripttexte der Inputbeiträge,
die von Workshopteilnehmenden gehalten wurden. Für diejenigen Beiträge, die uns nicht verschriftlicht
vorliegen, sei auf die jeweilige Zusammenfassung des gesprochenen Wortes im Dokumentationsteil zum
Workshop 1 und 2 verwiesen.
Dr. Sabine Berghahn, siehe Zusammenfassung zu
Arbeitsgruppe 1, dort komplett abgedruckt
Dr. Sebastian Müller, siehe Zusammenfassung zu
Arbeitsgruppe 1
Zeynep Cetin, siehe Zusammenfassung zu
Arbeitsgruppe 1
Vera Egenberger, Arbeitsgruppe 1:
Die Rolle konfessioneller Arbeitgeber
Konfessionell gebundene Wohlfahrtverbände (Caritas und Diakonie) stellen in der Bundesrepublik den
zweitgrößten Arbeitgeber dar. Sie stellen in manchen Teilen der sozialen Dienste
(Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Schulen, Alten- und Pflegeheime, Sozialberatung, etc.) ein
weitgehendes Monopol dar. Diese Dienste werden je nach Bereich zu großen Teilen oder vollständig
über Steuermittel finanziert. Die Dienste stehen in der Regel allen Teilen der Bevölkerung offen.
In der Europäischen Richtlinie 2000/78/EG wird das Recht auf Gleichbehandlung formuliert, welches
auch für religiöse Gemeinschaften und speziell für den Beschäftigungssektor gilt. Durch Art. 4 (2)
erhalten die Kirchen und andere öffentliche wie private Organisationen, deren Ethos auf religiösen
Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, die Möglichkeit „einer Ungleichbehandlung aus religiösen
oder glaubensbedingten Gründen. Es findet daher keine Diskriminierung statt, wenn die Religion oder
die Weltanschauung einer Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung
eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der
Organisation darstellt […]“.
Anhang
39
Im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes wird in § 9, der sich spezifisch auf das
Selbstbestimmungsrecht der christlichen Kirchen bezieht, auch eine Ausnahmeregelung für
konfessionelle Arbeitgeber vorgenommen. Bei der Wahl der Angestellten liegt dann keine Form der
Diskriminierung vor, wenn „eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des
Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung in Hinblick auf ihr
Selbstbestimmungsrecht oder nach Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung
darstellt“.
Diese Ausnahmeregelung wird in Deutschland in der Praxis zumeist auf alle Stellen bei konfessionell
gebundenen Arbeitgebern ausgeweitet. Bei der Caritas bildet die katholische Kirchenmitgliedschaft eine
Einstellungsvoraussetzung. Bei der Diakonie ist es die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche, auch
wenn die zu besetzende Stelle nicht im verkündungsnahen Bereich angesiedelt ist.
Hiervon sind Konfessionslose sowie Menschen, die einer anderen Religion als der christlichen angehören,
betroffen. Im Besonderen sind dies muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen.
Bislang hat es in dieser Fallkonstellation jedoch nur eine einzige Klage im Rahmen des AGG gegeben.
Das Bundesarbeitsgericht (Az. 5 AZR 611/12) hatte in 2014 geurteilt, dass ein konfessionelles
Krankenhaus einer muslimischen Krankenschwester das Tragen eines Kopftuches verbieten darf. Eine
am 31.05.2016 veröffentlichte Einschätzung der EuGH-Generalanwältin Kokott bezüglich eines
vergleichbaren Falles in Belgien, geht in eine vergleichbare Richtung.
http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2016-05/cp160054de.pdf
In einem weiteren Berliner Streitfall wollte eine diakonische Einrichtung die Stelle eines
wissenschaftlichen Referenten besetzen und bevorzugte laut Stellenausschreibung Christen. Dieser
sollte einen unabhängigen Bericht zu der Umsetzung der Antirassismus-Konvention der Vereinten
Nationen in Deutschland erstellen. Eine konfessionslose Sozialpädagogin bewarb sich erfolglos und
klagte gemäß § 15 Abs. 2 AGG. Nach gegensätzlichen Urteilen vom Arbeitsgericht Berlin und LAG
Berlin-Brandenburg wird der Fall nun beim BAG verhandelt. Dies setzte das Verfahren aus und beschloss,
dem EuGH einige Fragen vorzulegen, die das Verhältnis des Diskriminierungsschutzes und der
kirchlichen Selbstbestimmung betreffen (Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 17.03.2016, 8 AZR
501/14 (A). Konkret soll der Gerichtshof folgende Fragen des BAG beantworten:
„1. Ist Art.4 Abs.2 der Richtlinie 2000/78/EG dahin auszulegen, dass ein Arbeitgeber, wie der Beklagte im
vorliegenden Verfahren, bzw. die Kirche für ihn - verbindlich selbst bestimmen kann, ob eine bestimmte
Religion eines Bewerbers nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche,
rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstellt?
2. Sofern die erste Frage verneint wird: Muss eine Bestimmung des nationalen Rechts wie hier § 9 Abs.1
Alt.1 AGG, wonach eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion bei der Beschäftigung durch
Religionsgemeinschaften und die ihnen zugeordneten Einrichtungen auch zulässig ist, wenn eine
bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses dieser Religionsgemeinschaft im Hinblick
auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt, in einem
Rechtsstreit wie hier unangewendet bleiben?
3. Sofern die erste Frage verneint wird, zudem: Welche Anforderungen sind an die Art der Tätigkeit oder
die Umstände ihrer Ausübung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung
angesichts des Ethos der Organisation gemäß Art.4 Abs.2 der Richtlinie 2000/78/EG zu stellen?“
Die Antwort auf diese Vorabanfrage an den EuGH aus 2016 bezüglich des § 9 AGG und der Richtlinien
konformen Umsetzung der Ausnahmeregelung für konfessionelle Verbände muss abgewartet werden,
Anhang
40
um einschätzen zu können, wie sich die Situation für muslimische Frauen entwickelt, die ein Kopftuch
tragen.
Nesreen Hajjaj, siehe Zusammenfassung zu
Arbeitsgruppe 2
Dunya Adigüzel, Arbeitsgruppe 2:
Maßnahmen und Gute Praxis gegen
Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch
Mit Blick auf das gesellschaftliche Bild einer Frau mit Kopftuch aus den Medien und auch aktuellen
Studien zeigt sich, dass dieses durch Vorurteile und Diskriminierung geprägt ist. Wenn wir darüber
nachdenken, was eine gute Praxis sein kann, um die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt langfristig zu
beenden, dann reichen gesetzliche Regelungen wie das AGG nicht aus. Dieses hat nur dazu geführt, dass
Arbeitgeber nun ihre Haltung nicht mehr offen äußern, geändert hat sich daran aber nichts. Wenn
Kunden sich weigern, von einer Dame mit Kopftuch bedient zu werden, dann sind kleine Unternehmen
gefährdet. Dies alles spricht für einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Das Bild einer Frau mit Kopftuch
muss nachhaltig geändert werden. Letztendlich ist es ein Zeichen ihrer Religiosität und nicht ihrer
beruflichen Qualifikation.
Deshalb wäre eine erste Maßnahme Kampagnen für eine Normalisierung im Umgang. Hier sind
öffentliche Abbildungen von Frauen mit Kopftuch auf der Homepage der Uni Gummersbach zu nennen,
wo sie als Studentin dargestellt sind oder der Zeitung „Familie“, wo sie als Mutter mit Kind auf der
Titelseite abgebildet ist. In den Medien sollte sensibel mit der klischeehaften Darstellung von Frauen mit
Kopftuch aufgehört werden. Dafür braucht es Aufklärung und Sensibilisierung.
Damit einher gehen Maßnahmen des Empowerments für Frauen mit Kopftuch. Oftmals schlagen sie
bewusst Berufsfelder ein, die unproblematisch sind, wenn man sie mit Kopftuch verrichten möchte. Und
im Diskriminierungsfall kommt es selten zur Anzeige, weil inzwischen eine starke Resignation
eingetreten und ein mangelndes Vertrauen in das Rechtssystem vorhanden ist. Hier braucht es einer
stärkeren Aufklärung über die eigenen Rechte und Handlungsmöglichkeiten. In den Internationalen
Wochen gegen Rassismus wurden durch Veranstaltungen in Moscheegemeinden der IGMG junge
Mädchen darüber aufgeklärt, wie die Rechtssituation ist und gleichzeitig dazu motiviert, dass zu lernen
oder zu studieren, was das eigene Interesse trifft. Diese Empowerment-Ansätze müssen aber noch
breiter durchgeführt werden.
Die Rolle der staatlichen Neutralität muss hierbei auch dahingehend diskutiert werden, dass sie keine
Sanktion oder Verurteilung von religiöser Symbolik darstellt, die auf den privaten Arbeitsmarkt
übertragbar wäre. Der Staat hat hier eine Vorbildfunktion, die negativ für Frauen mit Kopftuch ausgelegt
wird. Eine Studie der Uni Witten-Herdecke belegt, dass Arbeitgeber den Ausschluss von Frauen mit
Kopftuch nicht als Diskriminierung ansehen. Hier fehlt ein Schuldbewusstsein, weil die Diskriminierung
kaum gesellschaftliche Sanktionierung erfährt. Dies muss durch gezielte Kampagnen, Schulungen und
andere Sensibilisierungsmaßnahmen geändert werden.
Anhang
41
Eine gute Praxis kommt aus England, wo religiöse und kulturelle Vielfalt schon lange Normalität ist. Hier
haben Unternehmen für Frauen mit Kopftuch entsprechende Outfits entwickelt, die zur Firmenkleidung
passen. So zum Beispiel auch die Polizei. Letztendlich sieht man daran, dass eine Lösung mit Kopftuch
möglich ist, wenn man denn bereit ist, danach zu suchen.
Romin Khan, Arbeitsgruppe 2:
Die Perspektive von ver.di auf die Rolle von
Gewerkschaften und Betriebsräten
Das gewerkschaftliche Engagement von ver.di gründet sich auf Solidarität und Respekt gegenüber allen
Menschen – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter und Hautfarbe – mit dem Ziel,
gemeinsam für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller zu kämpfen. Eine aktive
Politik der Nichtdiskriminierung und Gleichstellung in den Betrieben und Verwaltungen, aber auch
darüber hinaus ein breites gewerkschaftliches Engagement für mehr gesellschaftliche und politische
Partizipation von Migrantinnen und Migranten gehören für ver.di untrennbar zusammen, sie sind
Bausteine für eine diskriminierungsfreie Arbeitswelt und eine solidarische Gesellschaft.
Viele Studien zeigen einen deutlichen Handlungsbedarf, der betrieblichen Diskriminierung und
gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen mit Migrationshintergrund entschiedener
entgegenzutreten.
Deshalb setzen wir uns für anonymisierte Bewerbungsverfahren und die Interkulturelle Öffnung der
Verwaltung ein. Der öffentliche Dienst muss als Vorreiter einer inklusiven Ausbildungspolitik gezielt
seinen Anteil an Auszubildenden mit Migrationshintergrund signifikant steigern.
Ein wichtiges Thema für ver.di als Gewerkschaft in der überwiegend Frauen organisiert sind, ist die
Entgeltungleichheit zwischen den Geschlechtern. Meiner Einschätzung nach, sollte sich ver.di darüber
hinaus noch stärker mit spezifischen Diskriminierungsstrukturen auseinandersetzen.
ver.di hat sich gemeinsam mit dem DGB erfolgreich für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
eingesetzt, das 2006 in Kraft getreten ist. Es bedeutet einen großen Schritt nach vorn, auch wenn noch
immer zu wenige Unternehmen eine diskriminierungsfreie Wertschätzung aller Beschäftigten anstreben.
Dennoch ist das AGG für Gewerkschaften noch kein großes Thema, hier ist weiterhin eine
Auseinandersetzung nötig.
Das AGG weist noch Leerstellen auf: Zum einen im Hinblick auf ein echtes Verbandsklagerecht. Zum
anderen in Bezug auf die Rechte der Personalräte und die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften
für die im öffentlichen Dienst Beschäftigten und Beschäftigte im kirchlichen Bereich bzw. bei
Einrichtungen religiöser Träger.
Das AGG weist den betrieblichen Interessenvertretungen und den Gewerkschaften eine besondere
Verantwortung bei der Durchsetzung des Diskriminierungsschutzes zu. In unseren Seminaren und
Schulungen von Betriebsräten weisen wir auf die vielfältigen Anknüpfungspunkte des
Betriebsverfassungsgesetzes hin, gegen Diskriminierung aufgrund der Religion vorzugehen.
Ansatzpunkte gegen Diskriminierung bieten sich hierbei in folgenden Punkten, die allerdings nicht in
konfessionellen Betrieben gelten:
Anhang
42
§75 BetrVG: Grundsätze für die Behandlung der Betriebsangehörigen: Arbeitgeber und Betriebsrat
haben darüber zu wachen, dass Benachteiligung unterbleibt und die freie Entfaltung der
Persönlichkeit gewährleistet wird
§80 BetrVG: Allgemeine Aufgaben des Betriebsrats: Hierzu zählen die Integration „ausländischer
Beschäftigter“, sowie Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus
§92 BetrVG: Personalplanung
§95 Richtlinien für Einstellung
§96-98 BetrVG: Berufliche Bildung: Hier bietet sich viel Potenzial für die Sensibilisierung der
betrieblichen Akteure zum Antidiskriminierungsrecht.
Eine weitere Möglichkeit ist die Unterstützung von Arbeitnehmerinnen mit Kopftuch im Streitfall über
den gewerkschaftlichen Rechtsschutz. Voraussetzung ist, dass die Beschäftigte Gewerkschaftsmitglied
ist. Vorbehaltlich der Freiwilligkeit dieser Mitgliederleistung und der Prüfung der Erfolgsaussichten
findet dann eine Unterstützung statt. Oftmals sind diese Streitfälle aber auf einen Vergleich ausgerichtet,
statt Grundsatzurteile herbeizuführen. Zur Stärkung der Beschäftigten und zur besseren Verankerung
der Antidiskriminierungsrechte sollten exemplarische Fälle besser gerichtlich erstritten werden.
Dr. Petra Rostock, Arbeitsgruppe 2:
Eine wohlfahrtsverbandliche Perspektive aus Sicht
der AWO
Seit der Gründung des Verbandes 1919 ist die nicht-religiöse Bindung der Arbeiterwohlfahrt zentral für
die Werteorientierung des Verbandes. Die AWO ist offen für alle, die sich mit den Werten der AWO von
Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Toleranz identifizieren. Zu den Grundwerten der AWO
gehören u.a.:
die Achtung des religiösen Bekenntnisses und der weltanschaulichen Überzeugung des/der
Einzelnen;
den Rat- und Hilfesuchenden ohne Rücksicht auf deren politische, ethnische, nationale und
konfessionelle Zugehörigkeit beizustehen.
Umgekehrt darf die Religion oder Weltanschauung der Beschäftigten und Mitglieder der AWO die
Ausübung der beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit und die Gleichbehandlung aller Klient/inn/en
der AWO nicht beeinträchtigen.
Die AWO versteht sich selbstverständlich auch für Menschen islamischen Glaubens als ein Ort der
Fürsorge. Darüber hinaus bestehen vor Ort vielfältige Kooperationen mit islamischen Vereinen oder
Initiativen.
Ein wichtiger Schritt in Richtung eines diskriminierungsfreien Zugangs zu AWO-Diensten war der
Beschluss der Bundeskonferenz vom Oktober 2000 zur interkulturellen Öffnung der AWO. Schon in
ihrem Grundsatzprogramm von 1988 hatte die AWO interkulturelle Arbeit als wichtigen Beitrag zur
Gestaltung des Einwanderungsprozesses definiert. Auf der Bundeskonferenz 2000 wurde ein
weitergehender Auftrag beschlossen: Alle AWO-Gliederungen wurden aufgefordert, bestehende und
neue Dienste und Einrichtungen interkulturell zu öffnen, indem darauf geachtet wird, dass konzeptionell,
organisatorisch und personell den Bedürfnissen von Migrant/inn/en in den Einrichtungen und
Anhang
43
Maßnahmen entsprochen wird und Migrant/inn/en ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in den
Angeboten repräsentiert sind.
Aus diesem Beschluss ergibt sich als kontinuierliches Handlungsfeld, die Angebote und Dienstleistungen
unter dem Aspekt der interkulturellen Offenheit zu betrachten. Es gilt, Barrieren zu erkennen und
abzubauen sowie selbstkritisch zu prüfen, inwieweit die AWO selbst Zugänge verbaut. Dies kann
unbewusst oder aus Unaufmerksamkeit geschehen. Migrant/inn/en sollten nicht nur als Klient/inn/en
und Kund/inn/en wahrgenommen werden, sondern auch als potenzielle Mitarbeiter/innen,
Ehrenamtliche oder Mitglieder. Sie sind als gleichberechtigte Partner/innen auf Augenhöhe an der
Gestaltung und Überprüfung von Angeboten im haupt- und ehrenamtlichen Bereich zu beteiligen. So
finden sich beispielsweise in den schriftlichen Konzeptionen der AWO-Kindertagesstätten regelmäßig
Aussagen zur interkulturellen Orientierung in der pädagogischen Gestaltung der Kita (grundlegende
AWO-Qualitäts-Management-Norm).
Bisher existieren keine Maßnahmen des AWO Bundesverbandes e.V., die sich speziell an Kopftuch
tragende Frauen richten, auch ist derzeit keine Kollegin mit Kopftuch beim Bundesverband beschäftigt.
Für die einzelnen AWO-Gliederungen ist leider keine Aussage zu Maßnahmen, die sich an Kopftuch
tragende Kolleginnen richten möglich, es gibt jedoch Kopftuch tragende Mitarbeiterinnen innerhalb der
AWO, was sich unter anderem an zwei der nachfolgenden Beispiele guter Praxis zeigt:
Eines der fünf Plakatmotive , das für die AWO Aktionswoche 2016 „Echtes Engagement. Echte
Vielfalt. Echt AWO.“ Werbung macht, zeigt eine Mitarbeiterin der AWO Arbeit & Qualifizierung
gemeinnützige GmbH Solingen, die Kopftuch trägt: http://www.echt-awo.org/wpcontent/themes/awo/shop/plakate/Motiv2016_5.jpg
Die Plakatkampagne möchte die vielfältige Realität der AWO abbilden. Auf den Plakaten sind
ausschließlich Menschen zu sehen, die sich tatsächlich bei der AWO engagieren oder bei der AWO
beschäftigt sind. Alle Gliederungen der AWO waren aufgerufen worden, Mitarbeitende aus allen
Bereichen einzuladen, sich als „Model“ für die Plakatkampagne zu bewerben.
Auch der AWO Landesverband Bayern e.V. wirbt auf seiner Webseite unter anderem mit einer
Kopftuch tragenden jungen Frau für die Ausbildung zur Pflegefachkraft: http://www.awobayern.de/
Aufgrund wiederholter Anfragen an den Bundesverband zu den Themen Vielfalt und
Diskriminierung befindet sich derzeit (Stand Juni 2016) ein „Leitfaden des AWO Bundesverbandes
zu Vielfalt und der Umsetzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in AWO
Einrichtungen“ im internen Abstimmungsprozess. Der Leitfaden setzt die Regelungen des AGG in
Bezug zu den Leitsätzen und dem Leitbild der AWO und erläutert unter anderem am Beispiel des
Kopftuches von Arbeitnehmerinnen, welche Pflichten sich aus dem AGG für die AWO als
Dienstleisterin und Arbeitgeberin ergeben. Ziel ist es, die Veröffentlichung des Leitfadens zu
flankieren mit einer verbandsinternen Verständigung über eine nicht-diskriminierende bzw.
diskriminierungssensible Organisationskultur. Auch im Rahmen der Debatten um ein neues
Grundsatzprogramm der AWO wird darüber diskutiert, was die AWO Werte von Neutralität und
Toleranz heute konkret heißen (können).
Anhang
44
Andreas Merx, Arbeitsgruppe 2:
Betriebliche Maßnahmen der interkulturellen
Kompetenzentwicklung und Antidiskriminierung
zum Abbau von Diskriminierung von Kopftuch
tragenden Frauen
Menschen mit arabischem oder türkischem Hintergrund sowie insbesondere Frauen mit Kopftuch sind
die mit am meisten benachteiligte Gruppe auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Eine mögliche präventive Maßnahme, um Vorbehalte und Diskriminierungen zu reduzieren:
Durchführung anonymisierter Bewerbungsverfahren
Zentrale Ergebnisse eines Pilotprojekts der Antidiskriminierungsstelle des Bundes:
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Projekte/anonymisierte_bewerbu
ngen/das_pilotprojekt/anonymisierte_bewerbungen_node.html
Einbindung von proaktiven, positiven und Diversity-Maßnahmen in breitere und bekanntere
Ansätze
Anonymisierte Verfahren sind nur freiwillig und nicht verpflichtend und erreichen wohl eher nur
Unternehmen, die ehedem schon offen für solche Ansätze sind. In der Praxis gibt es bisher eher wenige
spezifische Maßnahmen nur in Bezug auf Muslime. Längerfristig ist vor allem ein grundlegendes
Problembewusstsein, Einstellungswandel und Wandel der Organisationskulturen in Unternehmen,
Verwaltungen und Organisationen notwendig. Um mehr Unternehmen, Verwaltungen und
Organisationen zu erreichen und vor allem diejenigen, die bisher eher noch Vorbehalte haben, empfiehlt
die FS IKA die Einbindung von Gegen- bzw. proaktiven Maßnahmen in breitere und bekanntere Ansätze
wie Interkulturelle Öffnung und Diversity Management. Auch die Positiven Maßnahmen nach § 5 AGG
wären ein geeigneter breiterer Ansatzpunkt.
Vorteil dieser Einbindung in breitere Ansätze ist vor allem ein damit verbundener grundlegender
Perspektivwechsel und keine isolierten Maßnahmen nur in Bezug auf Muslima. Diese stärken den Blick
auf Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrfachdiskriminierungen, denn es geht dann nicht nur um das
Kopftuch, sondern die Vielfältigkeit des jeweiligen Menschen in seiner ganzen Individualität. DiversityAnsätze stehen für einen Übergang von defizit- zu kompetenz- und potenzialorientierten Ansätzen, z.B.
Betonung von migrantenspezifischen Potenzialen. Die Entwicklung muss weg von einseitigen
Integrationsaufforderungen und herkömmlicher Minderheit-Mehrheit-Dichotomie im Kontext der
Debatten um Islam, Einwanderung, Flucht und Asyl hin zu einem Verständnis von Vielfalt und Inklusion:
Strukturen und Haltungen der Mehrheitsgesellschaft müssen sich ändern, um die vorhandene Vielfalt
gestalten und nutzen zu können.
Proaktive, positive und Diversity-Maßnahmen auf verschiedenen Organisationsebenen
Um einen tatsächlichen Wandel der Einstellungen und Organisationskulturen zu erreichen, können und
sollten Unternehmen, Verwaltungen und Organisationen zu einem Bündel an Maßnahmen auf
verschiedenen Ebenen gleichzeitig motiviert werden. Es ist dabei wichtig, vor allem positive Anreize zu
setzen und mit guten Praxisbeispielen zu arbeiten, das ist motivierend und greift Unsicherheiten in einer
positiven Wendung auf!
 Für Organisationskultur/-entwicklung, z.B.
Anhang
45
-


Diversity-Check zur Überprüfung aller Personalprozesse und Organisationsstrukturen auf
Barrieren oder Potenziale für Vielfalt
Verhaltensregeln gegen Diskriminierung, Diversity-Commitment
Betriebsvereinbarungen zur Förderung von Gleichbehandlung und Vielfalt
Niedrigschwellige und flexible Maßnahmen wie ein Diversity-Kalender, Speisenangebote
kennzeichnen, Raum der Ruhe für Gebete und Abschalten
betriebliches Diversity-Monitoring
Aufbau einer internen Potenzialdatenbank, die sprachliche, interkulturelle, interreligiöse
oder landeskundliche Potenziale der Mitarbeiter/innen erfasst
Einrichtung der betrieblichen Beschwerdestellen nach § 13 AGG und Angebot eines
niedrigschwelligen Beschwerdeverfahrens.
Personalgewinnung, neben anonymisierten Verfahren:
Culture-Fair-Check zu Personalauswahlverfahren
Interkulturell angepasste Kompetenzfeststellungsverfahren
Gezielt Bewerber-Pool erweitern
Infotage an Schulen oder in Moscheen durchführen oder Kooperation mit lokalen
Migrantenorganisationen oder muslimischen Gemeinden und Moscheevereinen
Interessant vor allem für kleinere Organisationen/KMUs: Beteiligung an Anwerbungsund Informationskampagnen und dann bei gleicher und geeigneter Qualifikation gezielte
Einstellung
Kampagnen von Kammern, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften erreichen vor
allem KMU besser, da sie z.T. näher an den Unternehmen dran sind
Empowerment-Maßnahmen wie Kurzpraktika, Schnuppertage oder ausbildungs- oder
berufsvorbereitende Angebote
Mentoringprogramme
Zielquoten, z.B. Stadt Mannheim oder Stadt Hamburg und andere.
Personalentwicklung:
Diversity, interkulturelle oder interreligiöse Trainings und Workshops für Führungskräfte,
Personalverantwortliche und Mitarbeiter/innen zur Sensibilisierung und
Kompetenzentwicklung
Antidiskriminierungs-, Interkulturelle- oder Diversity-Kompetenz als wichtiges Kriterium
für beruflichen Aufstieg: dann wird das für „Mehrheitsangehörige“ interessanter: positive
Anreize setzen!
Begleitung und Unterstützung durch politische und gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ebene
Da auch die in „Proaktive, positive und Diversity-Maßnahmen auf verschiedenen
Organisationsebenen“ genannten Maßnahmen wohl vor allem Unternehmen, Verwaltungen und
Organisationen erreichen und aufgegriffen werden dürften, die ehedem schon offen für Veränderungen
sind, die Diskriminierungsrisiken in dem Bereich aber insbesondere in den tieferliegenden Einstellungen,
Vorbehalten, Vorurteilen und z.T. auch schlicht in der Unkenntnis und mangelnden Erfahrung von
Menschen und Akteuren liegt, braucht es einen weiteren Aufbruch und Unterstützung durch politisch
Verantwortliche und zentrale gesellschafts- und wirtschaftspolitische Akteure.
Hierzu eine Auswahl an möglichen und wünschenswerten Maßnahmen:

Breite zielgerichtete Debatten, Kampagnen und Angebote der Bundesregierung, z.B. auf Basis
der im Koalitionsvertrag 2013 angekündigten Ausbildungs-Allianz zur Aufklärung,
Sensibilisierung und dem Kampf gegen Islamophobie, Rassismus und Diskriminierungen.
Dabei sollten auch die Handlungsmöglichkeiten für Betroffene nach dem AGG nochmal
bewusst gemacht werden, aber auch die Vorteile durch Einwanderung und Integration stärker
Anhang










46
betont und die Religionsfreiheit als Grundwert und Grundrecht unserer Gesellschaft
verdeutlicht werden
Mehr Kampagnen und passgenaue Angebote der Kammern, Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände, die vor allem auch die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen
Vorteile von Vielfalt breiter bekannt machen und vor allem die vielen schon vorhandenen
guten Praxisbeispiele aus der Unternehmenswelt als motivierende Vorbilder zum Nachmachen
stärker streuen
Bundesregierung und Sozialpartner: Entwicklung eines (Diversity)Audits für
diskriminierungsfreie Unternehmen, Verwaltungen und Organisationen. Die
Unternehmensinitiative Charta der Vielfalt ist nur freiwillig und wenig
diskriminierungssensibel, hat aber viel zu einem größeren Bewusstsein und der Bekanntheit
von Diversity-Ansätzen in Deutschland beigetragen. Die Bundesregierung und die
Sozialpartner sollten selbst weitergehende Qualitätskriterien für ein Diversity Management
entwickeln, das Diskriminierungen stärker in den Blick nimmt und längerfristig zu einem Mehr
an tatsächlicher Gleichstellung für alle von Benachteiligungen und Diskriminierungen
betroffenen Menschen führt
Mehr gezielte Informationen über Möglichkeiten des deutschen Arbeitsmarkts für muslimische
Gemeinden z.B. über Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst.
Diese sind oft noch unbekannt bzw. die bestehenden Informationen erreichen diese
Zielgruppe nicht genügend
Generell muss die Bildungs- und Ausbildungssituation von Muslima verbessert werden. Es sind
auch viele sozialstrukturelle Faktoren für die schlechten Arbeitsmarkpositionen ursächlich,
nicht nur das Kopftuch
Diversity oder interkulturelle Kompetenz als Grundlage in gesamten Bildungssystem von
Anfang an verankern. Nur so kann ein längerfristiger gesellschaftlicher Wandel in den
Einstellungen erreicht werden
Auf Landesebene: keine staatlichen Kopftuchverbote, diese dienen der Privatwirtschaft als
Vorwand. Entsprechende Prüfung und Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts.
Es braucht ergänzend zum AGG eigene Länderantidiskriminierungsgesetze und eine
flächendeckende Antidiskriminierungsstruktur und -kultur in den Ländern und Kommunen
Hinsichtlich der Bundestagswahlen:
Erweiterung und Verbesserung des AGG: Stichworte: längere Klagefristen,
wirksame/abschreckende Sanktionen, Erleichterung der Beweislastführung für Betroffene,
echtes Verbandsklagerecht für Antidiskriminierungsverbände, Abschaffung der Kirchenklausel
nach § 9 AGG, Stärkung des Mandats der ADS (eigenes Klagerecht, deutlich mehr Ressourcen),
und vor allem
gesetzliche Verpflichtung zu positiven Maßnahmen bzw. Diversity Mainstreaming zumindest
des öffentlichen Sektors wie in Schweden oder UK: Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes!
Vor dem Hintergrund von breiter gesellschaftlicher Verunsicherung, gezielter Angstmacherei,
grassierendem Rechtspopulismus und Rassismus sowie schlicht der Orientierungslosigkeit
vieler Menschen in unserer Gesellschaft vor dem Hintergrund massiver Veränderungen durch
Globalisierung, Internationalisierung, EU-Krise, Einwanderung, Flucht und Asyl: Breite
gesellschaftliche Diskussion über die Frage, wo wollen wir gemeinsam hin, was ist „Ein neues
Wir“? (Prof. Dr. Naika Foroutan). Oder: Durchführung einer Staatsziel-Kampagne und das
Leitbild „Einheit in der Vielfalt“ ins Grundgesetz aufnehmen.
Anhang
47
Stellungnahmen zu den Schlussanträgen der
Generalanwältin am EuGH vom 31.05.2016
Einen Tag nach dem Fachgespräch hat die Generalanwältin am EuGH, Juliane Kokott, ihre
Schlussanträge zur Rechtssache C-157/15, Samira Achbita (und Centrum voor gelijkheid van kansen en
voor racismebestrijding) ./. G4S Secure Solutions NV vorgelegt. Das Vorabentscheidungsersuchen vor
dem Europäischen Gerichtshof betrifft eine Klage aus Belgien zum Thema Kopftuch am Arbeitsplatz in
der Privatwirtschaft. Zwei am Fachgespräch beteiligte Teilnehmende haben daraufhin Stellungnahmen
erarbeitet. Da in den Schlussanträgen wichtige Problemstellungen aus dem Fachgespräch aufgegriffen
werden, drucken wir die darauf Bezug nehmenden Stellungnahmen vom Aktionsbündnis muslimischer
Frauen in Deutschland e.V. und von Dr. Sabine Berghahn hier ab.
Stellungnahme des Aktionsbündnis‘ muslimischer Frauen in
Deutschland e.V. zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am
EuGH, Juliane Kokott, vom 31.05.2016 – Kurzfassung
Im März 2016 wurden vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zwei Klagen zum Thema
Kopftuch am Arbeitsplatz innerhalb der Privatwirtschaft diskutiert. Im Fall der belgischen Klägerin ging
es darum, ob eine vom Arbeitgeber erlassene Regelung, die neutral formuliert ist, eine Diskriminierung
der Klägerin, die ein Kopftuch trägt, darstellt.
Die fragliche Betriebsregel lautet: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare
Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeden
Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“ 1
Am 31. Mai 2016 legte die Generalanwältin des EuGH, Juliane Kokott, ihre Schlussanträge zu dem
Rechtsstreit vor. Die Medienresonanz war zwar groß, aber in weiten Teilen sachlich unzutreffend. Der
folgende Text referiert den Abwägungsprozess der Generalanwältin und macht kritische Anmerkungen
dazu.
Die Generalanwältin sieht in der Betriebsregelung keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der
Religion, da sie das Tragen aller Zeichen verbiete und nicht nur das Tragen eines Kopftuchs. In der
weiteren Prüfung stellt sie eine mittelbare Diskriminierung fest. Diese kann dann gerechtfertigt sein,
wenn es sich bei der Anforderung, die der/die Arbeitnehmer_in erfüllen muss, um eine „wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderung“ handelt, sie „angemessen“ ist, ein „rechtmäßiges Ziel“ verfolgt
und das gewählte Mittel (die Betriebsregelung) „geeignet“ ist, um dieses Ziel zu erreichen. 2
Die Generalanwältin sieht im Hinblick auf die strittige Betriebsregelung alle Rechtfertigungskriterien
erfüllt, allerdings stützt sich ihre Verhältnismäßigkeitsprüfung weitgehend nicht auf rechtliche Quellen,
sondern stellt ihre persönliche Meinung dar, die von denen der Verfahrensbeteiligten abweicht. Das
räumt sie offen ein: alle Verfahrensbeteiligten sind „[...] sich zutiefst uneinig, ob ein Verbot wie das hier
streitige ein legitimes Ziel verfolgt, [...] und ob es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält.“ 3
Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 31. Mai 2016, Rechtssache C-157/15, Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor
racismebestrijding gegen G4S Secure Solutions NV, Rn. 17.
2
Art. 4 der Richtlinie 2000/78 „Berufliche Anforderungen“ Abs. 1.
3
Schlussanträge, Rn. 63.
1
Anhang
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Zu dem Ergebnis, dass die mittelbare Diskriminierung gerechtfertigt sei, kommt die Generalanwältin,
indem sie die unternehmerische Freiheit, sich ein Unternehmensziel auf die Fahnen zu schreiben, zu
einem Grundrecht erklärt, das auf der gleichen Stufe steht wie die Religionsfreiheit. Dieses
Unternehmensziel ist prinzipiell beliebig; im vorliegenden Streitfall lautet es: „Neutralität“. Dieses
„rechtmäßige Ziel“ meint der Arbeitgeber nur dann erreichen zu können, wenn er alle religiösen oder
weltanschaulichen Zeichen in seinem Unternehmen verbietet. Das Nichttragen solcher Zeichen wird
damit aus Sicht der Generalanwältin zu einer „wesentlichen und entscheidenden beruflichen
Anforderung“, die aus ihrer Sicht ein „geeignetes Mittel“ ist, um das Ziel zu erreichen. Doch ist das Mittel
(Verbot) auch angemessen? Aus Sicht der Generalanwältin ist das mit „Ja“ zu beantworten, denn sie sieht
die Religionsfreiheit der Betroffenen nur im Hinblick auf einen Aspekt der Religionsausübung (Tragen
eines Kopftuches) eingeschränkt. Alternativen, wie die Einbindung eines Kopftuches in eine Uniform
erwähnt sie zwar, verwirft sie jedoch direkt wieder, da dies den Arbeitgeber wieder vom selbstgewählten
Pfad der Neutralität abbringen würde. 4 Diese Gefahr sieht sie jedoch nicht gegeben, wenn religiöse
Zeichen eine gewisse Größe nicht überschreiten. Zudem sieht sie ein Kopftuchverbot nicht per se als ein
Hindernis beim Zugang zum Arbeitsmarkt und nennt die Klägerin dazu als Beispiel. Sie habe eine Stelle
gefunden, die sie erst dann verloren habe, als sie ein Kopftuch tragen wollte. 5
Die Schlussanträge der Generalanwältin sind in mehreren Punkten kritikwürdig.
Die Generalanwältin zeigt durch die von ihr gewählte Beschreibung einer religiösen Bekleidung als
Mittel, „eine bestimmte, religiöse Überzeugung aktiv zum Ausdruck bringen zu wollen“ 6, dass sie
keine Unterscheidung trifft zwischen maßgeblich unterschiedlichen Motiven, die
„Bekundungen“ zugrunde liegen können. Sie stellt lediglich darauf ab, dass der/die Betreffende sich
dadurch als Anhänger einer bestimmten Religion kenntlich machen möchte. Die strittige
Betriebsregelung führt zu einer unmittelbaren Benachteiligung von Personen, die einem aus
religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bekleidungsgebot Folge leisten wollen. Das
konterkariert die EU-Richtlinie 2000/78, die zum Ziel hat, Religion und Weltanschauung besonders
zu schützen. Tatsächlich werden Bekleidungen, die aus modischen Motiven gewählt werden und
diese zum Ausdruck bringen, im Vergleich zu Bekleidungen, die religiös oder weltanschaulich
motiviert sind, privilegiert, denn ersteres Verhalten ist erlaubt, während letzteres verboten wird.
Es ist problematisch, dass die Generalanwältin ein beliebig wählbares Unternehmensziel – im
vorliegenden Fall das der religiösen und weltanschaulichen Neutralität – als legitimes Ziel
deklariert, hinter dem Grundrechte, die durch die Union besonders geschützt sein sollen,
zurückstehen müssen.
Die Generalanwältin misst die Fähigkeit einer Person, der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers zu
genügen, lediglich an der Sichtbarkeit der Religionszugehörigkeit und nicht an deren gesamtem
Verhalten; dies ist unverhältnismäßig.
Die Generalanwältin ordnet das Tragen einer religiös motivierten Bekleidung als „Brauch“ ein, dem
man auch in seiner Freizeit Genüge tun kann 7, dem entsprechend schließt sie, das entsprechende
Kleidungsstück könne einfach an der Garderobe abgegeben werden. Dies ist eine völlige
Fehleinschätzung der Wirkung, die das erzwungene Ablegen eines religiös motivierten, als
verbindlich empfundenen Kleidungsstücks (Kopftuch, Kippa, Turban) auf den/die Träger_in hat.
Die Argumentation der Generalanwältin wird völlig inkonsistent, wenn sie das Tragen eines
religiösen Zeichens als Schmuckstück, dessen Tragen nicht als religiös verpflichtend empfunden
Ebenda, Rn. 107.
Ebenda, Rn. 124.
6
Ebenda, Rn. 53.
7
Ebenda, Rn. 110.
4
5
Anhang
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wird und das entsprechend leicht an der Garderobe abgegeben werden könnte, als zulässig und
nicht dem Unternehmensziel der Neutralität zuwiderlaufend definiert.
Die Behauptung der Generalanwältin, Kopftuchverbote behinderten die Integration muslimischer
Frauen in den Arbeitsmarkt nicht, wird durch die Beratungspraxis der Antidiskriminierungsstellen
täglich widerlegt. Ihr Hinweis darauf, dass die Klägerin trotz Kopftuchverbot in den Arbeitsmarkt
integriert gewesen sei und ihren Arbeitsplatz erst verloren habe, als sie das Kopftuch tragen wollte,
entbehrt nicht einer gewissen Brisanz. Das bedeutet aus Sicht Betroffener nichts anderes, als dass
sie ihre Kündigung selbst verschulden, wenn sie die gesetzlich garantierte Religionsfreiheit, die
auch das Tragen religiös motivierter Kleidung umfasst, wahrnehmen wollen. Das aus dem Mund
einer Generalanwältin des EuGH zu hören, ist nichts, was üblicherweise zu erwarten ist.
Die rechtliche Situation in Deutschland garantiert eine größere Religionsfreiheit als das in anderen EULändern der Fall ist. Betriebsregeln, wie die im vorliegenden Fall diskutierten, haben pauschalierenden
Charakter und wären aus unserer Sicht in Deutschland selbst dann unzulässig, falls der EuGH den
Schlussanträgen der Generalanwältin folgen sollte. Wir hoffen allerdings, dass dies nicht der Fall sein
wird.
Eine detaillierte Darstellung der Schlussanträge der Generalanwältin und entsprechender Kritik findet
sich unter:
http://www.muslimische-frauen.de/wp-content/uploads/2016/06/Endfassung-Kommentar-zu-denSchlussanträgen-der-Generalanwä-ltin-EuGH-zum-Kopftuch-in-der-Privatwirtschaft.pdf
Wesseling, den 10. Juni 2016
Aktionsbündnis muslimischer Frauen e. V.
E-Mail: info @muslimische-frauen.de
www.muslimische-frauen.de/
Stellungnahme zu den Schlussanträgen der Generalanwältin am
EuGH vom 31.05.2016, Dr. Sabine Berghahn – Rechtsanwältin und
Politikwissenschaftlerin
Zur Rechtssache C-157/15, Samira Achbita (und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding) ./. G4S Secure Solutions NV, vorgelegt vom Belgischen Kassationshof
Sollte der Gerichtshof den Empfehlungen der Generalanwältin, Juliane Kokott, folgen, stünde dies
nach meiner Auffassung im Widerspruch zum Geist der Antidiskriminierungsrichtlinien und zur
bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.
Das Verfahren der Vorabanfrage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) betrifft den Fall der Muslima
Samira Achbita, die als Rezeptionistin bei der Firma G4S Secure Solutions NV – zunächst ohne, dann
jedoch mit Kopftuch – arbeitete und sich weigerte, ihr Kopftuch am Arbeitsplatz abzunehmen,
woraufhin sie entlassen wurde. Darüber hinaus geht es um die Zulässigkeit einer generellen
betrieblichen Regelung, die es den Beschäftigten des Unternehmens – im Interesse eines möglichst
neutralen Erscheinungsbildes – verbietet, am Arbeitsplatz sichtbar religiöse, philosophische (bzw.
weltanschauliche) oder politische Zeichen oder Kleidungsstücke am Körper zu tragen.
Anhang
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Die Argumentationslinie der Generalanwältin
Die Generalanwältin prüft in ihrem schriftlichen Statement die Frage nach der Zulässigkeit der
betrieblichen Verbotsregelung im konkreten Fall, einschließlich der Zulässigkeit der Entlassung von Frau
Achbita. Maßstab der rechtlichen Prüfung ist das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie (RL)
2000/78/EG, die für den Bereich von Beschäftigung und Beruf sowohl unmittelbare als auch mittelbare
Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der
sexuellen Ausrichtung untersagt (vgl. Art. 1 und 2 RL). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es sich hier
nicht um eine unmittelbare Diskriminierung handele, da allen Beschäftigten gleichermaßen verboten
wird, ihre religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung sichtbar zum Ausdruck zu bringen.
Eine Ungleichbehandlung aufgrund der Religion liege daher nicht vor. Das Verbot stelle allenfalls eine
mittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion dar. Diese könne aber durch einen sachlichen Grund
gerechtfertigt werden, da die betriebliche „Neutralitätspolitik“ in Gestalt des streitigen Verbots ein
legitimes Ziel verfolge, weil ein neutrales Erscheinungsbild der Beschäftigten eine berufliche
Anforderung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der RL darstellen könne. Die Rechtfertigung, dass es sich um eine
„wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ handeln muss, hält die Generalanwältin zwar
im Zusammenhang mit Religion für eine hohe Hürde, die sie aber als „keineswegs
unüberwindbar“ bezeichnet.
Im konkreten Fall der Rezeptionistin der Sicherheitsfirma G4S, die eine explizit religiös, philosophisch
und politisch neutrale Unternehmenspolitik betreibe, betrachtet sie diese Hürde als überwunden (Rn.
78-84). Kein Kopftuch zu tragen soll demnach eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ sein können, wenn ein Unternehmer aus eigenem Recht (vgl. Art. 16 Grundrechte-Charta,
GR-Ch) ein neutrales Erscheinungsbild seiner Beschäftigten durchsetzen will.
Sodann prüft die Generalanwältin, ob die unternehmerische „Neutralitätspolitik“ samt der darauf
gegründeten betrieblichen Verbotsregelung ihrerseits legitim ist, was sie zum einen davon abhängig
macht, dass diese Politik nicht auf Vorurteilen gegenüber bestimmten Religionen oder Überzeugungen
oder Religion überhaupt beruht. Zum anderen müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der
Durchsetzung der Neutralitätspolitik gewahrt sein. Die betriebliche Regelung muss demnach geeignet,
erforderlich (kein milderes Mittel vorhanden) und angemessen (im engeren Sinne verhältnismäßig) sein.
Zugunsten von Beschäftigten gelten ebenfalls Unionsgrundrechte, insbesondere Art. 10 GrundrechteCharta – die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit – , aber bei der Religionsausübung sei
Beschäftigten am Arbeitsplatz Zurückhaltung zumutbar. Insbesondere könne die Ausübung religiöser
Bräuche in die Freizeit verlagert werden. Mit dieser Abwägung bejaht die Generalanwältin auf den
konkreten Fall bezogen auch die Verhältnismäßigkeit des Verbots (im engeren Sinne) und der Kündigung,
räumt aber zum Schluss einen Differenzierungsspielraum im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der
Durchsetzung betrieblicher Regelungen ein. Demnach soll es „insbesondere“ darauf ankommen, wie
groß und auffällig das religiöse Zeichen ist, ferner sollen die konkrete Tätigkeit der Arbeitnehmerin
berücksichtigt werden sowie der hierarchische Kontext der Tätigkeit und schließlich die nationale
Identität des jeweiligen Mitgliedstaates.
Im Folgenden sollen Anmerkungen zu drei Aussagen der Generalanwältin vorgebracht werden:
Zur Verneinung einer unmittelbaren Diskriminierung
Zur Bedeutung der beruflichen Anforderung, „religiös neutrales Verhalten“ zu zeigen
Zur Einzelfalldifferenzierung im Rahmen einer generellen betrieblichen Regelung
Anhang
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Zur Verneinung einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der Religion
Die Argumentationslinie der Generalanwältin beruht wesentlich auf der Verneinung einer unmittelbaren
Diskriminierung; bei Annahme einer solchen wäre eine Rechtfertigung kaum denkbar, auch wenn die
Generalanwältin dies für möglich hält (Rn. 27). Nach der Richtlinie ist bei unmittelbarer Diskriminierung
keine Rechtfertigungsmöglichkeit vorgesehen. Ob auch unmittelbare Benachteiligungen ausnahmsweise
und unter sehr begrenzten Voraussetzungen gerechtfertigt werden können, ist in Rechtsprechung und
Literatur umstritten. Während bei einer unmittelbaren Diskriminierung einer Person wegen einer der in
Art. 1 angesprochenen Kategorien „in vergleichbarer Situation eine weniger günstige Behandlung“ (Art. 2
Abs. 2a RL 2000/78/EG) widerfährt, wird die Person im Fall einer mittelbaren Diskriminierung durch eine
scheinbar neutrale Vorschrift benachteiligt, ohne dass sich dies sachlich und unter Einhaltung der
Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lässt (Art. 2 Abs. 2b RL). Tatsächlich könnte man bei oberflächlicher
Betrachtung hier von einer mittelbaren Diskriminierung ausgehen, weil das scheinbar neutrale Kriterium
der Sichtbarkeit religiöser, philosophischer oder politischer Zeichen formal alle Betroffenen gleich
behandelt, jedoch zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass es auf die Vergleichbarkeit der Situation
ankommt und dass der Diskriminierungsgrund „Religion“ direkt in der betrieblichen Regelung
angesprochen ist. Bei der Frage der Vergleichbarkeit der Situation müssten auch relevante Unterschiede
in der religiösen Betroffenheit logisch miteinbezogen werden, hier in Form der Tatsache, dass es im
Rahmen mancher Religionen Verpflichtungen für Personen gibt, Körperteile zu bedecken oder sich
durch Symbole sichtbar zu bekennen.
Warum verneint die Generalanwältin hier die unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion? Bei
vordergründiger Betrachtung, so schreibt sie selbst, könne man eine unmittelbare Benachteiligung
annehmen, weil es Frau Achbita untersagt wurde, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer religiösen
Überzeugung als Muslima zu tragen. Das sei eine direkte Anknüpfung an den muslimischen Glauben (Rn.
43). Diese Zuordnung entspreche zwar auch dem weiten Verständnis des Gerichtshofs von unmittelbarer
Benachteiligung aufgrund der Religion (Rn. 44). Den entscheidenden Grund, die unmittelbare
Diskriminierung dennoch zu verneinen, sieht Kokott jedoch darin, dass es in den anderen Fällen, für die
der EuGH die direkte Benachteiligung bejaht hat, „stets um unabänderliche Körpermerkmale oder
persönliche Eigenschaften von Menschen“ wie Geschlecht oder sexuelle Ausrichtung, „nicht um
Verhaltensweisen“ ging (R. 45).
Dieser Umstand ist jedoch leicht erklärbar, denn der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) war
bislang – im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) –
tatsächlich nicht mit Kopftuchfällen und auch nicht mit anderen Fällen sichtbarer religiöser
Kleidungsstücke oder Zeichen konfrontiert. Das bedeutet aber auch, dass die Differenzierung, welche die
Generalanwältin hier vornimmt und auf deren Grundlage sie die unmittelbare Benachteiligung ablehnt,
keine Rechtfertigung aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ziehen kann. Es ist vielmehr eine von der
Generalanwältin ad hoc eingeführte Unterscheidung, die wenig überzeugend ist, da die in Art. 1 der RL
angeführten „verpönten“ Merkmale zwar in der Tat unterschiedlich in ihrer benachteiligenden
Wirkungsweise sind, aber dennoch nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen.
Unabänderliche Körpermerkmale werden diskriminierungsrechtlich nicht mehr geschützt als
einstellungs- und verhaltensbezogene Unterscheidungsgründe (vgl. Art. 19 AEUV und die Richtlinien).
Die streitige betriebliche Regelung richtet sich zwar nicht gegen den muslimischen Glauben oder
irgendeinen anderen Glauben als solchen, jedoch soll kein religiöses, weltanschauliches oder politisches
Bekenntnis äußerlich sichtbar gemacht werden dürfen. Dass sich ein Teil der Musliminnen aufgrund
bestimmter geistlicher Lehrmeinungen, die wiederum auf der Interpretation von Koranversen beruhen,
verpflichtet fühlt, Haar, Hals und Nacken zu bedecken, was üblicherweise durch Tragen eines Kopftuchs
(Hijab) ausgeführt wird, führt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit dazu, dass die Befolgung dieser
religiösen Obliegenheit zu einer sichtbaren Kleidungs- und Persönlichkeitseigenschaft wird, wenn die
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Frau sich in der öffentlichen Sphäre bewegt. Hier lässt sich durchaus eine Analogie zur
Unabänderlichkeit von Körpermerkmalen diagnostizieren, denn die subjektiv gefühlte Verpflichtung, ein
Kopftuch zu tragen, führt in aller Regel auch zu einer konstanten Befolgung dieser Obliegenheit.
Natürlich kann ein Kopftuch abgesetzt werden, ebenso wie eine jüdische Kippa oder ein Sikh-Turban,
jedoch würde die Person, sofern sie unter dem Druck eines betrieblichen Verbots handelt, gezwungen
gegen ihre religiöse Überzeugung die für sie verbindliche Obliegenheit zu verletzen. Insofern wird sie
gerade nicht gleichbehandelt, sondern erfährt eine „weniger günstige Behandlung“. Genau davor soll die
Person durch die Richtlinie und die Gesetze der Mitgliedstaaten geschützt werden.
Die Integritätsverletzung durch ein Verbot sichtbarer religiöser Zeichen steht auf einer Ebene mit dem
unzulässigen Eingriff in die Gewissensfreiheit. Nicht zufällig sind die Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit geschützter Gegenstand ein und desselben europäischen Grundrechts (vgl. Art. 10 GRCh sowie Art. 9 EMRK); auch im deutschen Grundgesetz sind die Freiheit des Glaubens, Gewissens und
Bekenntnisses entsprechend zusammengefasst (Art. 4 GG). Niemand soll Benachteiligungen wegen
unabänderlicher äußerer Körpermerkmale oder persönlicher Eigenschaften hinnehmen müssen, aber
auch nicht wegen legitimer innerlicher Überzeugungen, zu denen übrigens rein politische nicht zwangsläufig gehören. 8 Religion ist überall in der Union als geschützte, d.h. verbotene
Diskriminierungskategorie anerkannt und gesetzlich verankert, zumal die historischen Erkenntnisse
aufgrund der verheerenden Religionskriege im Europa der frühen Neuzeit und in anderen Teilen der
Welt zu Toleranz und zur Anerkennung von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit mahnen. Auch im
Erwerbsleben sind religiöse Obliegenheiten daher relevant, allerdings muss zwischen den gegenläufigen
Rechten und Interessen abgewogen werden (s.u.).
Festzuhalten ist, dass die Unterscheidung zwischen unabänderlichen Körpermerkmalen und einer
inneren Überzeugung aufgrund von Glaubensvorstellungen für die Frage, ob eine unmittelbare
Diskriminierung vorliegt, nicht tauglich ist, weil die identitäre und auf die Menschenwürde bezogene
Funktion dieselbe sein kann. Auch wenn die Generalanwältin das Kopftuchtragen als
„Brauch“ bezeichnet und damit suggeriert, es sei verzichtbar, geht dies am normativen Kern der
Problematik vorbei, da eine Arbeitnehmerin wohl kaum wegen eines verzichtbaren Brauchs, einer
Gewohnheit, einer bloßen Marotte, ihren Arbeitsplatz und damit ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage
aufs Spiel setzt.
Das „islamische Kopftuch“ und die damit im Zusammenhang stehende Diskriminierung sind ein
typisches Beispiel für eine mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung von muslimischen
Frauen, die Elemente von unmittelbarer Benachteiligung aufgrund der Religion und mittelbarer
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, u.U. auch Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft
vereint. Auch diesem gesellschaftlichen Benachteiligungszusammenhang wird die Generalanwältin in
ihrer Stellungnahme nicht gerecht (vgl. Rn. 114-116).
Weitere Begründungen der Generalanwältin, warum es sich beim Verbot des Tragens sichtbarer Zeichen
einer Religion oder Weltanschauung nicht um eine unmittelbare Diskriminierung handeln soll,
überzeugen ebenfalls nicht. Zwar wird in der betrieblichen Regelung nicht an die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Religion angeknüpft, sondern an die Symbolisierung eines Bekenntnisses. Damit trifft es
nicht alle Musliminnen, aber doch einen Teil, und diese Personen werden in direkter Anknüpfung an ihr
religiöses Bekenntnis benachteiligt. Dass auch Angehörige anderer Religionen oder Weltanschauungen
oder Vertreter/innen politischer Auffassungen in analoger Weise sanktioniert werden können, wenn sie
8
Einzelne Mitgliedstaaten der EU haben in ihren Antidiskriminierungsgesetzen zum Teil auch politische Auffassungen unter Diskriminierungsschutz gestellt, ebenso
wie sie – je nach Sprachfassung – das weltliche Pendant zu Religion, im Deutschen: „Weltanschauung“, sprachlich-semantisch variiert definiert haben, EUKommission 2006: Religion und Weltanschauung in der Beschäftigung – das EU-Recht. (Autorin: Lucy Vickers, hrsg. von der Generaldirektion Beschäftigung,
soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit, Ref. G.2), S. 29/30.
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ihre Überzeugungen durch Zeichen sichtbar machen, ändert nichts am unmittelbar benachteiligenden
Charakter des Verbots.
Zur Bedeutung der beruflichen Anforderung, „religiös neutrales Verhalten“ zu zeigen
Hier kommen wir zum zweiten wesentlichen Standbein der Argumentation der Generalanwältin, zur
„Neutralitätspolitik“ von Unternehmen. Juliane Kokott prüft die Frage, ob ein betriebliches Verbot
sichtbarer Zeichen für eine religiöse, philosophische oder politische Überzeugung ein legitimes Ziel und
seine Umsetzung verhältnismäßig ist, indem sie überprüft, ob der Verzicht auf sichtbare religiöse
Zeichen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der RL
2000/78/EG ist. Als Anforderung identifiziert sie „religiöse, philosophische und politische
Neutralität“ bzw. konkret „religiös neutrales Verhalten“.
Dem Unternehmen bzw. dem Unternehmer stehe es zu, die Identität, die coporate identity des Unternehmens zu definieren, die in einer Politik der Vielfalt bestehen kann, aber ebenso in einer strikten
Neutralitätspolitik (Rn. 76). Gerade in laizitären Staaten wie Frankreich liege derartiges auch für
privatwirtschaftliche Firmen nahe, für ein Unternehmen der Sicherheitsbranche hält die Generalanwältin
dies für besonders evident (Rn. 93).
Eine solche Unternehmensidentität zu erreichen muss ein legitimes Ziel sein, das normativ
unionskonform ist, keine menschenverachtende Ideologie transportiert und auch nicht schlicht die
Wünsche und Vorlieben der Kunden umsetzt, jedenfalls nicht blindlings und unreflektiert (Rn. 90),
anderen falls würde es der Leitentscheidung im Fall Feryn vom 10.07.2008 widersprechen (C-54/07). Ein
Kopftuchverbot erfülle diese Anforderungen, es sei Ausdruck einer selbst auferlegten Politik der
religiösen und weltanschaulichen Neutralität (Rn. 93).
In dieser Argumentation setzt die Generalanwältin das Tragen eines „islamischen Kopftuchs“ implizit
mit religiös nicht neutralem Verhalten gleich. Denn wie eine Kopftuch tragende Frau in beruflicher
Position ansonsten agiert, scheint nicht von Belang zu sein. Ein solcher Begriff von Verhalten ist jedoch
nicht plausibel. Eine Muslima kann ein Kopftuch tragen und trotzdem mit Reden und Handeln ein
korrekt religiös, weltanschaulich und politisch neutrales Verhalten praktizieren.
Der verkürzte Begriff von Neutralität – als Nicht-Sichtbarkeit eines religiösen Bekenntnisses – ist
problematisch, denn Neutralität drückt sich im Verhalten aus, und zwar im gesamten Verhalten, wobei
ein getragenes Kleidungsstück oder Zeichen wie das Kopftuch nur einen Teil des Verhaltens darstellt,
der keineswegs den Gesamtcharakter des Verhaltens der Person bestimmt. 9 Das Unternehmen und die
Kund/inn/en können Höflichkeit, Gleichbehandlung, zuvorkommendes Eingehen auf ihre sachlich
gerechtfertigten Wünsche und Verzicht auf irgendwelche religiösen, weltanschaulichen oder politischen
Äußerungen oder Beeinflussungsversuche erwarten. Das Tragen eines Kopftuchs steht dem nicht von
vornherein entgegen. Es gehört zu den beruflichen Anforderungen an eine Beschäftigte mit Kopftuch,
durch entsprechende Selbstdarstellung, also Reden und Handeln, etwaige Erwartungen, dass sie als
Muslima mit Kopftuch Christen, Juden, Nicht-Gläubige als Kund/inn/en oder Kolleg/inn/en
benachteiligen oder Muslime bevorzugen würde, zu widerlegen. Gelingt es trotz korrektem Verhalten
der Muslima im Einzelfall nicht, hartnäckige Vorurteile des Gegenübers in der kommunikativen
Interaktion aufzubrechen, so wird man dies aber wohl als Problem des Gegenübers und nicht der
9
Anders ist die Frage bei der Burka oder dem Niqab zu beantworten, weil bei diesen Verhüllungen, die das Gesicht bedecken, die „unverstellte Kommunikation“ von
Angesicht zu Angesicht behindert wird. Beim Kopftuch ist dies jedoch nicht der Fall, die Ausübung der beruflichen Tätigkeit wird durch das Kopftuch grundsätzlich
nicht behindert.
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Muslima ansehen. In diesem Sinne lässt sich auch die Feryn-Entscheidung des EuGH von 2008 in ihrer
Übertragung auf die Kopftuchproblematik interpretieren. 10
Hinter den EU-Diskriminierungsverboten steht der Gedanke, dass eine Muslima mit Kopftuch – wie auch
ein Sikh mit Turban oder ein Jude mit Kippa – das Recht haben muss, gleichberechtigt und ohne
Diskriminierung im Erwerbsleben sich zum eigenen Glauben bekennen zu können, solange dies nicht
den beruflichen Anforderungen oder den Rechten der Kunden, Kollegen und des Unternehmens zuwiderläuft. Bei korrektem Verhalten einschließlich Reden und Handeln dürfte die Abwägung im
Normalfall zugunsten der Kopftuchträgerin ausfallen, da eine konkrete Beeinträchtigung oder Gefahr für
die Rechte oder Integrität der anderen Personen oder für Unternehmensinteressen nicht ersichtlich ist.
Dasselbe mag auch für Personen am Arbeitsplatz gelten, die – wie etwa die Christin mit goldenem oder
silbernem Kreuz an der Halskette – ihren Glauben sichtbar macht, ohne dass sie sich durch eine religiöse
Regel dazu verpflichtet fühlen müsste. 11
Die Glaubens- bzw. Bekenntnisausübung dürfte im Allgemeinen – bei ansonsten korrektem
„neutralen“ Verhalten (durch Reden und Handeln) – in der Abwägung ein normatives Übergewicht
haben, da Art. 19 AEUV (früher Art. 13 EGV) und die im Jahre 2000 geschaffenen
Antidiskriminierungsrichtlinien (2000/43/EG, 2000/78/EG) eben gerade die Diskriminierung in
Anknüpfung an die geschützten Kategorien (u.a. Verbot sichtbarer religiöser Zeichen) untersagen. Es
wäre ein Selbstwiderspruch des Unionsrechts, wenn eine (generelle) betriebliche Regelung mit dem
Verbot sichtbarer religiöser Zeichen als legitime Ausnahme vom Diskriminierungsverbot zugelassen
würde. Das gilt übrigens auch, wenn man – wie die Generalanwältin – das Verbot im vorliegenden Fall
als mittelbare Diskriminierung wegen der Religion ansieht.
Das unternehmerische Recht, religiös, weltanschaulich und politisch „neutrales Verhalten“ von den
Beschäftigten zu verlangen, bleibt unberührt, da – wie erwähnt – durch Reden und Handeln jene
Neutralität ausgedrückt werden kann. Es wäre ein gegen Muslime gerichtetes Vorurteil zu unterstellen,
dass Musliminnen mit Kopftuch sich nicht „religiös neutral“ verhalten könnten.
Ein Unternehmen hat zur Ausprägung seines Erscheinungsbildes nach außen verschiedenste
Möglichkeiten, sein Profil zu gestalten, es kann die Vielfalt zum Ausgangspunkt machen, aber auch sich
als religiös und weltanschaulich neutrale Firma profilieren. Dabei kann es einen Verhaltenskodex
einführen. Ebenso kann das Unternehmen ein möglichst einheitliches personelles Erscheinungsbild
durch eine Firmenuniform erreichen, worauf auch die Generalanwältin hinweist (Rn. 83). Jedoch ist dabei
eine Diskriminierung derjenigen zu vermeiden, die ihr Bekenntnis äußerlich sichtbar machen wollen bzw.
sich dazu verpflichtet sehen. Dann ist eine Variante der Uniform vorzusehen, die es u.a. gläubigen
Musliminnen erlaubt, ihrer Kopfbedeckungsobliegenheit nachzukommen. Insofern sind eine Politik der
Vielfalt und eine Politik der religiösen Neutralität nicht so entgegengesetzt, wie dies in den
Ausführungen der Generalanwältin erscheint. Privatrechtliche Unternehmen, die keine sog. religiösen
Tendenzbetriebe sind, müssen auch in laizitären Staaten, in denen von Staats wegen das Religiöse und
Weltanschauliche aus dem Bereich der Öffentlichkeit und der Erwerbssphäre herausgehalten und ins
Private verbannt werden, mit der Vielfalt in der Belegschaft zurechtkommen, die sie vorfinden.
Vielfalt und menschliche Verschiedenheit besteht nicht nur im Religiösen und Weltanschaulichen,
vielmehr drückt sie sich auch in der Verteilung der Positionen auf die Geschlechter, im Altersaufbau in
der ethnischen Herkunft, in der sexuellen Ausrichtung sowie in der Inklusion von Behinderten aus. Eine
allumfassende „Neutralität“ wäre gar nicht möglich; eine Ausgrenzung von Bewerbern und
Bewerberinnen aus Gründen etwa der Hautfarbe oder des Geschlechts wäre evident unvereinbar mit
10
11
Das müsste in dem Parallelverfahren (Bougnaoui und ADDH, C-188/15) zum vorliegenden Achbita-Verfahren (C-157/15) berücksichtigt werden.
EGMR Eweida ./. UK, Beschwerde Nr. 48420/10 u.a.
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dem Unionsrecht. Daher ist es nicht einzusehen, warum dies bei einer Selektion nach dem Glauben
grundsätzlich anders zu beurteilen wäre; die Problematik der „Kirchenklauseln“ und Tendenzbetriebe
des Art. 4 Abs. 2 der RL 2000/78/EG bleibt hier außer Betracht. Selbst wenn man – wie die Generalanwältin – „lediglich“ eine mittelbare Diskriminierung durch das betriebliche Verbot des Tragens sichtbarer religiöser Zeichen annimmt, bliebe es ein eklatanter Selbstwiderspruch, wenn unter dem
Richtlinienrecht eine Exklusion gerechtfertigt würde, die genau die entgegengesetzte Zielrichtung hat
wie das Diskriminierungsverbot der Richtlinie.
Infolgedessen ist auch die Folgerung, dass das Nicht-Tragen religiöser Zeichen eine „wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderung“ sein kann, wenn in dem Unternehmen eine explizite
Neutralitätspolitik gilt, nicht plausibel.
Zur Einzelfalldifferenzierung im Rahmen einer generellen betrieblichen Regelung
Die Generalanwältin selbst bezeichnet die Verhältnismäßigkeitsprüfung als „delikate Angelegenheit“ (Rn.
99), sie zieht Analogien zur Rechtsprechung des EGMR, der des Öfteren Kopftuchverbote im
öffentlichen Dienst oder in Schulen und Hochschulen als vereinbar mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 erachtet hat. Jedoch ist die Rechtsgrundlage in Form des
Art. 9 EMRK eine wesentlich andere als im Fall der unionsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinien
und der zugrunde liegenden Norm des Art. 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV, früher:
EG-Vertrag). Ebenso unterscheidet sich der Art. 10 der EU-Grundrechte-Charta von Art. 9 EMRK. Art. 10
GR-Ch ist nicht – wie Art. 9 der EMRK – unter den weitgehenden Gesetzesvorbehalt gestellt, der es
erlaubt, die Religionsfreiheit mit gesetzlichen Beschränkungen zu versehen, die „in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung,
Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ (Art. 9 Abs. 2 EMRK). 12 Der
Absatz 1 von Art. 10 der GR-Ch und Art. 9 der EMRK unterscheidet sich allerdings kaum, insbesondere
werden in beiden Normen auch Bräuche und Riten als legitime Religionsausübungsformen erwähnt.
Allerdings binden Grundrechte nur die Staaten bzw. die öffentliche Gewalten, nicht unmittelbar Private
untereinander. Insofern sind bei der Anwendung der Antidiskriminierungsgesetze, die zur Umsetzung
der Richtlinien erlassen wurden, und bei der Interpretation der hier betroffenen Richtlinie in der Tat
Abwägungen der unternehmerischen Rechte und Interessen gegen die Rechte und Interessen der
Beschäftigten erforderlich. Somit ist, wie die Generalanwältin schreibt, von Beschäftigten eine gewisse
Zurückhaltung in der Religionsausübung, partiell auch in der Bekenntniskundgabe zu erwarten,
insbesondere wenn religiöse Handlungen, Bräuche oder Riten den betrieblichen Abläufen und
Erfordernissen zuwiderlaufen. Demgemäß sind etwa Gebete auf Pausen oder in die Freizeit zu
verschieben, wenn sie den Betriebsablauf stören. Die macht auch für gläubige Muslime und
Musliminnen in der Praxis meist keine Probleme.
Die Generalanwältin betont, dass das Kopftuch abgenommen werden kann und dass dies als Gebot der
Zurückhaltung in der Religionsausübung auch Musliminnen zugemutet werden könne. Anders sei es
beim Geschlecht, bei der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft, der sexuellen Ausrichtung, dem Alter und
einer Behinderung, denn diese unabänderlichen Gegebenheiten könne niemand „an der Garderobe
abgeben“ (Rn. 116). Dieses auf den ersten Blick einleuchtende Bild, ein Kopftuch als Kleidungsstück an
der Garderobe abzugeben, stimmt dennoch nicht, weil – wie dargelegt wurde – die religiöse
Überzeugung, an das Bedeckungsgebot gebunden zu sein, eben gerade nicht durch ein (generelles)
betriebliches Verbot ausgehebelt werden darf.
Zwar gibt es im Rahmen des Art. 2 Abs. 5 der RL 2000/78/EG einen Vorbehalt für nationale Maßnahmen zugunsten von Sicherheit und Ordnung und anderen in
einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Struktur, jedoch reichen diese Befugnisse – auch nach der Prüfung der Generalanwältin (Rn. 136-140) – nicht aus,
um Unternehmen das Recht zu geben, Diskriminierungsverbote auszuhebeln.
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Anhang
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Am Ende ihrer Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Verbots sichtbarer religiöser Zeichen am Arbeitsplatz erläutert die Generalanwältin, dass das Maß der Zurückhaltung, das einem Arbeitnehmer, also auch
einer muslimischen Arbeitnehmerin, zugemutet werden kann, von einer Gesamtbetrachtung aller
relevanten Umstände des Einzelfalls abhängig sei (Rn. 117). Anschließend führt sie aus, was auch in die
Empfehlung eingegangen ist, dass es jedoch auf die Größe und Auffälligkeit der jeweiligen Zeichens
ankomme. Ein kleiner Ohrring, eine Anstecknadel seien im Zweifel eher statthaft als ein Hut, ein Turban
oder eben ein Kopftuch. Auch seien herausgehoben tätige Arbeitnehmer strenger zu behandeln als
untergeordnet tätige Beschäftigte (Rn. 119).
Dass diese Kriterien für verhältnismäßige Differenzierungen hier gegen Ende der rechtlichen Prüfung
eingeführt werden, erstaunt sehr, denn es wirft die gesamte Logik des betrieblichen Verbots über den
Haufen. Ein betriebliches Verbot, das alle Religionen aller Beschäftigten gleich behandeln soll und
sichtbare Zeichen oder Kleidungsstücke untersagt, muss als pauschales Verbot angesehen werden und
erlaubt daher keine Ausnahmen nach der Größe der Symbole oder nach der hierarchischen Stellung der
Beschäftigten. Die Sichtbarkeit von Zeichen ist eine leicht feststellbare Tatsache, an die eine Rechtsfolge
geknüpft wird. Unterstellt man hypothetisch die diskriminierungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen
generellen betrieblichen Regelung, so wäre eine solche Differenzierung ein Einfallstor für
Privilegierungen bestimmter religiöser Zeichen. Damit wäre aber auch die Zielsetzung einer
unternehmerischen „Neutralitätspolitik“ unerreichbar und könnte nicht mehr zur Rechtfertigung eines
(generellen) betrieblichen Verbots aller sichtbaren religiösen Zeichen verwendet werden.
Auch dieser Selbstwiderspruch belegt, dass Gutachten und Empfehlung der Generalanwältin in
zentralen Punkten inkonsistent sind und dem Unionsrecht widersprechen.
Berlin, den 19. Juni 2016
Dr. Sabine Berghahn
Rechtsanwältin und Politikwissenschaftlerin (Privatdozentin an der FU Berlin)
Waldhüterpfad 29, 14169 Berlin, Tel. +49 (0)30 814 13 79, Fax . +49 (0)30 810 51 390
[email protected]
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Programm
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Liste der Teilnehmenden
Name
Institution
Dunya Adigüzel
Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland / Islamische
Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG)
Taner Aksoy
fair - Federation against Injustice and Racism e.V.
Najla Al-Amin
Universität Osnabrück
Dr. Zekeriya Altuğ
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB)
Eva Maria Andrades
ADNB beim TBB Berlin
Dr. Delal Atmaca
DaMigra
Ulrike Bargon
Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (agah) –
Landesausländerbeirat
Dr. Sabine Berghahn
PD am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin
Dr. Böhne
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA)
Gabriele Boos-Niazy
Aktionsbündnis muslim. Frauen e.V.
Zeynep Cetin
Inssan e.V. - Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit
Sabine Christen
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Judith Ciganović
Beauftrage der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und
Integration
Vera Egenberger
Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG)
Dr. Dina El Omari
Exzellenzcluster Religion und Politik Uni Münster
Bernhard Franke
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Gudula Fritz
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Heike Fritzsche
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Michaela Ghazi
Allgemeinbildende Schulen Reinickendorf
Antje Goll
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Nesreen Hajjaj
JUMA – Jung, Muslimisch, Aktiv
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Mohamad Hajjaj
Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V.
Maryam Haschemi Yekani
Rechtsanwältin
Helga Hentschel
Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, AL'in Frauen
Hanan Kajed
JUMA – Jung, Muslimisch, Aktiv
Romin Khan
Verdi (Referent Migrationspolitik)
Heike Lehmann
DGB Bundesvorstand
Andreas Merx
IQ Fachstelle Interkulturelle Kompetenzentwicklung und
Antidiskriminierung
Marieluise Mühe
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Katharina Müller
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Stabstelle Flüchtlingspolitik
Dr. Sebastian Müller
Deutsches Institut für Menschenrechte
Projekt "Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit"
Anna Maria Müller
BAGSO e. V.
Markus Müller
Journalist
Dr. Petra Rostock
AWO (Projektleiterin Gleichstellungsbericht)
Nahed Samour
Humboldt Universität zu Berlin, Juristische Fakultät
Nathalie Schlenzka
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Barbara Schmidt
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
Dr. Birgit Schweikert
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Unterabteilung 4
Ann Kathrin Sost
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Sträßer
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. (BDA)
Malti Taneja
Beauftrage der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und
Integration
Juliane Zacher
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes;
sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt.
Dokumentation erstellt von:
Marcus Müller, Journalist
Herausgeberin:
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
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Stand: August 2016